Die Schlotterbeck-Chroniken - Mark Wamsler - E-Book

Die Schlotterbeck-Chroniken E-Book

Mark Wamsler

0,0

Beschreibung

Witz trifft Action: Erlebe einen herrlich komischen Abenteuerroman ab 11 Jahren aus einer so noch nie da gewesenen Gruselwelt. Julius Schlotterbeck steht vor einer fast unmöglichen Aufgabe: Bis Ferienende muss er, der unbeliebte und unsichere Vampir, drei Freunde finden. Notgedrungen begibt er sich in das Übel und stolpert dabei in ein Duell mit dem großen Zauberer Donatus, tritt sein erstes Ram-Bot-Tsu-Turnier an und schmuggelt sich in das gefährliche Institut Schockzahn. Zunächst nur begleitet von seiner treuen Fledermaus Flap, findet Julius bald Unterstützung von ganz unerwarteter Stelle. Abenteuer pur mit einem alles anderen als perfekten Helden über magische Videospieltuniere, gruselige Bösewichte und wahre Freundschaft!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 386

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Julius Schlotterbeck steht vor einer fast unmöglichen Aufgabe: Bis Ferienende muss er, der unbeliebte und unsichere Vampir, drei Freunde finden. Notgedrungen begibt er sich in das Übel und stolpert dabei in ein Duell mit dem großen Zauberer Donatus, tritt sein erstes Ram-Bot-Tsu-Turnier an und schmuggelt sich in das gefährliche Institut Schockzahn. Zunächst nur begleitet von seiner treuen Fledermaus Flap, findet Julius bald Unterstützung von ganz unerwarteter Stelle.

Eine herrlich komische Gruselwelt mit einem alles anderen als perfekten Helden

Inhalt

Ein Junge ohne Biss

Wie Lady Cassandra ihre Schuld einlöst

Der große Lektor

Magisches Flaschendrehen

Tutorial für Noobs und Willenlose

ForkKnight

Ein feuriger Tanz

Golemian Rhapsody

Eine schmerzhafte Belohnung

Der Spiegelwanderer

Willkommen in Oberleichenstein

Einen Zombie zum Bezahlen bitte!

Die Hexe Unke Hallimasch

Im Drachenhort

Der Kater und seine Hexe

Sturmhammer

Das Zuubaijashi

Die zweite Runde

Die große Stunde des Flapinators

Sturmhammer gegen Dunkelstern

Flapinas erster Kuss

Der Plan geht auf

Die Siegerehrung

Auf nach Krematoria

Der Weg nach Schockzahn

Operation Nachtschnuppe

Lilly Creep

Angriff der Wulferniten

Direktor Krüger

Endlich zu Hause

Die große Monsterparty

Epilog

Ein Junge ohne Biss

Julius hatte Ärger. Richtigen Ärger.

Die großen Sommermondferien standen an und eigentlich hätte er gut gelaunt sein können. Aber ausgerechnet am letzten Tag vor den Ferien musste er noch beim Schulleiter antanzen. Während alle anderen voller Vorfreude aus der Gesamtschule Zitterbold schlenderten, schlürften und schwebten, saß Julius mürrisch in Lord Dracos Vorzimmer und wischte gedankenverloren über sein Handy.

»Was hassst du denn wieder angestellt, Juliusss?«, zischte Frau Natterlein hinter ihrem PC-Monitor hervor. Frau Natterlein war die Schulsekretärin und für eine Schlangendämonin recht korpulent. Julius mochte sie. Er fand es toll, wie sie ihre Schlangenschuppenkleider jeden Tag in anderen Farben funkeln ließ.

»Ach Frau Natterlein, ich glaube, das Übliche«, seufzte Julius und stierte hinaus in die wunderschöne Vollmondnacht.

»Du solltessst dir mal überlegen, ob du esss nicht tatsssächlich mal wie die anderen Vampire machssst und Blut drinkssst«, zischelte die Sekretärin aufmunternd.

»Boooah, echt jetzt? Fangen Sie jetzt auch damit an?« Julius war sauer. »Also erstensss habe ich nur einen Fangzahn und zweitensss schmeckt mir Blut einfach nicht«, äffte er die Sekretärin nach. Er kniff wütend die Augen zusammen, spielte mit der Zungenspitze an seinem einen Fangzahn und wünschte sich, er könnte sich wie diese Desparius-Hexen einfach an einen anderen Ort von Immernacht, weit weg von Gruselheim, teleportieren.

Bei dem Gedanken überkam Julius ein Anflug von Schwermut. Er war nie aus dem kleinen Ort Gruselheim herausgekommen und kannte die vielen Städte und Landstriche von Immernacht nur aus dem ScaryNet. Natürlich wusste er über die Besonderheiten ihrer Welt Bescheid. Immernacht-Kunde bei Herrn Lutz war eines der wenigen Fächer, in dem er tatsächlich gute Noten hatte. Er wusste, dass Immernacht irgendwo magisch abgeschirmt in dem Bereich lag, den die Menschen »Deutschland« nannten, und von ewiger Dunkelheit erfüllt war. Oder dass hier übernatürliche und magische Wesen wie Vampire, Hexen, Werwölfe und anderen Spukgestalten mehr oder weniger friedlich zusammenlebten. Julius fragte sich manchmal, ob den Menschen bewusst war, dass ihre Welt so nah an Immernacht lag.

Und wo war sein Platz in dieser magischen Welt als jugendlicher Vampir mit gerade mal 165 Jahren, der völlig Vampir-untypisch kein Blut mochte? Julius lebte mit seiner Mama Ludmilla und seinem Haustier Flap alleine in einer gemütlichen Dreieinhalb-Zimmer-Gruft am Rand von Gruselheim. Sein Vater hatte es nicht verstanden, dass sein Sohn kein Blut trinken wollte. Julius’ Vater liebte Blut und trank leider oft zu viel davon. Und so kam es, dass er eines Tages betrunken auf dem Gruselheimer Wochenmarkt herumgealbert hatte. Dort war er in einen abgesperrten Knoblauchstand gekracht und hatte sich, PENG, mit einem Knall aufgelöst. Denn Knoblauch war zwar für Zombies, Spinnenhexen und Rattenmenschen eine Delikatesse, für Vampire in so einer großen Dosis aber tödlich. Seither hatte Julius sich geschworen, dass er, selbst wenn sein verdammter Fangzahn vielleicht doch mal nachwachsen sollte, nie Blut trinken würde.

Blut gab es in Gruselheim entweder als Importprodukt für reiche Vampire, von anderen Einwohnern abgesaugt (mal mehr oder weniger freiwillig) oder als Blutkonserve in den Supermärkten. Um in den ersten Jahren an der Zitterbolder Grundschule nicht aufzufallen, hatte er anstatt Blut immer Tomatensaft getrunken. Aber Julius’ Mutter hatte sich Sorgen gemacht. Tomatensaft bot auf Dauer nicht die notwendigen Nährstoffe. Beim Schnoogeln im ScaryNet war Mama Ludmilla dann eines Tages auf Vamp-X gestoßen, einen speziellen Energydrink für Vampire. Dieser bot neben synthetisch hergestelltem Hämoglobin alle anderen notwendigen Zusatzstoffe und konnte jeder Nahrung einfach zugefügt werden. Da Vamp-X auch magische Zutaten enthielt, schmeckte es immer so, wie es sich derjenige wünschte, der es zu sich nahm.

Den konservativen Vampiren war Vamp-X natürlich ein Dorn im Auge und so wurden Vampire, die diesen Blutersatz tranken, oft Ziele von Anfeindungen, Mobbing und Ausgrenzung. Julius und seine Mutter Ludmilla waren Ausgrenzung aber schon gewohnt und arrangierten sich damit. Nur Freunde hatte Julius so gut wie keine.

»Du kannssst jetzt rein!«, riss ihn Frau Natterleins Gezischel aus seinen Gedanken.

Julius seufzte auf, steckte sein Handy weg und drückte gegen die große schwere Eichentür, die sich quietschend öffnete.

In dem schummrigen Büro des Schulleiters kannte sich Julius bereits bestens aus, da er mit einer gewissen Regelmäßigkeit bei Lord Draco aufkreuzen durfte.

»Was geht ab?«, nickte er Bones, dem Knochenschädel zu, der direkt neben der Tür hing.

»Aaaah, der kleine Möchtegern-Vampir mal wieder. Warum stellst du dir deinen Schlafsarg nicht gleich zu uns ins Büro?«, lästerte der Knochenschädel mit den rot glühenden Augen.

»Bones, Ruhe!«, dröhnte eine tiefe Stimme.

Lord Draco drehte sich in seinem großen Stuhl herum, sodass das Mondlicht auf sein leichenblasses Gesicht fiel. Er war einer der ältesten Bewohner von Gruselheim und gleichzeitig das Oberhaupt der Vampirgemeinde in der Stadt. Er wurde ebenso respektiert wie gefürchtet und selbst die durchgeknallten Zombies tuschelten nur ehrfurchtsvoll von dem obersten Lord der Vampire.

»Ihre Wanddeko ist ganz schön vorlaut«, meinte Julius und fläzte sich lässig auf den Stuhl vor Lord Dracos Eichentisch.

»Julius Schlotterbeck! Zumindest in diesem Punkt mögen sich unsere Ansichten gleichen«, knurrte der alte Vampir und machte eine drehende Handbewegung. Schon stierte der maulende Knochenschädel die Wand an und verstummte. »Es wurde mir zugetragen, du hättest in der Mensa erneut ein aufsässiges Verhalten an die Nacht gelegt. Man erzählte mir, dass die Blutbar zertrümmert wurde und die Vampirschüler dieser ehrwürdigen Einrichtung kein Mahl in der großen Pause zu sich nehmen konnten. Julius, dieses Verhalten werde ich hier an unserer Schule nicht länger tolerieren. Es ist schon eine Schande, dass du als Vampir lieber dieses unsägliche künstliche Gebräu trinkst anstatt Blut, aber musst du es auch an anderen Vampiren auslassen?«

Lord Draco stand auf und richtete sich zu seiner ganzen imposanten Größe auf. Nun verdeckte er fast das Fenster und nur vereinzelte Mondlichtstrahlen fanden ihren Weg ins Büro des Schulleiters.

»Lord Draco … es … tut mir leid«, stammelte Julius. »Aber ich kann einfach nicht anders. Wenn ich nur allein den metallischen Geruch von Blut in die Nase bekomme, dann …«

»GENUG!« Lord Draco fuhr plötzlich herum und sein Umhang rauschte bedrohlich. »Es ist an der Zeit, dir und deinem widervampirischen Verhalten mit den nötigen Konsequenzen zu begegnen. Du bist mittlerweile nicht nur das Gespött der Vampirgemeinde, sondern auch von ganz Gruselheim. Hat es denn deine arme Mutter nicht schon schwer genug?« Lord Draco stieß schnaubend Luft aus den Nüstern und blickte wieder zum Fenster hinaus. »Dieses Mal kommst du mir nicht mit Nachsitzen, Strafarbeiten oder einem Unterrichtsauschluss davon!«

Julius schluckte.

Der Schulleiter schaute Julius durchdringend an. »Die großen Sommermondferien stehen an. Ich denke, es wird Zeit, dass du sinnvollere Dinge anstellst, als vor einem Bildschirm zu sitzen oder Rambot-Proleten wie diesen Halupcok anzuhimmeln.«

Julius war immer wieder erstaunt, was Lord Draco alles über seine Schüler wusste. Sicher, wie viele andere an der Schule zockte Julius leidenschaftlich an seiner GraveStation 4 und fieberte bei den Rambot-Meisterschaften mit, aber dass der Schulleiter derart Kenntnisse von diesen Hobbys hatte, überraschte ihn.

»Es wird Zeit, dass du lernst, Verantwortung zu übernehmen. Deshalb berufe ich dich mit sofortiger Wirkung in den Stand eines Legatoren der Zitterbolder Gesamtschule.«

Julius klappte der Mund auf und er rollte genervt mit den Augen. Legatoren organisierten ständig irgendwelche Schulfeste, Sammelaktionen oder sonst einen Blödsinn – und das Schlimmste: Es war der Job für absolute Grabeumel und Grufthonks. Er dachte an den Streber Sergey aus dem Mathekurs oder die Sumpfhexe Steffi aus der 9c. Beide waren die letzten Schuljahre als Legatoren unterwegs gewesen und beide hatten sich so richtig zum Gruftaffen gemacht. Julius war so schon nicht gerade eines der coolen Kids an der Schule. Er hatte weder eine aufgedonnerte Zehntklässlerin als Freundin noch war er ein besonders guter Sportler und wollte eigentlich nur seine Ruhe. Julius nahm seinen Mut zusammen und hob zögerlich eine Hand.

»Äääh, Lord Draco, ich weiß diese Ehre wirklich zu schätzen. Aber ich denke, Sie haben da den Falschen. Ich war bisher auch nie Klassensprecher oder bei den Schulsanitätern und ich könnte mir vorstellen, dass Ewald aus meiner Klasse total scharf auf dieses Amt wäre …«

Der Schulleiter verschränkte die Arme und legte den Kopf leicht schräg. Ein kurzes Lächeln blitzte über sein aschfahles Gesicht.

»Du hast verborgene Talente, junger Schlotterbeck. Talente, die du selbst noch nicht erahnen kannst. Ab sofort bist du offizieller Repräsentant des Zitterbolder Legatorenprogramms und wirst als erste Amtshandlung in deinen Sommermondferien Kontakte zu anderen Jugendlichen im Land knüpfen. Wie zu jedem Schuljahresbeginn wird nach den Ferien die große Monsterparty stattfinden und du wirst sie nicht nur besuchen, sondern auch drei Jugendliche aus anderen Orten mitbringen.«

Lord Draco streckte einen Arm aus und der lange Nagel seines Zeigefingers blitzte im einfallenden Mondlicht.

»Julius Schlotterbeck. Du bist jetzt 165 Jahre jung und hast als einzigen Freund eine verfressene Fledermaus. Das wird sich ändern. Ich schicke dich auf eine kleine Reise und – wer weiß, vielleicht wirst du nicht nur drei Gäste für das Schulfest, sondern mit ihnen auch drei neue Freunde finden.«

Im Hintergrund war das unterdrückte Prusten von Bones zu hören. Julius war fassungslos und noch bleicher als sonst.

Die Stimme des Schulleiters klang nun sehr leise, fast drohend. »Drei sollen es sein. Nicht einer mehr und nicht einer weniger. Vielleicht bringt dich das mal auf andere Gedanken und du erkennst, wo dein Platz hier in Gruselheim ist.«

»Waaaaaas? Aber … aber ich möchte kein Schullegator sein und außerdem mag ich keine Partys.« Er dachte an all die Gespenster, Zombies, Mumien und anderen Freaks, die da wild tanzen und feiern würden. »Das ist so peinlich. Echt jetzt.«

Julius war wirklich bestürzt. Er hatte mit einer üblichen Strafe wie Nachsitzen, Mensaschrubben oder dem Reinigen von Hausmeister Kaahls Knochenkutsche gerechnet, aber das hier war ein ganz anderes Kaliber. Die große Monsterparty galt als absolutes Highlight in Gruselheim. Dieses Jahr sollte die Party dank zweier berühmter HipHop-Stars noch aufwendiger werden. Julius fühlte sich da völlig fehl am Platz. Und überhaupt … drei Freunde?

Lord Dracos Vorliebe für die Zahl Drei war durchaus bekannt. Durch einen Vampir-Geburtsfehler, der ihm drei Fangzähne beschert hatte, war der Schulleiter geradezu besessen von der Zahl. Drei Luxusgruften in ganz Immernacht verteilt zeugten davon, drei wirklich hübsche Vampirfrauen, drei ebenso aggressive wie seltene Farchons (eine stets schlecht gelaunte Mischung aus Pitbull, Klapperschlange und Greifvogel) und die drei Silberschwerter an der Wand seines Büros, die er in der großen Zeit der Vampirkriege menschlichen Vampirjägern abgenommen und Jahrhunderte später immer noch stolz als Trophäe präsentierte.

Nun also drei Jugendliche aus anderen Orten. Drei Freunde. Julius rang nach Luft. »Sie wissen schon, dass ich nicht gerade der angesagte Typ bin? Wie soll ich es bitte schön denn schaffen, drei Fremde aus verschiedenen Ortschaften dazu zu bringen, an unsere Schule zu kommen?«, maulte er. Verzweiflung mischte sich gefährlich mit Trotz und Wut und er stieß wütend gegen ein Regal voller alter Folianten. »Und außerdem – ich kann noch nicht so weite Strecken fliegen und neeeein, ich habe immer noch keine Monatskarte für den Bus, geschweige denn für den Immernacht-Express. Wie soll ich denn überhaupt aus Gruselheim herauskommen, häh?«

Lord Draco musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen und folgte seinem Wutausbruch mit ausdrucksloser Miene. Dann senkte er leicht den Kopf. Seine Augen funkelten im Mondlicht.

»Ich habe vor Jahrhunderten während der Vampirkriege junge Dracuul-Paladine in den sicheren Tod geschickt. Ich habe Könige ernannt und Herrscher gestürzt. Ich habe die Höllenqualen des Tageslichts erfahren und die Grausamkeit der Menschenwelt. Ich brachte den Tod und nahm das Leben. Ich zerstörte und ich schuf. All dies habe ich vollbracht und niemand hat es je gewagt, mir zu widersprechen. Heute, an diesem letzten Tag im Schuljahr, berufe ich dich, Julius Schlotterbeck, in das Amt eines Legatoren und gebe dir eine wichtige Aufgabe. Wirst du sie annehmen oder … widersprichst du mir?«

Julius schluckte und schaute betreten zu Boden. Er kannte die Legenden und Geschichten um den alten Vampirlord und auch wenn Julius gerade wirklich sauer war, war es die Mutter aller dummen Ideen, dem Schulleiter zu widersprechen.

»Nein, Lord Draco. Alles … cool.«

Das seltsame Funkeln in den Augen des Schulleiters erlosch und er setzte sich hinter seinen großen Eichentisch, wo er sich Notizen machte.

»Ich bin von höchster Zuversicht erfüllt, dass du dieser Aufgabe gewachsen bist. Immerhin hast du die gesamten Sommermondferien dafür Zeit«, grinste Lord Draco mit einem teuflischen Lächeln und seine drei Fangzähne, von denen einer aus Zwergengold war, schimmerten im Mondlicht. »Was deine Befürchtung hinsichtlich deiner eingeschränkten Flug- und Reisefähigkeiten angeht, so rate ich dir, die Benutzung eines Thalbion-Spiegels in Betracht zu ziehen.«

Julius schaute entgeistert auf. »Ein Thalbion-Spiegel? Woher denn bitte soll ich einen Thalbion-Spiegel bekommen? Hab ich in der Spuk-Lotterie gewonnen, oder was?«

Er hatte bei Herrn Walser im Leistungskurs »Magische Reliquien zum Reisen und Beißen« von den Thalbion-Spiegeln gehört. Diese magischen Portalspiegel wurden fast ausschließlich vom Furia-Hexenorden genutzt. Julius hatte zwar ein hexenübliches Haustier, aber keine Furia-Hexe und erst recht keinen magischen Reisespiegel dazu.

Schulleiter Draco schien nun fast milde zu lächeln. »Keine Sorge, Julius. Ich bin mir sicher, deine Mutter kann dir da helfen. Ich werde deine Mutter übrigens im Anschluss an unser Gespräch kontaktieren und sie über unsere kleine … Vereinbarung in Kenntnis setzen. Noch Fragen?«

Julius biss auf seine Unterlippe und ein kurzes wütendes Schnauben war im Büro des Schulleiters zu hören. »Vereinbarung? Eher eine Strafe, oder? Ich hab echt null Bock drauf, meine Sommermondferien mit diesem Legatoren-Blödsinn zu vergeuden.«

Lord Draco schrieb weiter irgendwelche Notizen und schaute nicht mal auf.

»Zur Kenntnis genommen, junger Schlotterbeck. Doch ich habe gewählt, entschieden und gesprochen. Bei einer Verweigerung deinerseits wäre ich zu meinem Bedauern genötigt, ein schärferes Vorgehen in Erwägung zu ziehen. Sagen wir mal, ein längerer Aufenthalt in Schockzahn? Dies würde dir unzweifelhaft ein Missvergnügen bereiten, wäre aber deiner Entwicklung als Vampir gewiss zuträglich. Ich muss gestehen, dass ich früher schon mit dieser Option geliebäugelt habe. Bislang jedoch konnte ich aus Rücksicht auf deine arme Mutter diese einschneidende Maßnahme hintanstellen.« Lord Draco wandte sich wieder dem Fenster und der Mondnacht zu.

Schockzahn. Julius hatte schon viel über diese Umerziehungsanstalt gehört und musste schlucken. Wer da hinmusste, kam so schnell nicht wieder heraus.

»Also, vielen Dank für das tolle Gespräch … ich werde mir dann mal Freunde für eine Party suchen«, murmelte er leise und stand auf.

»Auf Wiedersehen, Legator Schlotterbeck. Und denke daran: Drei müssen es sein. Nicht einer mehr und nicht einer weniger. Mögen deine Sommermondferien ebenso aufregend, entspannt wie ertragreich ausfallen!«, brummte Lord Draco.

Julius ging zur großen Eichentür und verließ betrübt das Büro des Schulleiters. Er hätte schwören können, dass er beim Hinausgehen das hämische Kichern von Bones, dem Schädel, hörte.

Wie Lady Cassandra ihre Schuld einlöst

»Uuund, wie lief es, Alter?«, fragte Flap aufgeregt und flatterte um Julius’ Kopf herum, als dieser aus dem Schulgebäude kam. Flap war eine kleine übergewichtige Fledermaus und nicht nur ein vorlautes Haustier, sondern auch der einzige Freund von Julius.

»Beschissen!«, knurrte Julius und stieß mit dem Fuß einen Stein in die Büsche, sodass kleine schimpfende Spinnen raschelnd davonsausten. »Der alte Blutsauger hat mich tatsächlich zum Schullegator ernannt und jetzt soll ich meine Ferien damit verschwenden, in irgendwelchen Käffern nach drei Jugendlichen zu suchen, und diese auf die blöde Monsterparty im neuen Schuljahr mitbringen. Kannst du dir das vorstellen?«

»Waaaas … duuu ein Legator??? Und dann noch auf die Monsterparty? Hahahahaa!« Flap lachte schallend und wäre dabei trotz seines Echolots fast gegen ein Straßenschild geflogen.

Julius kramte eine Dose Vamp-X aus seinem Rucksack, stellte sich den Geschmack von Cola mit Vanille vor und nippte daran. »Jaja, sehr witzig, du Flugratte. Aber Draco schickt mich sonst nach Schockzahn, wenn ich das nicht mache. Schockzahn!!!«

Flap hielt augenblicklich inne. »Oje, das sind üble Neuigkeiten, Bro«, murmelte er. »Mein Cousin Eugen musste da hin. Nach drei Jahren kam er heraus und war nie wieder der Alte. Er schielt nun und denkt, er sei eine Meerjungfrau. Echt schräges Zeug, Bruder!«

»Na danke«, knurrte Julius und schaute hoch zum wunderschönen Vollmond. »Meine Sommermondferien sind so was von im …«

»Na ja«, feixte Flap, »immerhin hast du ja mit mir schon einen Freund, den du mitbringen kannst!«

Julius seufzte und gab der pummeligen Fledermaus einen kleinen Schubser. »Ich weiß doch, Flap, aber sprechende Haustiere wird Lord Draco nicht durchgehen lassen.«

Flap verstummte und tat Julius für einen Moment leid. Doch dann quasselte er gleich wieder fröhlich los. »Noch ein Beweis dafür, dass meine Initiative zur Gleichberechtigung sprechender Haustiere mehr als berechtigt ist. Ich werde ganz viele um mich scharen und zusammen werden wir was bewegen und ganz Gruselheim, ach was red ich, ganz Immernacht zeigen, dass wir mehr sind als verfressene kleine Nervensäg… – oh, eine Sargmotte, lecker!« Sprach’s, flog schnurstracks auf das große Insekt zu und verschlang es mit einem genüsslichen Schmatzen.

Daheim in der Gruft wurde Julius schon von seiner Mutter erwartet. Natürlich hatte Lord Draco sie gleich angerufen. Sie seufzte und räumte nebenher Geschirr aus dem Schleck-O-Mat-Spüler. »Julius, so geht es nicht weiter. Trink halt mal ab und zu ein bisschen Blut. Du gewöhnst dich dran. Du siehst ja, wo dich Tomatensaft, Vamp-X und deine Verweigerungen hinbringen!« Sie hielt inne und eine Träne lief ihre Wange hinab. »Wenn sie mir dich noch wegnehmen, dann bin ich ganz allein. Tu mir das nicht an.«

Julius schluckte. Er dachte an seinen blutsüchtigen Vater, an den Ärger, den er seiner Mutter einbrockte, und senkte sein Gesicht in seine Arme. »Es tut mir leid, Mama. Du hast ja recht. Ich strenge mich mehr an. Nur Blut … das kann ich nicht. Ich versuche aber, mich anzupassen. Versprochen, Mama!« Er stand auf und nahm seine Mutter in den Arm.

»Na dann«, sagte Mama Ludmilla und lächelte wieder guten Mutes. »Lord Draco hat mir am Telefon von deiner Aufgabe erzählt und mir ein paar Infos per Iiih-Mail zukommen lassen. Ich bin froh, dass er dich so gut hat wegkommen lassen.«

Julius stierte auf den Alistair-Halupcok-Aufkleber am Kühlschrank und lächelte bitter.

»Ja, ganz toll, Mama. Ich verbringe nun meine vier Wochen Sommermondferien damit, andere Loser wie mich aufzutreiben, und soll die auch noch zu diesem absolut peinlichen Schulfest schleppen? Gaaanz großes Gruselkino.«

Ludmilla stupste ihn und lächelte. »Julius Schlotterbeck! Zu meiner Zeit an der Zitterbold war es eine Ehre, ein Legator zu sein. Man kam herum, hat neue Freunde gewonnen und tolle Dinge erlebt. Du kannst nicht dauernd vor der GraveStation sitzen oder dir im ScaryNet diesen gewalttätigen Rambot-Tsu-Blödsinn anschauen. Du musst auch mal raus, mein Sohn. Das Leben spielt sich nicht nur in der Schule oder hier in der Gruft ab. Weg da, Flap!« Sie schob Flap vom Kühlschrank weg. »Hast du dir schon Gedanken wegen dieser drei anderen Jugendlichen gemacht? Draco meinte, sie sollen außerhalb von Gruselheim herkommen. Sind das auch Legatoren an anderen Schulen? Wie willst du das angehen?«

»Ich hab echt keine Ahnung. Weit fliegen kann ich noch nicht und zudem habe ich keine Monatskarte, weil wir ja sparen müssen.« Julius nippte gedankenverloren an seinem Energydrink.

»Der alte Draco erwähnte einen Thalbion-Spiegel. Ich habe da vielleicht eine Idee!«, meinte seine Mutter plötzlich. Sie nahm ihr Handy, tippte eine Nummer und ging aus dem Zimmer. Julius konnte hören, wie sie sich angeregt mit jemandem unterhielt.

»Alles klar? Machen wir’s so? Bring den Thalbion mit, ja? Dann wären wir quitt, Cassandra! Bis gleich!«

Sie kam ins Zimmer zurück und strahlte.

»Was ist los, Mama?«, fragte Julius.

»Alles gut, mein kleiner Tomatensaftschlürfer!«, kicherte sie. »Ich habe dir einen Portalspiegel organisiert. Eine alte … äähm … Freundin ist mir noch einen Gefallen schuldig. Sie kommt – Moment – in 5, 4, 3, 2, 1!«

Plötzlich gab es einen lauten Knall und rosa Nebel waberte durch die Gruft. Ein süßlicher Duft von Parfüm breitete sich aus. Julius hatte vor Schreck seinen Energydrink fallen gelassen und Flap war gegen die Wand geflogen. Nur Julius’ Mama stand seelenruhig mit verschränkten Armen da und blickte in den duftenden rosafarbenen Nebel.

»Hallo, Cassandra. Schön, dass du es einrichten konntest«, sagte sie leise.

Julius sah, wie sich der Nebel verflüchtigte und den Blick auf eine hochgewachsene, schlanke Hexe freigab, die lässig an einem großen silbernen Spiegel lehnte. Sie hatte ein langes schwarzes Kleid an, trug einen typischen Hexenhut und eine schwarze Handtasche baumelte an ihrer Seite. Und sie war – bildhübsch! Die Hexen, die Julius sonst in Gruselheim sah, hatten Warzen, fettige Haare und krumme Rücken.

»Sie … Sie sind ja … gar nicht wie die anderen Hexen«, stammelte Julius.

»Sagt der kleine Vampir mit nur einem Zahn, der statt Blut Tomatensaft und irgendwelche Energydrinks säuft!«, kam es prompt zurück.

»Vorsichtig, Cassandra!«, mahnte Julius’ Mutter. »Du bist hier, um zu helfen, und nicht, um wieder Ärger zu machen!«

»Ist ja gut«, zischte Cassandra, schnippte den gaffenden Flap zur Seite und schwebte auf Julius zu. »Aaalso, was haben wir denn da? Trinkt kein Blut. Braucht dringend ein paar echte Freunde, meinen Thalbion-Spiegel und hat zudem einen hässlichen Flugnager als Haustier. Deine Mutter hat recht. Du brauchst dringend Hilfe. Ich kenne da jemanden in Schockzahn, vielleicht könnten wir ja …«

»Cassandra!!«, mahnte Julius’ Mutter. »Denk an unsere Abmachung!«

»Ist ja schon gut«, seufzte Cassandra gelangweilt. »Ihr Vampire seid immer so ernst und humorlos. Gut … ich hab da was für dich, Kleiner. Komm her und hör genau zu, denn ich wiederhole mich äußerst ungern!«

Julius setzte sich mit leichtem Unbehagen neben die Hexe und musterte misstrauisch den seltsamen Spiegel.

»Wie du sicherlich weißt, gibt es neben eurem kleinen Kaff Gruselheim in Immernacht noch viele Orte, Landstriche, ja selbst eigene Dimensionen. Manche kannst du bequem erreichen, manche dagegen liegen sehr versteckt oder sind mit einfachen Hilfsmitteln wie eurem Vampirflug und den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht zu erreichen.«

Julius hörte aufmerksam zu, obwohl ihm diese Tatsache natürlich bekannt war. Manche Bewohner von Immernacht zogen es vor, für sich zu bleiben. Die Zombie-Gemeinde zum Beispiel. Ab und zu konnte man einen Zombie in Gruselheim sehen, aber diese Typen waren ebenso schräg wie eklig und keiner konnte sie so richtig ausstehen. Beim Einkaufen hatte er in den Gruselheimer Spuk-Arkaden mal einem Zombie seinen abgefallenen Arm hinterhergetragen, worauf dieser nicht mal einen Dank übrig, sondern ihn nur mürrisch angeglotzt hatte.

»Mit diesem magischen Thalbion-Spiegel aber«, fuhr Cassandra fort, »ist es möglich, diese versteckten und manchmal gar verbotenen Orte aufzusuchen. Man braucht nur einen Gegenstand von dem Ort, den man besuchen möchte, bei sich zu tragen, durch den Spiegel zu schreiten und schon ist man da. Wichtig ist, dass du dir die Stelle merkst, an der du angekommen bist. Wenn du zurückwillst, stellst du dich an die gleiche Stelle, sprichst dein Zauberwort und du landest wieder dort, wo der Spiegel steht. Eigentlich ganz einfach – sogar für einen Vampir!« Cassandra grinste Julius neckisch an.

»Komm zum Punkt!«, mahnte Julius’ Mutter und schob Flap wieder vom Kühlschrank weg.

Cassandra rollte mit ihren dunklen Augen und fuhr fort: »Den Thalbion lasse ich euch leihweise da. Aber bedenkt: Wenn er unterwegs zu Schaden kommt, ist eine Rückkehr damit unmöglich. Es bräuchte dann einen anderen Spiegel und glaubt mir, die Dinger kauft man nicht einfach in den Spuk-Arkaden oder im Scary-Net. Wenn ihr nicht gerade in der hohen Kunst der Drachenjagd, des Exorzierens oder anderen wirklich heftigen und vor allem tödlichen Angelegenheiten bewandert seid, habt ihr eigentlich keine Chance.«

Julius musste schlucken.

»Lady Cassandra … darf ich fragen, woher Sie Ihren Spiegel haben?«, fragte er mit leiser Stimme.

»Sicher doch, mein Kleiner. Aber die Geschichte ist eigentlich nix für junge Vampire und deine Mutter wäre nicht so erpicht darauf, diese Geschichte – nun sagen wir mal – wieder zu hören.«

Es klirrte und Julius sah, wie seine Mutter einen zerbrochenen Teller vom Boden aufhob und sich mit wütendem Blick dem Abwasch zuwandte.

»Also, Kleiner, es gibt Regeln. Es sind drei an der Zahl, frag nicht wieso, das kommt von eurem Vampir-Obermacker!«

»Lord Draco«, murmelte Julius, »war ja klar. Der und seine dämliche Drei!«

»Regel Nummer eins«, sagte Cassandra mit lauter und fester Stimme, »trage immer einen Gegenstand des Zielortes am Leib! Regel Nummer zwei: Nimm niemanden durch den Spiegel mit, der nicht hindurch will, und wenn du jemanden mitnimmst, haltet dringend Körperkontakt! Regel Nummer drei und gleichzeitig die wichtigste Regel: Sprich beim Hindurchlaufen immer das Zauberwort aus. Immer! Wirklich immer, Kleiner. Das ist sehr wichtig.« Cassandra lächelte ausnahmsweise nicht und schaute Julius kurz besorgt an.

»Wieso, Lady Cassandra, was passiert denn sonst?«, quietschte Flap aufgeregt und nahm Julius damit die Frage ab.

Cassandra senkte kurz den Blick und sagte leise: »Sagen wir mal so: Das, was dann auf der anderen Seite ankommt, ist nicht das, was hineingegangen ist.« Sie fuhr sich über ihre Stupsnase und zupfte an ihrem schwarzen Kleid. »Aber ihr sagt einfach das Zauberwort und alles ist gut!«, flötete sie und lächelte. »Also, ihr Lieben. Hat Spaß gemacht. War schön, dich mal wiederzusehen, Ludmilla. Passt mir auf den Spiegel auf und viel Erfolg bei eurem magischen Roadtrip. Bis bald!«

Cassandra schien schon kurz vor ihrem Verschwindezauber zu stehen, als Julius rief: »Haaalt, wie lautet denn das Zauberwort???«

Cassandra schaute verblüfft drein. »Ach ja, stimmt. Also das ist noch mal eine besondere Angelegenheit für sich. Jeder Spiegelwanderer bekommt sein Zauberwort und eine magische Karte nur vom großen Lektor Donatus.«

»Donatus? Der Donatus?« Julius musste grinsen. »Der alte Motzknochen, der in der Bibliothek versauert?«

Da es ab und an notwendig war, für die Schule bestimmte Bücher zu leihen, kannte er den alten Donatus. Als ehemaliger Schreckritter und Veteran der alten Kriege hatte er es irgendwann mal geschafft, bei den Stadtoberen in Ungnade zu fallen. Nun leitete er die Gruselheimer Bibliothek, die er aufgrund eines Bannspruches nicht verlassen konnte. Um ihn rankten sich viele Gerüchte; er war nicht gerade für seine Freundlichkeit bekannt. Vor allem Kindern und Jugendlichen gegenüber.

»Genau der. Unterschätze ihn nicht, Kleiner. Er ist ein muffiger alter Zauberer, aber er ist auch der Meister der Worte und Zaubersprüche. Er hat immer noch die Aufsicht, was magische Portalreisen und Thalbion-Nutzungen angeht. Kurzum – willst du den Spiegel nutzen, musst du bei Meister Donatus vorsprechen.«

Julius schaute seine Mutter an und kratzte sich am Hinterkopf. »Aber … der Typ ist echt schräg und zudem ein kauziger Säufer. Gibt es keinen anderen Weg, den Spiegel zu nutzen?«

Cassandra seufzte. »Kleiner, keine Ahnung, was du ausgefressen hast, aber wenn der alte Draco und deine Mutter mich am selben Tag nerven, muss es wichtig sein. Wenn du den Trip machen willst – was ich dir aus mehreren Gründen raten würde –, dann ist dein erstes Ziel der alte Donatus!« Damit strich sie sich eine schwarze Strähne aus dem ebenholzfarbenen Gesicht. »Der alte Kastalius Anselm Donatus. Ja, er nippt mit Vorliebe an einem Gläschen Blutwein. Aber das kommt euch ja sicherlich bekannt vor, oder?«

Cassandra grinste frech zu Ludmilla, die das mit einem mehr als giftigen Blick quittierte. Julius war sich sicher: Wäre seine Mutter eine dieser gefürchteten Desparius-Hexen, wäre Cassandra in Sekundenschnelle in einer Staubwolke vergangen. Was war bloß zwischen den beiden Frauen vorgefallen? Bestimmt hatte es mit seinem Vater zu tun.

»Ihr findet Donatus in der Bibliothek in Gruselheim«, riss ihn Cassandras Stimme aus den Gedanken. »Aber sei gewarnt, Julius. Der alte Tunichtgut wird dir das Passwort nicht ohne Weiteres geben. Donatus liebt es, wenn man etwas dringend von ihm braucht, weil er dann seine blöden Spiele und Wetten mit einem machen kann. Sollte er dich abweisen, was höchstwahrscheinlich der Fall sein wird, sagst du ihm einfach, Lady Cassandra schickt dich. Er wird dich anhören, versprochen. Er schuldet mir noch einen Gefallen. Sollte er betrunken oder wütend oder im schlimmsten Fall beides sein, dann gibst du ihm das hier.«

Sie nahm einen silbern glänzenden Gegenstand aus ihrer schwarzen Samthandtasche und drückte ihn Julius in die Hand. Es war ein Armreif, der wie eine Schlange aussah. Der Kopf der Schlange biss in den Schwanz und bildete so das Schmuckstück, welches sich kalt und schwer anfühlte.

»Es wird dir helfen, ihn … sagen wir mal … zu überzeugen.« Cassandra giggelte.

»Ein … Armreif?«, murmelte Julius skeptisch und wog den silbernen Reif in seinen Händen.

»Es ist nicht nur irgendein Armreif, Dummerchen. Es ist MEIN Armreif. Ein Viperius-Armreif, den ich einst einem Schreckritter abgenommen habe, und er ist nicht nur dazu da, meine Erscheinung noch attraktiver zu gestalten.«

Julius’ Mutter rollte genervt mit den Augen und Julius steckte den Armreif in seinen magisch aufgepimpten Hoodie, der Unmengen an Zeugs in den Taschen aufnehmen konnte.

Cassandra blinzelte vergnügt. »Wie gesagt, ist nicht nur ein unglaublich schickes Accessoire, sondern hilft auch bei sturen Ex-Schreckrittern und …«, plötzlich bekamen Cassandras Augen einen seltsamen matten Glanz, »… auch in Situationen, in denen du bereits alle Hoffnung aufgegeben hast.« Der Glanz in ihren Augen verschwand und sie blinzelte. Dann drehte sie sich lächelnd um und ihr schwarzes Kleid flatterte. »Donatus tickt ganz einfach. Erfülle seine Aufgabe und du bekommt das Passwort eingebrannt. Erst dann wird es … ääähm … freigeschaltet und du kannst es nutzen.« Sie schob den Ärmel ihres schwarzen Kleids hoch und legte eine tattooartige Narbe frei, die in fremdartiger Schrift gehalten war. »So, jetzt muss ich aber los. Ich erwarte meine Schuhbestellung vom Scary-Net und hab später noch ’n Hexer-Date. Tschüssi, kleiner Vampir samt Mami! Meldet euch, wenn ihr den Spiegel nicht mehr braucht. Und«, sie wurde nochmals ernst, »vergiss das Zauberwort nicht und pass auf dich auf. Es ist keine harmlose Ferienreise, auf die du dich da begibst, Julius!« Damit verpuffte sie in einer großen rosa Wolke, die sich bis auf den Parfümduft sogleich verflüchtigte.

Julius schaute Flap verblüfft an. »Was meinte sie damit: keine harmlose Ferienreise?«

Flap saß auf Julius’ Schulter, sog den Duft von Cassandras Parfümwolke auf und schmachtete in Julius’ Ohr. »Keine Ahnung, Bro – aber ich liebe sie!«

Ludmilla kam aus der Küchenzeile und legte die Hand auf seine Schulter. »Der Thalbion-Spiegel ist hier gut aufgehoben«, sagte sie aufmunternd. »Geh ruhig zum großen Lektor nach Gruselheim.«

Julius seufzte.

»Und das nur wegen dieser blöden Strafe vom alten Draco.«

Seine Mutter stupste ihn und meinte ernst: »Du bist nun ein Legator. Das ist eine schöne und edle Sache, Julius, auch wenn du es jetzt lächerlich und nervig findest. Erfülle deine Aufgabe. Wir wollen beide nicht, dass Lord Draco seine Drohung wahr macht, glaub mir. Es würde mein Herz zerspringen lassen.«

Eine Träne kullerte über Ludmillas Gesicht und Julius nahm sie in den Arm.

»Keine Sorge, Mama. Ich zieh das durch. Vielleicht wird es ja auch witzig und außerdem habe ich Flap dabei!«

Flap, der mit irrem Blick dem Pendel der Totenkopf-Wohnzimmeruhr folgte, reagierte nicht im Geringsten.

»Na, dann brauch ich mir wirklich keine Sorgen zu machen«, lächelte Ludmilla und drückte Julius an sich.

»Ist o. k., Mama. Mal sehen, was der Alte so draufhat. Komm, Flap, auf nach Gruselheim.« Julius wollte gerade die Gruft verlassen, als seine Mutter ihm hinterhereilte.

»Pass gut auf dich auf, mein Junge. Donatus mag ein alter schrulliger Kauz sein, aber unterschätze den Alten nicht. Er ist neben Lord Draco einer der Ältesten hier in Gruselheim und hat vor sehr langer Zeit als Schreckritter gekämpft.«

Julius hatte im Geschichtsunterricht bei Herrn Lutz von den Schreckrittern gehört. Gnadenlose Kampfmagier, die nicht nur im Umgang mit der Seelenklaue, einem gefürchteten Spezialschwert, versiert waren, sondern auch Meister des Rambot-Tsu waren und die Magie der dunklen Künste beherrschten. Auch heute wurden noch vereinzelt Schreckritter ausgebildet und obwohl es keine Kriege mehr zu kämpfen gab, setzte man sie unter anderem bei den Spezialeinheiten der Immernachter Polizei ein.

»Pass auf dich auf, mein Schatz! Ich liebe dich.« Sie küsste ihn auf den Kopf und ging wieder in die Gruft.

Julius blickte seiner Mutter hinterher und schlenderte los.

»Ich dich auch, Mom«, murmelte Julius leise. »Auf geht’s, Flap. Tun wir was für unsere Bildung, gehen in die öde Bibliothek, holen uns das Zauberpasswort samt dieser magischen Karte und dann machen wir einen Roadtrip!«

Der große Lektor

Die Bibliothek befand sich im Stadtzentrum und war neben dem Rathaus und der Gesamtschule Zitterbolt eines der ältesten Bauwerke von Gruselheim. Da Julius und seine Mutter in den kleinen Gruften der Vereinigten Gruftbau-Gesellschaft am Stadtrand von Gruselheim wohnten, war es ein weiter Weg dorthin.

Julius hatte keine Lust auf den Fußweg und vor allem nicht auf einen Spaziergang durch die Schlodder-Allee. Es war fast Vor-Mond und zu der Zeit trieben sich da viele Nachtmahre und andere unheimliche und rauflustige Gesellen herum.

»Wir fliegen ’ne Runde, Flap.«

Wenn es eine Vampir-Eigenart gab, die Julius an sich mochte und sehr gern nutzte, dann war das das Fliegen. Als jugendlicher Vampir hatte Julius zwar noch keine voll ausgeprägten Flugfähigkeiten, was es ihm somit auch unmöglich machte, aus Gruselheim heraus-zufliegen oder gar andere Orte oder Städte zu besuchen. Flugdauer und Höhe hingen vom Alter und der Konstitution eines Vampirs ab und man munkelte, dass Lord Draco und ein paar andere alte Vampire es schon über die Turmspitze der Mondlanze auf den Gipfel vom Grauenstein geschafft hatten. Die Mondlanze war ein riesiger magischer Wach- und Aussichtsturm auf dem Grauenstein, dem höchsten Berg in den Dunkelbergen, welche Immernacht magisch von anderen Welten abgrenzte. Doch für einen Flug ins Stadtinnere reichte es.

»Bereit, Flap?«

Julius spannte seine Oberschenkelmuskulatur an, um sich mit einem kräftigen Sprung in den ewigen Nachthimmel zu katapultieren. Flap hatte wie immer Mühe, hinterherzukommen.

»Heeeey Juliuuuuuus, mach laaaangsaaaamer!«, schnaubte die Fledermaus.

Julius hatte die Augen geschlossen und genoss den Flug. Die kalte Immernachtluft schnitt ihm ins Gesicht und sein Kapuzenpulli flatterte wild im Wind.

Ich fliege eigentlich viel zu selten, dachte er sich und korrigierte mit seinen Handflächen in eine leichte Linkskurve. Die öffentlichen Verkehrsmittel wie der Vollmond-Express waren halt zum einen gemütlich und zum anderen konnte er mit dem Smartphone spielen oder schauen, was es Neues auf Monstagram gab. Beim Fliegen benötigte er all seine Sinne, wollte er nicht gegen ein Hindernis knallen oder mit anderen fliegenden Einwohnern von Gruselheim zusammenstoßen. Zerknirscht dachte Julius an den Vorfall, als er während des Vampirfluges kurz ans Handy gegangen war, nur um eine Sekunde später mit einer Post-Hexe zusammenzustoßen. Obwohl Vampire über eine ausgezeichnete Selbstheilung verfügen, hatte die vom Besenstiel der Hexe gebrochene Rippe sehr geschmerzt und mit Grausen dachte er an den fiesen Zauberspruch. Zur Strafe hatte die Post-Hexe Julius genötigt, alle ihr Pakete und Briefsendungen aufzulesen.

»Da vorne ist es, mach mal langsamer!«, quiekte Flap durch das Rauschen des Windes.

Und tatsächlich erhob sich vor ihnen der Stadtkern von Gruselheim mit seinen großen altehrwürdigen Gebäuden. Die Bibliothek sah aus wie eine Mischung aus Fachwerkhaus und gotischer Kathedrale, ebenso beeindruckend wie unheimlich. An der Seite der zwei Türme feixten die gemauerten Wasserspeier schon von Weitem.

»Heeey, es wird einen schönen Vollmontag geben, die trotteligen Vampire fliegen mal wieder tief!«

»Yo, Spitzzahn, mach langsamer, deine Lunch Box kommt mit seinen Stummelflügeln nicht hinterher!«

Ja, die Wasserspeier der Gruselheimer Bibliothek waren bekannt für ihre hämischen Sprüche, Streiche und Scherze. Es hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass ein gewisser Lektor ihnen mit Magie diese Flausen in die steinernen Köpfe gesetzt hatte.

»Na wartet!«, grinste Julius und hielt mit voller Geschwindigkeit auf den ersten Wasserspeier zu.

»M… Mo… Moment, Kleiner, was zum Teufel wird das denn jetzt?«

Julius klappte die Hände nach hinten und stob knapp vor dem vorlauten Wasserspeier senkrecht nach oben, worauf dieser vor lauter Schreck ein paar Steinchen in die Tiefe rieseln ließ.

»Sehr witzig, Blutpanscher!«, maulte es von oben, als Julius lässig vor der Eingangstür auffederte und auf den hechelnden Flap wartete.

»Yo, Flugmäuschen, friss mal weniger Käfer, sonst hält man dich bald für den Mond!«, schallte es vom Turm und meckerndes Gelächter ertönte.

»Wie ich diese Steinproleten hasse!«, knurrte Flap und setzte sich keuchend auf Julius’ Schulter. Dieser öffnete die große, knarzende Eingangstür zur Bibliothek.

Leicht muffige Luft schlug ihnen entgegen und Julius rätselte, ob es am Alter des Bauwerks oder an den Besuchern lag. Drinnen gab es sowohl schwere Eichentische und uralte Folianten als auch moderne Computer sowie neuere Bücher, Zeitschriften und Comics. Kronleuchter und Kerzenständer sorgten für warmes Licht und konkurrierten mit dem Flimmern der PC-Monitore. Die Bibliothek erstreckte sich über mehrere Stockwerke, die über verschiedene Wendeltreppen und einen Aufzug zu erreichen waren. Julius schlenderte im Eingangsbereich zu Frau Weberknecht und meldete sich an.

»Hallo, Frau Weberknecht, lange nicht mehr gesehen. Wie geht es Ihnen?«

Frau Weberknecht schaute mit einem ihrer Augenpaare von ihren Karteikarten auf und lächelte. Sie war eine Spinnendämonin kurz vor der Rente und ihr gedrungener Spinnenkörper steckte in einem weiten Blütenkleid, das mehrere Öffnungen für die acht Gliedmaßen hatte.

»Wenn das nicht mein Lieblingsvampir ist. Schön, dich mal wieder zu sehen, Julius Schlotterbeck. Warst schon länger nicht mehr hier. Habt ihr ein Schulprojekt oder willst du tatsächlich ein Buch lesen?«

»Gedrucktes ist tot, Frau Weberknecht!«, grinste Julius und fügte angesichts der sichtlich getroffenen Bibliothekarin hinzu: »Aber ich brauche tatsächlich was für ein … hmm … Schulprojekt und vielleicht nehme ich mir ja noch ein paar Comics mit.«

»Comics, pfffft!«, machte Frau Weberknecht verächtlich und winkte mit einem Spinnenarm ab, während ihre anderen Arme auf die Tastatur klackerten und Karteikarten sortierten. »Wir haben hier so viele schöne Bücher und die jungen Kreaturen von Gruselheim wissen nichts Besseres, als ständig an ihren Smartphones oder vor dem ScaryNet zu sitzen.«

Frau Weberknechts Augenpaare schauten plötzlich traurig und so lenkte Julius schnell ein: »Ich interessiere mich sehr für die Geschichte Gruselheims.«

Frau Weberknecht strahlte plötzlich. »Aaaah, das ist schön. Wo wir doch so eine lebhafte Geschichte hier in Gruselheim haben. Die Hexengilden. Die großen Kriege der Schreckritter. Die Ghoul-Invasion von 1822. Der Vampirkrieg. Der große Magier-Streik 1904. Die Schlacht von …«

»Frau Weberknecht«, unterbrach Julius freundlich, aber bestimmt, »ich muss dringend den großen Lektor Donatus sprechen. Meinen Sie, er hat kurz Zeit für mich?«

Frau Weberknecht wurde still und schaute auf ihren Schreibtisch.

»Du willst zum großen Lektor? Bist du dir sicher, Julius? Ich kann dir gerne weiterhelfen, wenn es um Bücher geht. Wer hier etwas sucht, wird es meist finden – ob er will, oder nicht.«

Julius beugte sich über die Theke und setzte eine geheimnisvolle Miene auf, die Flap sogleich versuchte, zu imitieren. »Frau Weberknecht, ich habe eine wichtige Aufgabe und deswegen muss ich unbedingt mit dem alten Donatus sprechen. Bitte sagen Sie mir, wo ich ihn finden kann.«

Frau Weberknecht klappte den Karteikasten mit einem lauten Klacken zu.

»Für dich, junger Mann, ist er der große Lektor. Und ja, er ist natürlich im Haus. Du findest ihn im dritten Stock. Aber ich warne dich, junger Vampir, er ist heute besonders schlecht gelaunt! Vorhin war eine Schulklasse da und hat nicht nur einen Riesenlärm gemacht, sondern auch eine seiner Medusen-Vasen vom Tisch gestoßen.«

Julius biss sich auf die Unterlippe. »Schlechter als sonst? Auweia«, murmelte er und drehte sich zu Flap. »Vielleicht solltest du eher bei Frau Weberknecht bleiben. Der alte Don… ääähm, der große Lektor steht, glaub ich, nicht so auf Haustiere und Dämonen-Begleiter.«

Flap überlegte kurz und quietschte dann vergnügt: »Kein Ding, Bro, ich bleib hier und stehe Schmiere.«

Frau Weberknecht nestelte mit einem ihrer acht Arme an einer Schublade herum. »Du bist aber eine niedliche kleine Fellkugel. Hast du Hunger? Magst du Leckerli?«

Flap funkelte sie an. »Bin ich ein dämlicher Hund oder was? Ich bin eine hocheffiziente, mit Echolot ausgestattete Kommando-Einheit mit … oooh – getrocknete Motten, leeeckeeer!« Flap flatterte hurtig hinter die Theke und fraß genüsslich aus Frau Weberknechts Spinnenhand.

»Na dann viel Spaß und lass es dir schmecken, du hocheffiziente Kommando-Einheit. Bis später!«, grinste Julius und verließ die Empfangstheke in Richtung Wendeltreppe.

Magisches Flaschendrehen

Julius stieg die steile Wendeltreppe nach oben und musterte seine Umgebung. Es war still in der Bibliothek, nur vereinzeltes Räuspern war zu hören. Im dritten Stock standen mehrere Computer. Julius zählte sechs Besucher, die angestrengt auf die Monitore stierten. Das adrett gekleidete Skelett las sich einen alten Zeitungsartikel durch, während die matschige Schlamm-Hexe am nächsten PC anscheinend nach Rezepten für einen delikaten Krötenauflauf im ScaryNet suchte. Neben den sechs Besuchern an den PCs saßen noch vereinzelte Besucher in den Sesseln und stöberten in Büchern. Julius grüßte beim Vorbeischlendern und nahm leise Grüße sowie Knurr- und Zischlaute wahr. Endlich stand er vor dem Büro des großen Lektors.

»Kein Zutritt!«, »Unerlaubter Zutritt verboten!«, »Termin nur bei Anmeldung im Eingangsbereich!«, war auf mehreren Schildern geschrieben und Julius schluckte.

Ob das wirklich so eine gute Idee war?

Wie um seine Zweifel zu untermauern, ertönten plötzlich wüste Flüche und Beschimpfungen aus dem Büro.

»Das ist mir doch völlig egal. Es waren Schüler IHRER Schule, Draco. Ich will die Vase ersetzt haben!«

Julius wartete an der Tür und lauschte angestrengt, bis die Beschimpfungen weniger wurden und das Gespräch mit einem »Dann gibt es für die halt Hausverbot!« beendet wurde. Julius schnaufte kurz durch und klopfte zaghaft an der Tür.

Keine Antwort.

Julius klopfte noch mal. Dreimal. Tock, tock, tock.

»Verdammte Drei … jetzt fange ich auch schon damit an!«, knirschte er in sich hinein.

Wieder keine Antwort.

Julius nahm seinen Mut zusammen und öffnete langsam die Tür.

»Herr Donatus? Großer Lektor? Hätten Sie vielleicht einen Mom…«

KRACH!

Julius duckte sich gerade noch unter dem schweren Buch (»Erziehungsratgeber für Scheidungs-Hexen«) hindurch und stolperte vornüber in das Büro des großen Lektors. Mit einem weiteren Knall schloss sich sogleich die Tür hinter ihm.

Julius rappelte sich auf und erblickte Donatus, der hinter seinem Schreibtisch saß und ihn wütend anstierte. Julius hatte ihn erst einmal gesehen. Damals, als Julius und andere Klassenkameraden in der Bibliothek waren, um für ein Referat über billige asiatische Grabsteine zu recherchieren, hatte er ihn nur flüchtig an der oberen Brüstung bemerkt. Der alte Donatus war ein großer, hagerer Mann im fortgeschrittenen Alter (also ca. 483 und somit in Menschenjahren Anfang 50) und hatte ein wettergegerbtes, wildes Gesicht. Tiefe Falten, ein ebenso buschiger wie ungepflegter Bart und eine leicht gerötete Nase zeichneten sein Antlitz. Julius bemerkte auch eine tiefe Narbe über dem rechten Auge. Donatus trug einen abgewetzten Zaubermantel und Julius konnte das ausgeblichene Abzeichen des Schreckritterordens darauf erkennen: ein Totenschädel mit rot glühenden Augen, Fledermausschwingen und gekreuzten Schwertern. Julius’ Blick wanderte weiter und entdeckte einen Teil der Schreckritterrüstung sowie eine taktische Weste der ISK-Einheit auf einem Ständer im hinteren Teil des Büros. Zwischen zwei alten Regalen voller Bücher und seltsamer Gegenstände hing ein schwach glimmendes Zauberschwert an der Wand. Der Totenkopf-Knauf und das hellblaue Schimmern um die Klinge ließen keinen Zweifel zu: Dies war eine Seelenklaue, die magische Waffe eines Schreckritters.

»Was bildest du dir ein, hier einfach hereinzuplatzen? Kannst du nicht lesen? Ihr verdammten jugendlichen Faulpelze mit euren Smartphones und eurer Sucht nach diesem elenden ScaryNet – keine Bildung, kein Benehmen!« Donatus schnaubte verächtlich und hob das Buch auf, das er nach Julius geworfen hatte. Mit einem Rascheln seines abgewetzten Zaubermantels riss er den linken Arm hoch und murmelte ein paar unverständliche Worte, worauf das Buch langsam in das Regal zurückschwebte.

»Großer Meister Donatus … Herr … Lektor …«, stammelte Julius. »Es tut mir sehr leid, ich wollte nicht unhöflich erscheinen. Ich brauche Ihre geschätzte Hilfe bei einer Aufgabe.«

Donatus griff nach einer große Flasche mit einem lebendigen Schlangenkopf als Korken. Mit einem »Fuuump« zog er den fauchenden Schlangenkopf von der Flasche und nahm mehrere tiefe Schlucke von dem gelblich schimmernden Gebräu. Er ließ sich in seinen Ohrensessel fallen und rülpste.

»Soso, der kleine Herr Vampir mit nur einem Fangzahn braucht also meine Hilfe. Hast du dein Smartphone verloren? Beim Rambot-Tsu auf einen dieser geschleckten Schönlinge gesetzt und verloren? Bist du auf Monstagram nicht mehr angesagt oder verwandelst du dich in einen Werwolf, wenn dir ein Mädchen zuzwinkert?« Er lachte schnaubend über seine eigenen Witze und Julius schürzte verärgert die Lippen. Und woher wusste Donatus überhaupt das mit seinem einzigen Fangzahn?

»Herr … Meister Donatus, ich stehe vor einer sehr wichtigen Aufgabe. Sie müssen mir helfen!«, sagte Julius in fast flehendem Ton und ärgerte sich insgeheim darüber, wie er den alten Trinker umschmeicheln musste.

»Einen feuchten Ghoul-Dreck muss ich, du kleiner Vampirbleichling!«, knurrte Donatus böse und nahm einen weiteren Schluck. »Ihr kommt hier in meine Bibliothek, seid laut, habt keinen Respekt vor den Büchern, der Geschichte und den alten Legenden. Euch geht es nur um eure Vergnügungen und euren Spaß. Die Sucht nach diesen ganzen technischen Spielereien lässt euch gar nicht merken, dass ihr immer dümmer und ignoranter werdet.« Donatus rülpste verächtlich. »Verschwinde aus meinem Büro und hol dir bei Frau Weberknecht deine Bücher ab, die du für irgendein dämliches Schulreferat brauchst. Und sag Lord Draco, er und seine Schule für beschränkte Gruselheimer schulden mir eine Medusen-Vase!«

Julius senkte den Kopf und drehte sich Richtung Tür, als ihm etwas einfiel.

»Meister Donatus … großer Lektor … die Hexe Cassandra schickt mich. Sie sagte, Sie würden mir helfen!«

Donatus sprang regelrecht aus seinem Sessel auf. »Was hast du gesagt, Kleiner? Lady Cassandra schickt dich? Beschreib sie mir, los. SOFORT!«

Ja doch, chillen Sie mal, dachte sich Julius und beschrieb die Hexe: »Groß, schwarzes Kleid, superhübsches Gesicht, kommt und geht in rosa Wolken und lässt dauernd fiese Sprüche ab.«

Donatus packte Julius an den Schultern und zog ihn so nah an sich heran, dass Julius den übel nach Alkohol riechenden Atem wahrnahm. »Das ist sie. Wie kommt es, dass eine kleine Vampir-Nervensäge wie du Umgang mit der edlen Lady Cassandra hat?«

Julius befreite sich, zog seinen Hoodie gerade und grinste. »Na ja, Lady Cassandra und ich sind alte Freunde. Sie hilft mir, ich helfe ihr … so chilliges Hexen-Zeugs halt.«

»Erzähl keinen Quatsch, ich glaub dir kein Wort!«, raunte Donatus.

»Das hat sie auch gesagt und mir deshalb das hier für Sie mitgegeben.« Julius kramte in der Tasche seines Kapuzenpullis, holte den silbernen Schlangenarmreif hervor und reichte ihn dem alten Donatus.

»DAS IST DOCH … Was ist das denn jetzt für ein …«