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Ein gespenstisch-witziger Fantasy-Roman, in dem die Grenzen zwischen Gespenster- und Menschenwelt allmählich verschwimmen. Eine berührende Geschichte über die innere Stärke, Hilfe anzunehmen, wenn man sie braucht. Eine ausgefallene Schulgeschichte, die das Scheitern, aber auch den Mut thematisiert, für seine Träume zu kämpfen. Lesespaß für alle Fans von witzigen und gruseligen Gespenstergeschichten. + Perfekte Mischung aus Grusel und Humor + Spannende Urban-Fantasy + Mit wunderschönen Bildern von Sameena Jehanzeb illustriert + Für Jungs und Mädchen ab 8 Jahren + Zum Vorlesen und Selberlesen Der Titel ist bei Antolin gelistet. ------------------------------------------------------------- Inhalt: + Gespenstern will gelernt sein! + In der Schlottermoos-Gespensterschule steht die Abschlussprüfung bevor. Für die clevere Schülerin Zimbi bedeutet dies, ihren Traum endlich erfüllen zu können: sie will das gespenstischste Gespenst aller Zeiten werden! Dafür muss sie nur die Prüfung als Jahrgangsbeste abschließen. Wäre da nicht ein Problem: Zimbi kann nicht gespenstern. Gemeinsam mit dem weniger talentierten Gespensterschüler Dunggel und dem einsamen Rentner Pawel trainiert sie deshalb in der Menschenwelt, um ihre Fähigkeiten zu verbessern. Doch während sie ihrem Ziel langsam immer näher kommt, hat sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Sind sie etwa nicht die einzigen Gespenster in der Menschenwelt?
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Seitenzahl: 185
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Für meine Kinder, die witzigsten und einzigartigsten Gespenster in meinem Leben.
Drohendes Unheil
Vorfreude
Ein unvermeidbares Angebot
Auf dem Friedhof
Eine ungewöhnliche Idee
Einfach gespenstisch
Gartenbeleuchtung
Heulen in der Nacht
Pawel
Dunkle Pläne
Ein ungespenstisches Team
Rettet Pfefferminz
Schlüsseldienst
Nicht allein
Gute Taten
Ein schlottermoosgrüner Brief
Die Prüfung beginnt
Zimbi ganz groß
Feuer!
Aufgabe mit Hindernissen
Wut und Verzweiflung
Zerfall
Gefangen
Intrige
Die letzte Aufgabe
Gespenstische Offenbarung
Entscheidungen
Gefundenes Glück
Schwungvoll riss Kronn den alten Wandteppich zur Seite. Ein großer Spiegel kam zum Vorschein, den der gewebte Stoff für gewöhnlich vor anderen sorgsam verborgen hielt. Doch jetzt brauchte er ihn.
Für einen Moment schenkte sich Kronn ein zufriedenes Lächeln. Endlich hatte er es geschafft! Die harte Arbeit und die lange Zeit des Wartens hatten sich ausgezahlt. Er war sich sicher, dass dies gute Nachrichten waren, die er nun überbringen würde. Trotzdem hätte er gern auf all das verzichtet. Er hasste es, über den Spiegel Kontakt zu ihm aufzunehmen. Das kribbelnde Gefühl widerte ihn an, doch es gab keinen anderen Weg, um mit ihm zu sprechen. Zumindest noch nicht.
Mit den Fingerknöcheln klopfte er gegen die fleckige Spiegelfläche. Ein unheilvoller Rhythmus hallte durch den Raum und ließ alle anderen Geräusche augenblicklich verstummen. Kaum war der letzte Schlag verklungen, begann das Kribbeln in seiner Hand. Mehrmals öffnete und schloss er sie, obgleich es sinnlos war: Das Gefühl blieb.
Zeitgleich verblasste Kronns Spiegelbild allmählich. Er hob den Kopf und betrachtete die schwindenden Konturen seines Körpers, die blasse Silhouette, die an Fülle verlor. Statt seiner baute sich das Bild einer gräulichen Gestalt auf, die ihn erwartungsvoll aus strahlend weißen Augen ansah.
„Die Zeit ist gekommen.“ Mit triumphalem Lächeln hielt Kronn einen Brief gegen den Wandspiegel. „Siehst du das? Da steht es schwarz auf weiß: Das Prüfungskomitee sucht ein neues Mitglied und ich wurde auserwählt, meine Befähigung unter Beweis zu stellen.“
Der Blick der Gestalt huschte über die Zeilen. „Tatsache“, murmelte sie überrascht. Die Stimme klang merkwürdig dumpf, als befände sich der Sprechende unter einer Glaskuppel. „Und das, obwohl du deine Finger nicht im Spiel hattest.“
„Es hat nicht viel gefehlt …“ Mit einem kühlen Schmunzeln warf Kronn den Brief achtlos auf den Schreibtisch, der schräg hinter ihm stand. Tatsächlich hatte er schon mehrmals mit dem Gedanken gespielt, die ganze Angelegenheit ein wenig zu beschleunigen. Als Schulleiter der renommiertesten Schule der Gespensterwelt hätte er allerhand Mittel und Wege dazu gehabt, das ein oder andere Mitglied des Komitees einfach verschwinden zu lassen. Aber auch vor Antritt dieser Stelle hatte er seinem Glück hin und wieder auf die Sprünge geholfen. Nicht umsonst war er vor wenigen Jahren zum Direktor der berühmten Schlottermoos-Gespensterschule ernannt worden.
„Geduld war noch nie deine Stärke“, stellte die Stimme aus dem Spiegel nüchtern fest.
„Kein Wunder, wenn man bedenkt, wem ich meine Existenz zu verdanken habe.“
Von seinem Gegenüber drang ein verächtliches Schnauben. „Was willst du damit andeuten?“
Der Schulleiter verengte die Augen und straffte seine Schultern. „Dass ich genug Geduld bewiesen habe. Jetzt ist es an der Zeit, dafür belohnt zu werden.“
„Erst einmal müssen sie dich aufnehmen.“
Kronn lachte laut auf. Sein lockiger Bart wackelte. „Oh, das werden sie, mein Freund. Sie haben keine andere Wahl. Der Platz muss besetzt werden, so will es das Gesetz. Und es gibt kein anderes Gespenst, das dafür geeigneter ist als ich.“
„Ich hoffe, du hast recht. Sonst war alles umsonst.“
Kronn hob drohend eine Faust. „Zweifelst du etwa an meinen Fähigkeiten?“
„Warum sollte ich?“ Ein abfälliges Lachen erklang. „Etwa weil du vor 53 Jahren angeblich auch schon der einzig geeignete Kandidat warst, ehe du dann doch gescheitert bist?“
„Genug!“, brüllte der Direktor. Seine blasse Haut hatte sich in ein helles Rot verfärbt. „Das war etwas völlig anderes. Dieses Mal bin ich besser vorbereitet. Ich habe mir mehr Zeit genommen, meine Position zu festigen und meine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Es wird funktionieren. Es ist mein Schicksal.“
Die Gestalt schnalzte mit der Zunge. „Unser Schicksal, du erinnerst dich? Außerdem solltest du nicht vergessen, dass wir Konkurrenz haben.“
„Konkurrenz?“ Kronn schnaufte. Allmählich erhielt sein Körper die typische bleiche Farbe zurück. „Und wer genau soll das sein?“
„In deiner Position sollten dir die Gespenster deiner Schule bekannt sein“, fauchte es aus dem Spiegel zurück.
Kronn strich sich durch den Bart und zog eine Locke in die Länge. Natürlich kannte er seine Schülerschaft. „Uns wird niemand in die Quere kommen. Wir werden unser Ziel erreichen. Dafür sorge ich persönlich, sobald ich Mitglied des Prüfungskomitees bin.“
„Und wenn sie dich nicht nehmen?“, warf die Gestalt ein.
Der Schulleiter ballte erneut eine Hand zur Faust, als er näher an den Spiegel trat. „Glaub mir, das werden sie.“
Zimbi hopste durch die Flure der Schlottermoos-Gespensterschule, die sich wie ein Labyrinth durch das riesige Gebäude erstreckten. Obgleich seit Pausenbeginn zahlreiche Gespenster kreuz und quer durch die Gänge schwebten, kam Zimbi schnell voran. Denn anders als alle anderen legte sie ihren Weg zu Fuß zurück. Sie huschte einfach unter den anderen Kindern hindurch. Dadurch lief sie nicht Gefahr, sich mit einem unachtsamen Gespensterwesen zu einem wabernden Knäuel zu verknoten, wie es zu Pausenzeiten recht häufig passierte. Zwar gelang es den Unglücklichen meist, sich zu befreien, doch manchmal verhedderten sie sich so sehr, dass sie Hilfe brauchten, um sich wieder voneinander zu trennen.
Trotzdem bedauerte Zimbi es für gewöhnlich, nicht ebenfalls durch das Schulgebäude schweben zu können. Heute aber war ihr das egal. Mit einem riesigen Grinse-Halbmond, der sich über die gesamte Front ihres Gesichtes zog, bog sie beschwingt um die Ecke, bevor sie verwundert stehen blieb. Vor einem schwarzen Brett schwebte eine riesige Wolke aus weißen und grauen Gespenstern so dicht aneinandergedrängt, dass die Entstehung eines Super-Knäuels drohte.
„Endlich!“ Zimbi kroch unter der Masse hindurch und stellte sich direkt vor das Brett. Hinter ihr ertönten zahlreiche Beschwerden, die sie jedoch gekonnt ignorierte. „Wollen wir doch mal sehen …“
Mit einem gezielten Blick entdeckte sie ihren Namen an oberster Stelle einer Liste, die mit „Gespräche mit Toten – was man besser nicht sagen sollte“ überschrieben war. Zimbis ohnehin schon breites Grinsen dehnte sich noch ein Stück weiter aus, sodass sich ihre Mundwinkel beinahe an ihrem kahlen Hinterkopf berührten. Großartig! Der Tag entwickelte sich gerade zum besten aller Zeiten.
Mit erhobenem Haupt wollte sie sich wieder in Bewegung setzen, als eine kleine graue Rauchwolke ihre Aufmerksamkeit erregte. Neben ihr schwebte Dunggel, dessen Kopf gerade wie ein Fahrstuhl geräuschvoll zwischen seinen Schultern verschwand. Dann hörte sie ein Seufzen, gefolgt von einem basslastigen Brummen, das aus dem nun kopflosen Gespenst drang. „Nicht schon wieder …“
Über Zimbis Augen erschienen plötzlich Brauen, die sie langsam nach oben schob. Neugierig wandte sie sich wieder der Liste zu und suchte Dunggels Namen. Erwartungsgemäß entdeckte sie ihn ganz unten am Ende einer langen Reihe von Namen. Wieder einmal hatte er das schlechteste Klausurergebnis von allen.
„Also, gut ist das nun wirklich nicht“, murmelte Zimbi und wandte sich dann wieder ihrem Gegenüber zu. „Hast du überhaupt geübt?“
Das Brummen aus Dunggels Körper wurde noch etwas tiefer. Sie tätschelte unbeholfen seine Schulter. „Na, na, das wird schon …“
„Du hast gut reden“, empörte er sich, während sein Kopf mit einem Plopp wieder aus seinem Körper schnellte. Nachdrücklich deutete er mit dem Finger auf die Liste. „Wie zum oberheiligen Fußpilzmarathon kann man eigentlich 153,74 Punkte erreichen, wenn die Höchstpunktzahl nur 121,03 beträgt? Kannst du mir das mal erklären?“
Zimbi grinste schief und zuckte mit den Schultern. Es war nicht das erste Mal, dass sie weit mehr Punkte erzielt hatte, als die Klausur eigentlich hergab. Wenn sie ehrlich war, gehörte sie seit jeher zu den klügsten Gespenstern der Schule. „Na ja, so wirklich schwer war die Prüfung ja nicht.“ Ihr Grinsen entgleiste, als Dunggel missmutig grummelte und sie vorwurfsvoll ansah. Mit zusammengepressten Lippen kratzte sie sich am Hinterkopf. Sie musste hier weg, bevor er noch ein längeres Gespräch begann, das sie jetzt wirklich nicht führen wollte. Schnell duckte sie sich unter den schwebenden Gespenstern hindurch und huschte vor der Wolke davon. Erst als sie sich ein gutes Stück von den anderen entfernt hatte und ihr niemand gefolgt war, atmete sie erleichtert durch.
Zimbi setzte eilig ihren Weg fort und kurz darauf hopste sie wieder gut gelaunt durch die verschlungenen Gänge der Schule. Sie bog mal nach rechts und mal nach links ab, bückte sich unter einem niedrigen Torbogen hindurch und kletterte ein großes klebriges Spinnennetz hoch, um eine mitten im Gang errichtete Mauer zu überwinden. Ab und zu kreuzten andere Gespenster ihren Weg, die jedoch anderes im Sinn hatten, als sich mit ihr zu unterhalten. Ein Glück!
„Ist das nicht total anstrengend mit dieser Lauferei?“
Zimbi zuckte zusammen und drehte sich überrascht um. Für einen Moment wirkte ihr milchweißer Körper fast durchscheinend. „Beim ranzigen Fischlaich, du hast mich vielleicht erschreckt!“
Dunggel konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen und schwebte neugierig näher. „Du warst ganz schön in Gedanken, was?“
„Ein wenig“, gab sie zu. „Was tust du hier?“
Er blinzelte überrascht. „Wieso?“
„Die Klassenräume liegen in der anderen Richtung. Hast du dich etwa verschwebt?“ Zimbi rollte mit den Augen, als sich Dunggel unsicher umsah.
Wie den meisten Gespenstern an der Schule fiel es offensichtlich auch ihm schwer, sich in dem weitläufigen Gebäude zurechtzufinden. Kein Wunder, denn streng genommen war die Schlottermoos-Gespensterschule kein einzelnes Haus. Vielmehr bestand sie aus einem Sammelsurium unterschiedlicher Bauwerke, die vor Hunderten von Jahren einmal eine Menschenstadt gewesen waren. Während der Raunächte 1657 und 1658 war die Stadt gewaltsam von Gespenstern übernommen worden. Obgleich die einzelnen Objekte im Laufe der Zeit zu einem großen Komplex zusammengewachsen waren, konnte man darin noch immer einfache Wohnhäuser und Lagerhallen sowie die Überreste einer Burg und eines Klosters erkennen. Selbst heute wurden immer noch Teile der Schule entdeckt, die bis dahin unbekannt gewesen waren. Deshalb hatte schon so manch ein Gespenst Tage gebraucht, um in den bekannten Teil der Schule zurückzukehren. Es gab jedoch Gerüchte, dass dies nicht allen von ihnen gelungen war.
„Ich hätte schwören können, dass es hier zum Friedhof geht“, murmelte Dunggel und kratzte sich am Hinterkopf.
„Nein, hier geht es in den Ostflügel. Zum Friedhof geht es dort entlang.“
„Gut zu wissen, danke.“ Er folgte der gezeigten Richtung, hielt dann aber direkt vor der Wand noch einmal inne. Neugierig sah er über die Schulter. „Was willst du eigentlich im Ostflügel? Ist da nicht auch das Büro vom Kronn?“
Zimbi reckte stolz ihr Kinn in die Höhe. „So ist es. Er hat persönlich nach mir geschickt.“
Dunggel machte große Augen. Sein Körper verfärbte sich dabei glibbergrün. „Wirst du etwa schon jetzt zur Prüfung zugelassen?“
Üblicherweise lagen zwischen den letzten Klausuren und der schriftlichen Abschlussprüfung mehrere Wochen, in denen Lernende keinen Unterricht mehr hatten. Diese freie Zeit nutzten viele, um sich durch hektisches Lesen verschiedener Lektüren oder panisches Üben ihrer Fähigkeiten auf den letzten Drücker zu verbessern. Die wenigsten von ihnen hatten ihre bisherige Schullaufbahn allerdings so erfolgreich gemeistert, dass sie überhaupt zur Abschlussprüfung zugelassen werden würden. Doch zum jetzigen Zeitpunkt hatte das Prüfungskomitee darüber noch keine Entscheidungen getroffen.
Zimbi ließ sich davon jedoch wenig beeindrucken. „Ich bin das beste Gespenst der Schule, natürlich wird er mich heute zur Prüfung zulassen“, erinnerte sie Dunggel schnippisch und verschränkte die Arme vor der Brust.
Er rollte mit den Augen und ließ seine Lippen flattern. Das Grün seiner Haut wurde intensiver. „Glückwunsch“, begann er tonlos. „Ich meine, ich bin viel länger an der Schule als du. Und mich hat der Kronn noch nie zu sich rufen lassen. Nicht, dass ich wirklich darauf Wert legen würde …“ Er drehte sich zur Wand und verschränkte nun seinerseits die Arme.
„Wenn er jedes Gespenst zu sich rufen lassen würde, das irgendwann einmal ein paar Punkte in einer Klausur bekommen hat, wäre er einige Hundert Jahre beschäftigt“, bemerkte sie und zuckte mit den Schultern. „Es ist nun einmal nicht selbstverständlich, mit gerade einmal 137 Jahren alle Prüfungen mit Bestnote zu bestehen.“ Ihr Kinn ruckte noch ein Stück höher.
Dunggels Gespensterkörper bekam rote Flecken, während er einen tiefen Atemzug nahm. Kurz starrte er den Flur entlang, als dächte er über etwas nach. Doch dann schwebte er schweigend los und verschwand.
Zimbi ging mit einem Achselzucken darüber hinweg und hopste gut gelaunt weiter. Bald schon hatte sie die Begegnung mit Dunggel vergessen und nur kurze Zeit später bog sie in den Gang ein, der zum Büro des Schulleiters führte. Ohne es zu merken, wurden ihre Schritte langsamer, bis sie schließlich vor einer großen Eisentür stehen blieb. Sie atmete tief durch. Endlich stand sie da, wo sie schon immer hatte sein wollen: vor Schulleiter Kronns Büro, nur ein einziges Gespräch von ihrer Prüfungszulassung entfernt.
Die Aufregung kribbelte durch ihren ganzen Körper, als sie sich mit dem gusseisernen Türklopfer lautstark ankündigte.
Mit einem schaurigen Ächzen schwang die rostige Eisentür auf und gab den Blick auf einen großen Raum frei. Ein hohes Gewölbe spannte sich auf, von dessen Rippen es an einigen Stellen geräuschvoll tropfte. Hier und da hatten sich rutschige Pfützen gebildet, in denen sich schleimige grünbraune Algen ausgebreitet hatten. Es roch nach Feuchtigkeit und Metall.
Ehrfürchtig betrat Zimbi das Direktorat und sah sich um: Die Wände waren von zahlreichen meterhohen Ölgemälden gesäumt, deren Rahmen schwarz angelaufen waren. Nur an vereinzelten Stellen schimmerte das Silber noch hervor. Zwischen den Gemälden hingen große Fackeln in schweren Halterungen und erleuchteten so den gesamten Raum bis zu einem abgesetzten Anbau an dessen Ende. Dort pendelte windschief ein mächtiger eiserner Kerzenleuchter, der seine besten Jahre bereits hinter sich hatte. Darunter thronte ein viel zu großer Schreibtisch aus poliertem Stein. Die Wände waren dort mit alten löchrigen Teppichen behangen – ein Festmahl für Mäuse und Motten, die hier, genauso wie im restlichen Teil der Schule, zahlreich vertreten waren und schon so manchen Schaden angerichtet hatten. Hinter dem Schreibtisch wartete ein bleiches Gespenst höheren Alters: Schulleiter Kronn. Sein Bart spannte sich wie ein breiter Fächer um sein Kinn.
Die Tür hinter Zimbi ächzte abermals, als sie von allein ins Schloss fiel. Vorsichtig tappte sie die ausgetretenen Pflastersteine entlang, um nicht aus Versehen in einer der Pfützen auszurutschen. Außerdem wollte sie nicht auf die Kröte treten, die hier irgendwo saß und eifrig vor sich hin quakte.
Als sie etwa die Mitte des Gewölbes erreicht hatte, erhob sich der Schulleiter von seinem Stuhl und schwebte ihr entgegen, bis sie schließlich voreinander stehen blieben. Er war ein gutes Stück größer als sie, etwa eine Fledermausflügelspannweite. An seinem Saum endete sein Körper in langen Fetzen, die wie ein abgetragenes Kleidungsstück den Eindruck eines ereignisreichen Lebens erweckten.
„Seit Generationen werden an dieser Schule Gespenster ausgebildet“, echote er plötzlich. „Viele, sehr viele Lernende haben hier ihre Abschlussprüfung abgelegt …“ Er machte eine kurze Pause und sah sie dabei direkt an. „… und bestanden.“
Zimbi nickte zustimmend. Dies war einer der Gründe, warum sie sich damals ausgerechnet für die anspruchsvolle Schlottermoos- Gespensterschule entschieden hatte: Es war eine Schule mit langer Tradition und sehr gutem Ruf. Wenn man hier eine gute Prüfung ablegte, konnte man anschließend alles erreichen, was man sich im Leben wünschte.
„Die Besten von ihnen siehst du hier.“ Er breitete die Arme aus und zeigte auf die zahlreichen Gemälde, die den Raum säumten. Obgleich man ihnen ihr Alter sehr gut ansehen konnte, pulsierte eine unvorstellbare Kraft aus jedem einzelnen. Es wirkte fast so, als ob die Energien der Gespenster zu Lebzeiten eingefangen und in den Bildern auf ewig konserviert worden wären.
Ehrfürchtig betrachtete Zimbi die Porträts. Natürlich kamen ihr viele der Namen bekannt vor, die in großen Tafeln am unteren Ende der Rahmen angebracht waren: Da gab es Quurk den Lauten,Meister des Heulens. Sein Klagelaut war das Schaurigste und Lauteste, was die Gespensterwelt je zu bieten gehabt hatte, weshalb er gar als „Quurks Donner“ in die Geschichtsbücher der Gespenster und der Menschen eingegangen war.
Gegenüber von ihm hing ein Bild von Bado der Geschmeidigen. Niemand hatte sich jemals so mühelos in die Länge ziehen können wie sie. Einst war es ihr sogar gelungen, sich durch einen 87 m langen, spiralförmigen Strohhalm zu winden, der so dünn war wie der Flügel einer Libelle. Man sagt, sie habe noch bis zum Hals unten herausgeschaut, als am anderen Ende ihr Kopf bereits erschienen sei, so sehr habe sie sich strecken müssen.
Es gab aber auch Bilder zahlreicher Gespenster, die Zimbi nicht kannte.
Schulleiter Kronn folgte ihren neugierigen Blicken, ehe er mit einer ausladenden Geste auf das Gemälde vor ihnen zeigte. „Instrich der Gelbe, Meister des Farbwechsels.“ Der Abgebildete schillerte in allen Farben des Regenbogens. „Sein halbes Leben lang studierte er Kraken, bis er schließlich dazu in der Lage war, jede erdenkliche Farbe seiner Umgebung anzunehmen. Selbst Menschen und Tieren fiel es schwer, ihn zu entdecken.“
„Das ist ja fantastisch!“, rief Zimbi begeistert. „Wieso hieß er ‚der Gelbe‘?“
„Weil er meistens gelb war. Seine Lieblingsfarbe“, erklärte Kronn wie beiläufig. „Er hat den Farbwechsel perfektioniert.“
„Wahnsinn! Wie gut war er?“
Schulleiter Kronn schnalzte mit der Zunge. „Zu gut, möchte man meinen.“
Über Zimbis Auge erschien eine Braue, die sie skeptisch nach oben zog. „Das verstehe ich nicht. Wie kann man zu gut sein?“
„Er ist verschwunden.“
„Verschwunden?“ Ihr Blick wurde noch ein wenig ehrfürchtiger, während sie Instrich betrachtete.
Kronn seufzte überzogen. „Er ist nie wieder aufgetaucht. Oder besser: Man hat ihn nie wieder gesehen. Ob er einfach noch nicht gefunden wurde oder ob er bereits tot ist …“ Fast beiläufig zuckte er mit den Schultern. Dann ging er einige Schritte weiter und deutete auf ein weiteres Gemälde. „Pendela die Leichte, Meisterin des Schwebens. Ein echtes Naturtalent. Der Legende nach fing sie im Alter von wenigen Augenblicken an zu schweben und seitdem berührte sie nie wieder den Boden.“
Zimbi sah sich das Gespenst genauer an: Sein ganzer Körper war bedeckt von einer Vielzahl kleiner Wirbel, die ihn mit einem unruhigen Muster versahen, als ob hunderte Wellen an eine unsichtbare Küste brandeten. Von Kopf bis Fuß züngelten kleine Windhosen hervor, die wie Rauchsäulen weit entfernter Feuer nach oben stiegen. Und selbst seine grauen Augen erinnerten Zimbi an einen tosenden Sturm. „Schwebt sie noch immer?“
„Wer weiß das schon? Eines Tages flog Pendela in die Höhe und als ein Windstoß kam, wurde sie verweht.“
Zimbi sog scharf die Luft ein. Nun hatte sie einen weiteren Grund, weshalb sie nur allzu gerne auf das Schweben verzichtete.
„Jedes einzelne Gespenst hier hat es geschafft, durch Disziplin und Größe seine Fähigkeit bis zur Perfektion zu verbessern.“ Sein Resümee wurde von einer ausladenden Geste begleitet, das alle Gemälde einschloss. „Jedes von ihnen hat sein Ziel stets verfolgt und ausnahmslos alles dafür getan, um es zu erreichen.“
„Fantastisch!“ Zimbi war so überwältigt, dass sie sich nur schwer von den Porträts losreißen konnte. Sie staunte über das Gespenst mit der Eisenkette in der Hand, deren Kettenglieder so groß wie Bullaugen waren. Hierbei handelte es sich höchstwahrscheinlich um die Meisterin des Kettenrasselns, die mit ihrem Können über Jahrtausende hinweg die Menschen mit schaurigen Geräuschen in Angst und Schrecken versetzt hatte.
Zimbi stutzte über eine Büroklammer, die inmitten der Gespenster eingerahmt zu sehen war. Sie vermutete, dass der Perfektionist dieser Fähigkeit in der Lage gewesen war, leblose Gegenstände zu übernehmen und diese so zum Leben erwecken konnte. Eine sowohl faszinierende als auch äußerst komplexe Fähigkeit, die zu den schwersten zu erlernenden gehörte.
Doch das war nichts im Vergleich zu dem Gespenst, auf dessen Bauch ein großes Ziffernblatt prangte und dessen Körper übersät war von kleinen und großen Zeigern. Dies musste Ohor der Pünktliche sein, der Meister der Zeitkontrolle. Er hatte durch seinen wahllosen Eingriff in die Zeit für Unruhe und Chaos gesorgt,sowohl in der Menschen- als auch in der Gespensterwelt. Seitdem war es unter Androhung von Verbannung verboten, diese Fähigkeit einzusetzen. Einfach unglaublich!
Schulleiter Kronn drehte sich zu ihr um. Sein forschender Blick traf ihre cremeweißen Augen, die nur um wenige Nuancen dunkler waren als ihr Körper. „Ich habe dich zu mir kommen lassen, weil du ein herausragendes Gespenst der Schlottermoos-Gespensterschule bist. Deine Leistungen sind atemberaubend. Jedes einzelne Fach hast du mit Auszeichnung bestanden. Deine Lehrenden verweisen stets auf dein großes Wissen in Bezug auf … nun … ausnahmslos alle Gespensterfähigkeiten.“
Zimbi hob mit einem Lächeln das Kinn und straffte die Schultern, während sich ihr Körper in ein leuchtendes Goldgelb verfärbte. Was für ein Lob! Aber natürlich hatten sie recht. Dass man so jedoch auch vor Schulleiter Kronn von ihr sprach, gefiel ihr außerordentlich.
Er strich sich durch den Bart und zog einzelne Locken in die Länge, ehe diese wie eine Feder zurücksprangen. „Was ist dein Ziel, Zimbi? Was möchtest du einmal erreichen?“
„Ich will zu den besten Gespenstern der Welt gehören“, sagte sie mit fester Stimme. „Eines Tages soll man über mich Legenden erzählen und es soll auch von mir so ein Gemälde geben.“
„Tatsächlich?“ Er schmunzelte. „Du möchtest also eine Meisterin werden und eine Fähigkeit perfektionieren?“
„So ist es.“
Langsam nickte er und betrachtete nun selbst noch einmal die Porträts. Dann schnalzte er wieder mit der Zunge. „Jedes einzelne Gespenst hier …“ Er zeigte wieder auf die Gemälde. „… hat die Abschlussprüfung der Schlottermoos-Gespensterschule mit absoluter Höchstpunktzahl bestanden. Keines von ihnen hatte die zweit- oder drittmeisten Punkte. Sie alle waren die ausnahmslos Besten ihres Jahrgangs.“ Er machte eine Pause, in der sein Blick abermals zu Zimbi schwenkte und für einige Momente an ihr kleben blieb wie Fliegendreck. Doch dann glitt der Hauch eines hämischen Grinsens über seine Lippen. „Glaubst du denn, dass du das Zeug dazu hast?“
„Das habe ich!“
„Ich verstehe.“ Er wandte sich erneut den Bildern zu. „Dann hast du dich sicher schon ausgiebig über die Abschlussprüfung informiert.“
Zimbi verzog das Gesicht. Was für eine Frage, natürlich hatte sie das getan! Tagelang hatte sie sich in der Bibliothek eingeschlossen und sich intensiv mit der Abschlussprüfung auseinandergesetzt, immer in Sorge, ihre Noten würden für die Zulassung nicht ausreichen. Glücklicherweise war sie unbestreitbar das klügste Gespenst der ganzen Schule, vielleicht sogar der letzten Jahre oder Jahrzehnte. Dies reichte doch wohl absolut aus, um ihr Können unter Beweis zu stellen.