Die Schnüfflerin - Anne von Vaszary - E-Book + Hörbuch

Die Schnüfflerin Hörbuch

Anne von Vaszary

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Beschreibung

Der Geruchssinn als Ermittler: »Die Schnüfflerin« von Anne von Vaszary ist ein origineller, unblutiger Kriminalroman um eine Frau, die dank ihres ausgeprägten Geruchssinns einem Giftanschlag in Berlin entgeht und unverhofft selbst zur Ermittlerin wird. Eigentlich wollte Nina (23, Schulabbrecherin ohne Lebensplan) sich mit ihrem Bekannten Ricky nur in einem Restaurant in Berlin treffen, um ihm zu sagen, dass ihr One-Night-Stand Folgen hat, doch dann kommt alles anders. Mehrere Gäste ringen nach Luft, rutschen von ihren Stühlen und kämpfen um ihr Leben – unter ihnen auch Ricky. Nina bleibt von dem Giftanschlag verschont, weil ihre seit der Schwangerschaft hochsensible Nase sie davon abgehalten hat, das Essen zu probieren. Schon seit Tagen kämpft Nina mit den Auswirkungen ihres verstärkten Geruchssinns. Eine nützliche Fähigkeit, denkt sich Kommissar Koller von der Berliner Kripo und spannt Nina in seine Ermittlungen ein, die – der Nase nach – direkt zum Mörder führen ... Anne von Vaszary wirkt als Dramaturgin und Erzählerin in unterschiedlichen Medienformen und Formaten. So führte sie ihre Leidenschaft für gute Geschichten schon in den Games-, Hörspielserien- und Comedybereich. Ihr Sinn für prägnante Charaktere und ihre eigenen Erfahrungen mit dem verstärkten Geruchssinn während der Schwangerschaft fließen in diesen außergewöhnlichen Kriminalroman ein und schaffen ein Ermittler-Duo mit hohem Wiedererkennungswert.

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Zeit:11 Std. 50 min

Sprecher:Julia Blankenburg

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Andy24

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Topi
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Anne von Vaszary

Die Schnüfflerin

Kriminalroman

Kriminalroman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Ein Restaurantbesuch mit verheerenden Folgen: Eigentlich wollte Nina (23, Schulabbrecherin) ihrem One-Night-Stand Ricky mitteilen, dass er bald Vater wird, doch dann kommt alles anders. Mehrere Gäste ringen nach Luft und kämpfen um ihr Leben – auch Ricky. Nina bleibt von dem Giftanschlag verschont, weil ihre, seit der Schwangerschaft hochsensible Nase, sie davon abgehalten hat, das Essen zu probieren. Schon seit Tagen kämpft Nina mit den Auswirkungen ihres sich mehr und mehr ausprägenden Geruchssinns. Eine nützliche Fähigkeit, denkt Kommissar Koller von der Berliner Kripo und spannt Nina in seine Ermittlungen ein, die  –der Nase nach  – direkt zum Mörder führen …

Inhaltsübersicht

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. KapitelDanksagung
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Für alle, die Väter und Mütter und Kinder sind.

Und ganz besonders für Laszlo, Lucy & Vincent und meine Eltern.

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1

Warum eigentlich der?, fragte ich mich und musterte Ricky. Sein knallrotes Shirt, seine ungeduldig trommelnden Finger, seine Stirn, die von Haarlack glänzte.

Als er mich auf dem Rücksitz des Cabrios küsste und meine Hände seinen Lackpony berührten, war ich kurz davor, den Abend abzubrechen, doch dann drehte Ricky sein Gesicht in meine Handfläche, und das war der Moment, von dem an ich den Dingen ihren Lauf ließ. Ich ließ Rickys Zunge meiner Lebenslinie folgen und allen anderen, die ihr in die Quere kamen. Lauschte dem Rauschen des Windes im Weizenfeld neben uns und sah an Rickys auf und ab federndem Kopf vorbei in den Himmel, der voller Sterne war. Voller funkelnder Sterne und blinkender Satelliten und Sternschnuppen, die an einem Mond vorbeizischten, der riesig war. Manche Menschen fühlen sich klein und unbedeutend angesichts so eines Himmels, ich aber fühlte mich lebendig, gewollt, als wäre die ganze Welt mein Zuhause, so als wäre ich nicht allein.

Nun, fast genau sechs Wochen später, war es Ende September, nieselig und verhangen. In den Pfützen spiegelten sich betongraue Wolken.

Bis heute war es mir gelungen, Ricky aus dem Weg zu gehen, doch die Dinge hatten sich geändert, und darum saßen wir jetzt hier in diesem netten französischen Restaurant namens Oscars. Ricky in der Erwartung, dass es eine Fortsetzung des Sternschnuppenabends geben würde. Ich, weil ich festgestellt hatte, dass ich schwanger war.

»Ist doch ganz schön hier«, sagte Ricky und hielt mir die Speisekarte hin, »goldener Einband und alles auf Französisch: Süpee gratinee … äh … was auch immer wir gerade bestellt haben, es ist jedenfalls das Längste, was hier steht, und darauf kommt’s an.« Er lachte, warf die Karte auf den Tisch und streckte sich.

Andererseits konnte ich das Kind auch einfach abtreiben lassen. War ja meine Entscheidung.

Auch wenn ich nicht immer die besten traf. Wieso zum Beispiel war ich bloß bei Ricky im Auto gelandet?

Er arbeitete am Gewinnspielstand eines Autohauses direkt vor dem Center, in dem ich acht Stunden täglich Kaffeebecher füllte. Gleich bei unserer ersten Begegnung hatte er mich gefragt, ob meine Augen wirklich turmalingrün wären oder ob ich Kontaktlinsen tragen würde. Dann steckte er mir ein Gewinnlos für eine Probefahrt zu und hakte immer wieder nach, wann ich es denn endlich einlösen würde. Ich lächelte nur schweigend, schäumte seinen Latte macchiato auf und überließ ihm die Brezeln vom Vortag kostenlos.

Am 12. August war verkaufsoffener Sonntag gewesen. Ich hatte bis 22 Uhr fast ununterbrochen Kakaoherzen auf Milchschaum gepudert. Alle Leute schienen süchtig nach Koffein, es gab praktisch keine Ruhepause. Ricky tauchte noch öfter auf als normalerweise, so oft, dass ich ihm nur noch koffeinfreien Kaffee verkaufte. Er wirkte an dem Tag aufgedreht, redete schneller als sonst und auch lauter, lachte an den unpassendsten Stellen. Er spielte den coolen Ricky auf eine so verzweifelte Art, dass er mir leidtat. Nachdem ich kurz vor Mitternacht aus dem Center gekommen war, hatte Ricky draußen gestanden, zufällig oder nicht, und zwar ganz still. Kein wippender Fuß, kein knackendes Fingergelenk, keine Augenbraue, die sich vielsagend hob. Er stand da, neben der geöffneten Autotür, schaute mich an, und da war mir, ehrlich gesagt, keine Ausrede mehr eingefallen.

Wir düsten im silbergrauen Cabrio über die Stadtautobahn, tranken Dosensekt, der in ausklappbaren Haltern steckte, und als wir die letzten Lichter hinter uns gelassen hatten und auf einen Feldweg einbogen, öffnete Ricky das Verdeck, und da war dann dieser Himmel über uns …

 

Ricky bestellte eine Flasche Champagner.

»Ein Glas reicht!«, rief ich dem Kellner nach, der schon beim nächsten Tisch war, um einem älteren Herrn Rotwein nachzuschenken.

»Komm schon, Ninja«, sagte Ricky. Er hatte mir diesen Spitznamen gegeben, weil er fand, dass ich die ganze Zeit kämpfen würde. Und zwar würde ich dagegen ankämpfen, mich in ihn, Ricky, zu verlieben. Was er natürlich für aussichtslos hielt. »Ich glaub, du hast eine ganz falsche Vorstellung von mir, kann das sein?« Dabei wedelte er mit den Fingerspitzen durch die Flamme der Kerze auf dem Tisch zwischen uns. Sie rußte ziemlich stark und färbte seine Finger schwarz, die er gleich darauf am blütenweißen Tischtuch abwischte.

»Welche denn?«, fragte ich aus reiner Neugier auf Rickys Selbstwahrnehmung.

»Na ja, der Turbogang, den ich eingelegt hatte – zack ins Auto und ab ins Feld –, ich meine, normalerweise werde ich nur bei Vollmond zum Werwolf …«

»Es war Vollmond.«

»Erwischt.« Ricky fixierte mich mit ernstem Blick. »Was war eigentlich los mit dir in letzter Zeit? Hattest du ’ne Tarnkappe auf? Mittags im Coffeeshop war immer nur die Trulla mit dem abgefressenen Pony. Die meinte dann, du wärst kurz weg. Hast du dich unterm Tresen versteckt, oder was?«

Damit lag er goldrichtig. Und Ricky wusste ganz genau, dass die »Trulla« Carmen hieß. Mit ihr hatte er auch schon Proberunden gedreht. Ich konnte nur hoffen, dass sie uns nicht über den Weg lief. Heute wäre eigentlich ihr freier Tag gewesen, aber schon auf der Rolltreppe war mir in unerträglicher Intensität das ganze Sortiment unserer Aromen in die Nase gestiegen, von Amaretto bis Zimt, sodass ich Carmen bitten musste, meine Schicht zu übernehmen.

Nachdem ich dann den Schwangerschaftstest auf dem Centerklo minutenlang angestarrt hatte, verließ ich das Einkaufszentrum das erste Mal seit Wochen wieder durch den Vorderausgang, auf wackligen Beinen an Ricky vorbei. Das Laufen fühlte sich an, als müsste ich es erst neu lernen, als wäre mein Körper nur eine geliehene Hülle, ein Bewegungsapparat mit kaputter Lenkung. Mein Kopf nickte, als Ricky meinem Körper hinterherrief: »Heute Abend Futter fassen im Oscars?« Klar doch, bis dann.

Ich hatte versucht, Fanny zu erreichen, aber wenn sie mit ihrer Theatergruppe auf Tournee war, ging sie selten ans Handy, ich schickte ihr nur eine Sprachnachricht.

Auf einer Bank im Humboldthain in der Nähe eines Spielplatzes war ich dann endlich zur Ruhe gekommen, hatte die Augen zugemacht und einen schwachen Ölgeruch wahrgenommen, der von den Schaukeln herüberwehte und mir auf seltsame Weise tröstlich erschien. Ich stellte mir einen aufmerksamen Vater vor, der die quietschenden Schaukeln und Wippen ölte und die tiefe Kuhle am Ende der Rutsche mit frischem Sand auffüllte. Einen Vater, wie ich ihn selbst nie gehabt hatte. Keine Ahnung, warum ich ausgerechnet bei dem Geruch von Schmieröl daran dachte.

Seit ein paar Tagen ging das jetzt so – kaum nahm ich einen Geruch wahr, galoppierten die Gedanken mit ihm davon, in Bilder, Farben und Erinnerungen hinein, ganz von allein. Ich fühlte mich dabei wie ein Kutscher, dem die Pferde durchgehen und der nicht weiß, wohin die Reise ihn führt. Hier im Restaurant roch es nach vielen verschiedenen Zutaten und Gewürzen, nach dem Zigarettenatem des vorbeieilenden Kellners, nach Rickys Haarlack, nach Schuhen, nach Dingen, die an Schuhen klebten. Vor allem aber roch es nach Ruß, dank Ricky, der nicht aufhörte zu kokeln – und gegen Rußgeruch hatte ich was. Fannys Theorie war, dass ich als kleines Kind einen Brand überlebt hatte und seitdem unbewusst mit Todesangst auf jede Art von Brandgeruch reagierte. Überprüfen ließ sich das nicht – meine Oma, bei der ich aufgewachsen war, konnte mir keine Antworten mehr geben.

Rickys Rauch zog nun in meine Richtung und mit ihm ein solcher Schwall Käsefußgestank, dass es mir schlagartig hochkam. Ich beeilte mich zur Toilette zu kommen und musste dabei das Tischtuch mitgerissen haben, denn die Kerze kippte um, und – Poff! – raste eine Flamme über Rickys Stirn hinauf zum Lackpony.

Ein Glück, dass der Kellner gerade mit dem Champagnereiskübel im Anmarsch war.

 

Über die Kloschüssel gebeugt, betrachtete ich mein schwappendes Spiegelbild im Spülwasser. Sah so mein Leben aus? Ich war jetzt dreiundzwanzig, wohnte bei Fanny zur Untermiete und jobbte mal hier, mal dort. Das Jahr im Centercafé war die längste Anstellung bis jetzt. Es hätte ewig so weitergehen können, ohne je irgendwohin zu führen. Ich hatte für nichts eine wirkliche Begabung oder, wie meine Oma gesagt hätte, für alles. Und nun war ich schwanger. Von einem Kerl, der seine Socken nicht wechselte. Ganz ehrlich – Ricky roch heute wie meine schlimmste Busfahrt. Damals hatte ich im heißesten Monat des Jahres in einem vollbesetzten Reisebus im Stau gestanden, mit ausgefallener Klimaanlage. Die Leute schmolzen dahin wie Butter in der Pfanne – und zogen sich die Schuhe aus. Dann war David Bowie in den Bus gestiegen und hatte Space Oddity gesungen. Als ich wieder zu mir gekommen war, standen wir mit geöffneten Türen an einer Raststätte, das Radio auf volle Lautstärke gedreht. Seitdem habe ich bei Begegnungen mit üblem Fußgeruch immer auch Major Tom im Ohr.

Die Toilettenspülung wurde leiser, hörte aber nicht auf, stetig lief Wasser nach. Ich sah zu, wie es in der Dunkelheit des Abflusses verschwand. Am liebsten hätte ich mich in diesem Augenblick auch auf dem Weg irgendwohin befunden. Auf dem Beifahrersitz, mit geschlossenen Augen und dem Vertrauen, dass der Sprit im Tank bis zum Ende der Fahrt reichen würde, zu einem Ort, an dem jemand mich erwartete.

Seit dem Tod meiner Oma gab es so einen Ort für mich nicht mehr. Ich fragte mich, ob es Schicksal war oder einfach nur Dummheit, dass ich die Fehler meiner Mutter wiederholte. Sie war damals auch Anfang zwanzig gewesen, als sie mit mir schwanger geworden war – während ihrer ersten großen Reise nach dem Mauerfall. Einer langen Reise, noch auf dem Rückweg wurde ich geboren, zwei Monate zu früh. Ich blieb bei meiner Oma, während meine Mutter weiterzog. Inzwischen lebte sie in Australien. Vor ein paar Tagen hatte ich eine Karte von ihr bekommen: Big Hugs & Kisses for You! From Jeany & Don. Keine Ahnung, wer Don war, aber Jeany war meine Mutter. Wie weit sie auch von mir entfernt sein mochte, immerhin hatte sie mich auf die Welt gebracht. Das war zum jetzigen Zeitpunkt mehr, als ich meinem Kind versprechen konnte.

Der rosafarbene Kloduftstein roch nach Himbeerbonbons. Ich würgte wieder. Und weit und breit war kein Klopapier in Sicht. Jemand klopfte an die Trennwand der Nebenkabine, und eine besorgte Frauenstimme fragte: »Brauchen Sie Hilfe da drinnen? Soll ich einen Arzt rufen?«

Ich hätte gern laut JA! gerufen, stattdessen sagte ich: »Es war nur eine Probefahrt!« Und dann heulte ich los.

Die Frau auf der anderen Seite ließ sich davon nicht verjagen, sie wartete in aller Ruhe und reichte mir schließlich ein großes, kariertes Stofftaschentuch unter der Wand hindurch. »Nehmen Sie es ruhig, ich weiß, dass das Papier alle ist«, war alles, was sie noch sagte, bevor ich die Tür zum Restaurant hinter ihr zuschlagen hörte.

Ich nahm das Taschentuch, schluchzend, schniefend, und drückte es mir ans Gesicht. Es hatte einen intensiven Geruch, scharf und gleichzeitig belebend, würzig und irgendwie sommerlich leicht, mit einer leicht bitteren Note. Ich sah eine Wiese vor mir, saftig grün, voll summender Insekten und blühender Gräser, mittendrin ein Fahrrad, das achtlos hingeworfen dalag. Und noch während ich darüber nachdachte, was das Rad dort zu suchen hatte, war meine Übelkeit verflogen. Ich bedauerte, mich für das Tuch nicht bedankt zu haben.

 

Auf dem Weg zurück zum Tisch kam ich an der Durchreiche vorbei, auf der unser Essen schon bereitstand. Über die Teller hinweg schaute ich direkt in das gerötete Gesicht eines Mannes mit Plastikhaube auf dem Kopf. Er wirkte ertappt und versteckte etwas hinter seinem Rücken. Außer der Haube trug er eine karierte Schürze über weißen Klamotten, und ich fragte mich, wobei man einen Koch in seiner Küche wohl ertappen könnte. Dabei, ein falsches Gewürz zu benutzen? Zu rauchen und in die Töpfe zu aschen? Ich nahm mir vor, die Suppe nur mit Vorsicht zu genießen.

Ich pustete mir ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht, straffte den Zopfgummi, der meine Haare in einem schiefen Knäuel am Hinterkopf zusammenhielt, und warf einen Blick aus dem Schatten des Ganges hinaus in den Gästeraum. Das Paar hinter Ricky starrte schweigend in die Kerzenflamme zwischen sich wie in eine Wahrsagerkugel, Händchen haltend – die Arme durch ein Labyrinth aus Gläsern gefädelt. Der ältere Herr am Nebentisch schenkte sich so eilig Rotwein nach, dass er das Glas überlaufen ließ und das Tischtuch rot färbte. Währenddessen bohrte Ricky sich gedankenversunken in der Nase. Noch war er ahnungslos, und ich konnte dem Kind später dieselbe Geschichte erzählen, die ich von meiner Mutter gehört hatte: »Ein One-Night-Stand auf einer Reise im Nachtzug. Er wusste nicht, wer ich war, ich wusste nichts von ihm. Als die Fahrt zu Ende war, sind wir ausgestiegen, und jeder ging in seine Richtung davon.«

»Wo seid ihr ausgestiegen?«

»In Budapest. Dort hat meine Freundin schon gewartet – der Zug hatte drei Stunden Verspätung. Du kennst die Geschichte.«

»Und er? Warum ist er in Budapest ausgestiegen? Wohnte er da?«

»Weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass er in Prag eingestiegen ist.«

»Dann war er Tscheche?«

»Auch möglich. Jedenfalls habe ich nichts von dem verstanden, was er gesagt hat.«

»Russisch war es auf jeden Fall nicht, Russisch hättest du verstanden, stimmt’s? Und du hast ihn nie wiedergesehen?«

»Niemals.«

Die Geschichte von meinem Vater – eine Geschichte über Flüchtigkeit. Ich bestehe zu fünfzig Prozent daraus. Die andere Hälfte besteht aus Luft.

 

»Was ist los?«, fragte Ricky, als er sich zu mir umsah. Seinem versengten Pony schien es gut zu gehen, er war nur unwesentlich kürzer als vorher, dafür waren Teile seiner Augenbrauen weg, und auf der Stirn hatte die Stichflamme eine rote Spur in Form eines Fragezeichens hinterlassen. Ricky griff nach meinem Arm, aber ich wich aus und zeigte auf seine Stirn. »Da muss Salbe drauf. Lass uns lieber nach Hause gehen. Heute ist kein guter Tag.«

Ich konnte für nichts garantieren, wenn ich seinen Käsegeruch noch einmal in die Nase bekam.

»Nein, du musst erst mal was essen.« Er schob mir seinen Stuhl hin. »Wo bleibt denn das verdammte Futter?«

Statt des Kellners kam der Koch um die Ecke, das Geschirr aus der Durchreiche vor sich herbalancierend. Ich erkannte ihn auch ohne seine Plastikhaube. Das leuchtende Rot seiner Haare relativierte seine Gesichtsfarbe. Er stellte zwei gefüllte Suppenteller vor uns hin.

»Was ist das?«, fragte Ricky. »Habt ihr das aus den Bettpfannen von ’nem Altersheim, oder was?«

»Soupe à l’oignon gratinée traditionnelle des Halles de Paris«, erwiderte der Koch und wandte sich den restlichen Bestellungen zu.

»Das ist genau das, was du bestellt hast«, sagte ich, »französische Zwiebelsuppe.«

»Ernsthaft?« Ricky schnaufte genervt und wischte dann seinen Ärger mit einer Handbewegung weg. »Egal jetzt, hau rein!«

Aber ich war vorsichtig mit der Suppe von diesem Koch, und tatsächlich fuhr mir beim prüfenden Schnuppern ein Geruch in die Nase, der so gar nicht zum Aroma einer Zwiebelsuppe passen wollte, französisch oder nicht, irgendwie bitter und mandelartig. Ich sog den Suppenduft tiefer ein, bemüht, herauszufinden, was genau mich daran störte.

Ricky hielt inne. »Das mit den Bettpfannen war doch nur ein Witz«, sagte er. Und als ich nicht aufhörte, die Nase zu rümpfen: »Ninja, ich hab die Suppe nicht gekocht, ich hab sie nur bestellt, okay? Du kannst sie ruhig essen.«

»Das ist es nicht, es ist …« Ich suchte nach den richtigen Worten, um meine Wahrnehmung zu beschreiben.

Ricky haute auf den Tisch, dass die Suppe in den Tellern wackelte. »Was ist los mit dir? Machst du das mit Absicht? Du willst es nicht wahrhaben, okay, aber glaub es einfach – da läuft was.« Ricky wedelte mit dem Löffel auf Herzhöhe zwischen uns hin und her, so als gäbe es da eine Verbindung. »Pass auf, ich wollte es dir jetzt noch nicht sagen, aber ich hab was für dich. Etwas Großes, das wird dich umhauen! Wie wär’s, wenn du nach dem Essen mit zu mir kommst, dann kann ich’s dir zeigen.«

»Ich weiß schon, was du meinst. Und so groß, wie du denkst, ist er gar nicht.«

»Scheiße, Ninja! Das mein ich doch gar nicht. Ich hab ein echtes Geschenk für dich. Da bastle ich schon seit Wochen dran. Es ist noch nicht ganz fertig, ich wollte es dir eigentlich erst zu Weihnachten zeigen, aber vielleicht muss es jetzt schon sein. Ich verwette mein Cabrio drum, dass es dir gefällt!«

»Das Cabrio gehört dir doch gar nicht. Und du musst mir nichts schenken. Schon gar nicht zu Weihnachten! Jetzt ist September, und im August hatten wir einen One-Night-Stand, Ricky. One Night. Eine Nacht – eine einmalige Sache.«

Ricky schüttelte den Kopf, griff nach dem Weißbrot, das im Korb zwischen unseren Tellern stand, und biss davon ab wie ein Wolf, der ein Schaf riss. Er spielte den leidenschaftlichen Kerl wirklich konsequent. Das würde ihm sicher gleich vergehen. Der Augenblick der Wahrheit war gekommen.

»Du bist nicht verliebt in mich, Ricky, seien wir doch mal ehrlich. Und ich bin’s auch nicht. Aber ich bin was anderes …« Ich sah ihm fest in die Augen. »Ich bin schwanger von dir, Ricky.«

Ich hörte ihn scharf einatmen, dann hielt er die Luft an. Mit großen, ungläubigen Augen sah er mich an, öffnete seinen Mund, der noch voller Weißbrot war, blieb jedoch stumm und schüttelte den Kopf. Auf seinen Wangen machten sich rote Flecken breit, während das Rot des Fragezeichens auf seiner Stirn sich heller färbte. Ich hatte mir ja schon gedacht, dass Ricky nicht gerade begeistert sein würde.

»Halb so wild«, versuchte ich ihn zu beruhigen, »es sind erst sechs Wochen rum, Ricky, wir haben noch Zeit.«

Sekunden später war sein Gesicht knallrot angelaufen, das Fragezeichen auf seiner Stirn leuchtete schlohweiß. Hatte er sich an dem Brot verschluckt? Er griff sich an den Hals und würgte, röchelte und sah mich Hilfe suchend an. Was sollte ich machen? Ihm vielleicht auf den Rücken klopfen oder irgendwie den Brustkorb zusammenpressen mit so einem speziellen Griff?

Ricky rutschte vom Stuhl und verschwand unterm Tisch.

Ich hoffte, dass er aufspringen und mich auslachen würde, bis ich all die anderen Leute wahrnahm, das Ehepaar, den alten Mann, die genau wie Ricky röchelten und von den Stühlen rutschten. Und als ich sah, wie der Koch sich verwundert im Raum umschaute und sein Gesicht sich vor Entsetzen verzerrte, fing ich an zu schreien.

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2

Als die Sirenen der Rettungswagen in der Ferne verhallten, verlor sich mein Blick in dem Maul des röhrenden Hirsches auf dem Plakat einer Litfaßsäule schräg gegenüber vom Restaurant.

Vier schwere Vergiftungen. Vier Menschen, die um ihr Leben kämpften, einer davon Ricky.

Ich suchte vergeblich nach einem Gefühl, das angemessen war, und starrte weiter in das Maul des Hirsches, so als ob ich mich dort in Sicherheit bringen könnte, vor all den Bildern, die mir im Kopf herumschwirrten. Ricky, wie er langsam unter dem Tisch verschwand, sein nach Luft schnappender Mund, sein ungläubiger Blick.

Als ich von einem Sanitäter gefragt worden war, ob ich mit ins Krankenhaus fahren wollte, hatte ich wie auf Knopfdruck den Kopf geschüttelt. Jetzt bereute ich es. Ich hätte auf jeden Fall mitfahren müssen. Hätte bei Ricky bleiben, ihm Mut zusprechen müssen. Stattdessen hatte ich mir eine Decke über die Schultern legen und Beruhigungspillen verabreichen lassen.

Ich warf die Decke weg und lief auf den nächstbesten Mann in Weiß zu. »Ich will doch ins Krankenhaus. In welches haben Sie Ricky Schmidt gebracht? Ich kann ein Taxi nehmen.«

Der Sanitäter schüttelte den Kopf. »Niemand darf das Restaurant verlassen. Und jetzt fassen Sie bitte nichts mehr an und setzen sich da hinten hin, hier sind sowieso schon zu viele Leute durcheinandergerannt!«

Jetzt erst erkannte ich, dass der Mann gar kein Sanitäter war. Die waren in weiße Hosen und Jacken gekleidet, während er einen weißen Ganzkörperanzug trug. Und einen Koffer. Den stellte er nun krachend auf dem Boden ab und ließ ihn mit einem leisen Knall aufschnappen. Darin befanden sich viele verschiedene Pinzetten, Tütchen, Pinsel und zahllose andere Utensilien, die ich noch niemals zuvor gesehen hatte.

Er drehte den Kopf zu mir und gab mir mit einem Blick zu verstehen, dass ich mich hinsetzen sollte. »Und nichts anfassen!«

Nach der ersten Verwirrung rückte ein Expertenteam nach dem anderen an. Ich wurde befragt, abgescannt, untersucht. Als gerade ein komplett vermummter Mann, der auch eine Frau hätte sein können, meine Hände unter einer violetten Lampe auf unsichtbare Spuren untersuchte, polterte eine Stimme aus der Küche: »Lâchez-moi!« Kurz darauf wurde der Kellner in einen Einsatzwagen verfrachtet und weggebracht.

Der Koch seltsamerweise nicht. Er und ein bärtiger Mann mit Brille, der unglaublich stark nach Zwiebeln roch, saßen noch immer mit mir hier in einer Ecke des Gästeraums.

Das Restaurant war nicht sehr groß, und es schien, als würde die Anzahl der herumwuselnden Leute stetig wachsen. Trotzdem bekam ich mit, wie von beiden die Personalien aufgenommen wurden. Das hatte ich bereits hinter mir.

Ninella-Pritilata Buck.

Wie immer hatte mein voller Name Verwunderung ausgelöst.

»Ist das ein Künstlername?«

Nein, ich war hauptberuflich kein Clown. Dieser Name war mein richtiger, amtlich eingetragener, von meiner Mutter gewählter Name. Und einer der Gründe, warum ich diese Frau nicht verstand. Ninella war angeblich italienisch, Pritilata indisch und bedeutete nichts weniger als Blume der Liebe. Und diese Blume der Liebe wurde bei der Oma zurückgelassen, wo sie von ihrer Mutter alle paar Jahre einmal besucht und in impulsiven Momenten zu ihr geholt wurde. Ohne Vorankündigung und nie länger als eine Woche. Am Ende stand ich aber doch wieder vor Omas Tür, neu eingekleidet und mit anderer Frisur.

Nicht, dass es mir bei Oma schlecht ergangen wäre. Sie war lieb, aber auch viel beschäftigt. Als Hebamme immer auf dem Sprung und abrufbereit für die Frauen, die sie betreute. Sie riefen auch nachts an, und dann hörte ich Oma mit beruhigender Stimme Anweisungen geben. Ich hörte auch das Rascheln ihrer Kleider, wenn sie sich anzog, leise nach draußen schlich und mit einem dumpfen Klick die Tür hinter sich zuzog. Dann war das Motorbrummen des klapprigen VW Polo zu hören und wie es sich langsam entfernte.

War ich nachts allein im Haus, kroch ich unter die Decke und hielt mir die Ohren zu, damit ich die Holzschränke und Dielen nicht knacken hörte. Am Tag aber war das vergessen.

Ich mochte Oma, und ich mochte auch den kleinen sächsischen Ort, in dem wir wohnten, nahe der polnischen Grenze. Was ich nicht mochte, waren all die Stolpersteine und Merkwürdigkeiten, die meine Mutter in mein Leben streute.

Jedenfalls hatte mich meine Oma immer nur »Nina« genannt.

 

Obwohl der Zwiebelmann ein Stück entfernt saß, trieb er mir mit seinem Aroma die Tränen in die Augen – von Gauloises geräucherter Zwiebelschweiß.

Mit gekrümmtem Rücken saß er da, die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt. Ein Häufchen Unglück. Der Rothaarige wirkte dagegen wie ein Marmorblock: mit steifem Rücken und eckigen Schultern, den Blick starr auf die Polizistin gerichtet, die ihn nach seinem Namen fragte.

»Unser Oleg kann kein Deutsch«, half der Zwiebelmann weiter, »verstehen wohl, aber nur wenn’s ums Kochen geht.«

Dann buchstabierte er Olegs Nachnamen: Kowalczyk.

Das klang polnisch. Als Kind hatte ich viele Sommernachmittage in Polen verbracht. Bis zur Grenze waren es nur wenige Kilometer, und direkt dahinter gab es einen Badesee mit einer Eisbude. »Dwa razy waniliowa i jedna czekoladowa proszę!« Und immer eine Waffel extra dazu.

Ich musterte Kowalczyk verstohlen. Seine Miene wirkte verschlossen, die breite Stirn unter seinen roten Haarlocken war von Sorgenfalten zerfurcht. Ich hatte sein Gesicht gesehen, als er die Leute nach Luft ringen sah, als er beobachten musste, wie einer nach dem anderen vom Stuhl rutschte. Erschrecken hatte sich darin widergespiegelt, echtes Entsetzen. Schwer vorstellbar, dass er es gewesen war, der den Leuten etwas ins Essen gemischt hatte.

Er schien meine Blicke zu spüren, denn er hob seinen Kopf und sah mir direkt in die Augen. Schnell schaute ich weg – mitten hinein in das graubärtige Gesicht des Zwiebelmanns, der mich seinerseits anstarrte. Plötzlich gellte ein Pfiff durch den Raum, der uns alle zusammenzucken ließ.

Der Zwiebelmann rieb sich die Ohren und sah sich – wie ich – vergeblich nach dem Pfeifer um.

Immer mehr Passanten und inzwischen auch Presseleute drängten sich vor das Panoramafenster, starrten oder fotografierten. Einige Polizisten dirigierten sie hinter das Absperrband zurück, während andere das Fenster von innen mit einer Plane verhängten. Alle arbeiteten konzentriert, unterhielten sich gedämpft, nur hin und wieder gellte ein Pfiff durch das Stimmengewirr, als würde jemand einen Hund zu sich pfeifen.

Dieses Gift im Essen – noch war unklar, um was es sich dabei handelte. Klar war, dass ich ohne meine Nase auch im Krankenhaus gelandet wäre. Ich fühlte mich schlecht und hatte doch das erste Mal das Gefühl, dass dieser lästige Geruchssinn zu etwas nütze war.

Eine Seite der Plane, die das Fenster verdecken sollte, hielt nicht und klappte auf. Augenblicklich wurden durch den frei gewordenen Spalt mehrere Blitzlichter abgefeuert. Ich fragte mich, was die Journalisten zu fotografieren erhofften. Das Ungeheuerliche war bereits vor zwei Stunden passiert. Dieser Raum hier mit all diesen weiß gekleideten Leuten hatte nichts mehr mit dem zu tun, den ich mit Ricky betreten hatte. Schlagartig wurde mir bewusst, dass das nicht nur das Restaurant, sondern mein ganzes Leben betraf. Nach diesem Tag würde nichts mehr so sein wie zuvor.

 

Kommissar Rieb von der Kriminalpolizei war nicht nur sauer darüber, dass ich nicht zum Restaurantpersonal gehörte und trotzdem mit dem Zwiebelmann und Kowalczyk zusammensaß, er war auch erkältet. Mit roter Nase und dicken Augenringen knotete er die beiden losen Enden seines Schals vor der Brust zusammen und warf sich zwei Hustenpastillen in den Mund, die an seinen Zähnen klapperten.

»Was ist das für eine Geschichte mit dem Geruch?«, fragte er, nachdem er mich in eine ruhigere Ecke manövriert hatte. Die Intensität seines Salbeiatems war ekelerregend.

»Welche Geschichte?«

»Ich spreche von der Zwiebelsuppe. Die haben Sie doch angeblich nicht gegessen, weil sie komisch roch. Wie definieren Sie komisch?« Ungeniert pumpte Rieb sich Meerwasser in sein linkes Nasenloch und zog so laut den Schnodder hoch, dass mir die Ohren klingelten.

»Na ja, sie roch bitter und irgendwie nach Mandeln.«

»Aber da waren gar keine Mandeln drin!« Rieb klemmte sich das Nasenspray unter den Arm und blätterte in seinen Notizen. »Zwiebeln, Hühnerbrühe, Weißwein, Kräutersalz, Pfeffer, Knoblauch – keine Mandeln.«

»Das war ja das Komische.«

»Sie haben den Raclettekäse vergessen, Herr Kommissar«, rief der Zwiebelmann von seinem Platz aus herüber. »Wenn der Oleg die Zwiebelsuppe kocht, dann reibt er immer ein bisschen Raclettekäse mit rein. Stimmt doch, Oleg?«

Oleg Kowalczyk zuckte die Achseln, und Rieb zog die Stirn kraus. »Wieso kochen? Herr Kowalczyk, sind Sie hier nicht offiziell als Spülhilfe eingestellt?«

Kowalczyk zuckte erneut die Schultern und schielte zum Zwiebelmann.

»Der Oleg kann kochen. Das gebe ich Ihnen offiziell. Als polnischer Staatsbürger beherrscht er die französische Küche wie kein Zweiter. Freddy hat ihn sogar an die Saucen gelassen.« Mit Freddy meinte er Frédéric Lavalle, den Kellner, der auch der Besitzer des Oscars war. »Ja, er wollte ihn zum Koch ausbilden. Im nächsten Monat …« Er verstummte. Keiner wusste, wie es mit dem Restaurant weitergehen würde. Er nahm seine Brille von der Stirn, blinzelte, und in seinen Augenwinkeln glitzerten Tränen, die er sofort mit dem Handrücken abwischte.

»Wie geht denn so was?«, hörte ich ihn murmeln. »Zwanzig Jahre Zwiebeln schälen und immer noch Wasser in den Augen.«

Kowalczyk tätschelte ihm die Schulter. Rieb wandte seine Aufmerksamkeit wieder mir zu und dämpfte seine Stimme: »Sie kamen wenige Minuten, bevor das Essen serviert wurde, an der Küchendurchreiche vorbei. Stand da schon was? Bitte beschreiben.«

»Drei Teller mit Zwiebelsuppe und eine Glasschale mit Eis für zwei Personen. Mit Schirmchen und Löffeln drin.«

»Haben Sie jemanden in der Nähe gesehen?«

»Ihn.« Ich schaute zu Kowalczyk.

»Unsinn!«, protestierte der Zwiebelmann. »Der Oleg war mit mir im Keller. Er hat mir geholfen, den Eisschrank zu verschieben.«

»Den Eisschrank. Ich dachte, Sie hätten mit Freddy im Hinterhof eine geraucht?«, warf ihm Rieb über die Schulter zu.

»Kann nicht sein«, sagte ich mit leiserer Stimme, »denn als ich an der Durchreiche vorbeigekommen bin, war der gute Oleg allein in der Küche, und er hat etwas hinter dem Rücken versteckt. Hundertprozentig.«

»Was hat er versteckt?«, hakte Rieb ebenso leise nach, aber der Zwiebelmann mit seinen guten Ohren sprang trotzdem auf. »Rufmord, Verleumdung! Das lassen wir uns nicht länger gefallen. Wir gehen jetzt zu Freddy.« Er nickte Kowalczyk zu und lief los.

»Ruhe, bitte! Hinsetzen!«, krächzte Rieb und wurde von einem Hustenanfall geschüttelt. Klappernd landete sein Nasenspray auf dem Boden. Der Zwiebelmann und Kowalczyk waren schon an der Tür, als ein Pfiff durch den Raum gellte, der einem direkt in die Knochen fuhr. Sogar Riebs Husten ließ schlagartig nach, sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich, und er drehte sich einem Mann zu, der eben den Raum betrat. Der Kerl war blond und riesig, mit einem gewaltigen Schnauzbart unter einem Zinken von einer Nase. Seine Haare zottelten ungekämmt herum, aber der graue Anzug, den er trug, saß wie angegossen. Beim Laufen zog er das rechte Bein etwas hinter sich her, was ihm einen hinkenden, aber nicht weniger zielgerichteten Gang verschaffte. Im Gegenteil, es wirkte so, als wäre er es gewohnt, Hindernisse zu überwinden – und zwar ohne Angst vor Verlusten.

Noch bevor er vor Rieb zum Stehen kam, wollte er von ihm wissen, ob er sich schon im Hausflur umgesehen hätte.

»Noch nicht«, erwiderte Rieb in einem Ton, als hätte der Schnauzbart von ihm verlangt, den Hausflur zu wischen. »Ich habe mich auf die Zeugen konzentriert und wollte die Vernehmung jetzt im Präsidium weiterführen.«

»Erst der Hausflur.« Der Schnauzbart griff mit seiner prankenartigen Hand nach meinem Arm, sodass Rieb einen Schritt zur Seite treten musste.

»Aber die Zeugen hätten schon längst voneinander getrennt werden müssen«, protestierte Rieb.

»Ich übernehme das. Gehen Sie und klingeln bei den Nachbarn. Denken Sie auch an den Hinterhof, sehen Sie nach, ob und wie man von dort Einsicht in die Küche hat«, dirigierte der Schnauzbart, dann drehte er Rieb den Rücken zu und pfiff durch die Zähne, woraufhin zwei Polizisten auftauchten, die er mit dem Zwiebelmann und Kowalczyk nach draußen schickte. Mich hingegen schob er Richtung Küche. Sichtlich verärgert warf Rieb seine Schalenden über die Schulter und machte sich Richtung Treppenhaus auf.

Der Griff von Schnauzbart an meinem Arm lockerte sich erst, als Rieb außer Sichtweite war. Bis dahin beschwor die Nähe seines Körpers eine Erinnerung herauf, die mich für einen überwältigenden Moment lang mit Glück erfüllte. Die Erinnerung an den Hund meiner Nachbarn, den ich als Kind bürsten und ausführen durfte, ein freundlicher Labrador. Sein Fell war oft verfilzt und voller Kletten und ebenso blond wie die Haare von Schnauzbart.

»Entschuldigen Sie, ich bin Hauptkommissar Koller. Ich leite die Ermittlungen. Sie sind die Zeugin mit der guten Nase?«

»Na ja, ist eigentlich nur eine Überempfindlichkeit«, erklärte ich und spürte, wie mir beim Gedanken an die Schwangerschaft das Adrenalin in den Körper schoss und mein Herz schneller schlug. »Könnte jederzeit wieder vorbeigehen.«

Koller erwiderte nichts, sondern nickte nur freundlich. Dass er lächelte, sah man vor allem an seinen Augen, der Bart warf einen mächtigen Schatten auf den unteren Teil seines Gesichts. Mit einer behandschuhten Hand hielt er mir etwas hin: »Würden Sie mir einen Gefallen tun und einmal daran riechen?«

Das, was Koller mir unter die Nase hielt, war eine Armbanduhr. Genau genommen eine Uhr mit einem Lederband daran, dessen eine Hälfte fehlte.

Ich nahm an, dass es sich um ein wichtiges Beweismittel handelte, möglicherweise vom Giftmischer selbst, fragte aber nicht weiter nach, sondern roch daran, genau wie Koller es wollte, und erschnüffelte aromatisch duftendes Bienenwachs.

Für meine Oma war Bienenwachs ein Allheilmittel gewesen. Sie hatte damit alles eingerieben – vom Mückenstich bis zum Wandschrank – und stets auf seine wundersamen Kräfte vertraut. Die Nachbarn mit dem Labrador kannten sich mit Honig aus. Der Vater war Imker, ich sehe ihn noch heute mit seinem Schleierhut auf dem Gepäckträger den Siedlungsweg hinaufradeln. Jedenfalls hatte meine Oma dank ihm immer genug Bienenwachs parat.

Einmal den vertrauten Geruch in der Nase, fiel es mir schwer, die Gedanken an meine Oma wieder zu verdrängen. Sie war gestorben, als ich achtzehn war. Zwei Jahre lang hatte ich die Schule vernachlässigt, eine Klasse wiederholt, um ihr zu helfen. Pflegen lassen wollte sie sich nicht. Aber am Ende fütterte ich sie dann doch, weil sie zu schwach war, den Löffel zu halten. An dem Tag, an dem ich die Wiederholungsklausuren versiebte, starb sie.

So in Gedanken lief ich mit Koller im Schlepptau herum, als ich schließlich, ein wenig abseits der Schwelle zum Hausflur, die fehlende Armbandhälfte entdeckte.

»Fantastisch!« Koller hob das Armband auf und versuchte es sogleich an den Rest der Uhr zu montieren, was mich verwunderte. Sollte er das Ding nicht mit Handschuhen anfassen oder – noch besser – gleich der Spurensicherung übergeben?

»Sie könnten Fingerabdrücke verwischen«, mahnte ich, und Koller warf mir einen irritierten Blick zu.

»Wie? Ach, die gehört einem Kollegen. Er hat sie vorhin verloren und sucht sie schon die ganze Zeit.« Daraufhin sah er sich um und drückte die Uhr einem vorbeikommenden Polizisten in die Hand, mit der Bitte, sie weiterzureichen.

Koller hatte mich im wahrsten Sinne des Wortes an der Nase herumgeführt. »Hey!«, rief ich empört. »Ich bin kein Hund!«

»Willkommen im Club«, murmelte jemand hinter mir, gefolgt von etlichen Lachern aus der Polizistenmenge.

Koller machte keinerlei Anstalten, sich zu entschuldigen. Vielmehr sah er mich neugierig an, so als wartete er darauf, dass ich mich noch mehr aufregte, noch mehr von mir und meinen Gefühlen preisgab. Da wurde mir klar, dass es – genau wie bei den Streitereien mit meiner Mutter – besser war, sich zurückzuhalten.

»Der Geruch nach Bittermandeln, den Sie wahrgenommen haben«, sagte Koller schließlich, »war der von Kaliumcyanid – besser bekannt als Zyankali.«

Davon hatte ich schon mal gehört. »Das ist tödlich, nicht?«

Ich wagte nicht, die nächste Frage zu stellen – die Frage nach Ricky.

»Das kommt auf die Dosis an. Auf jeden Fall können wir mit dem Nachweis dieser Substanz eine Vergiftung durch verdorbene Lebensmittel ausschließen. Zyankali ist extrem wirksam und kaum zu bemerken. Soweit ich weiß, sind nur zwanzig bis fünfzig Prozent der Menschen genetisch überhaupt in der Lage, diesen Geruch wahrzunehmen, und Sie haben ihn trotz des intensiven Geruchs von kiloweise Zwiebeln bemerkt.«

»Das war Glück.«

»Ich würde das Begabung nennen.« Koller sah mich ernst an. »Oder Täterwissen.«

»Ich habe niemandem was ins Essen gemischt«, protestierte ich.

»Das werden wir herausfinden«, erwiderte er seelenruhig. »Nehmen wir mal an, dass das Gift unmittelbar vor dem Servieren ins Essen gelangt ist. Was fällt Ihnen dazu ein?«

»Der Koch«, sagte ich. »Dass er es serviert hat. Wieso nicht der Kellner?«

Koller nickte. »Berechtigte Frage. Sagen wir, der war anderweitig beschäftigt.«

»Freie Bahn für den Koch – voilà.«

»Schön und gut. Aber warum sollte der Koch sein eigenes Essen vergiften?«

Wieso fragte Koller mich das, war er nicht dafür zuständig, die Motive der Verdächtigen zu ermitteln? Aber vielleicht ging’s hier gar nicht um den Koch, vielleicht ging es hier um mich und darum, herauszufinden, wer ich wirklich war, was ich dachte und was ich gesehen hatte.

»Zum Beispiel …«, überlegte ich, »… weil er im Auftrag von jemandem gehandelt hat. Konkurrenz, Sabotage. Es ging ihm darum, das Restaurant zu ruinieren.«

Endlich konnte ich die Gedanken formulieren, die sich schon die ganze Zeit über angesammelt hatten: »Natürlich wollte er nicht, dass die Leute sterben, er dachte wahrscheinlich, das wäre ein Durchfallmittel, das er da reinrührt. Sein Auftraggeber hat ihn belogen.«

Koller sah mich während meiner Ausführungen abwartend an.

»Ich hab Kowalczyks Gesicht gesehen, als die Leute umgefallen sind«, fuhr ich fort. »Nie im Leben hat er damit gerechnet, dass das kein Durchfallmittel ist.«

Koller sah mich weiter an, ohne ein Wort zu sagen.

»Was denn?«, fragte ich. »Könnte doch sein.«

»Könnte. Aber Wahrscheinlichkeiten sind was für Rieb. Ich konzentriere mich auf Wahrheiten.«

Diese Behauptung klang gut, auch wenn ich stark bezweifelte, dass Koller Wahrheiten von Wahrscheinlichkeiten besser unterscheiden konnte als Rieb oder irgendein anderer Mensch.

»Fangen wir noch mal am Anfang an. Wie war die Situation im Restaurant, bevor das Essen kam? Wer saß wo? Könnte noch jemand an der Durchreiche vorbeigekommen sein? Überlegen Sie genau. Je mehr Ihnen einfällt, desto besser.«

Ich atmete tief durch und ignorierte das Unbehagen, das mich bei dem Gedanken an Rickys ungewisses Schicksal beschlich. Jetzt kam es darauf an, mich an jedes Detail des Abends zu erinnern, so nebensächlich es mir auch vorgekommen war.

»Da war eine Frau auf dem Klo, sie hat …«

Ich biss mir auf die Lippen. Das Taschentuch – die letzten Stunden hatte ich überhaupt nicht mehr daran gedacht. Es steckte noch immer in meiner Hosentasche. Zu gern hätte ich jetzt daran gerochen, den beruhigenden Duft der Kräuterwiese eingeatmet und nachgesehen, ob das Fahrrad noch dort lag.

»Was für eine Frau?«, hakte Koller nach.

»Ich weiß nicht, sie war in der anderen Kabine.«

»Sie wissen es nicht?«

»Ich habe sie nicht gesehen. Sie hat mir unter der Trennwand ein Taschentuch durchgereicht, weil das Papier alle war.«

»Sie haben sie vorher nicht gesehen – und nachher auch nicht?«

»Nein.«

»Kann es nicht die Frau vom Tisch neben Ihnen gewesen sein?«

»Die saß ja noch bei ihrem Mann, als ich aufs Klo ging.«

»Und Sie sind sicher, dass sie nicht nach Ihnen auf die Toilette gegangen ist?«

»So genau habe ich da nicht drauf geachtet«, musste ich zugeben. »Aber sie hätte ja vor mir gehen müssen, weil doch die eine Kabine abgeschlossen war, als ich kam. Da war definitiv jemand drin.«

»Rechts oder links?«

»Was?«

»Die Kabinenseite, wenn man reinkommt.«

»Rechts war verschlossen, links war frei, da bin ich rein.«

»Wann genau war das?«

»So kurz nach sechs, schätze ich. Ich bin mindestens zehn Minuten dringeblieben. Als ich an den Tisch zurückkam, ist das Essen serviert worden, das war dann vielleicht um Viertel nach.«

»Und das Klopapier war alle?«

»Ja. Ist das wichtig?«

Koller verstummte und versank in Gedanken, wobei ich ihn nicht zu unterbrechen wagte.

Jemand rief laut nach einem Rex, und Koller ging, ohne noch etwas zu sagen. Ich tastete nach dem Taschentuch, holte es heraus und hielt es mir prüfend unter die Nase. Und sofort waren sie wieder da – der Geruch der Kräuterwiese und auch das Bild vom Fahrrad, dessen Hinterrad sich noch drehte, während es auf der Seite lag. Diesmal konnte ich sehen, dass die Wiese sich über einen Hügel erstreckte. Vom Fahrrad aus führte eine Spur geknickter Gräser zur Kuppe hinauf. Ich versuchte, der Spur zu folgen, doch ich kam nur schleppend voran, zeitlupenartig wie in einem beklemmenden Traum.

Plötzlich tauchte Koller wieder auf. »Haben Sie danach gefragt, oder hat Ihnen die Frau das Taschentuch von selbst angeboten?«, wollte er wissen.

Ich ließ das Tuch sinken und brauchte ein paar Sekunden, um von der Wiese zurückzukommen. Wie war das gewesen? Ich klemmte heulend zwischen Kloschüssel und Kabinenwand, und nebenan war diese Frau, die mich fragte, ob ich zurechtkam. Ihre Stimme hatte besorgt geklungen, mitfühlend, mütterlich.

»Von selbst.«

Koller nickte bedächtig und ging wieder. Ich schaute auf das Taschentuch, das ich noch immer in der Hand hielt. Braun-rot-weiße Karos, ein klassisches Großvatertaschentuch. Und auch wenn ich es am liebsten behalten hätte, wegen seiner beruhigenden Wirkung und weil ich wissen wollte, ob es möglich war, den Hügel irgendwann zu erklimmen und zu sehen, was dahinter lag, so wusste ich doch, dass es besser war, es Koller zu geben. Ich pfiff durch die Zähne, gar nicht mal so leise. Koller blieb stehen und drehte sich mit einem überraschten Gesichtsausdruck zu mir um. Ich hielt ihm das Taschentuch entgegen.

»Hier – das ist es.«

»Was?«

»Na, das Taschentuch.«

»Das war gar kein Papiertaschentuch? Ich dachte …« Koller musterte es verblüfft. »Ein Stofftaschentuch also. Aha.«

Er holte einen Stift aus seiner Jackentasche, auf dessen Spitze er das Tuch balancierte, darauf bedacht, es nicht zu berühren.

»Ich nehme an, Sie haben es seitdem in Ihrer Hosentasche gehabt?«

Ich nickte.

»Hm, na schauen wir mal, ob da noch was Brauchbares zu finden ist.«

 

Es kamen andere Polizistinnen und Polizisten, die ich noch nicht kannte, ich musste mich wieder ausweisen, meinen Namen erklären und wurde abermals befragt. Dieser Abend war einer der schlimmsten meines Lebens – und er schien kein Ende zu nehmen. Inzwischen konnte ich alle Antworten ohne nachzudenken abspulen. Wann wir das Restaurant betreten hatten: ungefähr drei viertel sechs. Zwei alte Damen verließen gerade das Restaurant. Das Ehepaar und der ältere Herr saßen schon da, nach uns kam keiner mehr. Wann das Essen serviert worden war: viertel sieben bis zehn vor halb. Gegen halb sieben kippte der Letzte vom Stuhl, und zehn Minuten später traf der erste Krankenwagen ein.

Ob ich den Notruf abgegeben hätte: nein. Ob ich gesehen hätte, wer den Notruf abgegeben hat: nein. Ich musste dann den Satz »Alle Gäste sind vergiftet, bitte kommen Sie schnell!« in ein Diktiergerät sprechen. Zweimal. Einmal mit unverstellter Stimme, einmal sollte ich breitestes Sächsisch imitieren, und zwar in der tiefstmöglichen Stimmlage.

Das ließ vermuten, dass ein männlicher Sachse den Krankenwagen gerufen hatte. Der Zwiebelmann war es demnach nicht gewesen. Bei ihm klang eher Norddeutsch durch. Seinen Angaben nach befand er sich entweder mit Kowalczyk im Keller beim Eisschrankschieben oder im Hinterhof beim Rauchen zusammen mit Freddy Lavalle, dessen französischer Akzent sich mit dem sächsischen biss. Blieb also nur Kowalczyk für den Notruf. Aber der sprach ja nur polnisch. Ein anderer kam nicht infrage, es sei denn, meine hochdeutsch sprechende Unbekannte war eine hervorragende Stimmenimitatorin.

Irgendwann kam Koller wieder und sagte: »Es sieht nicht gut aus, Frau Buck. Niemand hat die Unbekannte gesehen. Nicht einmal Sie selbst, Sie haben sie nach eigener Aussage ja nur gehört. Die Fenster im Klo sind vergittert. Da ist sie nicht raus. Die Hintertür zur Küche wurde von zwei rauchenden Männern blockiert, dem Kellner und seinem Zwiebelexperten. Nachbarn bestätigen das. Dort kann sie also auch nicht rausgegangen sein.«

»Und was heißt das jetzt?«

Koller sah mich ganz ruhig an. »Dass die Unbekannte, falls es sie wirklich gegeben hat, vorn rausspaziert ist, direkt an allen Gästen vorbei.«

»Dann wird sie einer gesehen haben. Der alte Mann oder vielleicht kann Ricky ja …«

»Sind Sie religiös?«, unterbrach Koller mich.

»Nein. Wieso?«

»Sonst hätten Sie jetzt darum beten können, dass wenigstens einer überlebt. Denn wenn nicht, haben wir vier Tote und zwei Mordverdächtige. Und einer davon sind Sie.«

 

Es hatte angefangen zu nieseln.

Der Fußweg vor dem Restaurant war großräumig abgesperrt worden. Alle Gespräche und Befragungen wurden in Kleinbusse verlegt. Ich saß in einem davon und verbrachte die Zeit damit, jedes Detail während meiner Ankunft mit Ricky im Restaurant zu rekapitulieren. Zwei ältere Damen waren von dem Tisch aufgestanden, an den wir uns gesetzt hatten. Sie waren in jeder Hinsicht unauffällig gewesen. Schließlich musste ich aus meinen Gedanken und dem Van aussteigen, um unverschämten Leuten Platz zu machen, die sich darüber aufregten, dass ihre Tischreservierung verfiel.

Es herrschte allgemeines Chaos, aber man ließ mich nicht im Regen stehen, sondern verfrachtete mich in einen anderen Van, in dem bereits Kowalczyk saß, zusammen mit einer Polizistin, die damit beschäftigt war, Dinge in Papiertüten zu sortieren. Ihre Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der bei jeder ihrer Bewegungen wippte und Salven wohlriechenden Vanilledufts verbreitete.

Kowalczyk saß mir schräg gegenüber und fummelte an seiner Armbanduhr herum, das Ziffernblatt leuchtete im Halbdunkel. Es war kurz vor neun. Kaum zu glauben, dass erst zweieinhalb Stunden vergangen waren. Mir kam es vor, als wäre es schon Mitternacht. Es fiel mir schwer, diese alles überschattende Ungewissheit auszuhalten. Wie ging es Ricky? Was passierte mit mir? War dieser Kowalczyk gefährlich? Wieso saßen wir in diesem Auto?

Wenigstens roch es gut hier drin, dank der Vanillehaare der Polizistin. Ich schaute ihr dabei zu, wie sie das Beweismaterial in größere Tüten verpackte. Ein paar Sachen erkannte ich wieder – die Dekoration vom Tisch des Ehepaars und die Tischdecke des alten Mannes mit dem Rotweinfleck. Bei anderen Sachen hatte ich mitgekriegt, woher sie stammten – wie zum Beispiel das Shampoo und das Deutsch-Polnische Wörterbuch aus Kowalczyks Spind. Das Shampoo war speziell für koloriertes Haar, und ich fragte mich, ob Kowalczyks Rotschopf echt war. Falls nicht, welchen Grund sollte er haben, sich die Haare rot zu färben? Er machte auf mich nicht den Eindruck, als würde er die neuesten Trends der Frisierkunst ausprobieren. Irgendetwas stimmte mit dem Kerl nicht, so viel stand fest. Ich überlegte, ihn direkt anzusprechen, ihn irgendwie aus der Reserve zu locken. Außer »zweimal Vanille und einmal Schoko, bitte!« waren mir noch andere polnische Sätze im Gedächtnis geblieben, aber ausgerechnet jetzt fielen sie mir nicht ein. Als ich einen Blick durch die abgedunkelten Scheiben des Vans hinauswarf, sah ich den Zwiebelmann in Begleitung eines Polizisten aus einem anderen Van aussteigen. Also war er auch noch nicht nach Hause gelassen worden. Das beruhigte mich etwas. Er pinkelte unter der Aufsicht des Polizisten, der ihn mit einem Schirm vor unerwünschten Blicken schützte, an den Zaun der S-Bahn-Gleise.

»Weiß man schon was aus dem Krankenhaus?«, fragte ich die Polizistin.

»Auch nicht mehr als vor fünf Minuten.«

»Irgendeine Information, wie es den Leuten geht? Schweben sie immer noch in Lebensgefahr?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Können Sie es nicht sagen, oder wissen Sie es nicht?«

»Sie werden so bald wie möglich informiert.«

Als wäre ihr eben bewusst geworden, wie trostlos die Floskel klang, fügte sie hinzu: »Machen Sie sich keine Sorgen. Im Krankenhaus könnten Sie auch nichts anderes tun als warten.« Dabei nickte sie mir aufmunternd zu, doch ich wich ihrem Blick aus. Ich hatte keine Lust, mich von jemandem aufmuntern zu lassen, der mich bewachte, auch wenn er nach Vanille roch. In dem Moment fiel mir endlich ein Satz aus den Nachmittagen am polnischen Badesee ein. Es war eine einfache Frage, die ich Kowalczyk stellte. Aber er antwortete nicht. Stattdessen ließ er von seiner Uhr ab und sah mich stirnrunzelnd an.

Ich probierte es noch einmal: »Która godzina?«

Kowalczyk schaute unsicher zur Polizistin hinüber, die sich augenblicklich einschaltete. »Sie dürfen sich nicht unterhalten. Weder auf Polnisch noch sonst wie.«

»Geht ja auch gar nicht …«, sagte ich zu ihr und in Kowalczyks Richtung: »Która godzina, na?«

»Frau Buck, bitte lassen Sie das!« Die Stimme der Polizistin rutschte eine Tonlage höher, klang wie die von Carmen.

»Er antwortet ja sowieso nicht.«

»Lassen Sie es, sonst bin ich gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen.«

Maßnahmen? Ich schätzte die Lage ab – bis zur Tür waren es für mich nur ein, zwei Schritte, und sie saß eingekeilt zwischen ihrem Klapptisch und den Beweismittelkisten.

»Okay, gut, und geben Sie dem Kommissar Bescheid, dass Kowalczyk kein Polnisch versteht. Ich werde übrigens nicht länger hier rumsitzen, während ein Freund vielleicht stirbt. Sie finden mich im Krankenhaus.« Damit war ich draußen, mit einem Satz um den Bus herum, und von dort spazierte ich direkt in die Menge der Schaulustigen hinein – löste mich unter ihren Regenschirmen in Luft auf. Ich würde ungehindert von hier verschwinden, ein Taxi suchen, ins Krankenhaus fahren, und alles würde gut werden.

Doch dann sah ich Koller vor der Litfaßsäule, wo er mit besorgter Miene telefonierte. Mit dem Krankenhaus?

Der Nieselregen hatte bereits den Stoff seines Anzugs um die Schultern herum dunkler gefärbt. Er stand direkt unter dem Hirschplakat, die Hufe des Hirsches berührten seinen Scheitel, und es sah aus, als trüge Koller diesen prächtigen Zwölfender auf seinem Kopf spazieren. In seinem grauen Anzug wirkte er wie ein Granitberg, den das Treiben um ihn herum nicht berührte. Doch sein Blick verriet etwas anderes.

Ich trat aus der Menge heraus, und als er mich bemerkte, winkte er mich zu sich.

Gar nichts würde gut werden.

[home]

3

In der Nacht träumte ich davon, dass Ricky noch lebte. Er und auch die anderen drei – das schweigsame Ehepaar, der alte Mann. Ich träumte, dass sie nicht gestorben waren und schon gar nicht auf diese grausame Weise, von der Kommissar Rieb mir erzählt hatte.

Nein, sie lebten und saßen auf der Rückbank eines Cabrios, Ricky auf dem Beifahrersitz, ich am Steuer.

Ricky verteilte Dosensekt, und zwar gut geschüttelten. Alle öffneten mit Getöse ihre Dosen und bekleckerten sich mit dem herausspritzenden Sekt. Im Rückspiegel konnte ich sehen, wie der ältere Herr ebenso ratlos auf die Flecken auf seinem Hemd starrte wie am Abend zuvor auf den Rotweinfleck auf der Tischdecke. Doch dieses Mal ärgerte mich seine Hilflosigkeit. Ich fragte mich, wie ein erwachsener Mann von solchen Banalitäten nur derart überfordert sein konnte.

Im Traum trat ich das Gaspedal bis zum Anschlag durch und rauschte in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit über die Straße, die sich bis zum Horizont vor mir erstreckte, kurvenlos geradeaus. Ich spürte das Vorbeirauschen körperlich, hörte es auch, wusste, dass ich vorwärtskam, doch wenn ich aus dem Fenster schaute, rauschte alles in entgegengesetzter Richtung an mir vorbei, so als würde ich die 200 km/h im Rückwärtsgang fahren. Aufbrodelnde Übelkeit weckte mich, und ich brauchte eine ganze Weile, um mich in der Realität zurechtzufinden.

Der Raum, in dem ich untergebracht worden war, musste vor Kurzem frisch gestrichen worden sein. Ich setzte mich auf, die metallenen Federn der Liege quietschten, der Hosenstoff fühlte sich rau an und roch nach Kernseife. Das waren nicht meine Sachen, die ich anhatte. Ich trug einen Jogginganzug der Polizei. Selbst in der Dunkelheit konnte ich die großen weißen Buchstaben quer über meiner Brust erkennen. Und auch die weiße Keramik des Waschbeckens und der Kloschüssel neben dem dunklen Viereck der Tür.

»Sie bekommen Ihre Sachen so bald wie möglich zurück.« Koller hatte mir das mit einer Eindringlichkeit mitgeteilt, als handele es sich um ein Versprechen. Aber wer wusste schon, was so bald wie möglich hieß? Meine Sachen waren jetzt bei der Spurensicherung und wurden auf Giftrückstände untersucht. Der Jogginganzug war mir eine Nummer zu groß. Ärmel und Hosenbeine musste ich hochkrempeln, den Bund hatte ich in den meiner Unterhose eingeschlagen, damit er nicht rutschte. So war ich die halbe Nacht vernommen worden, hatte meine Fingerkuppen auf die Glasscheibe eines kleinen Kastens drücken lassen und war schließlich in einer Übernachtungszelle gelandet. Einer Zelle, die für Leute reserviert war, die verdächtig genug waren, um sie vierundzwanzig Stunden im Präsidium festzuhalten, bevor man genügend Beweise für einen Haftbefehl zusammenhatte.

Und wie es aussah, fehlte nicht mehr viel. Ich stand unter dringendem Tatverdacht. So jedenfalls hatte Rieb das formuliert – und Koller hatte nichts dagegen eingewandt.

Das karierte Taschentuch wurde im Labor auf Spuren von Zyankali untersucht. Dem Gift, durch das Ricky und die anderen gestorben waren. Qualvoll. Rieb hatte mir das ausführlich erklärt: Zyankali verhinderte die Aufnahme von Sauerstoff ins Blut. Das hieß, so viel man auch atmete, die Luft kam nicht in den Lungen an. Eine Zyankalivergiftung fühlte sich an wie ein Erstickungstod. Ebenso schrecklich wie schnell – bei einer Menge von 140 Milligramm pro Person. Die Dosis in Rickys Suppe und den Speisen der anderen war noch nicht ermittelt worden. Bis klar gewesen war, um welches Gift es sich handelte, war wertvolle Zeit verstrichen. Zeit, die keiner von ihnen überlebt hatte.

Nur ich.

Aber anstatt mich meines Lebens zu freuen, saß ich nun hier.

Was hätte ich darum gegeben, jetzt mit meiner Oma reden zu können. Sie hatte immer gewusst, was zu tun war, und es geschafft, meiner Sprunghaftigkeit Gründe zu unterstellen, Sinn zu finden, wo ich keinen vermutete, mich auf den Boden zu holen.

Ein Telefonat stand mir frei. Das hatte ich schon vor zwei Stunden, kurz vor Mitternacht, in Anspruch genommen.

Mein erster Impuls war es, meine Mutter anzurufen. Doch das ließ ich bleiben, weil sie die Begabung hatte, Sorgen zu verschlimmern. Sie schaffte das auf zwei Arten: erstens durch Vorwürfe (Warum gehst du auch in dieses Restaurant?), zweitens durch Herunterspielen (Ach, das wird schon wieder!). Ebenso wenig gesprächsfördernd war auch ihr neuester Spleen. Seit sie mit Don zusammen war, sprach sie nur noch Englisch, auch mit mir, nannte sich Jeany statt Janine und mich Nelly (Hey Nelly, my dear, what’s going on?). Ich sprach Deutsch mit ihr, sie antwortete auf Englisch. Außerdem wiederholte sie alles noch einmal für Don, der anscheinend immer in unmittelbarer Nähe saß und seinen Senf dazugeben musste. Keine guten Voraussetzungen für ein Krisengespräch.

Also hatte ich Fanny angerufen. Obwohl ich nicht damit gerechnet hatte, dass sie rangehen würde.

Sie war sturzbetrunken, saß mit ihren Schauspielkollegen an der Hotelbar und feierte den vorletzten Auftritt. Als sie hörte, von wo aus ich anrief, hielt sie ein flammendes Plädoyer für die Freiheit und schrie zum Schluss ins Handy – wahrscheinlich, um die Beifallsrufe im Hintergrund zu übertönen –, dass sie in zwei Tagen nach Hause käme und dann die Couch wieder bräuchte. Sie hätte Übernachtungsgäste dabei. Als ich sie daran erinnerte, dass ich mich in polizeilichem Gewahrsam befand und es noch nicht sicher war, wann ich wieder nach Hause käme, meinte sie, dann könnten ihre Gäste ja auch in meinem Zimmer schlafen, der Brandgeruch wäre doch inzwischen bestimmt verflogen. Im Übrigen sollte ich mir keine Sorgen machen, sondern einen Anwalt nehmen und mich durch sämtliche Instanzen klagen – bis zum Obersten Gerichtshof für Menschenrechte in Den Haag.

Dann brach die Verbindung ab.

Nie hatte ich mich einsamer gefühlt.

Dabei war ich es gar nicht.

Oma hätte meine Hände genommen und sie mir auf den Bauch gelegt, genauso wie ich es jetzt tat, damit ich besser fassen konnte, was sich so unbegreiflich anfühlte – dass ich ein Kind bekam. Ein echtes lebendiges Menschenkind.

Ich lehnte mich mit dem Rücken an die kalte Wand, zog die Beine an, Knie unters Kinn, und stellte mir vor, wie es sein würde mit dem Kind an der Hand durch die Stadt zu schlendern. Im Frühling würden wir an jedem Vorgarten stehen bleiben, um die ersten Krokusse zu bestaunen. Unsere Hosen- und Jackentaschen wären voll mit bunten Scherben, Steinen, leeren Schneckenhäusern, und was es sonst noch an Schätzen zu finden gab. Im Sommer wäre kein See vor unseren Arschbomben sicher, und im Herbst würden noch am Abend Borkenstücke aus unseren Kleidern rieseln, von all den Laubhaufen, durch die wir am Tag gesprungen waren.

Kaum zu glauben, dass alles schon bald einen Sinn ergeben würde. Warum ich mich mit nervigen Jobs und Kollegen rumärgern musste, warum ich jeden Morgen aufstand, warum ich auf keinen Fall im Gefängnis landen durfte – für einen Menschen, der mich brauchte, für eine eigene Familie.

Ich ging die Fakten noch einmal durch: Kowalczyk könnte bezeugen, dass ich an der Durchreiche vorbeigegangen war, ohne das Essen zu vergiften. Aber Kowalczyk schwieg. Wahrscheinlich tat er das, weil er sich nicht selbst belasten wollte. Denn wenn ich aus dem Rennen war, gab es nur noch ihn.

Und die Dame X aus der Nebenkabine vom Klo, der außer mir niemand begegnet war.

Bei dem Gedanken daran schien alles andere zu verblassen – ich hatte mich vielleicht von Rickys Mörderin trösten lassen. Hatte ihren beruhigenden Worten gelauscht und mich an ihrem Taschentuch festgehalten.

Wer war diese Frau?

Soll ich einen Arzt rufen?, hatte sie gefragt und dabei durchaus besorgt geklungen. Wie konnte sie das tun und eine Minute später vier Menschen vergiften?

Sie war skrupellos. Aber auch clever. Denn solange erst einmal herausgefunden werden musste, wer überhaupt die Opfer waren, war es schwierig, eine Verbindung zum Mörder herzustellen. Zur Mörderin. Zur Taube auf dem Dach.

Als Spatz in Kollers Hand konnte ich nichts machen, außer mir vorstellen, wie seine Leute gerade meine Schubladen durchwühlten und meine Notizbücher nach Mordfantasien durchsuchten.

Aber ich hatte keine Gedichte über Ricky verfasst, nur mit Fanny über ihn gesprochen. Sie war Expertin für One-Night-Stands. Die Masche mit den Probefahrten hatte sie durchschaut, noch bevor ich von Carmen erfuhr, dass er es auch bei ihr probiert hatte. Und bei der Blonden vom Eisstand.

Schlüssel klapperten, jemand nannte meinen Namen und erzählte etwas von Kowalczyk.

Er hatte endlich bestätigt, dass ich an der Durchreiche vorbeigegangen war, ohne etwas ins Essen zu mischen. Mit anderen Worten: Er hatte mich entlastet – hurra! Aber die Laborwerte waren auch da, und in dem Taschentuch aus meiner Hosentasche waren Cyanidionen gefunden worden – oje.

 

Der Mann, der mich aus meiner Übernachtungszelle holte, trug Zivilkleidung, war Mitarbeiter des Morddezernats und ziemlich korpulent. Beim Betreten des Fahrstuhls bebte die Kabine unter seinem Gewicht und füllte sich sofort mit dem Duft von Kiefernnadeln. Kam der Mann frisch aus der Badewanne? Ich ging davon aus, dass er mich zu Rieb oder Koller ins Büro bringen würde. Er fuhr mit mir aber nicht in den zweiten Stock hinauf, sondern ins Untergeschoss, das sich als Zugang zum Parkhaus der Polizeifahrzeuge herausstellte.

Mir war mulmig zumute. »Wohin gehen wir?«

»Ich bring Sie ins Oscars. Kommissar Rex wartet dort auf Sie«, antwortete er und hielt mir die Tür zur Rückbank eines ockergelben Opels auf.

»Kommissar Rex?«

»Äh, nein, Hauptkommissar Koller, Verzeihung – Macht der Gewohnheit.«

Ich stieg ein und wartete, bis der Mann seinen Bauch um das Auto herumgetragen und hinter das Lenkrad gezwängt hatte. Im Wagen roch es noch intensiver nach Kiefernnadeln, sodass ich darum bitten musste, das Fenster zu öffnen.

»Schienbeinprellung, könnte die Salbe sein, die Sie stört.«

Er ließ das Fenster einen Zentimeter hinunter und sagte dann: »Wenn Sie sich übergeben müssen, dann bitte in die Tüten im Seitenfach.«

Beinsalbe also. Ich zog einen Ärmel über die Fingerspitzen und hielt ihn mir vor die Nase. Langsam lernte ich Kernseifenduft zu schätzen.

Der Mann startete den Wagen und riss noch vor der ersten Kurve eine Tüte mit Schokolinsen auf. »Wollen Sie auch?«

»Nein, aber danke. Wieso haben Sie Koller vorhin Kommissar Rex genannt?«

»Ach, der Herr Hauptkommissar war früher bei der Hundestaffel, und da hat er, na ja, noch so seine Gewohnheiten, sagen wir es mal so.«

Ich lehnte mich auf dem Rücksitz zurück, den Ärmel fest an die Nase gepresst, und dachte darüber nach, was mit Koller nicht stimmte. Erst die Pfeiferei, dann die Labrador-Assoziation und die Sache mit dem verlorenen Armband und jetzt noch die Hundestaffel und dieser Spitzname. Kommissar Rex. Als Kind hatte ich einige Folgen der Krimiserie gesehen.

»Wieso ist er nicht mehr dort?«, fragte ich durch den Ärmel hindurch.

»Seinen Kollegen hat’s entschärft. Können Sie googeln, stand in allen Zeitungen. Ich glaub, Sherlock wurde sogar ein Denkmal gebaut.«

»Sherlock?«

»Kollers Hund.« Der Beinsalbenmann warf den Kopf in den Nacken, um sich den Rest der Schokolinsen in den Mund zu kippen. Kauend sagte er: »Ohne Sherlock kein Watson.«

 

Koller wartete bereits vor dem Restaurant, das weiträumig abgesperrt war, um die zahlreichen Schaulustigen fernzuhalten. Mein Fahrer reichte mir eine Sonnenbrille und eine Uniformjacke nach hinten. »Hier, ziehen Sie das über. Kapuze auch.«

»Warum?«

»Von mir aus lassen Sie es sein. Dann beschweren Sie sich aber nicht, wenn Sie auf allen Titelseiten landen und nie wieder einen Job finden.«

Alles klar. Bis jetzt hatte ich weder eine Zeitung zu Gesicht bekommen noch die Nachrichten gehört. Ich konnte mir aber denken, dass die Sache ziemlich viel Aufmerksamkeit erregte. Vier Gäste, die in einem Restaurant vergiftet worden waren – das dürfte den gastronomischen Umsatz der ganzen Stadt für ein paar Tage beeinflussen. Vielleicht sogar für Wochen – je nachdem, wie lange der Mörder frei herumlief. Wenn ich erst wieder zu Hause war, würde ich mich durch die Medien fräsen. Aber im Augenblick war ich froh, frische Luft atmen zu können.

Ein Blick auf mein Spiegelbild in der Autoscheibe versetzte mir allerdings einen Dämpfer. Mit Sonnenbrille, Kapuze und der viel zu großen Jacke sah ich aus wie ein Promi auf der Flucht. »Unauffällig ist anders.«

»Sie sollen vor allem nicht erkannt werden, darum geht’s«, erklärte der Beinsalbenmann.

»Wurde in den Zeitungen etwa mein Name genannt?« Meine Stimme klang vor Schreck ganz piepsig.

»Nein. Später gibt es die erste Pressekonferenz.«

»Und was wird Koller da sagen?«, fragte ich. »Dass ich die Mörderin bin?«

Der Beinsalbenmann sah mich mit undurchdringlichem Blick an, hob seine wulstigen Schultern, ließ sie fallen, was seinen ganzen Leib zum Wackeln brachte, und zeigte zu Koller hinüber. Zusammen gingen wir an den Leuten vorbei, die Fotos von uns mit Handys, aber auch mit dicken Kameras schossen. Koller begrüßte uns mit einem kurzen Kopfnicken und winkte uns gleich weiter.

Im Restaurant mussten wir im Eingangsbereich warten, die Spurensicherung packte gerade zusammen.