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Beschreibung

Die schönsten französischen Märchen des 17. und 18. Jahrhunderts sind in diesem Band versammelt. Den Auftakt bilden Charles Perraults berühmte Märchen des Gänsemütterchens, die später auch von den Brüdern Grimm adaptiert wurden. Es folgen Ritter- und Abenteuermärchen, in denen gute und böse Feen das Geschick der Menschen bestimmen. Diese - meist von Damen der aristokratischen Salons verfasst - unterhielten und entzückten das höfische Publikum. Und natürlich darf auch das bekannteste Märchen hier nicht fehlen: Jeanne-Marie Le Prince de Beaumonts Die Schöne und das Tier, das seit mehr als drei Jahrhunderten die Herzen rührt und mehrfach verfilmt und vertont wurde.

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Seitenzahl: 615

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Die schönsten französischen Märchen

Herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Jack Zipes

Insel Verlag

Inhaltsverzeichnis

Die schönsten französischen Märchen

Einleitung

Der Aufstieg des französischen Märchens und der Niedergang Frankreichs

Das Salonmärchen

Das orientalische Märchen

Das komische und konventionelle Märchen

Charles Perrault

Rotkäppchen

Die Feen

Blaubart

Die schlafende Schöne

Der gestiefelte Kater

Aschenbrödel

Riquet mit dem Haarbüschel

Der kleine Däumling

Marie-Jeanne L'Héritier

Die gewandte Prinzessin oder Die Begebenheiten der Finette

Marie-Catherine d'Aulnoy

Der gelbe Zwerg

Die weiße Katze

Schönchen oder Der Ritter Fortunat

Charlotte-Rose de La Force

Grün und Blau

Henriette-Julie de Murat

Immerschön

Antoine Galland

Die Geschichte von dem Prinzen Ahmed und der Fee Perî Banû

Claude-Philippe de Caylus

Der Palast der Gedanken

Jeanne-Marie Le Prince de Beaumont

Die Schöne und das Tier

Märchen von dem Prinzen Fatal und dem Prinzen Glückhaft

Jean-Jacques Rousseau

Königin Grille

Jacques Cazotte

Die Schöne durch Zufall

Zu dieser Ausgabe

Quellenverzeichnis

Anmerkungen

Die schönsten französischen Märchen

Einleitung

Der Aufstieg des französischen Märchens und der Niedergang Frankreichs

Ihre Untertanen ‌… die Sie wie Ihre Kinder lieben sollten und die Ihnen bislang leidenschaftlich ergeben gewesen sind, sterben Hungers. Der Ackerbau ist nahezu aufgegeben worden; Stadt und Land entvölkern sich; das Handwerk liegt darnieder und ernährt die Handwerker nicht mehr. Der Handel ist ruiniert ‌… Ganz Frankreich ist nichts als ein riesiges Spital, verheert und mittellos. 

Fénelon,

›Brief an König Ludwig XIV.‹ (1694)

Bis in die neunziger Jahre des siebzehnten Jahrhunderts hielt man in Frankreich die mündlich überlieferten Volksmärchen nicht für wert, festgehalten und in Literatur verwandelt, also aufgeschrieben und unter Gebildeten in Umlauf gebracht zu werden. Abgesehen von einigen bedeutenden Märchensammlungen in Italien, den ›Ergötzlichen Nächten‹ (1550 bis 1553) des Gianfrancesco Straparola und dem ›Pentamerone‹ (1634-1636) des Giambattista Basile, betrachtete in der Tat der größte Teil der europäischen Aristokratie und Intelligenz das Volksmärchen als einen Teil der Überlieferungen des gemeinen Volkes, der unter der Würde kultivierter Menschen stehe und mit heidnischem Glauben und Aberglauben verbunden sei, die im christlichen Europa nicht mehr von Belang seien. Wenn die Gebildeten der oberen Stände dem Volksmärchen überhaupt eine Existenzberechtigung zuerkannten, dann war es die eines rohen Vergnügens, einer Anekdote oder einer Moralpredigt, die in mündlicher Form durch Vermittler wie Ammen, Gouvernanten, Diener, Bauern, Händler und Dorfpriester weitergetragen wurde. 

Vom Mittelalter bis zur Renaissance erzählten des Lesens und Schreibens unkundige Bauern einander Märchen am Herd, in Spinnstuben oder auf dem Feld. Priester flochten sie in der Volkssprache in ihre Predigten, um bei den Bauern Gehör zu finden. Händler und Reisende trugen diese Geschichten in Schenken und Tavernen zu Menschen aller Stände. Den Kindern der oberen Stände wurden sie von Ammen und Gouvernanten erzählt. So wurden sie von allen Mitgliedern der Gesellschaft in verschiedenen Formen und Versionen im Gedächtnis behalten und weitergegeben und immer der Situation entsprechend erzählt — als ›Plauderei‹. Diese Plaudereien wurden freilich nach und nach immer kultivierter, wurden akzeptabel und fanden in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts Eingang in die französischen Salons. Erst 1690 befand man sie in der Tat für wert, veröffentlicht zu werden, und 1696 hatten gedruckte Märchen eine veritable Popularität erlangt: das Kunstmärchen war in seine Rechte eingetreten, und vor allem französische aristokratische Schriftsteller etablierten die Konventionen und Motive eines Genres, das in der westlichen Welt vielleicht das beliebteste ist — und nicht nur bei Kindern. 

Wie kam das? Wieso änderte sich die Einstellung gegenüber dem bescheidenen mündlich überlieferten Volksmärchen? Welcher Art waren die Kunstmärchen, die geschaffen wurden? 

Obwohl es unmöglich ist, einen genauen Zeitpunkt für das Auftreten des Kunstmärchens in Frankreich anzugeben, können seine Ursprünge in der Konversation vermutet werden, die hochgebildete adlige Damen in den Salons entwickelten, die sie um 1630 in Paris begründeten und die bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts beliebt waren. Ausgeschlossen von Schulen und Universitäten, begannen die genannten Damen, Zusammenkünfte in ihren Häusern zu organisieren, zu denen sie andere Frauen und nach und nach auch Männer einluden, um über Gegenstände zu diskutieren, die ihnen wichtig waren, wie: Kunst, Literatur, Liebe, Ehe und Freiheit. Vor allem wollten die Frauen sich als Individuen auszeichnen, die über der übrigen Gesellschaft standen und besondere Aufmerksamkeit verdienten. Im allgemeinen nannte man diese Frauen ›die Preziösen‹, und sie versuchten, einen preziösen Stil des Denkens, Sprechens und Schreibens zu entwickeln, um ihre eingeborenen Talente zu offenbaren und zu zelebrieren, die sie von den ›gewöhnlichen Teilen‹ der Gesellschaft unterschieden. Das Wichtigste dabei war die Bedeutung, die sie einer geistreichen und einfallsreichen Konversation beimaßen. Die ›Preziösen‹ (und viele Männer gehörten zu dieser Bewegung) waren fähig, das banalste Klischee in ein brillantes und einmaliges Bonmot zu verwandeln. Obwohl diese Frauen zum Blutlosen und Elitären neigten, waren sie keinesfalls Dilettantinnen. Im Gegenteil. Einige der begabtesten Schriftstellerinnen jener Zeit, wie Mademoiselle de Scudéry, Mademoiselle de Montpensier, Madame de Sévigné und Madame de Lafayette entstammten dieser Bewegung, und es war ihr Ziel, größere Unabhängigkeit für Frauen ihres Standes zu erreichen und als Intellektuelle ernster genommen zu werden. In der Tat war eine der wichtigsten Wirkungen der ›préciosité‹ ihr Einfluß auf die Frauen des niederen Adels und des Bürgertums, die sie anregte, nach mehr Rechten zu streben und gegen die willkürlichen Beschränkungen zu kämpfen, die in einer patriarchalischen Gesellschaft ihrem Leben auferlegt wurden. 

Die Frauen, die die Salons frequentierten, suchten beständig nach neuen Wegen, ihre Bedürfnisse auszudrücken und Form und Stil ihres Sprechens und Kommunizierens auszuschmücken. Stellt man in Rechnung, daß sie als Kinder alle mit Volksmärchen in Berührung gekommen waren und daß sie einander mit Konversationsspielen unterhielten, die die Modelle für das Gelegenheitsgedicht und den Fortsetzungsroman abgaben, so ist es kein Zufall, daß sie sich dem Märchen des Volkes als einer Quelle des Vergnügens zuwandten. Um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts begannen diese Damen, sich auf Märchenhandlungen basierende Gesellschaftsspiele auszudenken, um einander zum freundschaftlichen Wettstreit herauszufordern, wer wohl die spannendere Geschichte erzählen könnte. Solche Herausforderungen führten insbesondere dazu, daß die Frauen die Qualität ihrer Dialoge, Bemerkungen und Vorstellungen über Moral, gute Manieren und Bildung verbesserten und gelegentlich männliche Normen in Frage stellten, die ihr Leben beherrschten. Themen solcher Konversationen waren Literatur, Sitte, Geschmack, Liebe und Etikette, wobei die Sprecherinnen alle bestrebt waren, mit wirkungsvollster Rhetorik ideale Situationen zu schildern, die nach und nach in literarische Formen gebracht wurden und die Normen des conte de fée oder, wie wir heute sagen, des Kunstmärchens setzten. 

Um 1670 finden wir in Briefen viele Hinweise darauf, daß in den Salons das Märchen als akzeptables ›jeu d'esprit‹ galt. In derartigen Spielen griffen diese Frauen Volksmärchen auf und benutzten im Gespräch spontan gewisse Motive. Schließlich begannen sie, Märchen zu erzählen, als literarisches Divertimento, als Intermezzo, als eine Art Dessert — etwas, das man erfand, um die Zuhörer zu ergötzen. Zur sozialen Funktion des Amusements kam noch die Selbstdarstellung und die Darstellung angemessenen aristokratischen Betragens hinzu. Das Märchenerzählen ermöglichte es den Damen, sich selbst sowie gesellschaftliche Umgangsformen und Beziehungen auf eine Weise darzustellen, die ihre Interessen und die des Adels wiedergab. So legten sie großen Wert auf gewisse Regeln des freien Sprechens wie Natürlichkeit und Spontaneität und auf Themen wie freie Gattenwahl, Treue und Gerechtigkeit. Die Erzählerin mußte das Märchen so erzählen, als erfinde sie es gerade und als folge es nicht vorgegebenen Regeln. Ausschmückung, Improvisation und das Experimentieren mit bekannten Motiven aus der volkstümlichen Überlieferung oder aus der Literatur standen im Vordergrund. Das Erzählen eines Märchens als Unterhaltungsstück ging folgendermaßen vor sich: Die Erzählerin wurde gebeten, sich zu einem bestimmten Motiv eine Geschichte auszudenken. Die Gewandtheit der Erzählerin wurde daran gemessen, wie erfindungsreich und wie natürlich sie erzählte. Die Zuhörer spendeten höflich ihre Komplimente, dann wurde eine weitere Anwesende gebeten, eine Geschichte zu erzählen, nicht in direktem Wettstreit mit ihrer Vorrednerin, sondern um das Spiel weiterzutreiben und die Möglichkeiten der Erfindung und des symbolischen Ausdrucks zu variieren, wobei ›galanterie‹, ›tendresse‹ und ›esprit‹ häufig benutzte Codeworte waren, die die Eigenschaften der Protagonisten signalisierten. 

Um 1690 hatten die ›Salon‹-Märchen eine solche Anerkennung gefunden, daß Frauen wie Männer begannen, ihre Märchen für die Veröffentlichung aufzuschreiben. Die ›Natürlichkeit‹ der Geschichten war selbstredend fingiert, denn jeder bereitete seine Märchen sehr sorgfältig vor und übte ihren Vortrag, bevor er einen Salon besuchte. Die meisten der bemerkenswerten Märchenschriftsteller lernten ihre Kunst, indem sie die Salons oder Häuser derjenigen Frauen besuchten, denen die Pflege einer intellektuellen Konversation am Herzen lag. Und manche Schriftstellerinnen, Madame d'Aulnoy, Madame de Murat und Mademoiselle L'Héritier etwa, unterhielten sogar eigene Salons. Mehr noch, vor allem zur Karnevalszeit verkleidete man sich zu Festlichkeiten am Hofe Ludwigs XIV. oder in den Adelspalästen als Nymphe, als Satyr, als Faun oder als irgendeine andere Märchengestalt. Es gab spektakuläre Balletts und Schauspiele mit Märchenmotiven, zum Beispiel die Aufführung von Molières und Corneilles ›Psyché‹ (1671), die für die Entwicklung des Motivs der Schönen und des Tieres in den Werken der Madame d'Aulnoy von Bedeutung war. So gesehen, hatte die Attraktivität des Märchens viel mit dem Wunsch des Sonnenkönigs zu tun, seinen Hof zum glänzendsten Europas zu machen, denn der französische Adel und das französische Bürgertum suchten nach kulturellen Mitteln, diesen Glanz in Form und Stil für sich selbst und die übrige Welt zu übertragen und darzustellen. So wurden die bäuerlichen Gehalte und Szenerien der mündlich überlieferten Volksmärchen umgeformt, damit sie ein aristokratisches und bürgerliches Publikum ansprachen. 

Die Umformung des Volksmärchens zum Kunstmärchen war keine oberflächliche oder dekorative Veränderung. Die Ästhetik, die die Damen der Aristokratie in ihren Konversationsspielen und ihren schriftlich festgehaltenen Märchen entwickelten, hatte einen ernsten Aspekt: Obwohl diese Geschichten sich in Stil und Gehalt voneinander unterschieden, waren sie alle antiklassisch und in unausgesprochener Opposition gegen Nicolas Boileau geschrieben, den führenden Kritiker des literarischen Establishments, der im berühmten ›Streit der Alten und der Modernen‹ (1687-1696) die griechische und die römische Literatur als die Modelle verfocht, denen die zeitgenössischen französischen Schriftsteller folgen sollten. Statt dessen benutzten die frühen französischen Märchenschriftsteller Modelle aus der französischen Folklore und der mittelalterlichen höfischen Tradition. Außerdem zeigte sich in diesen Geschichten, da die meisten Verfasser und Erzähler von Märchen Frauen waren, insofern ein gewisser Widerstand gegen männlich rationale Regeln und patriarchalische Sphären, als sie heidnische Welten vorstellten, in denen weibliche Feen das letzte Wort hatten, außerordentlich majestätische und mächtige Feen, wenn man so will. In gewissem Maße ›modernisierten‹ alle französischen Märchenschriftsteller, Männer und Frauen, ein orales Genre, indem sie es literarisch institutionalisierten, mit utopischen Visionen, die ihrem Wunsch nach besseren sozialen Verhältnissen entsprangen. 

Trotz der Tatsache, daß ihre bemerkenswerten Märchen den Ton und die Normen für die Entwicklung der meisten erinnernswerten Kunstmärchen bis zum heutigen Tage festlegten, sind sie und ihre utopischen Visionen nahezu vergessen. Der wichtigste heute bekannte Repräsentant dieses Genres ist Charles Perrault, der 1694 die in Versen gehaltenen Märchen ›Die Eselshaut‹ und ›Die törichten Weiber‹ veröffentlichte und 1697 ein schmales Bändchen mit acht Prosamärchen, ›Histoire ou contes du temps passé‹. Obschon gut geschrieben, sind diese Geschichten weder bezeichnend für die große Märchenmode, die damals im Schwange war, noch repräsentativ für die utopische (und manchmal dystopische) Verve jener Märchen. Um den Wert der Perrault'schen Märchen und ihre Andersartigkeit einschätzen zu können, muß man sie in ihrem historischen Kontext sehen. 

Innerhalb der französischen Märchenmode sind etwa drei Wellen zu verzeichnen: das experimentelle Salonmärchen (1690-1703?), das orientalische Märchen (1704-1720) und das konventionelle und komische Märchen (1721-1789). Diese Wellen überlagern sich etwas, aber wenn wir die Gründe ihres Entstehens und ihrer Wandlungen verstehen, begreifen wir etwas von der eigentlichen Bedeutung der Symbole jener Märchen, das nicht einfach auf der Hand liegt. 

Das Salonmärchen

Als Marie-Catherine d'Aulnoy 1690 das Märchen ›Die Insel des Glücks‹ in ihren Roman ›Histoire d'Hippolyte, Comte de Douglas‹ aufnahm, war sie sich nicht bewußt, daß sie dabei war, einen Trend in Frankreich zu begründen. Innerhalb von fünf Jahren sprach man in allen literarischen Salons vom Kunstmärchen, beziehungsweise das, wovon man in den Salons gesprochen hatte, wurde jetzt gedruckt: auf Madame d'Aulnoys Märchen folgten Mademoiselle L'Héritiers ›Œuvres Meslées‹ (1695), Mademoiselle Bernards ›Inès de Cordoue‹ (1695), ein Roman, der eine Version von ›Riquet à la houppe‹ enthält, Mademoiselle de la Force's ›Les Contes des Contes‹ (1697), Perraults ›Histoires ou contes du temps passé‹ (1697), Madame d'Aulnoys vierbändiges Werk ›Les Contes des fées‹ (1697-1698), die ›Illustres Fées, contes galans‹ (1698) des Chevalier de Mailly, Madame de Murats ›Contes des fées‹ (1698), Nodots ›Histoire de Mélusine‹ (1698), Prechacs ›Contes moins contes que les autres‹ (1698), Madame Durands ›Comtesse de Mortane‹ (1699), Madame de Murats ›Histoires sublimes et allégoriques‹ (1699), Eustache Le Nobles ›Gage touché‹ (1700), Madame d'Auneuils ›Tiranie des fées détruite‹ (1702) und Madame Durands ›Petits Soupers de l'annee 1699‹ (1702). 

Der Hauptgrund für die Veröffentlichung dieser Märchen — und vielleicht sollte der Akzent darauf gelegt werden, daß man diese Märchen ›öffentlich‹ machte oder sie einem größeren Publikum außerhalb der Salons zur Kenntnis brachte — ist die Tatsache, daß Frankreich um 1688 in eine tiefe Krise geraten war und daß sich die Lebensverhältnisse auf allen Ebenen der Gesellschaft zu verschlechtern begannen. In der Tat blieben selbst die Aristokratie und das Großbürgertum davon nicht unberührt. Weil Ludwig XIV. weiterhin kostspielige Kriege führte und weitere Ländereien für Frankreich annektieren wollte, wuchsen für alle Stände die Steuern ins Unermeßliche, und während der zweiten Hälfte seiner Regierungszeit verursachten Unwetter verschiedene Mißernten, und die Kriege vernichteten Menschenleben. Ständig steigende Schulden, Steuern und schlechte Lebensverhältnisse trieben die Bauern in äußerstes Elend und ließen auch das Bürgertum und die Aristokratie nicht ungeschoren. Überdies wurde in jener Zeit Ludwig XIV. unter dem Einfluß der Madame de Maintenon in seiner katholischen Frömmigkeit immer orthodoxer, in seinem Geschmack immer rigider und als absolutistischer König immer willkürlicher und halsstarriger. Seine Herrschaft, die in einem ›Zeitalter der Vernunft‹ begonnen hatte, verkehrte die Vernunft immer mehr, um seine Begierden, seinen Geschmack und seine Ruhmsucht zu rechtfertigen, und dieser Solipsismus führte zu einer irrationalen Politik, die für das französische Volk verheerend war und die der hochangesehene Fénelon, der Erzbischof von Cambrai, der gleichsam zum moralischen Gewissen des im Niedergang begriffenen Ancien régime wurde, einer gründlichen Kritik unterzog. 

Angesichts dieser finsteren Zeiten und angesichts der Tatsache, daß die Zensur es den französischen Schriftstellern nicht gestattete, Ludwig XIV. direkt zu kritisieren, galt das Märchen als ein Mittel, mit dem man seiner Unzufriedenheit Luft machen und gleichzeitig Hoffnung auf eine bessere Welt ausdrücken konnte. Gerade das erste Märchen, das Madame d'Aulnoy 1690 schrieb, zeigt sehr gut, wie die Schriftsteller das Märchen als narrative Strategie betrachteten, mit der man den Sonnenkönig kritisieren und einen Codex der Integrität erarbeiten konnte, denn viele französische Schriftsteller jener Zeit wollten Normen für gutes Betragen, korrektes Sprechen, Gerechtigkeit und Liebe aufstellen. In Madame d'Aulnoys ›Glücklicher Insel‹ vermag es Prinz Adolph nicht, vollkommene Glückseligkeit zu erlangen, weil er die Liebe dem Kriegsruhm opfert. Eben weil er die Zärtlichkeit der Prinzessin Felicitas nicht genug schätzt, um ihr treu zu bleiben, zerstört er sich selbst. ›Die glückliche Insel‹ ist ein utopisches Märchen, weil es dem männlichen Verlangen als einer zerstörerischen Kraft entgegentritt und darauf hinweist, daß dem Leben ein Element fehlt, das die Frauen geben können, wenn denn Utopia gewonnen und behauptet werden soll. Das mit Prinzessin Felicitas verbundene Paradies wird unerreichbar bleiben, und eben diese Sehnsucht nach dem Paradies, nach einem Reich, das gerecht ist und in dem natürliches Fühlen sich frei entfalten kann, war die Grundlage der meisten Kunstmärchen, die um 1690 in Frankreich geschrieben wurden. In dieser Hinsicht unterschied sich der utopische Impuls nicht sehr von jenem, aus dem heraus die Bauern ihre Volksmärchen erzählten. Aber die Wunscherfüllung in den mündlich überlieferten Märchen der Landbevölkerung erwuchs aus einer gänzlich andersgearteten Unterdrückung und gänzlich andersgearteten Sehnsüchten. Die Salonmärchen waren von den Kämpfen um Anerkennung, um eine vernünftige Politik und um Macht innerhalb der oberen Stände gekennzeichnet. 

Interessanterweise waren fast alle großen Märchenschriftsteller der neunziger Jahre des siebzehnten Jahrhunderts Randfiguren am Hofe Ludwigs XIV. und hatten oft Schwierigkeiten mit ihm oder den Behörden. So wurde zum Beispiel Madame d'Aulnoy 1670 vom Hofe verbannt, kehrte 1690 nach Paris zurück und wurde in einen großen Skandal verwickelt, als einer ihrer Freunde ihren Mann tötete. Madame de Murat wurde 1694 vom Hofe verbannt, nachdem sie eine politische Satire auf Madame de Maintenon, auf Scarron und auf Ludwig XIV. veröffentlicht hatte. Mademoiselle de la Force wurde 1697 ins Kloster geschickt, weil sie pietätlose Verse publiziert hatte. Catherine Bernard wurde bei Hofe nicht empfangen und blieb unverheiratet, um sich ihre Unabhängigkeit zu erhalten. Der Chevalier de Mailly war ein unehelicher Sohn eines Mailly, und obwohl er bei Hofe empfangen wurde, verursachte er Schwierigkeiten, weil er darauf bestand, als Bastard den ehelichen Söhnen der Maillys gleichgestellt zu sein. Selbst Charles Perrault, der ein loyaler Beamter gewesen war, solange sein Protektor, der Oberintendant der Finanzen Jean Baptiste Colbert, lebte, fiel 1683 in Ungnade und opponierte bis zu seinem Tode im Jahre 1701 gegen die offizielle Kulturpolitik Ludwigs XIV. 

Es wäre übertrieben, zu sagen, alle Schriftsteller der ersten Salonmärchenwelle seien Unzufriedene gewesen, die gegen das Regime Ludwigs XIV. opponiert hätten, denn sie alle verkehrten in den besten Kreisen und galten als sehr respektable und begabte Autoren. Jedoch gehörten sie, Perrault ausgenommen, nicht zum literarischen Establishment und machten sich einen Namen in einem neuen Genre, das man mit Mißtrauen betrachtete. Selbst der respektable Fénelon, der zum inneren Kreis des Hofes gehörte, veröffentlichte die Märchen, die er als Erzieher des Duc de Bourgogne, des Enkels Ludwigs XIV., während der neunziger Jahre in dem Versuch geschrieben hatte, den Horizont des Dauphin durch unterhaltsame Lektüre zu erweitern, erst um 1730. Mit anderen Worten, der Entwicklung des Kunstmärchens haftete etwas Verdächtiges und vielleicht Subversives an, und die französischen Schriftsteller fühlten sich immer gezwungen, sich ein wenig dafür zu entschuldigen, daß sie ausgerechnet Märchen schrieben. Obwohl sie Reue zeigten, wußten sie, was sie taten. Die meisten frühen Märchenschriftsteller kamen aus der Provinz nach Paris und waren tief in der Folklore ihrer Region verwurzelt. Erinnern wir uns, daß sie zuerst den Vortrag ihrer Märchen übten und sie in den Salons erzählten, bevor sie sie veröffentlichten. Wenn sie sie niederschrieben, ließen sie sie unter ihren Freunden zirkulieren — und sie waren alle miteinander bekannt und bewegten sich in den selben Kreisen — und nahmen Veränderungen vor, bevor die Märchen gedruckt wurden. Manche, wie Perrault und Mademoiselle L'Héritier, waren miteinander verwandt und tauschten ihre Ideen aus. Perrault hatte außerdem erwiesenermaßen Kontakt zu Catherine Bernard, wie beider Fassungen des Märchens ›Riquet mit dem Haarbüschel‹ zeigen. Vor allem die Frauen tauschten die Ideen zu ihren Geschichten untereinander aus und diskutierten privatim und brieflich ihre Träume und Hoffnungen miteinander. Als Madame Murat in die Provinz verbannt worden war, pflegte sie bis in die frühen Morgenstunden aufzubleiben und ihren Freundinnen Märchen zu erzählen. Zu ihrem Kreis gehörte auch Mademoiselle de la Force, die, bevor man sie ins Kloster steckte, ihre Märchen unter ihren Freundinnen verbreitete und diskutierte. 

Alle Schriftsteller feilten ihre Märchen aus, um einen ›précieux ton‹ zu erreichen, einen einzigartigen Stil, der nicht nur galant, natürlich und geistreich sein sollte, sondern auch einfallsreich, verblüffend und modern. Ihre Märchen sind äußerst provokativ, außergewöhnlich, bizarr und unlogisch. Sie übertrieben, um auf sich und ihre mißliche Lage aufmerksam zu machen, und sie scheuten sich nicht, in ihren Märchen auch sadomasochistische und makabre Elemente zu verwenden. 

Viele Kritiker und Pädagogen haben sich darüber beklagt, daß die Grimmschen Märchen zu hart und zu grausam seien, als daß man sie Kindern vorlesen könne, und manche haben sogar behauptet, die deutschen Märchenschriftsteller schwelgten in Grausamkeiten. In Wahrheit nehmen sich die Märchen der Grimms neben den Salonmärchen der vornehmen französischen Damen geradezu prüde aus. Besonders Madame d'Aulnoy war ein Genie im Ersinnen von Foltern für ihre Heldinnen und Helden. Sie verwandelte sie in Schlangen, weiße Katzen, Widder, Affen, Hirsche und Vögel. Manche ihrer Heldinnen werden von grotesken Feen oder finsteren Prinzen ausgepeitscht, eingekerkert und gequält. Manche ihrer Helden werden von häßlichen Feen brutal behandelt, die sie verachten, weil sie eine unschuldige schöne Prinzessin heiraten wollen. Ein beträchtlicher Teil ihrer Märchen endet tragisch, weil die Helden sich nicht vor den Kräften schützen können, die ihre natürliche Liebe untergraben. 

Die grausamen Vorfälle, die Foltern und die grotesken Verwandlungen in den Märchen der Madame d'Aulnoy sind für die von Frauen verfaßten Märchen nichts Außergewöhnliches. In Mademoiselle L'Héritiers ›Gewandter Prinzessin‹ (1695) behandelt Finette den Prinzen bei drei verschiedenen Gelegenheiten unmenschlich, bevor sie ihm gnädig gestattet, zu sterben. Mademoiselle Bernard beendet ›Riquet mit dem Haarbüschel‹ (1696), indem sie ihre Heldin vor ein höchst grausames Dilemma stellt, in dem zwei Gnome eine Rolle spielen. Mademoiselle de la Force schildert in der ›Guten Frau‹ (1697) einen brutalen König als Mörder, dessen Grausamkeit keine Grenzen kennt, und in ›Schöner als eine Fee‹ (1697) werden ein Prinz und eine Prinzessin erniedrigt und müssen schwere Prüfungen bestehen, bevor sie heiraten und in Frieden leben können. Madame de Murat läßt am Schluß des ›Palastes der Rache‹ (1698) einen sadistischen Kobold zwei Liebende in eine unerträgliche Situation bringen, und sie läßt oft Liebende einander betrügen und mißhandeln, wie in ›Anguilette‹ (1698) oder in der ›Vollkommenen Liebe‹ (1698). 

Freilich waren es nicht nur die Schriftstellerinnen, die Gewalt und Grausamkeit in ihre Märchen einflochten. Perrault behandelte in der ›Eselshaut‹ (1694) den Inzest und schilderte im ›Kleinen Däumeling‹ (1697), wie ein Menschenfresser seinen Töchtern die Gurgel durchschneidet. Der Chevalier de Mailly hatte einen Hang dazu, seine Helden in Tiere zu verwandeln, und in der ›Königin der Blumeninsel‹ (1698) läßt er eine Prinzessin sadistisch quälen. 

Die Grausamkeit und der Sadomasochismus französischer Märchen können zwiefach gedeutet werden. Auf der einen Seite ist es augenscheinlich, daß der Held oder die Heldin leiden müssen, damit er oder sie ihren Adel und ihre ›tendresse‹ beweisen können. Darum wurden grausame Prüfungen oder Leiden zum konventionellen Märchenmotiv, zum Teil der kompositorischen Technik, um den Leser zur Sympathie für den Protagonisten zu bewegen. Auf der anderen Seite steht ein großer Teil der Grausamkeiten in Verbindung mit erzwungener Heirat oder der Trennung zweier Liebender, die zueinander finden, weil sie zärtliche Gefühle füreinander hegen und nicht, weil ihre Verbindung arrangiert worden ist. Da viele der Schriftstellerinnen Opfer einer erzwungenen Heirat geworden waren oder sich geweigert hatten, zu heiraten, um ihre Unabhängigkeit zu wahren, enthalten diese Märchen einen augenscheinlichen Kommentar zum Thema Liebe, Werbung und Ehe, der trotz aller Sentimentalität von den Schriftstellerinnen und ihren Lesern ernst genommen wurde. 

Im allgemeinen waren die Märchen der ersten Phase der Märchenmode sehr ernst in Ton und Absicht. Nur gelegentlich finden wir in den Werken der Madame d'Aulnoy und in denen Perraults Anflüge von Ironie und Humor. Die Leser sollten durch diese Märchen erkennen — verglichen sie ihr Leben mit den in ihnen geschilderten Ereignissen —, wie sehr sie betrogen worden waren. Der Hof Ludwigs XIV. bot kein glanzvolles Paradies, keine wahre Liebe, keine Versöhnung, kein Zartgefühl. All dies konnte man aber in den Märchen finden, und insofern war die symbolische Darstellung des Unmöglichen ein rationales Unterfangen seitens der Schriftsteller, um die irrationalen und destruktiven Tendenzen ihrer Zeit zu erhellen. 

Das orientalische Märchen

Die zweite Phase der Märchenmode hing nur teilweise mit der utopischen Kritik der ersten Phase zusammen. Die große Veränderung, das Angezogensein durch orientalische Märchen, rührte von zwei Faktoren her: die Salons hatten die Märchenspiele aufgegeben, und um 1704 waren die großen Märchenschriftsteller entweder schon gestorben oder aus Paris verbannt worden. Sozusagen um die Lücke auszufüllen, begannen manche Schriftsteller, sich der orientalischen Literatur zuzuwenden (interessanterweise ist anzumerken, daß die klassische griechische und römische Literatur wieder ignoriert wurde). Das bedeutsamste Werk jener Zeit war Antoine Gallands ›Les Mille et une Nuits‹ (1704-1717), eine Übersetzung der arabischen Märchensammlung ›Tausendundeine Nacht‹. Galland (1646-1715) hatte den Nahen Osten bereist und dort gelebt, er beherrschte Arabisch, Hebräisch, Persisch und Türkisch. Nachdem er die ersten Bände von ›Tausendundeine Nacht‹ veröffentlicht hatte, wurden sie äußerst populär, und er fuhr bis zu seinem Tode fort, die Märchen zu übersetzen. Die beiden letzten Bände erschienen postum. Galland schuf mehr als eine Übersetzung. Er paßte in der Tat die Märchen dem Geschmack seiner französischen Leser an, er erfand einige der Handlungen und faßte Material zusammen, um daraus ein paar eigene Märchen zu machen. Seinem Beispiel folgte Pétis de La Croix (1653-1713), der 1710 unter dem Titel ›L'Histoire de la Sultane de Perse et des Visirs. Contes turcs‹ (Die Geschichte des Sultans der Perser und der Vesire. Türkische Geschichten) ein Werk Sheikh Zadahs, des Erziehers Amriaths II., aus dem Türkischen übersetzte. Außerdem übersetzte er auch eine persische Imitation von ›Tausendundein Tag‹, die Stoffe aus indischen Komödien übernommen hatte. ›Les Aventures d'Abdalla, fils d'Anif‹ (1712-1714) schließlich, die Sammlung des Abbé Jean-Paul Bignon, gab vor, die Übersetzung eines authentischen arabischen Werkes zu sein, war aber tatsächlich eine schöpferische Adaption mit französischer Folklore vermengter orientalischer Märchen aus Bignons Feder. 

Woher rührte dieses Interesse an orientalischen Märchen? 

Eine Erklärung ist, daß die verblassende Großartigkeit des Hofes Ludwigs XIV. und der Niedergang Frankreichs ganz allgemein die Schriftsteller zwangen, in der Schilderung exotischer Länder Kompensation zu suchen. Für die Leser jener Zeit waren orientalische Märchen gewiß deshalb von einer so einzigartigen Anziehungskraft, weil sie so wenig über den Nahen Osten wußten, und als die Franzosen ausgedehnte Handelsbeziehungen zum Orient entwickelt hatten, wurde diese Anziehungskraft sogar noch stärker. Natürlich waren die Männer, die das Interesse für orientalische Märchen anregten, Gelehrte, und die Gründe, aus denen sie sich der arabischen, persischen und türkischen Folklore zuwandten, hatten mehr mit wissenschaftlichem Interesse zu tun als mit Kompensation für den verblassenden Ruhm Frankreichs. Welche Ursachen die zweite Phase auch immer haben mag, es ist wichtig, anzumerken, daß Frauen nicht mehr die dominante Rolle spielten und daß die Märchen nicht mehr mit den unmittelbaren Interessen des Adels und des Großbürgertums in Verbindung standen. 

Das komische und konventionelle Märchen

Um 1720 war das Interesse am Kunstmärchen so zurückgegangen, daß Schriftsteller begannen, das Genre zu parodieren und es in konventionellen Geleisen weiterzuentwickeln oder für die Kinderliteratur zu verwerten. Claude-Philippe de Caylus' Märchen in den ›Féerie nouvelles‹ (1741) und den ›Contes orientaux tirés des manuscrits de la bibliothèque du roi de France‹ (1743) sind charakteristisch für die Versuche, sich über das Märchengenre lustig zu machen. De Caylus ist nicht übermäßig sarkastisch, aber er verkehrt die traditionellen höfischen Typen in ihr Gegenteil, um zu zeigen, wie lächerlich sie und der Hof sind. Die meisten seiner Geschichten sind kurz, trocken und witzig und hängen mit dem karikierenden Stil zusammen, den er zu jener Zeit entwickelte. Tatsächlich war ihm Anthony Hamilton (1644-1719) vorausgegangen, der mit Märchen wie ›Fleur d'Epine‹ und ›Les Quatre Facardins‹ sehr viel längere Satiren auf die orientalische Mode geschrieben hatte, die erst 1730, nach seinem Tode, veröffentlicht wurden. 

Die ernster gestimmten Mademoiselle de Lubert und Madame de Villeneuve führten die Salon-Tradition fort. Mademoiselle de Lubert beispielsweise, die die Ehe ausgeschlagen hatte, um sich dem Schreiben widmen zu können, verfaßte von 1743 bis 1755 eine Reihe langer, verwickelter Märchen. Ihre ›Prinzessin Camion‹ (1743) ist ein bemerkenswertes Beispiel für ein sadomasochistisches Märchen, bestrickend wegen der verschiedenen Qualen und Verwandlungen, die sie fortgesetzt erfand, um das Leiden ihrer Protagonisten zu dramatisieren. Madame de Villeneuves großer Beitrag zum Kunstmärchen hat mehr mit ihrer Fähigkeit zu tun, einen Diskurs über wahre Liebe und Standesunterschiede in der Ehe in ein klassisches Märchen — ›Die Schöne und das Tier‹ (1704) — einzuschreiben, als damit, daß sie ein Horrormärchen à la Mademoiselle de Lubert schuf. Madame de Villeneuves Märchen benutzt fast alle traditionellen Märchen- und Folklore-Motive auf konventionelle Manier, aber man muß ihr zugute halten, daß sie die erste war, die die Handlung von der Schönen und vom Tier so ausarbeitete, wie wir sie heute im allgemeinen kennen, und daß sie Traumsequenzen hinzufügte, war ein innovativer Zug, den spätere Märchenschriftsteller wie Novalis und E. ‌T. ‌A. Hoffmann weiterentwickelten. 

Die ›Konventionalisierung‹ des Salonmärchens bedeutete, daß das Genre Teil des kulturellen Erbes Frankreichs und, wie wir gesehen haben, Gegenstand der Parodie, aber auch ernsthafter Kultivierung geworden war, etwa in den Werken Mademoiselle de Luberts und Madame de Villeneuves. Überdies bedeutete sie, daß das Kunstmärchen Normvorstellungen von Schicklichkeit und Moral vermitteln konnte, die den Sozialisationsprozeß in Frankreich stärkten. Was im Salonmärchen irgendwie hätte subversiv sein können, wurde bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts oft ›konventionalisiert‹, um dem Geschmack und den Wertvorstellungen der herrschenden Stände und des Regimes zu entsprechen. Es war die Zeit, in der es eine große Debatte um die Bedeutung der ›civilité‹ gab und in der Literatur als Mittel zur Sozialisation betrachtet wurde, mit dem Normen, Sitte und gutes Betragen verbreitet werden sollten. Deshalb war es kein Zufall, daß das Kunstmärchen für Kinder von Madame Leprince de Beaumont im 18. Jahrhundert etabliert wurde und nicht von Madame d'Aulnoy oder von Perrault. Sowohl die Debatte über die ›civilité‹ und die Akzeptanz des Märchens als eigenes literarisches Genre mußten ein gewisses Stadium erreicht haben, bevor das Märchen als Kinderliteratur konventionalisiert werden konnte. 

Es muß unbedingt gesagt werden, daß Madame Leprince de Beaumonts gekürzte Fassung von Madame de Villeneuves Märchen ›Die Schöne und das Tier‹ 1757 in einem pädagogischen Buch mit dem Titel ›Le Magasin des Enfantes‹ erschien. Tatsächlich veröffentlichte sie in diesem Band mehrere Märchen, die alle den didaktischen Zweck verfolgten, kleinen Mädchen zu demonstrieren, wie sie sich in verschiedenen Situationen zu verhalten hätten. Deshalb predigt ihre ›Schöne und das Tier‹ den Frauen Häuslichkeit und Selbstaufopferung, und ihr ›Prinz Désir und Prinzessin Mignone‹, das auf einem alten bretonischen Volksmärchen basiert, erteilt eine Lektion über Schmeichelei und Narzißmus. Eine der Gefahren, die in Madame Leprince de Beaumonts Konventionalisierung des Märchens für pädagogische Zwecke liegen, führte zur Unterminierung der subversiven und utopischen Qualitäten der älteren Märchen. Freilich brachte die Konventionalisierung nicht notwendigerweise eine völlige Verwässerung und Aushöhlung der ungewöhnlichen Ideen und Motive des Kunst- und des Volksmärchens mit sich. Tatsächlich führte sie zu einer allgemeinen Akzeptanz und Institutionalisierung des Kunstmärchens als Genre für Leser jeden Alters und jeden Standes. Diese Institutionalisierung schuf den Rahmen, in dem andere Schriftsteller schreiben, mit den bereits entwickelten Motiven, Charakteren und ›topoi‹ spielen und sie innovativ verändern konnten, um neue Formen, Ideen und Motive zu schaffen. 

Zum Beispiel fanden viele Kunstmärchen in den neunziger Jahren des siebzehnten und den ersten Jahrzehnten des achtzehnten Jahrhunderts Eingang in billige, populäre Bücher, die in einer Serie mit dem Titel ›Bibliothèque Bleue‹ erschienen (in England kennt man sie als ›chapbooks‹) und die von fliegenden Buchhändlern, sogenannten ›colporteurs‹, vertrieben wurden. Die Märchen wurden (oft drastisch) in einfacherer Sprache umgeschrieben und gekürzt, so daß die Märchen, wenn sie auf den Dörfern gelesen wurden, wieder von den Bauern aufgenommen und der Folklore einverleibt wurden. Diese Märchen wurden tausende Male erzählt und wiedererzählt und fanden wiederum Eingang in das Genre Kunstmärchen durch Märchenschriftsteller, die mit dieser ›amalgamierten Folklore‹ in Berührung gekommen waren. Die Wechselwirkung zwischen dem mündlichen und dem literarischen Märchenerzählen wurde zu einem der wichtigsten Züge in der Entwicklung des Genres, wie es im 18. Jahrhundert institutionalisiert worden war. Den offensichtlichsten Beleg dafür, daß das Kunstmärchen in Frankreich zu einer Institution geworden war, stellt das ›Cabinet de fées‹ (1785-1789) dar, eine 41bändige Sammlung der bekanntesten Salon-, komischen und konventionellen Märchen des voraufgegangenen Jahrhunderts, die Charles Meyer veröffentlichte. Von da an verbreiteten sich die französischen Märchen und fanden ihren Weg durch tausende von Übersetzungen in fast alle Teile der Welt.

Tatsächlich sind also die originalen französischen Märchen nie vergessen worden, obwohl sie nur noch selten gelesen werden. Sie sind in vielfältiger Form auf uns gekommen und haben Schriftsteller wie Wieland, Goethe, die Gebrüder Grimm, Andersen, George Sand und viele andere inspiriert. Insofern blüht das Kunstmärchen und macht sich nicht nur literarisch bemerkbar, etwa in Werken solcher zeitgenössischer Autoren wie Angela Carter, Margaret Atwood oder Michael Ende, sondern auch in Bühnenfassungen und Filmen. Die besten modernen Märchen halten auch die utopische Suche und den kritischen Geist der alten Salonmärchen lebendig. Aus dem Ungenügen an ihrer Zeit entstanden, haben diese Märchen noch immer einen gewissen bezwingenden Zauber, der nicht an die besondere historische Periode gebunden ist, in der sie erdacht und niedergeschrieben wurden. Sie umfassen die Zukunft. Sie antizipieren Hoffnungen und Wünsche, die wir selbst noch erfüllen müssen. In diesem Sinne sind sie immer noch modern und können vielleicht sogar — wer mag das wissen — Alternativen zu unseren postmodernen Dilemmata eröffnen. 

Charles Perrault

Rotkäppchen

Es war einmal ein Bauernmädchen, so hübsch und niedlich, als man nur eins in der Welt sehen kann. Ihre Mutter war ganz in sie vernarrt, und ihre Großmutter noch mehr. Diese gute Frau ließ ihr nun ein rotes Käppchen machen, das ihr so gut stand, daß man sie deswegen allenthalben nicht anders als Rotkäppchen nannte. 

Nun hatte ihre Mutter einmal Brotkuchen gebacken. »Da«, sagte sie zu ihr, »bring der Großmutter ein Stück Kuchen und das Butterbüchschen und sieh, was sie macht! Denn ich hörte vorhin, sie wäre krank.« 

Nun machte sich Rotkäppchen geschwind auf zur Großmutter, die in einem anderen Dorfe wohnte. Da sie nun unterwegs durch einen Wald ging, kam der Meister Wolf und wollte sie fressen; aber er getraute es sich doch nicht wegen etlicher Holzfäller, die in der Nähe waren. Er fragte sie daher nur, wohin sie denn ginge. — »Ach«, sagte das gute Mädchen, das noch nicht wußte, wie gefährlich es ist, sich mit einem Wolfe einzulassen, »ich will zur Großmutter und ihr ein Stück Kuchen und ein Butterbüchschen von meiner Mutter bringen.« 

»Ei, wo wohnt sie denn?« fragte der Wolf wieder. »Ist's denn noch weit dorthin?« 

»Ei freilich«, versetzte Rotkäppchen, »sie wohnt noch über der Mühle draußen, die du dort unten, ganz unten siehst, gleich im ersten Hause, wenn man zum Dorfe hineinkommt.« 

»Nun gut«, sagte der Wolf, »ich will sie doch auch besuchen. Weißt du was; ich will den Weg da gehen, und du gehst jenen Weg, und dann wollen wir sehen, wer als erster hinkommt.« 

Nun fing der Wolf aus Leibeskräften zu laufen an und nahm den kürzesten Weg; Rotkäppchen aber hatte den längsten Weg genommen und hielt sich noch dazu allenthalben auf, suchte Haselnüsse, lief den bunten Schmetterlingen nach und band sich Sträußchen von Blumen, die sie hie und da pflückte. Der Wolf war gar bald vor dem Haus der Großmutter. Er pochte an: poch, poch. 

»Wer ist da?« rief die Großmutter. 

»Macht nur auf, liebe Großmutter«, antwortete der Wolf mit verstellter Stimme, »ich bin's, euer Rotkäppchen, ich bring Euch Brotkuchen und ein frisches Butterbüchschen, das Euch meine Mutter schickt.« 

Die gute Großmutter, die im Bette lag und krank war, rief: »Zieh nur an der Klinke und der Riegel geht gleich auf!« Der Wolf zog an der Klinke, und die Haustür ging auf. Nun fiel er über die arme Frau her und fraß sie, mir nichts dir nichts, rein auf, denn er hatte ganze drei Tage nichts gefressen. Er machte darauf die Tür wieder zu, legte sich ins Bett der Großmutter und wartete nun auf Rotkäppchen, die bald darauf kam und an die Tür klopfte: Poch, Poch! 

»Wer ist da?« 

Rotkäppchen, welche die grobe Stimme des Wolfs hörte, fürchtete sich anfangs davor; sie dachte aber hernach, daß die Großmutter vielleicht einen heiseren Hals hätte, und antwortete: »Macht nur auf, ich bin's, das kleine Rotkäppchen. Ich bringe Euch frischen Kuchen und ein Butterbüchschen, das Euch meine Mutter schickt.« 

»Zieh nur an der Klinke«, rief der Wolf und machte seine Stimme so klar, als er nur konnte, »zieh nur an der Klinke, liebes Rotkäppchen, und der Riegel wird gleich aufgehen.« 

Rotkäppchen zog an der Klinke, und die Tür ging auf. Als der Wolf sie hereinkommen sah, kroch er unter die Bettdecke und sagte zu ihr: »Stelle den Kuchen und das Butterbüchschen nur auf den Mehlkasten, dann komm her und leg dich ein bißchen zu mir ins Bett.« Rotkäppchen tat es, zog sich aus und wollte sich ins Bett legen, aber wie erschrak sie, da sie die Decke aufschlug und sah, wie ihre Großmutter im Bette aussah. »Ach, liebe Großmutter«, fing sie an, »was Ihr für große Arme habt!« 

»Die habe ich, meine Tochter, daß ich dich besser umarmen kann.« 

»Ach, liebe Großmutter, was Ihr für große Beine habt!« 

»Die habe ich, meine Tochter, daß ich besser laufen kann.« 

»Ach, liebe Großmutter, was Ihr für große Ohren habt!« 

»Die habe ich, daß ich besser hören kann.« 

»Ach, liebe Großmutter, was Ihr für große Augen habt!« 

»Die habe ich, meine Tochter, daß ich besser sehen kann.« 

»Ach, liebe Großmutter, was Ihr für große Zähne habt!« 

»Und die habe ich, daß ich dich fressen kann.« 

Und wie er das sagte, fiel der böse Wolf über das arme Rotkäppchen her und fraß es.

Die Feen

Es war einmal eine Witwe, die hatte zwei Töchter. Die Älteste glich ihr von Gesicht und Naturell so sehr, daß sie die leibhafte Mutter war und man eine mit der anderen hätte verwechseln können. Sie waren beide so widerwärtig und hochmütig, daß kein Mensch mit ihnen auskommen konnte. Die Jüngste aber war das leibhafte Ebenbild von ihrem Vater an Sanftmut und Gutherzigkeit, und bei alledem noch das hübscheste Mädchen, das weit und breit zu finden war. Da man nun meistens nur seinesgleichen liebt, so war die Mutter auch in die älteste Tochter ganz vernarrt und konnte die Jüngste hingegen gar nicht leiden, tat ihr alles zuleide, ließ sie nicht mit am Tische, sondern nur in der Küche essen und gab ihr unaufhörlich zu arbeiten. 

Das arme Kind mußte unter anderem auch alle Tage zweimal eine gute halbe Stunde weit vom Hause zum Wasser gehen und einen großen Krug voll holen. Da sie nun einmal eben an dem Brunnen war, kam eine arme alte Frau zu ihr und bat sie, sie möchte sie doch einmal trinken lassen. »Ei herzlich gerne, gutes Mütterchen«, sagte das hübsche Mädchen, spülte gleich ihren Krug recht sauber aus und schöpfte am hellsten Flecke in der Quelle frisches Wasser, reichte ihr den Krug und hielt ihr ihn immer, während sie trank, damit es ihr nicht zu schwer würde, ihn selbst zu halten. 

»Hab Dank, liebes Kind!« sagte das Mütterchen, da sie getrunken hatte. »Du bist so schön, so lieb und so gut, daß ich dir etwas schenken muß.« Denn es war eine Fee, die nur die Gestalt einer alten armen Bauersfrau angenommen hatte, um zu sehen, wie weit die Gutherzigkeit dieses jungen Mädchens gehen würde. »Ich schenke dir also die Gabe«, fuhr die Fee fort, »daß dir, wenn du sprichst, mit jedem Worte eine schöne Blume oder ein Edelstein aus dem Munde fallen soll.« 

Da nun das hübsche Mädchen nach Hause kam, zankte die Mutter sie gewaltig aus, daß sie so spät vom Brunnen wiederkäme. »Ich bitte um Verzeihung, liebe Mutter«, sagte das arme Mädchen stammelnd, und zugleich fielen ihr zwei schöne Rosen, zwei Perlen und zwei große Diamanten aus dem Munde. »Ei, was ist denn das?« rief die Mutter ganz erstaunt, »sieh doch nur, ich glaube gar, es fallen dir Perlen und Diamanten aus dem Mund? Sag mir doch, wie geht denn dies zu, meine Tochter?« Und dies war zum erstenmal in ihrem Leben, daß sie sie ›meine Tochter‹ nannte. Das gute Kind erzählte ihr darauf ganz unschuldig, was ihr am Brunnen begegnet war, und spuckte dabei eine gewaltige Menge Diamanten mit aus. 

»Mein Treu!« sagte die Mutter, »da muß ich deine Schwester auch hinschicken. Komm her, Fanchon, und sieh einmal, was deiner Schwester da für schöne Sachen aus dem Munde fallen, wenn sie redet! Wär dir's nicht lieb, wenn du diese Gabe auch hättest? Hör einmal, du kannst sie auch kriegen; du mußt nur hingehen und Wasser holen, und wenn eine arme Frau kommt und um einen Schluck Wasser bittet, brauchst du ihr nur gutwillig einmal zu trinken geben.« 

»Ei nun, das würde mir schön stehen, wenn ich da mit dem Kruge auf dem Kopfe an den Brunnen gehen und Wasser holen sollte!« versetzte die Älteste ganz protzig. 

»Du sollst aber gehen; ich will's so haben«, sagte die Mutter, »und dies augenblicklich!« 

Da sie nun sah, daß es nicht anders war, ging Fanchon zwar, aber immer murrend und brummend, und nahm die schönste silberne Flasche dazu, die nur im Hause war. Sobald sie nun an den Brunnen kam, sah sie eine prächtig gekleidete Dame aus dem Walde kommen und sie um einen Trunk Wasser ansprechen. Und das war die nämliche Fee, die zuvor ihrer Schwester erschienen war, die aber jetzt die Gestalt einer Prinzessin angenommen hatte, um zu sehen, wie weit die Bosheit dieses ungezogenen, hochmütigen Mädchens gehen würde. 

»Nun«, versetzte das böse Stück auf die Bitte der Dame, »als hätte ich sonst nichts zu tun, als für Sie Wasser zu schöpfen! Und meine schöne silberne Flasche da, die habe ich auch bloß dazu hergebracht, um Madame zu bedienen! Doch meinethalben, Sie können sie nehmen, wenn Sie gar zu durstig sind, und sich selber einschöpfen.« 

»Du bist nicht sehr höflich, meine Tochter«, versetzte die Fee, ohne böse zu werden. »Wohlan, da du doch so wenig dienstfertig und gefällig bist, so schenk ich dir zur Gabe, daß dir, wenn du sprichst, bei jedem Worte eine Schlange oder Kröte aus dem Munde kommen soll.« 

Sie ging wieder heim, und als ihre Mutter sie kommen sah, rief sie ihr entgegen: »Nun, meine Tochter, wie steht's?« 

»Nun ja, wie soll's stehn«, versetzte das Brummeisen und spie zugleich zwei Schlangen und drei Kröten aus. 

»Ach, daß Gott erbarm!« schrie die Mutter. »Was ist das? An dem Unglück ist kein anderer schuld als ihre Schwester. Aber warte, dafür sollst du büßen!« Und damit sprang sie hin und wollte die Jüngste prügeln. Das arme Mädchen aber lief aus dem Hause fort und versteckte sich in dem benachbarten Walde. Da fand sie der Sohn des Königs, der eben von der Jagd zurückkam. Und da er sah, daß sie schön war, so fragte er sie, was sie denn da so allein mache und was sie zu weinen hätte. 

»Ach, gnädiger Herr«, versetzte das arme Mädchen, »ich weine, weil meine Mutter so böse zu mir ist und mich aus dem Hause gejagt hat.« 

Als der Prinz sah, daß ihr beim Sprechen immer fünf oder sechs Perlen und Diamanten aus dem Munde fielen, staunte er darüber und fragte sie, woher denn dies käme. Sie erzählte ihm darauf das ganze Abenteuer. Da sie so schön und so gut war, verliebte sich der Prinz in sie, und als er nun bedachte, daß sie mit dieser Gabe so reich und noch viel reicher sei als irgendeine andere Prinzessin, die man für ihn wählen könnte, so nahm er sie mit an des Königs, seines Vaters, Hof und vermählte sich mit ihr. Was aber ihre Schwester betrifft, so machte diese sich bei aller Welt so verhaßt, daß auch endlich ihre eigene Mutter sie aus dem Hause jagte, und nachdem sie weit und breit herumgelaufen war, ohne einen Menschen zu finden, der sie aufnehmen wollte, starb sie endlich Hungers hinter dem Zaune.

Blaubart

Es war einmal ein Mann, der hatte die schönsten Häuser in der Stadt und auf dem Lande, Gold und Silberzeug in Menge, kostbare Möbel und vergoldete Karossen; aber unglücklicherweise hatte dieser Mann einen blauen Bart, der ihn so abscheulich häßlich machte, daß, wo er sich nur sehn ließ, Frauen und Mädchen ihm aus dem Wege liefen. Eine vornehme Dame in seiner Nachbarschaft hatte zwei wunderschöne Töchter. Er hielt um eine von beiden an und überließ der Mutter die Wahl, sie möchte ihm geben, welche sie wollte. Aber sie wollten ihn alle beide nicht. Und wenn die eine sagte: »Nimm du ihn«, so sagte die andre: »Ei, behalte du doch den Blaubart selbst!« Genug, es konnte sich keine entschließen, einen so häßlichen Mann zu heiraten. Dazu kam auch noch, daß er schon mehrere Frauen gehabt hatte, von denen kein Mensch wußte, wo sie hingekommen waren. Eines Tages nun kam Blaubart hin zu ihnen, um sie näher kennenzulernen, und nahm sie mit ihrer Mutter und drei oder vier von ihren besten Freundinnen und einigen jungen Leuten aus der Nachbarschaft auf eins von seinen Landhäusern, und sie blieben da ganze acht Tage zusammen. Da wurde nun an nichts gedacht als an Spaziergänge, Jagdpartien, Bälle, Redouten, Diners und Soupers; kein Mensch tat die ganze Zeit über ein Auge zu, denn man trieb die ganze Nacht Scherz und Kurzweil. Die Sachen gingen so gut, daß endlich die jüngste Schwester den Bart ihres Wirts so gar blau nicht mehr fand und daß sie zugab, er sei doch ein recht braver Mann. Mit einem Worte, die Sache wurde richtig, und da sie wieder in die Stadt gekommen waren, machten sie Hochzeit. 

Nach Verlauf eines Monats sagte Blaubart zu seiner Frau: »Mein Schatz, eine wichtige Angelegenheit nötigt mich, eine Reise zu machen und Dich auf sechs Wochen zu verlassen. Laß Dir in meiner Abwesenheit die Zeit nicht lang werden, sondern bitte deine guten Freundinnen zu Dir. Nimm sie mit aufs Land, wenn Du willst, und laß Dir nichts abgehn. Hier«, fuhr er fort, »hast Du die Schlüssel zu den beiden Vorratskammern; diese da sind zu dem Silbergewölbe; der ist zu meinem Geldkasten, wo ich all mein Gold und Silber habe; dieser hier schließt den Kasten, wo die Juwelen liegen; und dies ist der Passepartout zu allen Zimmern. Dieser kleine Schlüssel aber ist zu dem Kabinett, das am Ende der langen Galerie im Parterre liegt. Du kannst allenthalben hingehn; aber in das kleine Kabinett untersteh Dich nicht den Fuß zu setzen. Du hast alles von meinem Zorne zu fürchten, wenn Du diesem Befehle nicht nachkommst.« Sie versprach, alles, was er ihr gesagt hatte, auf das pünktlichste zu befolgen, und so umarmte er sie, setzte sich in seinen Wagen und fuhr fort. Die Nachbarinnen und guten Freundinnen warteten nicht, bis die junge Frau sie bitten ließ, sondern Blaubart war kaum fort, als sie die Neugierde trieb, einen Besuch bei seiner Frau zu machen, um das schöne Haus und all die kostbaren Sachen zu sehn. Denn solange der Mann zu Hause war, getraute sich keine hinzugehn, weil sie sich alle vor seinem blauen Barte fürchteten. — Nun ging es treppauf treppab, durch Zimmer und Kammern, von denen immer eine schöner und prächtiger war als die andre. Hierauf gingen sie in die Vorratsgewölbe und gerieten ganz außer sich über die Menge von prächtigen Tapeten, Betten, Sofas, Schränken, Tischen und Spiegeln, in denen man sich vom Kopfe bis auf die Füße besehen konnte und die alle prächtige Rahmen von Glas, Silber und Email hatten. Bei jedem neuen Stück, das ihnen in die Augen fiel, priesen sie das Glück ihrer Freundin und beneideten sie wegen ihrer schönen Sachen. Aber sie fand an all den Herrlichkeiten wenig Vergnügen, denn sie konnte vor Ungeduld nicht erwarten, bis sie die Kammer in dem untersten Stockwerk gesehn hätte. Endlich konnte sie ihrer Neugierde nicht länger Gewalt antun, sondern war so unhöflich, von der Gesellschaft wegzulaufen; und nun ging es eine heimliche Treppe hinunter, Hals über Kopf, so daß sie dreimal mit den Absätzen hängenblieb und beinahe den Hals gebrochen hätte. Da sie an die Türe kam, bedachte sie sich einige Minuten, ob sie ihrem Manne gehorchen oder ob sie sich seinem Zorne aussetzen wollte. Aber die Versuchung war zu stark, und es war ihr unmöglich, Herr darüber zu werden. Sie nahm also den kleinen Schlüssel und öffnete zitternd die Tür. Anfänglich sah sie nichts, weil die Fensterladen alle fest, sehr fest zu waren; aber als sie einige Minuten gewartet hatte, sah sie, daß der Fußboden mit geronnenem Blute bedeckt war. In diesem Blute spiegelten sich die Leichname von mehrern Frauen, die der Reihe nach an der Wand hingen. Dies waren alle die Frauen, die Blaubart geheiratet und die er alle nach der Reihe ums Leben gebracht hatte. Nun stelle man sich vor, wie die arme Frau erschrak, die schnell den Schlüssel abzog und ihn fallen ließ. Sie hob ihn schnell wieder auf, schloß die Tür zu und ging in ihr Zimmer, um sich ein wenig zu erholen. Aber sie konnte gar nicht zu sich selbst kommen, so außer sich war sie. Da sie sah, daß der Schlüssel blutig geworden war, wollte sie ihn abwischen; aber das Blut ging nicht ab; sie wusch ihn, sie scheuerte ihn mit Sand, es blieb immer Blut daran; denn der Schlüssel war verzaubert, und es war unmöglich, ihn ganz rein zu machen. Wenn das Blut auf der einen Seite weg war, kam es auf der andern wieder zum Vorschein. Unglücklicherweise kam Blaubart noch am Abend von seiner Reise zurück und sagte, er habe unterwegs Briefe bekommen und daraus ersehn, daß die Geschäfte, um derentwillen er verreist sei, glücklich geendigt wären. Seine Frau stellte sich über seine unverhoffte Rückkehr gar freudig an. Aber am andern Morgen forderte ihr Blaubart die Schlüssel ab, die sie ihm auch gab, aber mit so zitternder Hand, daß er gleich erriet, was vorgefallen war.

»Wie kommt es denn«, frug er, »daß der Schlüssel zum Kabinett nicht mit dabei ist?« 

»Ich muß ihn etwa eben auf meinem Tische haben liegen lassen«, sagte sie. 

»Nun«, antwortete Blaubart, »so vergiß nicht, mir ihn hernach zu geben.« 

Sie schob es zwar von einem Augenblicke zum andern auf; aber endlich mußte sie doch damit herausrücken. Blaubart sah den Schlüssel an. »Wie kommt denn das Blut daran?« frug er. 

»Ich weiß es nicht«, antwortete die arme Frau und wurde dabei so blaß wie der Tod. 

»Du weißt es nicht?« war die Antwort. »Aber ich weiß es. Du hast also doch Lust bekommen, in das Kabinett zu gehn? Nun wohl, Du sollst hineinkommen und den Damen Gesellschaft leisten, die Du darin gesehn hast.« 

Sie warf sich ihrem Gemahl zu Füßen, weinte, bat um Verzeihung und bezeigte die lebhafteste Reue über ihren Ungehorsam. Ihr Kummer und ihre Tränen hätten einen Felsen erweichen können, aber Blaubarts Herz war unempfindlicher als ein Fels. »Ohne Gnade, Madame«, antwortete er, »Sie müssen auf der Stelle sterben!« 

»Ach«, erwiderte sie mit Tränen, »wenn ich denn also sterben muß, so vergönnt mir wenigstens noch einige Augenblicke, um Gott meine Seele zu befehlen und meine Sünden abzubitten!« 

»Ich gebe Dir eine halbe Viertelstunde Zeit«, antwortete er, »aber auch keinen Augenblick länger.« 

Er ging fort, und da sie nun allein war, rief sie ihre Schwester und sagte ihr: »Schwester Ännchen« — denn so hieß sie —, »steige doch geschwind auf den Turm und sieh zu, ob etwa meine Brüder kommen. Sie haben mir versprochen, mich heute zu besuchen, und wenn Du sie siehst, so winke ihnen, damit sie eilen.« 

Schwester Ännchen stieg auf den Turm, und die arme Frau rief ihr von Zeit zu Zeit zu: »Ännchen, Schwester Ännchen, siehst Du noch nichts?« 

Und Ännchen antwortete: »Ich sehe nichts als den Sonnenstaub, ich sehe nichts als das grüne Laub.« 

Unterdessen stand Blaubart mit einem großen Schlachtmesser unten und schrie aus Leibeskräften: »Komm herunter oder ich komme hinauf.« 

»Nur noch einen Augenblick«, antwortete sie, und dann rief sie wieder ganz leise: »Ännchen, Schwester Ännchen, siehst Du noch nichts?« 

Und Ännchen antwortete: »Ich sehe nichts als den Sonnenstaub, ich sehe nichts als das grüne Laub.« 

»Komm herunter«, rief Blaubart noch einmal, »oder ich komme hinauf.« 

»Ich komme ja schon«, antwortete ihm seine Frau, und rief dann wieder leise: »Ännchen, Schwester Ännchen, siehst Du noch nichts?« 

Und Ännchen antwortete: »Ich sehe einen großen, großen Staub dort auf der Straße.« 

»Sind es meine Brüder?« 

»Ach, nein, Schwesterchen«, antwortete Ännchen, »es ist eine Herde Schafe.« 

»Kommst Du denn noch immer nicht?« rief Blaubart zum drittenmal. 

»Noch einen Augenblick Geduld«, sagte sie; und dann rief sie: »Ännchen, Schwester Ännchen, siehst Du noch immer nichts?« 

Und Ännchen antwortete: »Ich sehe zwei Reiter, aber sie sind noch weit, sehr weit.« 

Und da sie näher kamen, rief sie: »Gottlob, es sind meine Brüder. Ich will ihnen winken, damit sie eilen.« 

»Nun«, schrie Blaubart zum vierten Male, daß das ganze Haus zitterte, und die arme Frau kam herunter mit verweinten Augen und zerrauften Haaren. 

»Das hilft alles nicht«, sagte Blaubart, »Du mußt sterben.« Dann packte er sie mit der einen Hand bei den Haaren und mit der andern holte er aus, um ihr den Kopf abzuhauen. — Die arme Frau wandte sich ihm zu, sah ihn mit sterbenden Augen an und beschwor ihn, ihr nur noch einen Augenblick zu schenken, um sich zu sammeln. — »Nein, nein«, sagte er, »die Gnadenzeit ist vorbei!« Und nun holte er aus ‌… In diesem Augenblick schlug man stark an die Türe, und Blaubart hielt ein. Die Türe öffnete sich, und zwei Reiter traten herein, mit dem Degen in der Hand, und liefen auf Blaubart los. Er erkannte sie als die Brüder seiner Frau, von denen der eine ein Dragoner, der andre von des Königs Leibwache war. Er fand nicht für gut, sie zu erwarten; aber die beiden Brüder verfolgten ihn und holten ihn ein, ehe er die Treppe erreichen konnte. Sie machten kurzen Prozeß, stießen ihm den Degen in den Leib und ließen ihn liegen. Die arme Frau war auch beinahe tot, und sie hatte nicht soviel Kräfte, um aufzustehn und ihre Brüder zu umarmen. 

Es fand sich, daß Blaubart keine Erben hatte und daß also seine Frau in dem Besitz aller seiner Reichtümer blieb. Sie wendete einen Teil davon an ihre Schwester Ännchen, um sie mit einem jungen Edelmanne zu verheiraten, den sie schon seit langer Zeit geliebt hatte; ferner kaufte sie jedem ihrer Brüder eine Hauptmannsstelle und verheiratete sich endlich selbst an einen sehr rechtschaffnen Mann, bei dem sie die bösen Tage vergaß, die sie mit Blaubart zugebracht hatte.

Die schlafende Schöne

Es war einmal ein König und eine Königin, die hatten keine Kinder und waren darüber gar sehr betrübt. Sie gingen zwar in alle möglichen Bäder; sie sparten keine Gelübde und Geschenke; aber nichts wollte helfen. Endlich wurde die Königin dennoch guter Hoffnung und kam mit einer Tochter nieder. Das war eine Freude! Und um diese Tochter recht glücklich zu machen, bat man alle Feen aus dem ganzen Lande — es waren deren sieben — zu Gevatterinnen, damit ihr jede, so wie es damals unter den Feen üblich war, ein Geschenk machen und die Prinzessin auf diese Weise alle nur möglichen Vollkommenheiten erhalten sollte. Nach der Taufe ging die ganze Gesellschaft in den königlichen Palast, wo man den Feen ein herrliches Gastmahl gab. Jeder legte man ein prächtiges Couvert auf, mit einem Futteral von gediegnem Golde, in welchem Messer, Gabel und Löffel steckten, alles von dem feinsten Golde, mit Diamanten und Rubinen besetzt. Da sich die ganze Gesellschaft schon zu Tische gesetzt hatte, öffnete sich die Tür und eine alte Fee trat herein, die nicht eingeladen worden war, weil sie nun seit länger als fünfzig Jahren nicht mehr ausging und weil man glaubte, sie wäre in ihrem Turme gestorben oder fest verzaubert. Der König ließ ihr auch ein Couvert auflegen; aber es war unmöglich, ihr ein goldenes Gedeck zu geben wie den andern, weil er nur sieben für die sieben Feen hatte machen lassen. Die Alte glaubte, es geschehe ihr zum Affront, und murmelte etwas zwischen den Zähnen. Eine junge Fee, die neben ihr saß, hörte es und vermutete gleich, daß sie der kleinen Prinzessin irgendein schlimmes Geschenk machen würde. Sie versteckte sich daher nach aufgehobner Tafel hinter die Tapete, um ihr Geschenk zuletzt zu geben und allenfalls das Böse wiedergutzumachen, welches die Alte dem Kinde antun könnte. Hierauf fingen die Feen an, die Prinzessin zu beschenken. Die jüngste verlieh ihr vollkommene Schönheit; die zweite Verstand wie ein Engel; die dritte Reiz und Anmut in allem, was sie sich vornähme; die vierte das Talent, schön zu tanzen; die fünfte, wie eine Nachtigall zu singen; die sechste, alle Arten von Instrumenten auf das vollkommenste zu spielen. Als die Reihe an die Alte kam, schüttelte diese den Kopf und sagte, die Prinzessin solle sich mit einer Spindel in die Hand stechen und daran sterben. Die ganze Gesellschaft erschrak über dieses schreckliche Geschenk, und sie weinten alle wie die Kinder. Aber in dem Augenblicke trat die junge Fee hinter der Tapete hervor und sagte ganz laut zu dem König und der Königin: »Verzweifelt nicht; Eure Tochter wird nicht sterben. Es steht zwar nicht in meiner Gewalt, die boshafte Absicht dieser Alten ganz zu vereiteln; die Prinzessin wird sich mit einer Spindel in die Hand stechen; aber statt zu sterben, wird sie in einen tiefen Schlaf fallen, aus welchem sie nach Verlauf von hundert Jahren durch den Sohn eines Königs aufgeweckt werden wird.« 

Zur Sicherheit ließ der König einen Befehl bekanntmachen, durch welchen er jedermänniglich verbot, an der Spindel zu spinnen oder nur, bei Lebensstrafe, eine Spindel im Hause zu haben. Eines Tages, da die Prinzessin schon etwa fünfzehn oder sechzehn Jahre alt war, begaben sich der König und die Königin auf eines ihrer Lustschlösser, und da trug sich's zu, daß die Prinzessin im ganzen Hause, treppauf treppab, aus einem Zimmer in das andre lief, und endlich auch in ein kleines Dachstübchen oben im Turme kam, wo sie ein altes Mütterchen fand, das da saß und spann. Das alte Mütterchen hatte in seinem Dachstübchen von dem Befehle des Königs kein Wörtchen erfahren. 

»Was macht Ihr denn da?« fragte sie die Prinzessin. 

»Ei, ich spinne, schönes Kind«, versetzte die Alte, die die Prinzessin nicht kannte. 

»Ach, das ist ja allerliebst!« antwortete diese. »Laßt mal sehn, wie Ihr's macht! Ich will doch sehn, ob ich es nachmachen kann.« 

Die Alte gab ihr die Spindel, und wie die Prinzessin dieselbe in die Hand nahm, stach sie sich damit, denn sie war etwas lebhaft und unachtsam, und überdies war es der Wille der Fee, daß es so gehn mußte. Sie stach sich also und sank ohnmächtig nieder. Die Alte war vor Schrecken außer sich und schrie nach Hilfe. Man eilte von allen Seiten herbei; man spritzte der Prinzessin Wasser ins Gesicht; man löste ihr die Schnürbrust auf; man rieb ihr Hände und Schläfe mit starken Wassern; alles war umsonst; sie kam nicht wieder zu sich. Der König war indes auch zurückgekommen und erinnerte sich der Prophezeiung der Fee; und da er wohl einsah, daß man sich dem Willen einer Fee nicht widersetzen könne, so ließ er die Prinzessin in das schönste Zimmer des Palasts tragen und auf ein prächtiges, mit Gold und Silber durchwebtes Bett legen. Sie war schön wie ein Engel, denn die Ohnmacht hatte ihrer Farbe nichts von ihrem Glanze genommen; ihre Wangen blühten wie Rosen und ihre Lippen wie Korallen. Nur die Augen hatte sie geschlossen. Aber man hörte sie leise atmen und sah daraus gar wohl, daß sie nicht tot war. Der König befahl, sie ruhig schlafen zu lassen, bis die Stunde ihres Erwachens gekommen wäre. Die gute Fee, die ihr das Leben gerettet hatte, indem sie sie zu einem hundertjährigen Schlafe verdammte, befand sich eben in dem Königreich Mataquin, zwölftausend Meilen von dem Orte, wo sich diese Begebenheit zutrug; aber sie erhielt in wenig Augenblicken durch ihren Zwerg Nachricht davon, der Siebenmeilenstiefel anhatte, Stiefel, mit denen man bei jedem Schritt sieben Meilen machte. Die Fee reiste nun nach erhaltener Nachricht sogleich ab und kam in weniger als einer Stunde auf einem feurigen, mit Drachen bespannten Wagen an. Der König reichte ihr die Hand und hob sie aus dem Wagen. Sie billigte alles, was er getan hatte; aber bei ihrer außerordentlichen Vorsicht fiel ihr ein, daß, wenn die Prinzessin aufwachte und sich in dem alten Schlosse allein fände, sie in große Verlegenheit geraten würde. Sie fand auch dafür ein Mittel. Sie berührte, außer dem Könige und der Königin, alles mit ihrem Zauberstabe: die Oberhofmeisterin, die Hofdamen, die Kammerfrauen, Kammerherrn, Offiziere, Haushofmeister, Köche, Küchenjungen, Schweizer, Pagen und Lakaien. Sie berührte auch alle Pferde im Marstalle samt den Reitknechten, die Hofhunde und den kleinen Mimi, das Schoßhündchen der Prinzessin, das neben ihrem Bette lag. Sowie sie etwas berührte, schlief es ein, um zugleich mit der Prinzessin wieder aufzuwachen und sie zu bedienen, wenn sie etwas nötig hätte. Auch die Bratspieße in der Küche, die voll Rebhühner und Fasanen staken, schliefen ein, und auch das Feuer schlief ein. Alles das geschah in einem Augenblicke; denn die Feen machen in allem, was sie tun, kurzes Federlesen. Hierauf küßten König und Königin ihre Tochter noch einmal, ohne daß sie davon aufwachte, verließen das Schloß und geboten durch ein Edikt, daß sich niemand demselben nähern sollte. Aber auch dieses Verbot war unnötig. Denn in weniger als einer Viertelstunde wuchs rund um das Schloß eine so große Menge Bäume und Sträucher, Dornen und Disteln, und diese waren alle so ineinander verflochten, daß weder Menschen noch Vieh passieren konnten. Nur noch die Turmspitze schaute heraus, und auch die sah man nur in einer ziemlichen Entfernung. Man hatte allen möglichen Grund zu glauben, daß auch dieses ein Werk der Fee sei, damit die Prinzessin während ihres Schlafs nichts von neugierigen Leuten zu fürchten hätte.