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Beschreibung

Keine zweite literarische Gattung hat über die Jahrtausende eine solche Vielgestaltigkeit und Motivfülle hervorgebracht wie das Märchen. In allen großen Kulturen der Welt haben sich dabei eigene Erzähltraditionen entwickelt. Mit dieser reich bebilderten Sammlung gibt der Herausgeber einen faszinierenden Überblick über den Märchenschatz aus aller Herren Länder. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf den klassischen europäischen Ausprägungen, daneben finden sich zahlreiche Märchen aus Nordamerika, dem nördlichen Afrika und dem asiatischen Raum.

  • Märchen aus über 1000 Jahren und allen großen Kulturen der Welt
  • Einzigartig, konkurrenzlos und wunderschön gestaltet
  • Mit Schwarzweiß-Illustrationen, Herkunftsregister und Quellenverzeichnis

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Seitenzahl: 897

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Die schönstenMärchen der Welt

Ausgewählt und herausgegebenvon Erich Ackermann

Anaconda

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© 2025 by Anaconda Verlag, einem Unternehmender Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten.

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Umschlaggestaltung: Druckfrei. Dagmar Herrmann, Bad Honnef

Umschlagmotiv: Adobe Stock / tabitazn (Hintergrund),Adobe Stock / good_mood (Elefant, Pflanzen)

Satz und Layout: InterMedia – Lemke e. K., Heiligenhaus

ISBN 978-3-641-33210-5V002

www.anacondaverlag.de

Inhalt

Vorwort

Das Zweibrüdermärchen

Der Schatz des Rhampsinit

Pyramus und Thisbe

Die Hexe Pamphile

Amor und Psyche

Der Wettlauf der Prinzessin

Die untreue Frau

Die Zauberrose

Die sieben Schwäne

Zauberer Merlin und der arme Holzfäller

Thors Fahrt zu Utgard-Loki

Der goldene Ball

Junker Rowland

Der Katzenkönig

Die Prinzessin von Colchester

Der Lindwurm von Lambton

Jack und die Zauberbohnen

Tam Lin

Herr und Diener

Der Pfeifer und der Puka

Die verheiratete Meermaid

Die Schöne und das Tier

Blaubart

Die Feen

Die Steine von Plouhinec

Das Mädchen mit dem Leichentuch

Der König, der Kuhirte und der Stier Barroso

Juan Holgado und Frau Tod

Schön-Ilonka

Das goldene Spinnrad

Von den zwölf Monaten

Das Mädchen und der Vampir

Petru Firitschell

Pfefferkorn

Das Schloss des Helios

Die drei Rätsel

Oraggio und Bianchinetta

Die Tochter des Schlangenkönigs

Die Granatäpfel

König Schwein

Zauberturban, Zauberknute, Zauberteppich

Oschoo

Die Drachenprinzessin

Uraschimataro

Märchen aus der Südsee

Kohuki und seine zwei Frauen

Der kleine Hase

Die Vogelfrau

Der Magier vom Huronsee

Das Nordlicht

Der rote Schwan

Der Brahmane, der Tiger und der Schakal

Prinz Achmed und die Fee Pari Banu

Die Abenteuer Sindbads des Seefahrers

Der Fuchs und der Bär

Der Nordlands-Drache

Wassilissa die Wunderschöne

Der Frost

Die weiße Ente

Das Märchen von Iwan-Zarewitsch, dem Feuervogel und dem grauen Wolf

Die Riesin im Steinboot

Königssohn Ring und sein Hund Snati-Snati

Östlich von der Sonne und westlich vom Mond

Per Gynt

Das Weihnachtsmahl der Zwerge

Die Prinzessin in der Erdhöhle

Die Rehprinzessin

Drei rote Ferkelchen

Der Vogel Phönix

Hondidldo

Das Pomeranzenfräulein

Der Zwerg auf Herbergssuche

Nussknacker und Mausekönig

Die Geschichte vom Kalif Storch

Woher der Rübezahl seinen Namen hat

Rübezahl und der reiche Bäcker

Der Tannenbaum

Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern

Goldener

Der goldene Rehbock

Der starke Gottlieb

Der weiße Wolf

Hirsedieb

Die Sterntaler

Jorinde und Joringel

Die Gänsemagd

Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich

Brüderchen und Schwesterchen

Quellenverzeichnis

Herkunftsregister

Vorwort

Mit dem Begriff Märchen steht die deutsche Sprache ziemlich alleine da. In anderen Sprachen sind die Bezeichnungen allgemeiner und umfassen auch benachbarte Gattungen. In der Antike ist es der Mythos, der die Welt und den Menschen allumfassend deutet. Das englische tale und das französische conte schränken das Märchen mit dem Beisatz fairy tale und conte de fées allzu sehr auf das Feenmärchen ein. So sind also in den meisten Kulturen Mythos, Sage, Legende, Volkserzählung und echtes Märchen nicht scharf voneinander getrennt und bilden zusammen die Literatur einer Gesellschaft ohne schriftliche Überlieferung. Schon der Begriff Märchen ist ein Diminutivum, eine Verniedlichung der mittelhochdeutschen märe und spricht somit auch sprachlich diesen Erzählungen eine gewisse Ernsthaftigkeit ab und drängt sie in die Ecke des Kindlichen, was das eigentliche Märchen aber gar nicht ist. Die Märchen waren vom Ursprung her nie Kindergeschichten, mag auch ihre Darstellung einer naiven und unkomplizierten Weltordnung der kindlichen Seele entsprechen: Gut und Böse werden klar getrennt, was sich vor allem auch in der Form von guten und bösen Figuren ausdrückt. Meist steht der gute Held oder die Heldin im Vordergrund und muss eine Auseinandersetzung, eine Prüfung gegen böse Mächte bestehen. Das Märchen weist eine positive Weltsicht auf, denn am Ende wird das Gute belohnt und das Böse bestraft, womit die Weltordnung wieder hergestellt ist.

Das Wesen des Märchens ist vielfältig und entzieht sich nachgerade einer einfachen Definition. Unter den eigentlichen Volksmärchen versteht man vor allem Zauber- und Wundermärchen, wobei das Magische und Übernatürliche den Kern ausmacht. Meist spielt sich die Handlung in einer unwirklichen Welt und in einem Nie- und Nirgendsland ab. Das Märchen ist von den Bedingungen der Wirklichkeit unabhängig und auch um die Kategorien von Zeit, Raum und Kausalität schert sich die wundersame Erzählung kaum. Die fantastischen Begebenheiten und Umstände in der Märchenwelt werden dem Hörer und Leser sinnlich in Bildern vermittelt. Das hat nach der schriftlichen Niederlegung der Märchen geradezu zu einer bildlichen Veranschaulichung gedrängt. Die bekanntesten Illustratoren haben sich deshalb mit den Märchen beschäftigt und Bilder verschiedenster Art für die Sammlungen angefertigt.

Das Märchen ist so uralt wie die Menschheit; es ist eine Erzählgattung, die die ganze Welt umfasst. Erstaunlich ist, dass in den Märchen der unterschiedlichsten Völker, so weit diese auch räumlich auseinanderliegen mögen, immer wieder die gleichen Bilder, Motive und Grundmuster auftauchen. Und nicht nur einzelne Bilder, sondern ganze Motivketten ähneln sich auf frappierende Weise. Es gibt sogar gleiche Versionen ein und desselben Märchens in weit voneinander entfernt liegenden Gebieten, wobei die dort lebenden Völker historisch gesehen noch nichts voneinander wussten.

Hierüber und auch über den Ursprung der Märchen haben sich viele Theorien entwickelt. Manche Gelehrte, vor allem im 19. Jahrhundert, meinten, das Märchen sei indogermanischen Ursprungs und habe letztlich durch die vielen historischen Völkerwanderungen seinen Weg aus Indien zu den anderen Völkern zurückgelegt (Wandertheorie). Andere Gelehrte im 20. Jahrhundert vertreten die Meinung, die Märchen seien an den verschiedensten Orten unabhängig voneinander entstanden, sobald die Menschen dort ein bestimmtes geistiges Entwicklungsstadium erreicht hatten. Dieser eher psychologische Ansatz geht davon aus, dass sich die Märchenmotive manchmal bis in die Einzelheiten gleichen, weil die wesentlichen inneren Entwicklungen der Menschen bei allen Völkern und auch Individuen dieselben sind. Wie immer liegt die Wahrheit sicherlich in der Mitte.

Für die Wandertheorie spricht, dass die Märchen mit Sicherheit nicht nur von Mensch zu Mensch und von Generation zu Generation mündlich weiterwanderten, sondern auch räumlich von Volk zu Volk: durch Kaufleute, Seefahrer, wandernde Handwerker oder Söldner zum Beispiel, die die Märchen aus fernen Ländern mitbrachten. Daher kommt es auch, dass von den Volksmärchen unterschiedliche Varianten und Versionen existieren. So liegen etwa den Irrfahrten des antiken Odysseus und denen Sindbads aus Tausendundeiner Nacht die gleichen alten Seefahrermärchen zugrunde.

Aber sicherlich spielen auch die psychischen Urerlebnisse und Urwünsche der kollektiven Menschheit eine entscheidende Rolle. Diese entwickelten sich geografisch und historisch unabhängig voneinander, sodass viele Urmotive und Urbilder in verschiedenen Kulturkreisen parallel entstanden. So taucht z. B. in den unterschiedlichsten Ländern der Welt als Urmotiv ein hässliches Tier auf (Kröte, Schlange, Bär oder sonstiges Ungetüm), das sich mit einem Schlag in ein Königskind verwandelt, wenn der Held oder die Heldin ihm ihre Liebe schenkt. Novalis, ein Dichter der deutschen Romantik, meinte schon Ende des 18. Jahrhunderts in einem Fragment, »dass, wenn der Mensch sich selbst überwindet, er auch die Natur zugleich überwindet und ein Wunder vorgeht. Die Verwandlung des Bären in einen Prinzen in dem Augenblicke, als der Bär geliebt wurde – vielleicht geschähe eine ähnliche Verwandlung, wenn der Mensch das Übel in der Welt lieb gewönne.«

Diese symbolische Deutung ist schon der Anfang einer psychologischen Sichtweise, wie sie im 20. Jahrhundert Raum gewinnt. Als deren Hauptvertreter kann C. G. Jung (1875–1961) gelten, ein Schweizer Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie. C. G. Jung unterscheidet zwischen individuellem und kollektivem Unbewussten. Im kollektiven Unbewussten befinden sich Inhalte und Verhaltensweisen, welche überall in der Welt und bei allen Individuen dieselben sind. Inhalte des kollektiven Unbewussten sind Ursprungsbilder (Archetypen). Die Märchenbilder stammen nach Jung aus geschichtlicher und vorgeschichtlicher Zeit und spiegeln das ungelernte Verhalten und die Weisheit der menschlichen Art wider, sie sind einfach da, dem Menschen immanent. Jung fand bei Forschungsarbeiten heraus, dass solche ursprünglichen Bilder auch in den menschlichen Träumen, in Visionen und in den Wahnvorstellungen psychisch kranker Menschen auftauchen, weshalb das Märchen auch eine große Rolle bei der Therapie spielen kann. Gemäß dieser Lehre C. G. Jungs verwenden viele analytische Psychologen Märchen zur Veranschaulichung psychischen Verhaltens.

Der amerikanische Kinderpsychologe Bruno Bettelheim vertritt die Ansicht, dass Märchen für die Entwicklung von Kindern unabdingbar sind, vor allem bei Konfliktlösungen. Schon der deutsche Titel seines aufsehenerregenden Werkes zeigt uns sein Programm: Kinder brauchen Märchen (1976).

Aber genug der grauen Theorie. Wir alle brauchen Märchen: um aus ihnen zu lernen, um Prüfungen zu meistern, oder damit das optimistische Weltbild des Märchens das Leben nicht so düster aussehen lässt. Vielleicht führen sie uns auch in eine verlorengegangene Zeit der Kindheit zurück, in deren Verklärtheit es scheinbar gar keine Probleme gab – Märchen als Nostalgie – oder sie versetzen uns in eine anheimelnde Atmosphäre, die einfach gut tut.

Die vorliegende Sammlung enthält sowohl Volksmärchen, die aus der kollektiven menschlichen Seele herrühren, also gar keinen Autor haben, als auch einige Kunstmärchen, wobei sich ein namentlich bekannter Autor der Eigenarten des Volksmärchens bedient oder gar aus seinen Motiven schöpft. Und da das Märchen wesentlich von Bildern lebt, sind die vielen unterschiedlichen Illustrationen dieses Bandes eigentlich klassischer Bestandteil einer echten Märchensammlung, die alle Generationen von Jung bis Alt ansprechen will.

Die Auswahl der Märchen enthält typisches Erzählgut aus aller Welt und versucht der großen Fülle der Märchenmotive gerecht zu werden. Hauptziel dabei ist nicht das akribische Sammeln, sondern die pure Freude beim Lesen und Hören.

Erich Ackermann

Das Zweibrüdermärchen

Es waren einmal zwei Brüder, die hatten die gleiche Mutter und den gleichen Vater gehabt, Anepu (Anubis) war der Name des älteren, Bata-u (Bytis) war der Name des jüngeren. Nun besaß Anepu ein Haus und besaß eine Frau. Der jüngere Bruder unterstand seiner Gewalt, wie das für einen Jüngeren Sitte ist. Er machte die Kleider, er ging hinter den Rindern auf das Feld, er bebaute das Land, er drosch das Getreide, er besorgte jede Feldarbeit. Siehe! Der jüngere Bruder war ein vorzüglicher Arbeiter, nicht gab es seinesgleichen im ganzen Lande, es war als wäre die Kraft jedes Gottes in ihm. Als nun viele Tage vergangen waren, da war der jüngere Bruder nach seiner täglichen Gewohnheit hinter seinen Rindern her. An jedem Abend kehrte er nach Hause zurück: dann war er beladen mit allen Kräutern des Feldes. Und wenn er vom Felde zurückkehrte, dann tat er Folgendes: Er legte die Kräuter nieder vor seinem älteren Bruder, der da saß mit seiner Frau. Er trank, er aß von den Broten, er ging in seinen Stall und bewachte seine Rinder.

Dann, wenn die Erde hell geworden war und der nächste Tag angebrochen war und die Brote gebacken waren, dann legte er sie hin vor seinen älteren Bruder. Er trug die Brote hinaus auf das Feld, er trieb seine Rinder an, um sie auf dem Felde fressen zu lassen. Er ging hinter seinen Rindern her, und sie sagten ihm: »An jenem Platz ist das Gras schön«. Er verstand alles, was sie sagten, und führte sie an den Platz der guten Kräuter, an den sie zu gehen wünschten. Die Rinder, die er antrieb, wurden sehr schön, äußerst zahlreich waren bei ihnen die Geburten.

Als nun die Zeit des Pflügens gekommen war, da sagte sein älterer Bruder zu ihm: »Wohlan, rüste uns das Gespann zum Pflügen. Denn die Felder sind aus dem Überschwemmungswasser herausgetreten, sie sind jetzt im richtigen Zustande, um beackert zu werden.« Ferner sagte er: »Gehe du mit Saatkorn auf das Feld, denn wir wollen morgen eifrig pflügen.« So sagte er, aber der jüngere Bruder besorgte alle Dinge, von denen ihm der ältere Bruder gesagt hatte, dass er sie besorgen solle.

Dann, als die Erde hell geworden war und der nächste Tag angebrochen war, da gingen sie mit ihrem Gespann auf das Feld. Sie pflügten fleißig, sie freuten sich sehr über ihre Arbeit, sie verließen ihre Arbeit nicht. Als nun viele Tage vergangen waren und sie sich auf dem Felde befanden, da hatten sie kein Saatkorn. Da schickte der ältere Bruder den jüngeren fort, indem er ihm sagte: »Eile dich, bringe uns Saatkorn aus unserem Wohnort.« Der jüngere Bruder fand die Frau seines älteren Bruders, wie sie da saß und ihr Haar machte. Er sagte ihr: »Stehe auf! Gib mir Saatkorn. Ich will auf das Feld eilen, denn mein älterer Bruder ließ mich laufen und sagte: Sei nicht faul!« Sie sagte ihm: »Gehe, öffne den Kasten, nimm du dir selbst was dir am Herzen liegt, damit nicht unterwegs meine Perücke verloren geht.« Der Jüngling ging in seinen Stall, er nahm einen großen Topf, er wollte viel Saatkorn nehmen, er belud sich mit Korn und Durra1 und kam mit ihnen heraus. Da sprach die Frau zu ihm: »Was für eine Last trägst du auf dem Nacken?« Er sagte ihr: »Drei Maß Korn, zwei Maß Durra, im Ganzen sind fünf Maß auf meinem Nacken.« Das sagte er ihr.

1 Eine Getreideart

Da sagte sie ihm: »Große Kraft ist in dir, denn ich sehe täglich Beweise deiner Kraft.« Sie stand auf, sie war von dem Gedanken an ihn erfüllt und sagte ihm: »Wohlan! Wir wollen eine Stunde zusammen ruhen. Gewährst du mir meine Bitte, so will ich dir schöne Kleider machen.« Da wurde der Jüngling so wütend wie ein Panther des Südens, er zürnte wegen des bösen Vorschlages, den sie ihm gemacht hatte. Sie aber fürchtete sich sehr. Er sagte zu ihr und sprach: »Nun, wohlan! Du stehst zu mir in dem Verhältnis einer Mutter, und dein Gatte steht zu mir im Verhältnisse eines Vaters, denn er ist älter als ich und er lässt mich leben. Ach! Was für eine große Schlechtigkeit hast du mir gesagt! Wiederhole sie mir nicht noch einmal. Nun, ich werde es niemanden sagen, ich werde es keinen Menschen aus meinem Munde vernehmen lassen.«

Dann nahm er seine Last, ging auf das Feld und kam zu seinem älteren Bruder, sie waren fleißig an der Arbeit. Als aber der Abend herankam, da kehrte der ältere Bruder nach seinem Hause zurück, und der jüngere Bruder ging hinter seinen Rindern her und war beladen mit allen Dingen, die er vom Felde brachte. Er trieb seine Rinder vor sich her, damit sie sich in ihrem Stalle, der bei ihrem Wohnort war, zur Ruhe legen könnten. Siehe da! Die Frau des älteren Bruders fürchtete sich wegen des Vorschlages, den sie gemacht hatte. Sie nahm Fett und einen Lappen und richtete sich zu wie eine Frau, die von einem Übeltäter geschlagen worden ist. Sie wollte ihrem Gatten sagen: »Dein jüngerer Bruder hat mich geschlagen.«

Ihr Gatte kehrte am Abend zurück, wie das seine tägliche Gewohnheit war. Als er nach Hause kam, da fand er seine Frau wie sie dalag und sich krank stellte. Sie goss kein Wasser auf seine Hand, wie er das sonst gewohnt war, sie hatte kein Feuer angemacht, sein Haus lag im Dunkeln, sie lag schmutzig da. Ihr Gatte sagte ihr: »Wer sprach mit dir?« Da sagte sie: »Niemand sprach mit mir außer deinem jüngeren Bruder. Als er kam, um für dich Saatkorn zu holen, da fand er mich allein sitzend. Er sagte zu mir: ›Wohlan! Wir wollen eine Stunde zusammen ruhen; ziehe deine Kleider aus!‹ So sprach er zu mir. Ich hörte nicht auf ihn und sagte: Bin ich nicht deine Mutter, denn dein älterer Bruder steht zu dir im Verhältnisse eines Vaters. So sprach ich zu ihm. Er erschrak, er schlug mich, damit ich es dir nicht anzeige. Wenn du ihn leben lässt, so werde ich sterben. Siehe! Wenn er am Abend kommt und wenn ich diesen bösen Vorschlag verkünde, dann wird er sich weiß zu waschen suchen.«

Der ältere Bruder wurde wütend wie ein Panther des Südens, er schärfte sein Messer, er nahm es in die Hand. Der ältere Bruder stellte sich hinter die Türe seines Stalles, um seinen jüngeren Bruder zu töten, wenn er am Abend käme, um seine Rinder in den Stall hinein zu lassen. Als nun die Sonne unterging, da belud sich der jüngere Bruder mit allerhand Kräutern der Felder, wie er das täglich zu tun gewohnt war, und dann ging er nach Hause. Als das erste Rind in den Stall trat, da sagte es zu seinem Hüter: »Passe auf! Dein älterer Bruder steht vor dir mit seinem Messer, um dich zu töten. Laufe vor ihm fort.« Er hörte die Worte seines ersten Rindes. Als das zweite Rind hinein trat, da sagte es dasselbe.

Da blickte er unter die Türe seines Stalles, er sah die Beine seines älteren Bruders, der stand hinter der Tür, und sein Messer war in seiner Hand. Er legte seine Last auf den Boden, er gab sich an das Laufen mit seinen Beinen. Sein älterer Bruder eilte hinter ihm her mit seinem Messer. Da beschwor der jüngere Bruder den Sonnengott Râ-Harmachis und sagte: »Oh du mein gnädiger Herr! Du bist es, der die Lüge der Wahrheit gegenüber klar legt.« Da hörte der Gott Râ alle seine Bitten. Der Gott Râ ließ ein großes Gewässer zwischen ihm und seinem älteren Bruder entstehen, und das war voll von Krokodilen. Der eine von ihnen stand auf der einen, der andere auf der andern Seite. Der ältere Bruder schlug zweimal mit seiner Hand, ohne den andern töten zu können. Das tat er. Der jüngere Bruder rief von seiner Seite her und sagte: »Bleibe stehen, bis die Erde hell wird. Wenn die Sonne aufgeht, dann werde ich mich vor ihr mit dir auseinandersetzen, um der Wahrheit den Sieg zu geben, denn ich werde bis in alle Ewigkeit nicht mehr mit dir zusammen sein, ich werde nicht mehr an dem Orte sein, an dem du bist. Ich werde in das Tal der Zedern gehen.«

Als nun die Erde hell wurde und der nächste Tag anbrach, da ging der Gott Râ-Harmachis auf und einer von ihnen sah den andern. Da sagte der Jüngling zu seinem älteren Bruder und sprach: »Was soll das bedeuten, dass du hinter mir her gehst, um mich hinterlistig zu töten? Du hast nicht gehört, was mein Mund zu sagen hatte und ich bin doch in der Tat dein jüngerer Bruder, denn du stehst zu mir in dem Verhältnisse eines Vaters und dein Weib steht zu mir in dem Verhältnis einer Mutter. Nicht wahr? Nun, als du mich schicktest, um uns Saatkorn zu bringen, da sagte dein Weib zu mir: Wohlan, wir wollen eine Stunde zusammen ruhen. Aber siehe! Diese Tatsache wurde dir in etwas anderes verdreht.« Er ließ seinen Bruder alles wissen, was sich zwischen ihm und dessen Weibe zugetragen hatte. Er schwor bei Râ-Harmachis und sagte: »Was sollte deine Absicht, mich hinterlistig zu töten, bedeuten? Da standst du mit deinem Messer an der Türe wegen jener elenden Person.«

Er nahm ein scharfes Messer, er schnitt sich sein männliches Glied ab, er warf es in das Wasser, der Zitterwels fraß es, er wurde ohnmächtig, es wurde ihm schlecht. Der ältere Bruder verfluchte sich selbst gar sehr, er stand laut weinend da, er konnte wegen der Krokodile nicht dahin gelangen, wo sein jüngerer Bruder war. Sein jüngerer Bruder rief zu ihm herüber und sagte: »Siehe! Du dachtest an etwas Schlechtes, du dachtest an nichts Gutes, auch nicht an etwas von dem, was ich für dich getan hatte. Ach! Gehe jetzt nach Hause und sieh nach deinen Rindern, denn ich werde nicht mehr an einem Orte weilen, an dem du bist. Ich werde in das Zederntal gehen. Aber das, was du für mich tun sollst, ist Folgendes: Du sollst kommen, um für mich zu sorgen, wenn du erfährst, dass mir etwas geschehen ist. Ich werde nämlich mein Herz beschwören, ich werde es auf die Spitze einer Zederblüte legen. Wenn nun die Zeder abgeschnitten wird und das Herz auf die Erde fällt, dann sollst du kommen, um es zu suchen. Und wenn du auch sieben Jahre damit verbringst, es zu suchen, so soll sich dein Herz nicht ekeln. Wenn du mein Herz gefunden hast und es in einen Krug mit frischem Wasser legst, so werde ich wiederum aufleben und werde dir Antwort geben auf das, was du gegen mich vorgebracht hast. Nun! Du wirst dann wissen, dass mir etwas zugestoßen ist, wenn man dir einen Krug Bier in die Hand gibt und das Bier überschäumt. Dann bleibe nicht stehen, wenn dir das zustößt.«

Dann ging der jüngere Bruder zu dem Zederntal und der ältere Bruder ging nach seinem Hause. Er legte als Zeichen seiner Trauer seine Hand auf sein Haupt und hatte sich mit Staub beschmiert. Als er nach Hause gekommen war, tötete er sein Weib und warf es den Hunden vor. Dann saß er da in Trauer um seinen jüngeren Bruder.

Nun, nachdem viele Tage nach diesen Ereignissen vergangen waren, da war der jüngere Bruder in dem Zederntal, es war kein Mensch bei ihm. Er vertrieb sich bei Tage die Zeit damit, dass er die Tiere des Gebirges erjagte, am Abend ging er schlafen unter der Zeder, auf deren Blütenspitze sein Herz lag. Nun, nachdem viele Tage nach diesen Ereignissen vergangen waren, da erbaute er sich mit eigener Hand in dem Zederntal einen Turm, der war angefüllt mit allerhand schönen, wünschenswerten Dingen. Als er das Haus besaß, da ging er einmal aus dem Turme heraus, und da begegnete er dem Kreise der neun Götter, die umhergingen, um die Angelegenheiten ihrer ganzen Erde zu ordnen. Da sprachen die neun Götter untereinander und sprachen zu ihm: »Oh Bata-u, du Stier der neun Götter! Da weilst du nun allein. Du hast deinen Wohnort verlassen wegen dem Weibe deines älteren Bruders Anepu. Siehe! Er hat sein Weib getötet, denn du hast ihm alles Schlechte, was er gegen dich beging, klar gemacht.«

Ihr Herz war von Mitleid für ihn ganz erfüllt und Râ-Harmachis sprach zu dem Schöpfergott Chnum: »Erbaue für Bata-u ein Weib, damit er nicht allein dasitze.«

Da schuf ihm Chnum eine Gefährtin, und da saß diese da, ihre Glieder waren schöner als die irgendeines Weibes im ganzen Lande, es war jeder Gott in ihr. Da kamen die sieben Schicksal verkündenden Hathoren, um sie sich anzusehen und sagten einstimmig: »Sie wird eines gewaltsamen Todes sterben.« Bata-u liebte sie gar sehr. Sie saß in seinem Hause, wenn er den Tag damit verbrachte, das Wild des Gebirges zu erjagen, um es vor sie als Beute niederlegen zu können. Er sagte ihr: »Gehe nicht heraus, damit dich der Fluss nicht ergreife, denn ich kann dich nicht aus seiner Macht erretten, denn ich bin ein Weib gerade so wie du. Mein Herz, das liegt auf der Spitze der Zedernblüte. Wenn das ein anderer findet, so werde ich mit ihm kämpfen«. Und er erklärte ihr alles, was es mit seinem Herzen auf sich habe.

Als nun viele Tage nach diesen Ereignissen vergangen waren, da war Bata-u, seiner täglichen Gewohnheit folgend, ausgegangen, um zu jagen, und das Mädchen war aus dem Hause gekommen, um unter der Zeder, die neben ihrem Hause stand, spazieren zu gehen. Siehe! Da erblickte sie der Fluss und schleuderte Wasser nach ihr, sie lief vor ihm fort, sie ging in ihr Haus. Der Fluss aber wandte sich bittend an die Zeder und sagte: »Ach, ich möchte von ihr und ihrem Wohlgeruch erfüllt sein.« Die Zeder brachte dem Flusse eine Locke ihres Haares; die trug der Fluss nach Ägypten und legte sie an der Stelle nieder, an der die Wäscher des Pharao, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, wuschen. Da gelangte der Geruch der Locke in die Kleider des Pharao, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, und man schalt die Wäscher des Pharao, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, und sagte: »Es ist der Geruch von Salben in den Kleidern des Pharao, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge.« Täglich schalt man sie deswegen, und sie wussten nicht, was sie tun sollten. Da ging der Oberwäscher des Pharao, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, an das Ufer, sein Herz war sehr traurig wegen des Ärgers, den man ihm täglich bereitete. Er blieb stehen, und da stand er am Ufer gerade der Locke, die im Wasser lag, gegenüber. Er schickte dahin, man brachte sie ihm, man fand, dass ihr Geruch sehr schön war, er trug sie zu dem Pharao, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge.

Man holte die Schreiber und Gelehrten des Pharao, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, herbei. Sie sagten zu dem Pharao, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge: »Das ist die Locke einer Tochter des Gottes Râ-Harmachis, es ist der Stoff jeden Gottes in ihr, sie ist ein Gruß für dich aus einem anderen Lande. Lasse Boten in alle Länder gehen, um sie zu suchen. Der Bote aber, der zu dem Zederntale geht, mit dem sollen viele Leute gehen, um sie hierher zu bringen.« Da sagte Seine Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge: »Schön, sehr schön ist eure Rede«. Dann ließ man die Boten forteilen.

Nachdem viele Tage nach diesen Ereignissen vergangen waren, da kamen die Leute, die in die Fremde gegangen waren, zurück um Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, Bescheid zu bringen. Die Leute aber, die nach dem Zederntale gegangen waren, die kamen nicht, Bata-u hatte sie getötet und hatte nur einen von ihnen übrig gelassen, um Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, Bescheid zu bringen. Da ließ Seine Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, viele Leute, Fußsoldaten und Reiterei ausziehen, um die Frau zu ihm zu bringen. Und es war auch ein weibliches Wesen mit ihnen, die gab der Frau allerhand schöne Schmucksachen, wie sie die Frauen tragen, in ihre Hand. Da ging die Frau mit ihr nach Ägypten. Man jubelte ihr im ganzen Lande zu. Seine Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, liebte sie sehr und erhob sie zu seiner großen Favoritin. Man sprach mit ihr, um sie zu veranlassen, zu sagen, wie es sich mit ihrem Gatten verhielte, und da sagte sie Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge: »Man soll die Zeder abschneiden, um ihn zu vernichten.« Da ließ man Leute und Soldaten mit ihren Geräten ausziehen, um die Zeder abzuschneiden, sie kamen zu der Zeder, sie schnitten die Blüte ab, auf der das Herz des Bata-u sich befand, da fiel er in dieser Unglücksstunde tot hin.

Als nun die Erde hell wurde und der nächste Morgen nach dem Abschneiden der Zeder anbrach, da kam Anepu, der ältere Bruder des Bata-u, in sein Haus. Er setzte sich, er wusch seine Hände, man reichte ihm einen Krug mit Bier. Da schäumte dieses auf. Man gab ihm einen anderen Krug mit Wein, da wurde dieser trübe. Da ergriff er seinen Stock und seine Sandalen und seine Kleider und sein Werkzeug, er machte sich auf den Weg zum Zederntale, er trat in den Turm seines jüngeren Bruders, er fand seinen jüngeren Bruder auf seinem Ruhebett tot daliegen. Da weinte er bitterlich.

Dann ging er hin, um das Herz des jüngeren Bruders unter der Zeder zu suchen, unter der sein jüngerer Bruder abends zu schlafen pflegte. Er suchte drei Jahre lang und fand es nicht. Als das vierte Jahr begann, da wünschte sein Herz nach Ägypten zurückzukehren, und so sagte er: »Ich werde morgen fortgehen.« So sprach er in seinem Herzen. Als nun die Erde hell wurde und der nächste Tag anbrach, da ging er unter die Zeder und verbrachte den Tag mit Suchen. Am Abend kehrte er zurück, er blickte nochmals suchend umher, da fand er ein Korn, er brachte es mit, da war es das Herz seines jüngeren Bruders. Er trug einen Topf mit frischem Wasser herbei, er warf das Herz hinein und dann saß er da, wie er das alle Tage zu tun pflegte.

Als es nun Nacht wurde, da hatte das Herz das Wasser aufgesogen, da zitterte Bata-u mit allen seinen Gliedern, er sah seinen älteren Bruder an, während sein Herz kraftlos in dem Kruge war. Sein älterer Bruder Anepu ergriff den Krug mit frischem Wasser, in dem das Herz seines jüngeren Bruders war, er ließ ihn das Herz trinken, das Herz kam an seinen richtigen Platz und da war der jüngere Bruder wieder gerade so, wie er einst gewesen war. Die beiden umarmten sich, und beide sprachen miteinander. Dann sagte Bata-u zu seinem älteren Bruder: »Siehe! Ich werde ein großer Stier werden, der alle schönen Zeichen des heiligen Apisstieres an seinen Haaren haben wird, man wird seine Art nicht kennen. Du setze dich auf meinen Rücken, und wenn die Sonne aufgeht, dann werden wir da sein, wo sich mein Weib befindet, die werde ich zur Rechenschaft fordern. Du sollst mich dahin bringen, wo der König sich befindet, denn er wird dir dann allerhand schöne Dinge geben und dich mit Silber und mit Gold beladen, weil du mich dem Pharao, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, brachtest, denn ich werde als ein großes Wunder gelten. Wenn man mir zujauchzt in dem ganzen Lande, dann gehe du wieder an deinen Wohnort.«

Als nun die Erde wieder hell wurde und der nächste Tag anbrach, da nahm Bata-u die Gestalt an, die er seinem älteren Bruder angegeben hatte. Anepu, sein älterer Bruder, setzte sich bei Tagesanbruch auf seinen Rücken und gelangte an den Platz, an dem der König sich befand. Man teilte dies Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, mit. Der König besichtigte den Stier und war sehr erfreut, er ließ ihm ein großes Fest feiern, indem er sagte: »Das, was da geschieht, ist ein großes Wunder.« Man jubelte dem Stier zu in dem ganzen Lande, man belud seinen älteren Bruder mit Silber und mit Gold, und dann ließ er sich wieder in seinem Wohnort nieder. Man gab ihm viele Diener und reichen Besitz, und der Pharao, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, liebte ihn weit mehr als sonst irgendeinen anderen Menschen im ganzen Lande.

Als nun viele Tage nach diesen Ereignissen vergangen waren, da ging der Stier in den Harem, er blieb da stehen, wo sich die Favoritin befand, und fing an, zu ihr zu sprechen und sagte: »Siehe! Das bin ich, ich lebe tatsächlich.« Sie sagte ihm: »Wer bist du?« Er sagte zu ihr: »Ich bin Bata-u. Du wusstest es wohl, als du die Zeder, unter der mein Haus stand, durch den Pharao, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, abschneiden ließest, dass das geschah, damit ich nicht mehr leben sollte. Siehe! Ich bin aber da, ich lebe in der Tat, ich bin in dem Stier.« Da erschrak die Favoritin sehr bei dieser Kunde, die ihr ihr Gemahl sagte. Er ging aus dem Harem heraus. Seine Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, saß aber da und machte sich mit der Favoritin einen vergnügten Tag. Sie war am Tische Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, und der König war sehr freundlich zu ihr. Da sagte sie zu Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge: »Schwöre mir einen Eid, der also lautet: ›Das, was du sagen wirst, das werde ich für dich erhören.‹« Er erhörte alle ihre Worte. »Ich möchte von der Lunge des Stieres essen, denn er wird nie etwas Brauchbares tun.« Das sagte sie zu ihm. Da fluchte der König wegen ihrer Rede; das Herz Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, wurde sehr traurig.

Als aber die Erde hell wurde und der neue Tag anbrach, da bereitete man für den Stier ein großes Opferfest, und man ließ einen der höchsten Beamten Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, kommen, um den Stier zu schlachten. Als er geschlachtet war und auf den Schultern der Leute, die ihn fort trugen, lag, da schüttelte er seinen Nacken und spritzte zwei Tropfen Blut auf den Vorplatz Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge; der eine Tropfen kam auf die eine Seite der großen Türe Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge; der andere Tropfen kam auf die andere Seite. Die Blutstropfen erwuchsen zu zwei großen Persea-Bäumen, von denen einer immer noch größer war wie der andere. Man kam, um Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, zu sagen: »Es erwuchsen zwei große Persea-Bäume als ein großes Wunder für Seine Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge.« Man jubelte den Bäumen in dem ganzen Lande zu und der König brachte ihnen Opfer dar.

Als nun viele Tage nach diesen Ereignissen vergangen waren, da legte Seine Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, ihr aus Lapislazuli bestehendes Diadem an, der Hals des Königs war bekränzt mit allerhand Blumen, er stieg auf seinen aus Silbergold bestehenden Wagen, er verließ den Palast, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, um die Persea-Bäume zu besichtigen. Die Favoritin fuhr hinter Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, auf einem Wagen heraus. Seine Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, setzte sich mit der Favoritin unter die Bäume, da begann einer der Persea-Bäume zu seinem Weibe zu sprechen: »Oh, was ist das für eine Schlechtigkeit, die du begangen hast. Ich bin Bata-u, ich bin am Leben trotz allem Bösen, das du gegen mich ins Werk gesetzt hast. Du wusstest wohl, was das Abschneiden der Zeder, unter der mein Haus stand, zur Folge haben sollte. Ich ward ein Stier, da ließest du mich töten.«

Als nun viele Tage nach diesen Ereignissen vergangen waren, da befand sich die Favoritin an der Tafel des Pharao, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge. Er war freundlich gegen sie und da sprach sie zu Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge: »Schwöre mir einen Eid bei Gott und sage: Das, was die Favoritin mir sagen wird, das werde ich für sie erhören. Sprich doch!« Er erhörte alle ihre Worte. Da sagte sie: »Man möge die beiden Persea-Bäume abschneiden, um aus ihnen schöne Bretter zu machen.« Der König erhörte alle ihre Worte.

Als nun viele Tage nach diesen Ereignissen vergangen waren, da ließ Seine Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, geschickte Arbeiter kommen, die schnitten die Persea-Bäume für den Pharao, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, ab. Die Königliche Gemahlin, die Favoritin, stand dabei, um zuzusehen. Da flog ein Splitter ab, er drang in den Mund der Favoritin ein, sie bemerkte, dass sie schwanger geworden war, als man die Bretter machte. Der König tat mit den Brettern alles, was die Favoritin wünschte.

Als nun viele Tage nach diesen Ereignissen vergangen waren, da gebar die Favoritin einen Knaben, der niemand anders als Bata selbst war. Man ging hin und meldete Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge: »Es wurde dir ein Knabe geboren.« Man brachte ihm das Kind, er gab ihm Ammen und Pflegerinnen. Man freute sich im ganzen Lande, man setzte sich hin und feierte einen frohen Tag, man fing an, den Namen des Knaben bei öffentlichen Gelegenheiten zu verwenden. Seine Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, liebte ihn von Stund an sehr. Er ernannte ihn zum Statthalter von Äthiopien. Als viele Tage nach diesen Ereignissen vergangen waren, da machte ihn Seine Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, zum Erbfürsten des ganzen Landes.

Als nun viele Tage nach diesen Ereignissen vergangen waren und er viele Tage als Erbfürst des ganzen Landes verbracht hatte, da flog Seine Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, zum Himmel. Da sprach der Erbfürst, der jetzt König geworden war: »Man bringe mir meine Fürsten, die hohen Würdenträger Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, ich werde ihnen alle Dinge mitteilen, die mir begegnet sind.« Man brachte sein Weib herbei und er ging mit ihr ins Gericht vor den Fürsten. Man vollstreckte an dem Weibe ihren Urteilsspruch. Er ließ seinen älteren Bruder herbeiführen, er ernannte ihn zum Erbfürsten des ganzen Landes. Dann herrschte er zwanzig Jahre als König über Ägypten. Als er aus dem Leben ging, da trat am Tage des Begräbnisses sein älterer Bruder an seine Stelle.

So ist denn dieses Buch in Frieden vollendet für die zu Ehren der göttlichen Persönlichkeit des Schreibers des Schatzhauses Kagabu, der zum Schatzhause des Pharao, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, gehört, und für den Schreiber Hora, und für den Schreiber ­Mer-em-­apt. Es verfertigte es der Schreiber Annana, der Herr der Schriften. Demjenigen, der von diesem Buche spricht, dem möge der Gott Thoth im Kampfe beistehen.

Ägypten

Der Schatz des Rhampsinit

Ein König aus Ägypten namens Rhampsinit – erzählt man sich – hatte so großen Reichtum an Gold und Geld, dass kein König ihn darin übertreffen, ja ihm nicht einmal gleichkommen konnte. Aus Angst vor Dieben und anderem lichtscheuen Gesindel ließ er sich deshalb eine steinerne Kammer bauen, die mit einer Mauer an der Außenseite seines Palastes lag, mit dieser also eine Wand bildete. Der Baumeister der Schatzkammer aber war listig: Einen Stein der Mauer fügte er so ein, dass er von zwei Männern, ja sogar von einem einzigen mit Leichtigkeit herausgenommen werden konnte. Als der Baumeister das Werk abgeschlossen hatte, nahm der König all seine kostbaren Schätze und verwahrte sie in dieser Kammer.

Kurze Zeit später fühlte der Baumeister, dass es mit ihm zu Ende ging und sein Leben sich neigte. Da rief er seine beiden Söhne zu sich und erzählte ihnen, wie gut er für sie vorgesorgt habe und dass es ihnen dank seiner Fürsorge später an nichts fehlen werde. Er erklärte ihnen genau, wie sie den einen Stein aus der Mauer lösen könnten, gab ihnen auch die Stelle an, an der dieser in der Mauer versteckt eingesetzt war. »Wenn ihr dieses Geheimnis gut für euch bewahrt«, sagte er auf dem Sterbebett, »dann werdet ihr bald die Schatzmeister des Königs sein.« Darauf schloss er die Augen für immer.

Die beiden Söhne gingen unverzüglich ans Werk. Bei dunkler Nacht schlichen sie sich an den Palast heran und fanden mühelos den losen Stein in der Mauer. Leicht ließ sich der Stein herausnehmen, und beide ließen viel des kostbaren Goldes mit sich gehen. Als nun aber der König einmal seine Schatzkammer öffnen ließ, da bemerkte er sofort voller Staunen, dass in den ehemals so prall gefüllten Truhen Gold fehlte. Doch konnte er sich nicht vorstellen, wie die Schätze abhanden gekommen waren, sah er doch, dass die Schatzkammer verschlossen war und die Siegel zum Eingang noch unversehrt waren. So erging es dem König jedes Mal, wenn er die Schatzkammer betrat, um sich am Anblick des glitzernden Goldes zu weiden: seine Schätze schwanden immer mehr dahin. Da ließ er Fußschlingen anfertigen und verteilte sie rings um die Truhen, in denen die verbliebenen Schätze ruhten. Nun kamen die beiden Diebe wie gewohnt zum Schatzhaus, um sich dort am Gold gütlich zu tun. Kaum aber war einer von ihnen durch die enge Maueröffnung in die Kammer gestiegen und auf die Truhen zugeschlichen, verfing er sich in der Schlinge, die ihn nicht mehr losgab.

Jetzt war guter Rat teuer. Als er erkannte, dass seine Lage aussichtslos war und er nicht befreit werden konnte, rief er seinem Bruder zu, ihm eiligst den Kopf abzuschlagen, damit man ihn nicht erkenne, wenn die Wächter des Königs die Kammer öffneten. »Wenn man mich erkennt«, sagte er, »so wirst vor allem du verdächtigt und in die Sache hineingezogen. Mich wird ohnehin dieser heutige nächtliche Zug den Kopf kosten.« Trotz aller Liebe zu seinem Bruder leuchtete diese Rede dem noch freien Dieb als vernünftig ein. Er erfüllte seinem Bruder diesen letzten Wunsch, setzte den losen Stein wieder ins Mauerwerk ein und verschwand ungesehen, den Kopf seines Bruders unter dem Mantel, nach Hause.

Als der Tag nun dämmerte, ließ der König die Schatzkammer, neugierig auf den Erfolg seiner Falle, öffnen. Voll Entsetzen sah er da den Leichnam eines Diebes ohne Kopf in den Fallschlingen hängen; doch waren die Riegel zur Schatzkammer wie vordem unbeschädigt, noch konnte man gewahr werden, wo oder wie der Dieb hineingeschlüpft sein könnte. Nun konnte der König sich die Sache vollends nicht mehr erklären. Da er aber annahm, dass es sich um ein menschliches Wesen handeln müsse, nicht um einen Geist oder ein Gespenst, gab er seinen Dienern folgenden Befehl: »Hängt den kopflosen Leichnam draußen an der Mauer öffentlich auf, stellt euch als Wächter daneben, und wenn jemand vorbeikommt und weint, so nehmt ihn fest und führt ihn mir vor!« Der König war nämlich der Meinung, dass keine Menschenseele so verrucht sein könne, dass sie nicht beim Anblick eines verstümmelten und aufgehängten Angehörigen ein Zeichen des Schmerzes von sich gibt. Damit wollte er die Diebe überlisten. Und er sollte recht behalten!

Kaum war die Leiche des einen Bruders so erbärmlich an der Mauer aufgehängt, wurde dessen Mutter von tiefem Schmerz bewegt. Da sie es nicht ansehen konnte, dass ihr eigen Fleisch und Blut derart gedemütigt wie ein Vieh aufgehängt blieb, rief sie ihren noch verbliebenen Sohn zu sich. »Bringe mir irgendwie meinen toten Sohn zurück, koste es, was es wolle«, bat sie ihn flehentlich und setzte drohend hinzu: »Wenn du es nicht zuwege bringst, die Leiche deines unglückseligen Bruders abzunehmen und seiner alten Mutter als letzte Gabe zu überbringen, werde ich selbst zum König gehen und ihm verraten, dass du die gestohlenen Schätze besitzt.«

Hierauf wusste der überlebende Sohn keinen anderen Ausweg mehr, als der Mutter ihren Willen zu lassen, und ersann für sich eine List: Er nahm seine Esel aus dem Stall und zäumte sie auf. Dann füllte er Schläuche voll Wein, lud sie den Grautieren auf und trieb sie dann davon, vor sich her. Als er nun mit den Lasttieren zu dem Ort kam, an dem die Wächter den Leichnam des toten Bruders bewachten, da zog er an einigen herabhängenden Zipfeln der Schläuche, sodass diese aufgingen und das köstlich duftende Nass auf die Erde verströmte. Als er dies nun sah, tat er so, als wüsste er nicht, aus welchem der Schläuche der Wein sich ergoss, an welchen Esel er sich zuerst wenden sollte, um die Zipfel der Schläuche zuzubinden. Kaum aber hatten die Wächter den roten Saft, der da auslief, gesehen, da eilten sie schon mit Töpfen heran, um für sich zu retten, was noch zu retten war. Der überlebende Bruder tat nun so, als sei er über die Dreistigkeit der Wächter, die ihm seinen Wein abspenstig machten, äußerst erzürnt, und tobte herum. Als die Wächter ihn aber zu beruhigen suchten, stellte er sich so, als ging er darauf ein, schirrte die Esel wieder ein und trieb sie aus dem Wege. Zu guter Letzt schenkte er den Wächtern noch einen Schlauch Wein, den diese gerne annahmen. Voller guter Dinge und erfreut darüber, einen Streit geschlichtet zu haben, ließen sie sich nieder, um zu feiern und zu zechen. »Bleib doch noch etwas bei uns und trinke mit uns«, baten sie ihn. Der Bruder ließ sich nicht lange bitten und gesellte sich in die frohe Runde. Als der erste Schlauch sich zu Ende neigte, und man lustig und gesellig beim Umtrunk saß, gab der Bruder noch einen zweiten Schlauch in die Runde. Die Wächter taten sich am süßen Trank gütlich und, wie es der Bruder listig geplant hatte, streckten sie sich schließlich, vom Schlaf und vom Wein übermannt, nieder und schliefen ihren Rausch aus. Da es nun aber schon tiefe Nacht war und alles schlief, nahm der überlebende Bruder den Leichnam ab, lud ihn auf einen Esel und kehrte nach Hause zurück. Damit hatte er die Bitte, oder eher den Befehl, seiner Mutter erfüllt.

Als man dem König meldete, der so gut bewachte Leichnam sei gestohlen, da gebärdete er sich anfangs zornig, war er doch wiederum überlistet worden. Doch er gab nicht auf und dachte sich eine weitere List aus, den Dieb doch noch zu fangen. Er hatte nämlich eine wunderschöne Tochter, und die wollte er jedem als Dirne preisgeben; sie sollte sich jedem ohne Unterschied hingeben. Doch bevor sie sich mit jemandem einlasse, müsse sie jeden Liebhaber fragen, welche schlaueste und listigste Tat er in seinem Leben begangen habe. Wenn ihr nun der dreiste Diebstahl des königlichen Goldes und der Leiche geschildert würde, dann sollte sie unverzüglich diesen Liebhaber festhalten und nicht aus ihrem Gemach hinauslassen.

Aus Liebe zu ihrem Vater tat die Tochter, was er sie geheißen hatte. Sie setzte sich in eine Bude und gab sich jedem feil, der ihr seine größten Listen und Betrügereien erzählte. Doch hatte der König nicht mit der Schlauheit unseres Meisterdiebes gerechnet. Dieser durchblickte sofort die List in der Anordnung des Königs und, forsch wie er war, wollte er seinen König ein drittes Mal an List übertreffen. So schnitt er also einer frischen Leiche einen Arm ab, verbarg diesen unter seinem Mantel und trat in die Bude der königlichen Dirne ein. Als die Tochter des Königs, bevor sie sich ihm hingab, ihn nach seiner listigsten Tat fragte, beichtete er ihr freimütig den Raub der königlichen Schätze und des Leichnams. Froh, den Dieb gefasst zu haben und ihrer Arbeit ledig zu sein, ergriff die Königstochter den Arm des Meisterdiebes, um ihn festzuhalten. Der Dieb aber hatte ihr in der Dunkelheit den toten Arm der Leiche hingehalten, den sie erfasste, und wie im Fluge war der Meisterdieb wieder verschwunden. Der König war erneut überlistet. Die Tochter saß in ihrer Bude, den Arm einer Leiche in der Hand.

Als man dem König nun diesen letzten tollkühnen Streich verkündet hatte, kam er aus dem Staunen nicht mehr heraus. In alle Städte und Gegenden seines Reiches sandte er Boten aus, die verkünden sollten, dass der tollkühne Dieb Straffreiheit und dazu noch eine reiche Belohnung zu erwarten habe, wenn er sich melde. Der König gäbe sich geschlagen. Seines Sieges sicher, vertraute der Meisterdieb diesen Worten und stellte sich dem König. Dieser war voller Bewunderung über ihn und gab ihm seine Tochter zur Gemahlin, da der Dieb doch noch ein bisschen gescheiter sei als er, der König.

Ägypten

Pyramus und Thisbe

In jener Stadt, um die Semiramis dereinst den Wall gebrannter Mauern türmte, in Babylon, erwuchsen Wand an Wand als Nachbarskinder Pyramus und Thisbe – der schönste Jüngling er und sie von allen den schönen Mädchen Asiens die Schönste.

Die Nachbarschaft schon lehrte sie sich kennen und bald auch lieben – und die Liebe wuchs im Lauf der Zeiten. Doch der Väter Spruch verbot der Hochzeitsfackeln schönen Glanz, doch nicht verbieten konnte er, dass hell in beider Herzen loderte die Glut der Leidenschaft. Denn umso stärker brennt ein Feuer ja, je mehr verdeckt es brennt. Sie hatten keinen Helfer, keinen Freund. Mit Blicken nur und Winken sprachen sie einander zu. Doch durch die Mauer, die gemeinsam beiden Häusern war, lief schon seitdem sie stand, ein dünner Spalt. Im Laufder langen Jahre, ja Jahrhunderte entdeckte niemand diesen Fehl. Jedoch ihr, Liebende, bemerktet ihn – was merkt die Liebe nicht? Ihr machtet ihn zum Weg für eure Stimme. Leis und unbemerkt drang so das Liebeswort von Mund zu Ohr.

Oft, wenn auf einer Seite Pyramus und Thisbe auf der andern stand und sie das leise Flüstern gierigen Ohres tranken, dann klagten sie: »Oh neidische Wand, warum trennst du die Liebenden? Was klaffst du nicht so weit, dass wir uns in die Arme schließen, dass wir, wenn dies zu viel, uns küssen könnten? Doch sei’n wir dankbar: Dein ist das Verdienst, dass unser Wort zu lieben Ohren dringt.« Wenn so getrennt sie lang umsonst geklagt, so schieden sie zur Nacht und jeder gab der Wand die Küsse, die den lieben Mund des andern nicht erreichen sollten. Ging die Sonne dann von neuem strahlend auf, vertrieb die Nacht und trocknete den Tau, so standen beide schon am alten Platz und klagten flüsternd sich ihr Leid.

Zuletzt beschließen sie, den Wächtern zu entrinnen. Sie wollen in der stillen Nacht das Haus und auch die Stadt verlassen. Doch um nicht im Dunkeln ziellos durch die Flur zu irren, bestimmen sie als Ziel des Ninus Grab. Dort ragte hoch ein Maulbeerbaum empor, an dessen Zweigen weiße Früchte glänzten, und nah dabei floss eine kalte Quelle. Der Plan gefiel den beiden und es schien die Sonne diesmal allzu spät zu sinken.

Nun öffnet Thisbe leis’ das Tor, entrinnt geschickt den Ihrigen und eilt, gehüllt in ihren Schleier, durch die Nacht zum Grab und lagert sich am Fuß des Maulbeerbaums. Die Liebe gab ihr Mut. Doch sieh’, da naht mit blutbeflecktem Maule eine Löwin, die eben erst im Rindermord geschwelgt, um an der Quelle ihren Durst zu löschen. Wie Thisbe sie von fern im Strahl des Monds erblickte, floh sie eilig voller Angst in eine dunkle Höhle und beim Fliehen entgleitet ihr der Schleier. Als das Tier den Durst gestillt hat und zum Walde kehrt, trifft es zwar Thisbe nicht, doch ihr Gewand und reißt mit blutigem Maule es entzwei.

Zu spät erscheint jetzt Pyramus und sieht im tiefen Sand des Untiers sich’re Fährte. Er schrickt zusammen. Doch, wie er nun gar den blutigen Schleier findet, ruft er aus: »So töte diese Nacht zwei Liebende. Sie war des Lebens wert wie keine sonst, und mich, mich trifft die Schuld an ihrem Tod. Ich hieß an diesen schauervollen Ort zur Nacht dich kommen und ich kam nicht selbst zuerst hierher. Zerreißt, ihr Löwen, denn, die ihr in diesen Felsen haust, auch mich, zerreißt den schuldigen Leib mit wilden Bissen! Doch ist es feig, den Tod sich nur zu wünschen.« Er spricht’s und nimmt den Schleier Thisbes auf und trägt ihn zu dem wohlbekannten Baum. Er überströmt mit Tränen ihn, küsst ihn und ruft: »So trinke du denn auch mein Blut!« Dann reißt er von der Seite sich das Schwert, bohrt tief es in die Brust und reißt es rasch im Todeskampf noch aus der heißen Wunde. Wie er nun rücklings daliegt, schießt das Blut in hohem Bogen in die Luft, wie wenn aus einer Röhre durch ein kleines Loch das Wasser stoßweis’ in die Höhe steigt und zischend einen weiten Bogen spannt. Des Maulbeerbaumes Früchte färben sich vom dunkeln Blut getroffen purpurrot.

Inzwischen kehrt auch Thisbe noch voll Angst zurück zum Baum, um ihren Pyramus nicht zu enttäuschen. Ihre Augen späh’n und die Gedanken nach dem Jüngling aus, dem sie so gern erzählte, welcher Not sie klug entronnen. Wie sie nun den Ort erkennt und den ihr so vertrauten Baum, lässt sie der Früchte dunkle Farbe zweifeln, ob sie am rechten Platze sei. Doch wie den blutigen Körper sie in wilden Stößen den Boden schlagen sieht, fährt sie zurück.

Dem fahlen Buchsbaum gleicht ihr blasses Antlitz, und sie erstarrt, so wie der Meeresspiegel, den keines Windes Lufthauch mehr bewegt. Wie nun allmählich den Geliebten sie erkennt, da schlägt sie ihre arme Brust, zerrauft das Haar sich, schlingt um ihn den Arm und ihre Tränen mischt sie in sein Blut. Sie küsst den kalten Mund. »Mein Pyramus«, ruft sie, »welch ein Geschick entriss dich mir? Antworte, Pyramus, denn Thisbe ist’s, die Liebste, die dich ruft! Oh, höre mich! Erhebe deinen Blick!« Und Pyramus erhob beim Namen Thisbe seinen Blick, den todesstarren, und dann schloss er ihn für ewig. Nun erkennt den Schleier sie und sieht: Das Schwert fehlt in der schmucken Scheide. »Die Liebe«, sprach sie, »und die eigne Hand gab, Armer, dir den Tod. Auch meiner Hand gibt meine Liebe Mut zu gleicher Tat. Ich folge dir und werde deines Tods Genossin sein, wie seine Schuld ich war. Der Tod allein vermochte dich von mir zu scheiden und auch er vermag es nicht. Doch eine Bitte richten wir an euch, Unselige, die ihr unsere Eltern seid: Lasst uns, die treue Liebe – wenn auch erst im Tod – geeint, in einem Grabe ruh’n. Und du, oh Baum, der du den armen Leib des einen deckst mit deinen Zweigen und bald beide bergen wirst, behalte du als Denkmal unsres Tods für alle Zeit die dunkle Trauerfarbe deiner Frucht.« Sie sprach’s und stieß das Schwert, das warm vom Blut des Liebsten war, sich in die eig’ne Brust.

Gerührt von ihrem Fleh’n bewilligten die Eltern und die Götter ihren Wunsch: Des Maulbeerbaums Früchte sind nun schwarz, wenn sie herangereift sind, und der Staub von beiden Körpern ruht in einer Urne.

Antike

Die Hexe Pamphile

Pamphile war eine schöne Zauberin und Hexe aus Thessalien. Sie hatte über Verstorbene Gewalt, konnte Sterne verdunkeln, Geister bannen und sich alle Elemente dienstbar machen. Am meisten aber gebrauchte sie diese Macht, wenn sie sich in einen jungen Mann verliebt hatte, und das kam recht oft vor.

Wieder einmal war Pamphile in Liebe verfallen. Sie schmachtete unsterblich nach einem Böotier, und alles setzte sie daran, ihn für sich zu gewinnen. Als sie den jungen Mann einmal abends in einer Barbierstube sitzen sah, da schickte sie eilends ihre Dienerin Photis dorthin, um die abgeschnittenen Haare des jungen Griechen einzusammeln; diese brauchte sie nämlich für ihren Liebeszauber. Der Barbier aber entdeckte, dass Photis die Haare entwenden wollte, und schnell entriss er sie ihr wieder. Um aber nicht unverrichteter Dinge zur Herrin heimzukehren und bitterem Tadel ausgesetzt zu sein, schnitt Photis auf dem Heimweg einigen Ziegen Haare ab und gab diese ihrer Herrin als die Haare des jungen Böotiers aus. Kaum war die Nacht angebrochen, da stieg schon die Zauberin hinauf auf ihren Speicher, der dem Wind auf allen Seiten zugänglich und deshalb für ihre Zauberei der geeignetste Ort war. Zunächst rüstete sie ihre Zauberkammer mit allen Werkzeugen ihrer magischen Kunst aus. Da konnte man Salben jeder Art sehen: Täfelchen mit geheimnisvollen Zeichen, tote und verweste Körper lagen herum. Aufbewahrtes Blut stand in einer Ecke und dort Menschenfleisch, zertrümmerte Schädel, gar schaurig war diese Hexenküche anzusehen. Nun sprach Pamphile Zauberworte über Eingeweiden, goss Quellwasser, Kuhmilch und Honig darüber. Sie knüpfte dann die Haare des Böotiers, die in Wirklichkeit die von Ziegen waren, zu einem Knoten zusammen und warf sie beschwörend in die glühende Kohlenasche, wo sie mit viel Rauchwerk verbrannten. Die Haare knisterten in der Kohlenasche und schienen bald menschliches Leben anzunehmen. Der Zauber aber misslang dieses Mal, doch gab sich die schöne Hexe nicht geschlagen.

Ein paar Nächte später drängte es sie wiederum, zu ihrem geliebten Jüngling zu gelangen. Bei dunkler Nacht stieg Pamphile auf ihren Speicher und zog sich nackt aus; dann schloss sie eine Truhe auf und entnahm ihr verschiedene kleine Behälter mit Salbe. Mit diesen Salben rieb sie dann ihren schönen Körper ein, von der Sohle bis zum Scheitel. Lange unterhielt sie sich darauf mit der flackernden Lampe, die sie mit in ihre Zauberkammer genommen hatte. Kaum hatte sie sich dann geschüttelt, da begann Flaum auf ihren Gliedern zu wachsen, Federn wurden daraus, und krumm bog sich nun ihre hübsche Nase, Krallen wurden aus den Zehen. Eine Eule ist Pamphile geworden, und mit schrecklichem Geheul schwang sie sich auf und flog zu ihrem geliebten Böotier.

Hier endet die Geschichte im Roman; das Ende teilt uns der Autor Apuleius nicht mit, da der Held, der von diesem Liebeszauber erzählt, die Gegend verlassen muss, weil er selbst wie Pamphile zaubern will, dabei aber zum Esel wird.

Antike

Amor und Psyche

Es lebten einmal in einer Stadt ein König und eine Königin, die drei wunderschöne Töchter hatten. Die beiden älteren waren von großer Anmut, doch glaubte man allgemein, dass Worte sie hinreichend rühmen könnten. Die jüngste Schwester aber war von so einzigartiger Schönheit und Anmut, dass die menschliche Sprache nicht ausreichte, ihre göttergleiche Erscheinung zu preisen.

So waren also viele Einwohner der Stadt und auch zahlreiche Fremde, die von dieser Schönheit hörten und herbeigeeilt waren, sie zu sehen, starr vor Staunen. Sie berührten mit ihrer rechten Hand den Mund und verehrten sie damit wie eine Göttin, wie Venus, mit ehrfürchtigem Gebet. Schon ging das Gerücht in die nahe liegenden Städte und Gebiete, die Göttin Venus selbst, die in der Tiefe des blauen Meeres geboren wurde und die der Schaum der Wogen genährt hatte, wandle nun selbst unter den Menschen und gewähre diesen ihren herrlichen Anblick. Oder man glaubte wenigstens, dass nun die Erde, so wie früher das Meer, eine zweite Venus in herrlicher jungfräulicher Blüte hervorgebracht habe.

Täglich verbreiteten sich solche Gerüchte immer mehr und gelangten schon zu den nahe liegenden Inseln, ja fast alle Gegenden des Festlandes wurden davon erfasst. So strömte denn das Volk auf weiten Reisen zu Wasser und zu Lande herbei, um dieses gefeierte Wunder des Jahrhunderts zu erblicken und es zu grüßen. Niemand reiste mehr zu den bekannten Tempeln der Liebesgöttin Venus nach Paphos oder nach Knidos, ja selbst ihr berühmtes Heiligtum auf der Insel Kythera mied man. Da verfielen ihre Heiligtümer, vernachlässigt von den abgefallenen Gläubigen. Man kümmerte sich nicht mehr um die heiligen Bräuche, ohne Kränze blieben die Bildnisse der Göttin, die Asche auf den Altären blieb kalt und schändete so das Heiligtum. Zu der Königstochter wendet man nun seine Aufmerksamkeit, und in ihrem menschlichen Antlitz huldigt man der Majestät der großen Göttin. Wenn die Jungfrau morgens aus dem Haus tritt, strömt schon das Volk herbei, ruft sie an und versucht durch Opfer, die Person der Venus gnädig zu stimmen. Wenn sie durch die Straßen schreitet, wirft man Blumen und Kränze zu ihren Füßen.

Wegen dieser Übertragung göttlicher Ehren auf ein menschliches Mädchen war die Göttin Venus in wildem Zorn entbrannt. Unwillig schüttelte sie ihr schönes Haupt und sprach bei sich: »Ich, die heilige Mutter aller Kreatur, der Ursprung aller Elemente, ich, die Liebesgöttin des ganzen Erdkreises, ich muss mit einer sterblichen Jungfrau die göttliche Ehre, die nur mir allein zusteht, teilen. Mein Name, der im Himmel aufgeschrieben ist, soll durch irdischen Staub entweiht werden? Soll ich es dulden, geteilte Huldigungen zu empfangen, und soll ein irdisches Ebenbild von mir ungestraft auf der Erde wandeln? Dann hätte Paris ja umsonst mir als der Schönsten den Apfel gegeben. Sei es, wie es wolle! Nicht lange mehr soll dieses Weib Freude an ihrer Verehrung haben. Bereuen soll sie die unerlaubte Schönheit.«

Sprach’s und rief schnell ihren Knaben herbei, den geflügelten Amor, der leichtsinnig und beschwingt sich über alle Sitten hinwegsetzt und, mit seinen Pfeilen bewaffnet, nachts in fremde Häuser eindringt, die Banden der Ehe stört, der nur Unheil, aber nichts Gutes stiftet.

Sie stachelte ihren Sohn, der ohnehin schon ausgelassen und frech ist, noch weiter an, führte ihn zu jener Stadt und zeigte ihm Psyche, so hieß nämlich die Königstochter. Venus erzählte ihm die ganze Geschichte, wie die Jungfrau mit ihr in den Wettstreit getreten war. »Bei den Banden der mütterlichen Liebe«, rief sie aus, »bei den lieblichen Wunden, die deine Pfeile schlagen, bei den süßen Bränden deiner Flammen, räche das Unrecht, das man deiner Mutter getan hat, und bestrafe die freche Schönheit dieser Irdischen. Um eines bitte ich dich besonders: Mach, dass dieses Mädchen in heftiger Liebe zu dem niedrigsten und abscheulichsten Menschen erglüht, zu jemandem, den das Schicksal um Ehre, Vermögen und Gesundheit gebracht hat und der so niedrig steht, dass er auf dem ganzen Erdkreis seinesgleichen suchen muss.«

So hatte sie gesprochen und gab ihrem Sohn heftige Küsse. Dann strebte sie dem nahen Ufer des brausenden Meeres zu; und kaum hatten ihre rosigen Sohlen den Schaum der Wellen berührt, da ruhte auch schon die Tiefe des Meeres, und alle Meeresgottheiten kamen herauf als ihr Gefolge. Es kamen die Töchter des Nereus und sangen im Chor, Palämon, der auf einem Delphin reitet, und Scharen von Tritonen, die auf ihren tönenden Muscheln ein liebliches Lied bliesen oder ihrer Herrin einen Spiegel vorantrugen oder unter dem Wagen der Liebesgöttin umherschwammen. Ein ganzes Heer von Gefolge begleitete Venus, als sie zum Ozean zurückeilte.

Psyche aber war unterdessen trotz all ihrer Schönheit nicht glücklich geworden. Obwohl sie von allen bestaunt und gefeiert wurde, kam kein König, kein Prinz, nicht einmal aus dem Volk kam ein Mann, der um ihre Hand angehalten hätte. Man bestaunte ihr wunderbares göttliches Aussehen, aber so wie man ein kunstvolles Bildnis bewundert, das doch ohne Leben ist. Schon längst hatten ihre beiden Schwestern, über deren Schönheit nicht geredet wurde, Könige geheiratet. Psyche aber blieb allein und unverheiratet im Hause der Eltern.