Die schönsten Märchen der Welt - Der große Märchenschatz -  - E-Book

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Beschreibung

Keine zweite literarische Gattung hat über die Jahrtausende eine solche Vielgestaltigkeit und Motivfülle hervorgebracht wie das Märchen. In allen großen Kulturen der Welt haben sich dabei eigene Erzähltraditionen entwickelt. Mit dieser reich bebilderten Sammlung gibt der Herausgeber einen faszinierenden Überblick über den Märchenschatz aus aller Herren Länder. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf den klassischen europäischen Ausprägungen, daneben finden sich zahlreiche Märchen aus Nordamerika, dem nördlichen Afrika und dem asiatischen Raum.

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Seitenzahl: 1551

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Der große Märchenschatz

Die schönsten

Märchen

der Welt

Ausgewählt und herausgegebenvon Erich Ackermann

Mit zahlreichen Illustrationen

Anaconda

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 Anaconda Verlag GmbH, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagmotiv: Ruth Koser-Michaels (1896–1968),

Umschlagillustration für den Band »Märchen der Brüder Grimm«,

Berlin: Knaur 1937, Copyright © INTERFOTO / Granger, NYC

Umschlaggestaltung: www.katjaholst.de

Satz und Layout: paquémedia, www.paque.de

E-Book Herstellung: ar

ISBN 978-3-641-29984-2V002

www.anacondaverlag.de

[email protected]

Inhalt

Vorwort

Des Märchens Geburt

Das Zweibrüdermärchen

Der verwunschene Prinz

Der Schatz des Rhampsinit

Hero und Leander

Pyramus und Thisbe

Die Hexe Pamphile

Amor und Psyche

Der Schuss auf den Leichnam

Der Wettlauf der Prinzessin

Die untreue Frau

Eliduc

Aucassin und Nicolette

Melusina

Die Zauberrose

Die sieben Schwäne

Die Frau im Schrein

Das Land der Cockanyngen

Ritter- und Frauentreue

Die drei Ratschläge

Zauberer Merlin und der arme Holzfäller

Thors Fahrt zum Utgard-Loki

Balders Tod

Der goldene Ball

Junker Rowland

Der Katzenkönig

Die Prinzessin von Colchester

Die Geschichte von Tom Däumling

Der Lindwurm von Lambton

Jack der Riesentöter

Jack und die Zauberbohnen

Die drei Bären

Tam Lin

Herr und Diener

Der Pfeifer und der Puka

Conall

Der Erzähler, dem die Geschichten ausgingen

Die verheiratete Meermaid

Die Schöne und das Tier

Petiton

Blaubart

Der gestiefelte Kater

Die Feen

Riquet mit dem Schopf

Die Königin der Fische

Die drei Orangen

Die Steine von Plouhinec

Die zwei alten Bäume

Das Mädchen mit dem Leichentuch

Der Karren des Todes

Der König, der Kuhhirte und der Stier Barroso

Juan Holgado und Frau Tod

Der goldene Apfelbaum und die neun Pfauinnen

Der böse Blick

Schön-Ilonka

Das goldene Spinnrad

Von den zwölf Monaten

Das Mädchen und der Vampir

Taubenliebe

Petru Firitschell

Der Tod als Geliebter

Pfefferkorn

Von dem Schönen und dem Drakos

Das Schloss des Helios

Die drei Rätsel

Oraggio und Bianchinetta

Die Tochter des Schlangenkönigs

Die Granatäpfel

König Schwein

Zauberturban, Zauberknute, Zauberteppich

Die gebrochenen Eide

Oschoo

Die Drachenprinzessin

Der neidische Nachbar

Uraschimataro

Märchen aus der Südsee

Kohuki und seine zwei Frauen

Der Mord des Massiloniane

Der kleine Hase

Die Vogelfrau

Der Magier vom Huronsee

Das Nordlicht

Der rote Schwan

Froschkönigs Tochter

Der Brahmane, der Tiger und der Schakal

Prinz Achmed und die Fee Pari Banu

Die Abenteuer Sindbads des Seefahrers

Der Fuchs und der Bär

Der Nordlands-Drache

Wassilissa die Wunderschöne

Schwesterchen Alenuschka und Brüderchen Iwanuschka

Der Frost

Zarewna Frosch

Die weiße Ente

Das Federchen vom hellen Falken Finist

Das Märchen von Iwan-Zarewitsch, dem Feuervogel und dem grauen Wolf

Marija Morewna

Die Riesin im Steinboot

Königssohn Ring und sein Hund Snati-Snati

Östlich von der Sonne und westlich vom Mond

Per Gynt

Die Mühle, die auf dem Meeresgrund mahlt

Das Weihnachtsmahl der Zwerge

Lippo und Tapio

Der Königssohn und die Prinzessin Singorra

Die Prinzessin in der Erdhöhle

Die Rehprinzessin

Drei rote Ferkelchen

In Hülle und Fülle

Der Vogel Phönix

Hondidldo

Da Seppl mit di goldenen Hoar

Das Pomeranzenfräulein

Der starke Hans

’s Wiehnechtchindli

Der Zwerg auf Herbergssuche

Der kleine Häwelmann

Rattenkönig Birlibi

Nussknacker und Mausekönig

Die künstliche Orgel

Der verrostete Ritter

Die Geschichte vom Kalif Storch

Woher der Rübezahl seinen Namen hat

Rübezahl und der Glashändler

Rübezahl und der reiche Bäcker

Die drei Schwestern

Der Tannenbaum

Der Schweinehirt

Das Feuerzeug

Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern

Goldener

Der goldene Rehbock

Das Natternkrönlein

Der starke Gottlieb

Zwergenmützchen

Vom Knaben, der das Hexen lernen wollte

Der weiße Wolf

Der Hasenhüter und die Königstochter

Hirsedieb

Die Sterntaler

Jorinde und Joringel

Die zertanzten Schuhe

Von dem Machandelboom

Dornröschen

Sneewittchen

Die Gänsemagd

Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich

Schneeweißchen und Rosenrot

Brüderchen und Schwesterchen

Aschenputtel

Quellenverzeichnis

Herkunftsregister

Vorwort

Mit dem Begriff Märchen steht die deutsche Sprache ziemlich alleine da. In anderen Sprachen sind die Bezeichnungen allgemeiner und umfassen auch benachbarte Gattungen. In der Antike ist es der Mythos, der die Welt und den Menschen allumfassend deutet. Das englische tale und das französische conte schränken das Märchen mit dem Beisatz fairy tale und conte de fées allzu sehr auf das Feenmärchen ein. So sind also in den meisten Kulturen Mythos, Sage, Legende, Volkserzählung und echtes Märchen nicht scharf voneinander getrennt und bilden zusammen die Literatur einer Gesellschaft ohne schriftliche Überlieferung. Schon der Begriff Märchen ist ein Diminutivum, eine Verniedlichung der mittelhochdeutschen märe und spricht somit auch sprachlich diesen Erzählungen eine gewisse Ernsthaftigkeit ab und drängt sie in die Ecke des Kindlichen, was das eigentliche Märchen aber gar nicht ist. Die Märchen waren vom Ursprung her nie Kindergeschichten, mag auch ihre Darstellung einer naiven und unkomplizierten Weltordnung der kindlichen Seele entsprechen: Gut und Böse werden klar getrennt, was sich vor allem auch in der Form von guten und bösen Figuren ausdrückt. Meist steht der gute Held oder die Heldin im Vordergrund und muss eine Auseinandersetzung, eine Prüfung gegen böse Mächte bestehen. Das Märchen weist eine positive Weltsicht auf, denn am Ende wird das Gute belohnt und das Böse bestraft, womit die Weltordnung wieder hergestellt ist.

Das Wesen des Märchens ist vielfältig und entzieht sich nachgerade einer einfachen Definition. Unter den eigentlichen Volksmärchen versteht man vor allem Zauber- und Wundermärchen, wobei das Magische und Übernatürliche den Kern ausmacht. Meist spielt sich die Handlung in einer unwirklichen Welt und in einem Nie- und Nirgendsland ab. Das Märchen ist von den Bedingungen der Wirklichkeit unabhängig und auch um die Kategorien von Zeit, Raum und Kausalität schert sich die wundersame Erzählung kaum. Die fantastischen Begebenheiten und Umstände in der Märchenwelt werden dem Hörer und Leser sinnlich in Bildern vermittelt. Das hat nach der schriftlichen Niederlegung der Märchen geradezu zu einer bildlichen Veranschaulichung gedrängt. Die bekanntesten Illustratoren haben sich deshalb mit den Märchen beschäftigt und Bilder verschiedenster Art für die Sammlungen angefertigt.

Das Märchen ist so uralt wie die Menschheit; es ist eine Erzählgattung, die die ganze Welt umfasst. Erstaunlich ist, dass in den Märchen der unterschiedlichsten Völker, so weit diese auch räumlich auseinanderliegen mögen, immer wieder die gleichen Bilder, Motive und Grundmuster auftauchen. Und nicht nur einzelne Bilder, sondern ganze Motivketten ähneln sich auf frappierende Weise. Es gibt sogar gleiche Versionen ein und desselben Märchens in weit voneinander entfernt liegenden Gebieten, wobei die dort lebenden Völker historisch gesehen noch nichts voneinander wussten.

Hierüber und auch über den Ursprung der Märchen haben sich viele Theorien entwickelt. Manche Gelehrte, vor allem im 19. Jahrhundert, meinten, das Märchen sei indogermanischen Ursprungs und habe letztlich durch die vielen historischen Völkerwanderungen seinen Weg aus Indien zu den anderen Völkern zurückgelegt (Wandertheorie). Andere Gelehrte im 20. Jahrhundert vertreten die Meinung, die Märchen seien an den verschiedensten Orten unabhängig voneinander entstanden, sobald die Menschen dort ein bestimmtes geistiges Entwicklungsstadium erreicht hatten. Dieser eher psychologische Ansatz geht davon aus, dass sich die Märchenmotive manchmal bis in die Einzelheiten gleichen, weil die wesentlichen inneren Entwicklungen der Menschen bei allen Völkern und auch Individuen dieselben sind. Wie immer liegt die Wahrheit sicherlich in der Mitte.

Für die Wandertheorie spricht, dass die Märchen mit Sicherheit nicht nur von Mensch zu Mensch und von Generation zu Generation mündlich weiterwanderten, sondern auch räumlich von Volk zu Volk: durch Kaufleute, Seefahrer, wandernde Handwerker oder Söldner zum Beispiel, die die Märchen aus fernen Ländern mitbrachten. Daher kommt es auch, dass von den Volksmärchen unterschiedliche Varianten und Versionen existieren. So liegen etwa den Irrfahrten des antiken Odysseus und denen Sindbads aus Tausendundeiner Nacht die gleichen alten Seefahrermärchen zugrunde.

Aber sicherlich spielen auch die psychischen Urerlebnisse und Urwünsche der kollektiven Menschheit eine entscheidende Rolle. Diese entwickelten sich geografisch und historisch unabhängig voneinander, sodass viele Urmotive und Urbilder in verschiedenen Kulturkreisen parallel entstanden. So taucht z. B. in den unterschiedlichsten Ländern der Welt als Urmotiv ein hässliches Tier auf (Kröte, Schlange, Bär oder sonstiges Ungetüm), das sich mit einem Schlag in ein Königskind verwandelt, wenn der Held oder die Heldin ihm ihre Liebe schenkt. Novalis, ein Dichter der deutschen Romantik, meinte schon Ende des 18. Jahrhunderts in einem Fragment, »dass, wenn der Mensch sich selbst überwindet, er auch die Natur zugleich überwindet und ein Wunder vorgeht. Die Verwandlung des Bären in einen Prinzen in dem Augenblicke, als der Bär geliebt wurde – vielleicht geschähe eine ähnliche Verwandlung, wenn der Mensch das Übel in der Welt lieb gewönne.«

Diese symbolische Deutung ist schon der Anfang einer psychologischen Sichtweise, wie sie im 20. Jahrhundert Raum gewinnt. Als deren Hauptvertreter kann C. G. Jung (1875–1961) gelten, ein Schweizer Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie. C. G. Jung unterscheidet zwischen individuellem und kollektivem Unbewussten. Im kollektiven Unbewussten befinden sich Inhalte und Verhaltensweisen, welche überall in der Welt und bei allen Individuen dieselben sind. Inhalte des kollektiven Unbewussten sind Ursprungsbilder (Archetypen). Die Märchenbilder stammen nach Jung aus geschichtlicher und vorgeschichtlicher Zeit und spiegeln das ungelernte Verhalten und die Weisheit der menschlichen Art wider, sie sind einfach da, dem Menschen immanent. Jung fand bei Forschungsarbeiten heraus, dass solche ursprünglichen Bilder auch in den menschlichen Träumen, in Visionen und in den Wahnvorstellungen psychisch kranker Menschen auftauchen, weshalb das Märchen auch eine große Rolle bei der Therapie spielen kann. Gemäß dieser Lehre C. G. Jungs verwenden viele analytische Psychologen Märchen zur Veranschaulichung psychischen Verhaltens.

Der amerikanische Kinderpsychologe Bruno Bettelheim vertritt die Ansicht, dass Märchen für die Entwicklung von Kindern unabdingbar sind, vor allem bei Konfliktlösungen. Schon der deutsche Titel seines aufsehenerregenden Werkes zeigt uns sein Programm: Kinder brauchen Märchen (1976).

Aber genug der grauen Theorie. Wir alle brauchen Märchen: um aus ihnen zu lernen, um Prüfungen zu meistern, oder damit das optimistische Weltbild des Märchens das Leben nicht so düster aussehen lässt. Vielleicht führen sie uns auch in eine verlorengegangene Zeit der Kindheit zurück, in deren Verklärtheit es scheinbar gar keine Probleme gab – Märchen als Nostalgie – oder sie versetzen uns in eine anheimelnde Atmosphäre, die einfach gut tut.

Die vorliegende Sammlung enthält sowohl Volksmärchen, die aus der kollektiven menschlichen Seele herrühren, also gar keinen Autor haben, als auch einige Kunstmärchen, wobei sich ein namentlich bekannter Autor der Eigenarten des Volksmärchens bedient oder gar aus seinen Motiven schöpft. Und da das Märchen wesentlich von Bildern lebt, sind die vielen unterschiedlichen Illustrationen dieses Bandes eigentlich klassischer Bestandteil einer echten Märchensammlung, die alle Generationen von Jung bis Alt ansprechen will.

Die Auswahl der Märchen enthält typisches Erzählgut aus aller Welt und versucht der großen Fülle der Märchenmotive gerecht zu werden. Hauptziel dabei ist nicht das akribische Sammeln, sondern die pure Freude beim Lesen und Hören.

Erich Ackermann

Des Märchens Geburt

Es war einmal eine Zeit, da es noch keine Märchen gab, und die war betrübend für die Kinder, denn es fehlte in ihrem Jugendparadiese der schönste Schmetterling. Und da waren auch zwei Königskinder, die spielten miteinander in dem prächtigen Garten ihres Vaters. Der Garten war voll herrlicher Blumen, seine Pfade waren mit bunten Steinen und Goldkies bestreut und glänzten wetteifernd mit dem Taugefunkel auf den Blumenbeeten. Es gab in dem Garten kühle Grotten mit plätschernden Quellen, hoch zum Himmel aufrauschende Fontänen, schöne Marmorbildsäulen, liebliche Ruhebänke. In den Wasserbecken schwammen Gold- und Silberfische; in goldenen großen Vogelhäusern flatterten die schönsten Vögel, und andere Vögel hüpften und flogen frei umher und sangen mit lieblichen Stimmen ihre Lieder.

Die beiden Königskinder aber hatten und sahen das alle Tage, und so waren sie müde des Glanzes der Steine, des Duftes der Blumen, der Springbrunnen und der Fische, welche so stumm waren, und der Vögel, deren Lieder sie nicht verstanden. Die Kinder saßen still beisammen und waren traurig; sie hatten alles, was nur ein Kind sich wünschen mag, gute Eltern, die kostbarsten Spielsachen, die schönsten Kleider, wohlschmeckende Speisen und Getränke und durften tagtäglich in dem schönen Garten spielen – sie waren traurig, obschon sie nicht wussten, warum – und nicht wussten, was ihnen fehle.

Da trat zu ihnen ihre Mutter, die Königin, eine schöne Frau mit mildfreundlichen Zügen, und sie bekümmerte sich darüber, dass ihre Kinder so traurig waren und sie nur wehmütig anlächelten, statt mit Jauchzen ihr entgegenzufliegen; sie betrübte sich, dass ihre Kinder nicht glücklich waren, wie doch Kinder sein sollen und sein können, weil sie noch keine Sorgen kennen, und weil der Himmel der Jugend meist ein wolkenloser ist. Die Königin setzte sich zu ihren beiden Kindern, die ein Knabe und ein Mädchen waren, und schlang um jedes derselben einen ihrer vollen weißen Arme, welche goldne Spangen schmückten, und fragte gar mütterlich und liebreich: »Was fehlt euch, meine lieben Kinder?«

»Wir wissen es nicht, teure Mutter!«, sprach der Knabe. »Wir sind so traurig!«, sprach das Mädchen.

»Es ist so schön hier in diesem Garten, und ihr habt alles, was euch Freude machen kann; macht es euch denn keine Freude?«, fragte die Königin, und eine Träne trat in ihr Auge, aus dem eine Seele voll Güte lächelte.

»Nicht genug Freude macht uns, was wir haben«, antwortete dieser Frage das Mädchen. »Wir wünschen uns was und wissen nicht, was!«, setzte der Knabe hinzu.

Die Mutter schwieg bekümmert und sann nach, was wohl die Kinder wünschen möchten, das sie mehr erfreue als die Pracht des Gartens, der Schmuck der Kleider, die Menge der Spielsachen, der Genuss edler Speisen und Getränke, aber sie fand nicht, was ihre Gedanken suchten.

»Oh wäre ich nur selbst wieder ein Kind«, sprach die Königin still zu sich, mit einem leisen Seufzer, »dann fiele mir wohl ein, was Kinder froh macht. Um Kindeswünsche zu begreifen, muss man selbst ein Kind sein. Aber ich bin schon zu weit gewandert aus dem Jugendlande, wo die goldnen Vögel durch die Bäume des Paradieses fliegen, jene Vögel, die keine Füße haben, weil die Nimmermüden irdischer Ruhe nicht bedürfen. Oh käme doch ein solcher Vogel her und brächte meinen teuern Kindern, was sie glücklich macht!«

Siehe, wie die Königin also wünschte, da wiegte sich plötzlich über ihr in den blauen Lüften ein wunderherrlicher Vogel, von dem ein Glanz ausging, wie Goldflammen und Edelsteinblitze, der schwebte tiefer und tiefer, und es sah ihn die Königin, es sahen ihn die Kinder.

Diese riefen nur: »Ah, ah!«, und Staunen ließ sie keine anderen Worte finden.

Der Vogel war überaus herrlich anzusehen, wie er, immer tiefer schwebend, sich niedersenkte, so schimmernd, so glänzend, im Regenbogenfarbengefunkel, fast das Auge blendend und doch immer wieder das Auge fesselnd. Er war so schön, dass die Königin und die Kinder vor Freude leise schauerten, zumal sie jetzt das Wehen seiner Flügel fühlten. Und ehe sie es ahnten, so hatte sich der Wundervogel niedergelassen in den Schoß der Königin, der Mutter, und sah aus Augen, die wie freundliche Kinderaugen gestaltet waren, die Kinder an, und doch war etwas in diesen Augen, das die Kinder nicht begriffen, etwas Fremdartiges, Schauerhaftes, und sie wagten darum nicht, den Vogel zu berühren, auch sahen sie jetzt, dass der seltsame, überirdisch schöne Vogel unter seinen glänzendbunten Federn auch einige tiefschwarze Federn hatte, die man aber von weitem nicht gewahrte. Indes blieb den Kindern zu näherer Betrachtung des schönen Wundervogels kaum so lange Zeit, als nötig war, dies zu erwähnen, denn alsbald hob sich der Vogel wieder empor, der Paradiesvogel ohne Füße, schwebte, schimmerte, flog immer höher, bis er nur eine im Äther schwimmende bunte Feder schien, dann nur noch ein goldner Streif, und dann entschwand – so lange aber, bis das geschah, sahen ihm die Königin und die Kinder mit Staunen nach.

Aber oh Wunder! Als Mutter und Kinder wieder niederblickten, wie staunten sie da aufs Neue! Auf dem Schoße der Mutter lag ein goldnes Ei, das hatte der Vogel gelegt, oh und das schimmerte auch so grüngolden und goldblau wie der köstlichste Labradorstein und die schönste Perlenmuschel der Meerestiefen. Und die Königskinder riefen aus einem Munde: »Ei, das schöne Ei!« Die Mutter aber lächelte selig und ahnte voll Dankgefühl, das müsse der Edelstein sein, der noch zum Glück ihrer Kinder fehle, das Ei müsse in seiner zauberfarbig schillernden Schale ein Gut enthalten, das den Kindern gewähre, was dem Alter versagt ist, Zufriedenheit, und das ihre Sehnsucht, ihre kindische Trauer stille.

Die Kinder aber konnten sich nicht satt sehen an dem prächtigen Ei und vergaßen bald über dem Ei den Vogel, der es brachte; erst wagten sie nicht, es zu berühren, endlich aber legte das Mägdlein doch eines seiner rosigen Fingerchen daran und rief plötzlich, indem sein Unschuld volles Gesichtchen sich mit Purpur übergoss: »Das Ei ist warm!« Nun tippte auch der Königsknabe vorsichtig und leise an das Ei, um zu fühlen, ob die Schwester wahr gesprochen. Endlich legte auch die Mutter ihre zarte weiße Hand auf das köstliche Ei, und siehe, was begab sich da? Die Schale fiel in zwei Hälften auseinander, und aus dem Ei kam ein Wesen hervor, wunderbar anzusehen. Es hatte Flügel und war nicht Vogel, nicht Schmetterling, Biene nicht und nicht Libelle, und doch von allen diesen etwas, aber nicht zu beschreiben; mit einem Wort, es war das buntgeflügelte, farbenschillernde Kinderglück, selbst ein Kind, nämlich das des Wundervogels Phantasie, das Märchen.

Und nun sah die Mutter ihre Kinder nicht mehr traurig, denn das Märchen blieb fortan immer bei den Kindern, und sie wurden seiner nicht müde, solange sie Kinder blieben, und seit sie das Märchen hatten, wurden ihnen Garten und Blumen, Lauben und Grotten, Wälder und Haine erst recht lieb, denn das Märchen belebte alles zur Lust der Kinder; das Märchen lieh selbst den Kindern seine Flügel, da flogen sie weit umher in der unermesslichen Welt und waren doch immer gleich wieder daheim, sobald sie nur wollten.

Jene Königskinder – das waren die Menschen in ihrem Jugendparadiese, und die Natur war ihre schöne mildfreundliche Mutter. Sie wünschte den Wundervogel Phantasie vom Himmel nieder, der so prächtige Goldfedern und auch einige tiefdunkle hat, und er legte in ihren Schoß das goldne Märchenei.

Und wie die Kinder das Märchen innig lieb gewannen, das ihre Kindheitstage verschönte, in tausenderlei Gestaltungen und Verwandlungen sie ergötzte und über alle Häuser und Hütten, über alle Schlösser und Paläste flog, so war des Märchens Art auch diese, dass es selbst den Erwachsenen gefiel, und sie sich seiner freuten, wenn sie nur etwas aus dem Garten der Kindheit mit herübergetragen in das reifere Alter, nämlich die Kindlichkeit des Herzens.

Ludwig Bechstein

Das Zweibrüdermärchen

Es waren einmal zwei Brüder, die hatten die gleiche Mutter und den gleichen Vater gehabt, Anepu (Anubis) war der Name des älteren, Bata-u (Bytis) war der Name des jüngeren. Nun besaß Anepu ein Haus und besaß eine Frau. Der jüngere Bruder unterstand seiner Gewalt, wie das für einen Jüngeren Sitte ist. Er machte die Kleider, er ging hinter den Rindern auf das Feld, er bebaute das Land, er drosch das Getreide, er besorgte jede Feldarbeit. Siehe! Der jüngere Bruder war ein vorzüglicher Arbeiter, nicht gab es seinesgleichen im ganzen Lande, es war als wäre die Kraft jedes Gottes in ihm. Als nun viele Tage vergangen waren, da war der jüngere Bruder nach seiner täglichen Gewohnheit hinter seinen Rindern her. An jedem Abend kehrte er nach Hause zurück: dann war er beladen mit allen Kräutern des Feldes. Und wenn er vom Felde zurückkehrte, dann tat er Folgendes: Er legte die Kräuter nieder vor seinem älteren Bruder, der da saß mit seiner Frau. Er trank, er aß von den Broten, er ging in seinen Stall und bewachte seine Rinder.

Dann, wenn die Erde hell geworden war und der nächste Tag angebrochen war und die Brote gebacken waren, dann legte er sie hin vor seinen älteren Bruder. Er trug die Brote hinaus auf das Feld, er trieb seine Rinder an, um sie auf dem Felde fressen zu lassen. Er ging hinter seinen Rindern her, und sie sagten ihm: »An jenem Platz ist das Gras schön«. Er verstand alles, was sie sagten, und führte sie an den Platz der guten Kräuter, an den sie zu gehen wünschten. Die Rinder, die er antrieb, wurden sehr schön, äußerst zahlreich waren bei ihnen die Geburten.

Als nun die Zeit des Pflügens gekommen war, da sagte sein älterer Bruder zu ihm: »Wohlan, rüste uns das Gespann zum Pflügen. Denn die Felder sind aus dem Überschwemmungswasser herausgetreten, sie sind jetzt im richtigen Zustande, um beackert zu werden.« Ferner sagte er: »Gehe du mit Saatkorn auf das Feld, denn wir wollen morgen eifrig pflügen.« So sagte er, aber der jüngere Bruder besorgte alle Dinge, von denen ihm der ältere Bruder gesagt hatte, dass er sie besorgen solle.

Dann, als die Erde hell geworden war und der nächste Tag angebrochen war, da gingen sie mit ihrem Gespann auf das Feld. Sie pflügten fleißig, sie freuten sich sehr über ihre Arbeit, sie verließen ihre Arbeit nicht. Als nun viele Tage vergangen waren und sie sich auf dem Felde befanden, da hatten sie kein Saatkorn. Da schickte der ältere Bruder den jüngeren fort, indem er ihm sagte: »Eile dich, bringe uns Saatkorn aus unserem Wohnort.« Der jüngere Bruder fand die Frau seines älteren Bruders, wie sie da saß und ihr Haar machte. Er sagte ihr: »Stehe auf! Gib mir Saatkorn. Ich will auf das Feld eilen, denn mein älterer Bruder ließ mich laufen und sagte: Sei nicht faul!« Sie sagte ihm: »Gehe, öffne den Kasten, nimm du dir selbst was dir am Herzen liegt, damit nicht unterwegs meine Perücke verloren geht.« Der Jüngling ging in seinen Stall, er nahm einen großen Topf, er wollte viel Saatkorn nehmen, er belud sich mit Korn und Durra* und kam mit ihnen heraus. Da sprach die Frau zu ihm: »Was für eine Last trägst du auf dem Nacken?« Er sagte ihr: »Drei Maß Korn, zwei Maß Durra, im Ganzen sind fünf Maß auf meinem Nacken.« Das sagte er ihr.

Da sagte sie ihm: »Große Kraft ist in dir, denn ich sehe täglich Beweise deiner Kraft.« Sie stand auf, sie war von dem Gedanken an ihn erfüllt und sagte ihm: »Wohlan! Wir wollen eine Stunde zusammen ruhen. Gewährst du mir meine Bitte, so will ich dir schöne Kleider machen.« Da wurde der Jüngling so wütend wie ein Panther des Südens, er zürnte wegen des bösen Vorschlages, den sie ihm gemacht hatte. Sie aber fürchtete sich sehr. Er sagte zu ihr und sprach: »Nun, wohlan! Du stehst zu mir in dem Verhältnis einer Mutter, und dein Gatte steht zu mir im Verhältnisse eines Vaters, denn er ist älter als ich und er lässt mich leben. Ach! Was für eine große Schlechtigkeit hast du mir gesagt! Wiederhole sie mir nicht noch einmal. Nun, ich werde es niemanden sagen, ich werde es keinen Menschen aus meinem Munde vernehmen lassen.«

Dann nahm er seine Last, ging auf das Feld und kam zu seinem älteren Bruder, sie waren fleißig an der Arbeit. Als aber der Abend herankam, da kehrte der ältere Bruder nach seinem Hause zurück, und der jüngere Bruder ging hinter seinen Rindern her und war beladen mit allen Dingen, die er vom Felde brachte. Er trieb seine Rinder vor sich her, damit sie sich in ihrem Stalle, der bei ihrem Wohnort war, zur Ruhe legen könnten. Siehe da! Die Frau des älteren Bruders fürchtete sich wegen des Vorschlages, den sie gemacht hatte. Sie nahm Fett und einen Lappen und richtete sich zu wie eine Frau, die von einem Übeltäter geschlagen worden ist. Sie wollte ihrem Gatten sagen: »Dein jüngerer Bruder hat mich geschlagen.«

Ihr Gatte kehrte am Abend zurück, wie das seine tägliche Gewohnheit war. Als er nach Hause kam, da fand er seine Frau wie sie dalag und sich krank stellte. Sie goss kein Wasser auf seine Hand, wie er das sonst gewohnt war, sie hatte kein Feuer angemacht, sein Haus lag im Dunkeln, sie lag schmutzig da. Ihr Gatte sagte ihr: »Wer sprach mit dir?« Da sagte sie: »Niemand sprach mit mir außer deinem jüngeren Bruder. Als er kam, um für dich Saatkorn zu holen, da fand er mich allein sitzend. Er sagte zu mir: ›Wohlan! Wir wollen eine Stunde zusammen ruhen; ziehe deine Kleider aus!‹ So sprach er zu mir. Ich hörte nicht auf ihn und sagte: Bin ich nicht deine Mutter, denn dein älterer Bruder steht zu dir im Verhältnisse eines Vaters. So sprach ich zu ihm. Er erschrak, er schlug mich, damit ich es dir nicht anzeige. Wenn du ihn leben lässt, so werde ich sterben. Siehe! Wenn er am Abend kommt und wenn ich diesen bösen Vorschlag verkünde, dann wird er sich weiß zu waschen suchen.«

Der ältere Bruder wurde wütend wie ein Panther des Südens, er schärfte sein Messer, er nahm es in die Hand. Der ältere Bruder stellte sich hinter die Türe seines Stalles, um seinen jüngeren Bruder zu töten, wenn er am Abend käme, um seine Rinder in den Stall hineinzulassen. Als nun die Sonne unterging, da belud sich der jüngere Bruder mit allerhand Kräutern der Felder, wie er das täglich zu tun gewohnt war, und dann ging er nach Hause. Als das erste Rind in den Stall trat, da sagte es zu seinem Hüter: »Passe auf! Dein älterer Bruder steht vor dir mit seinem Messer, um dich zu töten. Laufe vor ihm fort.« Er hörte die Worte seines ersten Rindes. Als das zweite Rind hineintrat, da sagte es dasselbe.

Da blickte er unter die Türe seines Stalles, er sah die Beine seines älteren Bruders, der stand hinter der Tür, und sein Messer war in seiner Hand. Er legte seine Last auf den Boden, er gab sich an das Laufen mit seinen Beinen. Sein älterer Bruder eilte hinter ihm her mit seinem Messer. Da beschwor der jüngere Bruder den Sonnengott Râ-Harmachis und sagte: »Oh du mein gnädiger Herr! Du bist es, der die Lüge der Wahrheit gegenüber klar legt.« Da hörte der Gott Râ alle seine Bitten. Der Gott Râ ließ ein großes Gewässer zwischen ihm und seinem älteren Bruder entstehen, und das war voll von Krokodilen. Der eine von ihnen stand auf der einen, der andere auf der andern Seite. Der ältere Bruder schlug zweimal mit seiner Hand, ohne den andern töten zu können. Das tat er. Der jüngere Bruder rief von seiner Seite her und sagte: »Bleibe stehen, bis die Erde hell wird. Wenn die Sonne aufgeht, dann werde ich mich vor ihr mit dir auseinandersetzen, um der Wahrheit den Sieg zu geben, denn ich werde bis in alle Ewigkeit nicht mehr mit dir zusammen sein, ich werde nicht mehr an dem Orte sein, an dem du bist. Ich werde in das Tal der Zedern gehen.«

Als nun die Erde hell wurde und der nächste Tag anbrach, da ging der Gott Râ-Harmachis auf und einer von ihnen sah den andern. Da sagte der Jüngling zu seinem älteren Bruder und sprach: »Was soll das bedeuten, dass du hinter mir her gehst, um mich hinterlistig zu töten? Du hast nicht gehört, was mein Mund zu sagen hatte und ich bin doch in der Tat dein jüngerer Bruder, denn du stehst zu mir in dem Verhältnisse eines Vaters und dein Weib steht zu mir in dem Verhältnis einer Mutter. Nicht wahr? Nun, als du mich schicktest, um uns Saatkorn zu bringen, da sagte dein Weib zu mir: Wohlan, wir wollen eine Stunde zusammen ruhen. Aber siehe! Diese Tatsache wurde dir in etwas anderes verdreht.« Er ließ seinen Bruder alles wissen, was sich zwischen ihm und dessen Weibe zugetragen hatte. Er schwor bei Râ-Harmachis und sagte: »Was sollte deine Absicht, mich hinterlistig zu töten, bedeuten? Da standst du mit deinem Messer an der Türe wegen jener elenden Person.«

Er nahm ein scharfes Messer, er schnitt sich sein männliches Glied ab, er warf es in das Wasser, der Zitterwels fraß es, er wurde ohnmächtig, es wurde ihm schlecht. Der ältere Bruder verfluchte sich selbst gar sehr, er stand laut weinend da, er konnte wegen der Krokodile nicht dahin gelangen, wo sein jüngerer Bruder war. Sein jüngerer Bruder rief zu ihm herüber und sagte: »Siehe! Du dachtest an etwas Schlechtes, du dachtest an nichts Gutes, auch nicht an etwas von dem, was ich für dich getan hatte. Ach! Gehe jetzt nach Hause und sieh nach deinen Rindern, denn ich werde nicht mehr an einem Orte weilen, an dem du bist. Ich werde in das Zederntal gehen. Aber das, was du für mich tun sollst, ist Folgendes: Du sollst kommen, um für mich zu sorgen, wenn du erfährst, dass mir etwas geschehen ist. Ich werde nämlich mein Herz beschwören, ich werde es auf die Spitze einer Zederblüte legen. Wenn nun die Zeder abgeschnitten wird und das Herz auf die Erde fällt, dann sollst du kommen, um es zu suchen. Und wenn du auch sieben Jahre damit verbringst, es zu suchen, so soll sich dein Herz nicht ekeln. Wenn du mein Herz gefunden hast und es in einen Krug mit frischem Wasser legst, so werde ich wiederum aufleben und werde dir Antwort geben auf das, was du gegen mich vorgebracht hast. Nun! Du wirst dann wissen, dass mir etwas zugestoßen ist, wenn man dir einen Krug Bier in die Hand gibt und das Bier überschäumt. Dann bleibe nicht stehen, wenn dir das zustößt.«

Dann ging der jüngere Bruder zu dem Zederntal und der ältere Bruder ging nach seinem Hause. Er legte als Zeichen seiner Trauer seine Hand auf sein Haupt und hatte sich mit Staub beschmiert. Als er nach Hause gekommen war, tötete er sein Weib und warf es den Hunden vor. Dann saß er da in Trauer um seinen jüngeren Bruder.

Nun, nachdem viele Tage nach diesen Ereignissen vergangen waren, da war der jüngere Bruder in dem Zederntal, es war kein Mensch bei ihm. Er vertrieb sich bei Tage die Zeit damit, dass er die Tiere des Gebirges erjagte, am Abend ging er schlafen unter der Zeder, auf deren Blütenspitze sein Herz lag. Nun, nachdem viele Tage nach diesen Ereignissen vergangen waren, da erbaute er sich mit eigener Hand in dem Zederntal einen Turm, der war angefüllt mit allerhand schönen, wünschenswerten Dingen. Als er das Haus besaß, da ging er einmal aus dem Turme heraus, und da begegnete er dem Kreise der neun Götter, die umhergingen, um die Angelegenheiten ihrer ganzen Erde zu ordnen. Da sprachen die neun Götter untereinander und sprachen zu ihm: »Oh Bata-u, du Stier der neun Götter! Da weilst du nun allein. Du hast deinen Wohnort verlassen wegen dem Weibe deines älteren Bruders Anepu. Siehe! Er hat sein Weib getötet, denn du hast ihm alles Schlechte, was er gegen dich beging, klar gemacht.«

Ihr Herz war von Mitleid für ihn ganz erfüllt und Râ-Harmachis sprach zu dem Schöpfergott Chnum: »Erbaue für Batau ein Weib, damit er nicht allein dasitze.«

© Jeff Dahl

Da schuf ihm Chnum eine Gefährtin, und da saß diese da, ihre Glieder waren schöner als die irgendeines Weibes im ganzen Lande, es war jeder Gott in ihr. Da kamen die sieben Schicksal verkündenden Hathoren, um sie sich anzusehen und sagten einstimmig: »Sie wird eines gewaltsamen Todes sterben.« Bata-u liebte sie gar sehr. Sie saß in seinem Hause, wenn er den Tag damit verbrachte, das Wild des Gebirges zu erjagen, um es vor sie als Beute niederlegen zu können. Er sagte ihr: »Gehe nicht heraus, damit dich der Fluss nicht ergreife, denn ich kann dich nicht aus seiner Macht erretten, denn ich bin ein Weib gerade so wie du. Mein Herz, das liegt auf der Spitze der Zedernblüte. Wenn das ein anderer findet, so werde ich mit ihm kämpfen«. Und er erklärte ihr alles, was es mit seinem Herzen auf sich habe.

Als nun viele Tage nach diesen Ereignissen vergangen waren, da war Bata-u, seiner täglichen Gewohnheit folgend, ausgegangen, um zu jagen, und das Mädchen war aus dem Hause gekommen, um unter der Zeder, die neben ihrem Hause stand, spazieren zu gehen. Siehe! Da erblickte sie der Fluss und schleuderte Wasser nach ihr, sie lief vor ihm fort, sie ging in ihr Haus. Der Fluss aber wandte sich bittend an die Zeder und sagte: »Ach, ich möchte von ihr und ihrem Wohlgeruch erfüllt sein.« Die Zeder brachte dem Flusse eine Locke ihres Haares; die trug der Fluss nach Ägypten und legte sie an der Stelle nieder, an der die Wäscher des Pharao, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, wuschen. Da gelangte der Geruch der Locke in die Kleider des Pharao, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, und man schalt die Wäscher des Pharao, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, und sagte: »Es ist der Geruch von Salben in den Kleidern des Pharao, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge.« Täglich schalt man sie deswegen, und sie wussten nicht, was sie tun sollten. Da ging der Oberwäscher des Pharao, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, an das Ufer, sein Herz war sehr traurig wegen des Ärgers, den man ihm täglich bereitete. Er blieb stehen, und da stand er am Ufer gerade der Locke, die im Wasser lag, gegenüber. Er schickte dahin, man brachte sie ihm, man fand, dass ihr Geruch sehr schön war, er trug sie zu dem Pharao, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge.

Man holte die Schreiber und Gelehrten des Pharao, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, herbei. Sie sagten zu dem Pharao, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge: »Das ist die Locke einer Tochter des Gottes Râ-Harmachis, es ist der Stoff jeden Gottes in ihr, sie ist ein Gruß für dich aus einem anderen Lande. Lasse Boten in alle Länder gehen, um sie zu suchen. Der Bote aber, der zu dem Zederntale geht, mit dem sollen viele Leute gehen, um sie hierher zu bringen.« Da sagte Seine Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge: »Schön, sehr schön ist eure Rede«. Dann ließ man die Boten forteilen.

Nachdem viele Tage nach diesen Ereignissen vergangen waren, da kamen die Leute, die in die Fremde gegangen waren, zurück um Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, Bescheid zu bringen. Die Leute aber, die nach dem Zederntale gegangen waren, die kamen nicht, Bata-u hatte sie getötet und hatte nur einen von ihnen übrig gelassen, um Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, Bescheid zu bringen. Da ließ Seine Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, viele Leute, Fußsoldaten und Reiterei ausziehen, um die Frau zu ihm zu bringen. Und es war auch ein weibliches Wesen mit ihnen, die gab der Frau allerhand schöne Schmucksachen, wie sie die Frauen tragen, in ihre Hand. Da ging die Frau mit ihr nach Ägypten. Man jubelte ihr im ganzen Lande zu. Seine Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, liebte sie sehr und erhob sie zu seiner großen Favoritin. Man sprach mit ihr, um sie zu veranlassen, zu sagen, wie es sich mit ihrem Gatten verhielte, und da sagte sie Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge: »Man soll die Zeder abschneiden, um ihn zu vernichten.« Da ließ man Leute und Soldaten mit ihren Geräten ausziehen, um die Zeder abzuschneiden, sie kamen zu der Zeder, sie schnitten die Blüte ab, auf der das Herz des Bata-u sich befand, da fiel er in dieser Unglücksstunde tot hin.

Als nun die Erde hell wurde und der nächste Morgen nach dem Abschneiden der Zeder anbrach, da kam Anepu, der ältere Bruder des Bata-u, in sein Haus. Er setzte sich, er wusch seine Hände, man reichte ihm einen Krug mit Bier. Da schäumte dieses auf. Man gab ihm einen anderen Krug mit Wein, da wurde dieser trübe. Da ergriff er seinen Stock und seine Sandalen und seine Kleider und sein Werkzeug, er machte sich auf den Weg zum Zederntale, er trat in den Turm seines jüngeren Bruders, er fand seinen jüngeren Bruder auf seinem Ruhebett tot daliegen. Da weinte er bitterlich.

Dann ging er hin, um das Herz des jüngeren Bruders unter der Zeder zu suchen, unter der sein jüngerer Bruder abends zu schlafen pflegte. Er suchte drei Jahre lang und fand es nicht. Als das vierte Jahr begann, da wünschte sein Herz nach Ägypten zurückzukehren, und so sagte er: »Ich werde morgen fortgehen.« So sprach er in seinem Herzen. Als nun die Erde hell wurde und der nächste Tag anbrach, da ging er unter die Zeder und verbrachte den Tag mit Suchen. Am Abend kehrte er zurück, er blickte nochmals suchend umher, da fand er ein Korn, er brachte es mit, da war es das Herz seines jüngeren Bruders. Er trug einen Topf mit frischem Wasser herbei, er warf das Herz hinein und dann saß er da, wie er das alle Tage zu tun pflegte.

Als es nun Nacht wurde, da hatte das Herz das Wasser aufgesogen, da zitterte Bata-u mit allen seinen Gliedern, er sah seinen älteren Bruder an, während sein Herz kraftlos in dem Kruge war. Sein älterer Bruder Anepu ergriff den Krug mit frischem Wasser, in dem das Herz seines jüngeren Bruders war, er ließ ihn das Herz trinken, das Herz kam an seinen richtigen Platz und da war der jüngere Bruder wieder gerade so, wie er einst gewesen war. Die beiden umarmten sich, und beide sprachen miteinander. Dann sagte Bata-u zu seinem älteren Bruder: »Siehe! Ich werde ein großer Stier werden, der alle schönen Zeichen des heiligen Apisstieres an seinen Haaren haben wird, man wird seine Art nicht kennen.

Du setze dich auf meinen Rücken, und wenn die Sonne aufgeht, dann werden wir da sein, wo sich mein Weib befindet, die werde ich zur Rechenschaft fordern. Du sollst mich dahin bringen, wo der König sich befindet, denn er wird dir dann allerhand schöne Dinge geben und dich mit Silber und mit Gold beladen, weil du mich dem Pharao, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, brachtest, denn ich werde als ein großes Wunder gelten. Wenn man mir zujauchzt in dem ganzen Lande, dann gehe du wieder an deinen Wohnort.«

Als nun die Erde wieder hell wurde und der nächste Tag anbrach, da nahm Bata-u die Gestalt an, die er seinem älteren Bruder angegeben hatte. Anepu, sein älterer Bruder, setzte sich bei Tagesanbruch auf seinen Rücken und gelangte an den Platz, an dem der König sich befand. Man teilte dies Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, mit. Der König besichtigte den Stier und war sehr erfreut, er ließ ihm ein großes Fest feiern, indem er sagte: »Das, was da geschieht, ist ein großes Wunder.« Man jubelte dem Stier zu in dem ganzen Lande, man belud seinen älteren Bruder mit Silber und mit Gold, und dann ließ er sich wieder in seinem Wohnort nieder. Man gab ihm viele Diener und reichen Besitz, und der Pharao, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, liebte ihn weit mehr als sonst irgendeinen anderen Menschen im ganzen Lande.

Als nun viele Tage nach diesen Ereignissen vergangen waren, da ging der Stier in den Harem, er blieb da stehen, wo sich die Favoritin befand, und fing an, zu ihr zu sprechen und sagte: »Siehe! Das bin ich, ich lebe tatsächlich.« Sie sagte ihm: »Wer bist du?« Er sagte zu ihr: »Ich bin Bata-u. Du wusstest es wohl, als du die Zeder, unter der mein Haus stand, durch den Pharao, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, abschneiden ließest, dass das geschah, damit ich nicht mehr leben sollte. Siehe! Ich bin aber da, ich lebe in der Tat, ich bin in dem Stier.« Da erschrak die Favoritin sehr bei dieser Kunde, die ihr ihr Gemahl sagte. Er ging aus dem Harem heraus. Seine Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, saß aber da und machte sich mit der Favoritin einen vergnügten Tag. Sie war am Tische Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, und der König war sehr freundlich zu ihr. Da sagte sie zu Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge: »Schwöre mir einen Eid, der also lautet: ›Das, was du sagen wirst, das werde ich für dich erhören.‹« Er erhörte alle ihre Worte. »Ich möchte von der Lunge des Stieres essen, denn er wird nie etwas Brauchbares tun.« Das sagte sie zu ihm. Da fluchte der König wegen ihrer Rede; das Herz Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, wurde sehr traurig.

Als aber die Erde hell wurde und der neue Tag anbrach, da bereitete man für den Stier ein großes Opferfest, und man ließ einen der höchsten Beamten Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, kommen, um den Stier zu schlachten. Als er geschlachtet war und auf den Schultern der Leute, die ihn fort trugen, lag, da schüttelte er seinen Nacken und spritzte zwei Tropfen Blut auf den Vorplatz Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge; der eine Tropfen kam auf die eine Seite der großen Türe Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge; der andere Tropfen kam auf die andere Seite. Die Blutstropfen erwuchsen zu zwei großen Persea-Bäumen, von denen einer immer noch größer war wie der andere. Man kam, um Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, zu sagen: »Es erwuchsen zwei große Persea-Bäume als ein großes Wunder für Seine Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge.« Man jubelte den Bäumen in dem ganzen Lande zu und der König brachte ihnen Opfer dar.

Als nun viele Tage nach diesen Ereignissen vergangen waren, da legte Seine Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, ihr aus Lapislazuli bestehendes Diadem an, der Hals des Königs war bekränzt mit allerhand Blumen, er stieg auf seinen aus Silbergold bestehenden Wagen, er verließ den Palast, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, um die Persea-Bäume zu besichtigen. Die Favoritin fuhr hinter Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, auf einem Wagen heraus. Seine Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, setzte sich mit der Favoritin unter Bäume, da begann einer der Persea-Bäume zu seinem Weibe zu sprechen: »Oh, was ist das für eine Schlechtigkeit, die du begangen hast. Ich bin Bata-u, ich bin am Leben trotz allem Bösen, das du gegen mich ins Werk gesetzt hast. Du wusstest wohl, was das Abschneiden der Zeder, unter der mein Haus stand, zur Folge haben sollte. Ich ward ein Stier, da ließest du mich töten.«

Als nun viele Tage nach diesen Ereignissen vergangen waren, da befand sich die Favoritin an der Tafel des Pharao, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge. Er war freundlich gegen sie und da sprach sie zu Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge: »Schwöre mir einen Eid bei Gott und sage: Das, was die Favoritin mir sagen wird, das werde ich für sie erhören. Sprich doch!« Er erhörte alle ihre Worte. Da sagte sie: »Man möge die beiden Persea-Bäume abschneiden, um aus ihnen schöne Bretter zu machen.« Der König erhörte alle ihre Worte.

Als nun viele Tage nach diesen Ereignissen vergangen waren, da ließ Seine Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, geschickte Arbeiter kommen, die schnitten die Persea-Bäume für den Pharao, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, ab. Die Königliche Gemahlin, die Favoritin, stand dabei, um zuzusehen. Da flog ein Splitter ab, er drang in den Mund der Favoritin ein, sie bemerkte, dass sie schwanger geworden war, als man die Bretter machte. Der König tat mit den Brettern alles, was die Favoritin wünschte.

Als nun viele Tage nach diesen Ereignissen vergangen waren, da gebar die Favoritin einen Knaben, der niemand anders als Bata selbst war. Man ging hin und meldete Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge: »Es wurde dir ein Knabe geboren.« Man brachte ihm das Kind, er gab ihm Ammen und Pflegerinnen. Man freute sich im ganzen Lande, man setzte sich hin und feierte einen frohen Tag, man fing an, den Namen des Knaben bei öffentlichen Gelegenheiten zu verwenden. Seine Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, liebte ihn von Stund an sehr. Er ernannte ihn zum Statthalter von Äthiopien. Als viele Tage nach diesen Ereignissen vergangen waren, da machte ihn Seine Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, zum Erbfürsten des ganzen Landes.

Als nun viele Tage nach diesen Ereignissen vergangen waren und er viele Tage als Erbfürst des ganzen Landes verbracht hatte, da flog Seine Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, zum Himmel. Da sprach der Erbfürst, der jetzt König geworden war: »Man bringe mir meine Fürsten, die hohen Würdenträger Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, ich werde ihnen alle Dinge mitteilen, die mir begegnet sind.« Man brachte sein Weib herbei und er ging mit ihr ins Gericht vor den Fürsten. Man vollstreckte an dem Weibe ihren Urteilsspruch. Er ließ seinen älteren Bruder herbeiführen, er ernannte ihn zum Erbfürsten des ganzen Landes. Dann herrschte er zwanzig Jahre als König über Ägypten. Als er aus dem Leben ging, da trat am Tage des Begräbnisses sein älterer Bruder an seine Stelle.

So ist denn dieses Buch in Frieden vollendet für die zu Ehren der göttlichen Persönlichkeit des Schreibers des Schatzhauses Kagabu, der zum Schatzhause des Pharao, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge, gehört, und für den Schreiber Hora, und für den Schreiber Mer-em-apt. Es verfertigte es der Schreiber Annana, der Herr der Schriften. Demjenigen, der von diesem Buche spricht, dem möge der Gott Thoth im Kampfe beistehen.

Ägypten

*Eine Getreideart

Der verwunschene Prinz

Es war einmal ein König, dem wurde kein Sohn geboren. Sein Herz war traurig, und er betete zu den Göttern, die seine Zeit beherrschten, und diese befahlen, dass ihm ein Sohn geboren werde. Er näherte sich eines Nachts seiner Frau und diese wurde schwanger. Als sie nun die Monate bis zu der Entbindung vollendet hatte, da wurde ein Knabe geboren. Da kamen die Schicksal verkündenden Göttinnen, die Hathoren, um das Geschick des Kindes zu bestimmen und sprachen: »Es wird durch ein Krokodil oder durch eine Schlange oder durch einen Hund sterben.« Als dies die Leute, die bei dem Kinde waren, vernahmen, da gingen sie hin und sagten es Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteilwerden möge. Da ward das Herz Seiner Majestät sehr betrübt. Er ließ dem Knaben im Gebirge ein Haus aus Steinen erbauen, das war mit Leuten und allerhand schönen Dingen aus dem Haushalt des Königs ausgestattet. Der Knabe aber ging nicht aus dem Hause heraus.

Als nun der Knabe groß geworden war, da stieg er auf das flache Dach des Hauses und sah einen Windhund, der hinter einem Manne herlief, der auf dem Wege einherging. Da sagte er zu seinem Diener, der bei ihm war: »Ach! Was ist denn das, was hinter dem Mann da herläuft?« Der Diener sagte ihm: »Das ist ein Windhund.« Da sagte der Knabe: »Man soll mir ein derartiges Geschöpf bringen.« Der Diener ging, um dies Seiner Majestät zu melden. Seine Majestät aber sagte: »Man bringe ihm einen kleinen, laufenden Hund, damit sich sein Herz nicht betrübe.« Da brachte man ihm einen Windhund.

Als nun die Tage dahin gingen und der Jüngling und sein ganzer Körper älter geworden waren, schickte er zu seinem Vater und ließ ihm sagen: »Wohlan! Warum soll ich faul herum sitzen? Da mir nun einmal ein trauriges Geschick bevorsteht, so möge es mir erlaubt sein, meinen Wünschen gemäß zu handeln. Gott wird doch das tun, was ihm am Herzen liegt.« Man folgte seinem Wunsche, man gab ihm allerhand Waffen, man gab ihm seinen Windhund, der ihm folgen sollte, man ließ ihn zu Schiffe auf die östliche Seite des Niltales bringen und sagte ihm: »Wohlan! Gehe wie es dir beliebt!« Sein Windhund war bei ihm, und so zog er nach seinem Belieben durch das Land nach Norden hin und lebte von dem besten Wild des Landes. Dann gelangte er, da er die Absicht hatte zu fliegen, zu dem Fürsten des Landes Neharina in Syrien.

Siehe da! Dem Fürsten von Neharina war außer einem Mädchen kein Kind geboren worden. Für dieses hatte er ein Haus bauen lassen, dessen siebzig Fenster siebzig Ellen von dem Erdboden entfernt waren. Dann hatte er alle Kinder aller Fürsten des Landes Syrien herbeikommen lassen und hatte ihnen gesagt: »Derjenige, der das Fenster meiner Tochter erreicht, dem soll sie als Frau angehören.«

Als nun viele Tage verstrichen waren und diese Prinzen sich in üblicher Weise beschäftigten, kam auch der Jüngling an der Stelle vorbei, an der sie sich befanden. Sie führten den Jüngling zu ihrem Hause, sie wuschen ihn, sie gaben seinen Pferden Futter, sie taten alles Mögliche für den Jüngling, sie reinigten ihn, sie salbten ihm die Füße, sie gaben seinen Dienern Nahrung. Im Gespräch sagten sie zu ihm: »Woher kommst du, du schöner junger Mann?« Da sagte er zu ihnen: »Ich bin der Sohn eines Offiziers der Wagenkämpfer im Lande Ägypten. Meine Mutter starb, und da nahm mein Vater ein anderes Weib. Als nun Kinder kamen, fing sie an mich zu hassen. So ging ich fort und floh vor ihr.« Da umarmten ihn die Prinzen und bedeckten alle seine Glieder mit Küssen.

Als nun viele Tage verstrichen waren, sagte er zu den Prinzen: »Was macht ihr denn hier?« Sie sagten ihm: »Wir verbringen hier unsere Zeit mit Fliegen, und derjenige, der das Fenster der Tochter des Fürsten von Neharina erreichen wird, dem wird sie als Frau gegeben werden.« Da sagte er zu ihnen: »Wenn es euch recht ist, so werde ich die Götter für mich beschwören und mit euch fliegen gehen.« Nun gingen sie, wie sie das täglich zu tun pflegten, hin, um zu fliegen; der Jüngling aber stand, um zuzusehen, in der Ferne. Da wandte sich ihm das Gesicht der Tochter des Fürsten von Neharina zu. Als nun einige Tage verstrichen waren, kam der Jüngling mit den Kindern der Fürsten herbei, um zu fliegen. Er flog, er erreichte das Fenster der Tochter des Fürsten von Neharina, sie küsste ihn, sie umarmte alle seine Glieder.

Dann ging man hin, um das Herz ihres Vaters zu erfreuen, und sagte ihm: »Einer der Leute hat das Fenster deiner Tochter erreicht.« Der Fürst erkundigte sich und fragte: »Der Sohn welches Fürsten?« Man sagte ihm: »Der Sohn eines Offiziers der Wagenkämpfer, der auf der Flucht vor seiner Mutter aus Ägypten hierher kam, er kam wegen deren Kindern.« Da wurde der Fürst von Neharina sehr zornig und sagte: »Soll ich etwa meine Tochter einem Flüchtling aus Ägypten geben? Der mag nach Hause zurückkehren!« Man ging, um dem Jünglinge zu sagen: »Gehe gefälligst wieder dahin, woher du gekommen bist.« Aber das Mädchen umarmte den Jüngling, sie schwor bei Gott und sagte: »Beim Leben des Gottes Râ-Harmachis! Wenn man ihn mir fortnimmt, dann werde ich nicht mehr essen, dann werde ich nicht mehr trinken, dann werde ich noch in derselben Stunde sterben.«

Der Bote ging fort, um alles, was sie gesagt hatte, ihrem Vater mitzuteilen. Da schickte der Fürst Leute aus, um den Jüngling zu töten, während er in seinem Hause war. Aber das Mädchen sagte zu ihnen: »Beim Leben des Gottes Râ! Wenn man ihn tötet, so werde auch ich beim Sonnenuntergang tot sein, ich werde keine Stunde ohne ihn leben!« Man ging hin und meldete das ihrem Vater. Der Fürst ließ den Jüngling und das Mädchen zu sich bringen. Als der Jüngling vor dem Fürsten stand, zitterte er vor Furcht. Aber der Fürst umarmte ihn, küsste alle seine Glieder und sagte: »Sage mir, wer du bist, denn siehe, für mich bist du mein Sohn geworden!« Der Jüngling sagte ihm: »Ich bin der Sohn eines Offiziers der Wagenkämpfer im Lande Ägypten. Meine Mutter starb, und da nahm sich mein Vater ein anderes Weib. Dieses begann mich zu hassen, und da ging ich fort und floh vor ihr.« Da gab ihm der Fürst seine Tochter zur Frau, er gab ihm ein Haus, Arbeiter, Felder und auch Vieh und allerhand schöne Dinge.

Als nun manche Tage verstrichen waren, da sagte der Jüngling zu seiner Frau: »Drei Schicksale sind über mich verhängt worden: Das Krokodil, die Schlange, der Hund.« Und sie entgegnete: »Man soll den Windhund töten, der hinter dir herläuft.« Er aber sagte zu ihr: »Oh nein! Ich werde meinen Hund nicht töten, den ich aufgezogen habe, als er noch klein war.« Die Frau bewachte nunmehr eifrigst ihren Gatten und ließ ihn nicht allein aus dem Hause gehen. Der Jüngling aber wünschte eine Reise zu unternehmen, um das Land Ägypten zu besuchen und es zu durchstreifen. Als er in Ägypten angelangt war, kam aber sogleich das Krokodil aus dem Nil heraus und gelangte bis in die Mitte der Ortschaft, in der sich der Jüngling befand. Man fing es und sperrte es in ein Haus ein, in dem sich ein Riese befand, und der Riese ließ das Krokodil nicht herausgehen. Wenn aber das Krokodil schlief, dann verließ der Riese das Haus und ging spazieren, und wenn die Sonne aufging, kam der Riese zurück, und das tat er während zwei Monaten an jedem Tag.

Als nun manche Tage vergangen waren, blieb der Jüngling zu Hause, um sich einen vergnügten Tag zu machen. Als die Nacht herankam, legte er sich zum Schlaf auf sein Ruhebett und schlief ein. Die Frau aber füllte eine Schale mit Milch, in die sie eine berauschende Flüssigkeit gegossen hatte. Plötzlich kam eine Schlange aus ihrem Loche heraus, um den Jüngling zu beißen. Aber seine Frau saß neben ihm und schlief nicht. Sogleich kamen die Dienerinnen herbei, die sie um Hilfe rief, als sie die Schlange erblickte, und gaben der Schlange die Milch. Die Schlange trank und ward berauscht und blieb auf dem Rücken liegen und die Frau schlug sie mit ihrer Axt in Stücke. Dann weckte sie ihren Gatten und er wunderte sich. Sie aber sagte ihm: »Siehe! Dein Gott hat dir eines der dir verhängten Geschicke in deine Hand gegeben, er wird dir auch die anderen geben.« Dankbar opferte er dem Gott und pries ihn und erkannte jeden Tag die Macht des Gottes hoch an.

Als nun viele Tage nach diesen Ereignissen verstrichen waren, da verließ der Jüngling seine Wohnung, um in der Nähe seiner Behausung spazieren zu gehen. Er ging nicht allein heraus, sein Hund lief hinter ihm her. Auf einmal lief sein Hund fort um zu jagen, und der Jüngling lief hinter dem Hunde her. Als er an den Nil kam, stieg er hinter seinem Hund das Ufer zum Nil herab. Da kam das Krokodil heraus und schleppte ihn an den Ort, an dem der Riese war. Flugs eilte der Riese heraus und rettete den Jüngling. Aber das Krokodil sagte zu dem Jüngling: »Ich bin dein Schicksal, das dir nachfolgt. Du wirst mir schon noch einmal in den Weg kommen, du und der Riese. Denn siehe! Ich lasse dich jetzt entrinnen, aber gerettet bist du darum noch nicht, erinnere dich dessen wohl, ich werde wiederkommen, Entsetzen verbreiten und den Riesen töten. Und wenn du den Riesen tot siehst, dann wirst auch du deinen Tod sehen.«

Als nun die Erde wieder hell wurde und der nächste Tag anbrach, da kam …

Mit diesen Worten bricht der erhaltene Teil des Textes ab. Zwei der ihn bedrohenden Schicksale hatten den Jüngling verschont, die Schlange hatte ihn nicht getötet, das Krokodil, das ihn schon ergriffen hatte, hatte ihn wieder freilassen müssen. Aber das, was die Götter verhängt haben, das muss nach ägyptischer und allgemein orientalischer Anschauung geschehen. Der Jüngling wird dem dritten Geschick, also dem Hund, zum Opfer gefallen sein.

Ägypten

Der Schatz des Rhampsinit

Ein König aus Ägypten namens Rhampsinit – erzählt man sich – hatte so großen Reichtum an Gold und Geld, dass kein König ihn darin übertreffen, ja ihm nicht einmal gleichkommen konnte. Aus Angst vor Dieben und anderem lichtscheuen Gesindel ließ er sich deshalb eine steinerne Kammer bauen, die mit einer Mauer an der Außenseite seines Palastes lag, mit dieser also eine Wand bildete. Der Baumeister der Schatzkammer aber war listig: Einen Stein der Mauer fügte er so ein, dass er von zwei Männern, ja sogar von einem einzigen mit Leichtigkeit herausgenommen werden konnte. Als der Baumeister das Werk abgeschlossen hatte, nahm der König all seine kostbaren Schätze und verwahrte sie in dieser Kammer.

Kurze Zeit später fühlte der Baumeister, dass es mit ihm zu Ende ging und sein Leben sich neigte. Da rief er seine beiden Söhne zu sich und erzählte ihnen, wie gut er für sie vorgesorgt habe und dass es ihnen dank seiner Fürsorge später an nichts fehlen werde. Er erklärte ihnen genau, wie sie den einen Stein aus der Mauer lösen könnten, gab ihnen auch die Stelle an, an der dieser in der Mauer versteckt eingesetzt war. »Wenn ihr dieses Geheimnis gut für euch bewahrt«, sagte er auf dem Sterbebett, »dann werdet ihr bald die Schatzmeister des Königs sein.« Darauf schloss er die Augen für immer.

Die beiden Söhne gingen unverzüglich ans Werk. Bei dunkler Nacht schlichen sie sich an den Palast heran und fanden mühelos den losen Stein in der Mauer. Leicht ließ sich der Stein herausnehmen, und beide ließen viel des kostbaren Goldes mit sich gehen. Als nun aber der König einmal seine Schatzkammer öffnen ließ, da bemerkte er sofort voller Staunen, dass in den ehemals so prall gefüllten Truhen Gold fehlte. Doch konnte er sich nicht vorstellen, wie die Schätze abhanden gekommen waren, sah er doch, dass die Schatzkammer verschlossen war und die Siegel zum Eingang noch unversehrt waren. So erging es dem König jedes Mal, wenn er die Schatzkammer betrat, um sich am Anblick des glitzernden Goldes zu weiden: seine Schätze schwanden immer mehr dahin. Da ließ er Fußschlingen anfertigen und verteilte sie rings um die Truhen, in denen die verbliebenen Schätze ruhten. Nun kamen die beiden Diebe wie gewohnt zum Schatzhaus, um sich dort am Gold gütlich zu tun. Kaum aber war einer von ihnen durch die enge Maueröffnung in die Kammer gestiegen und auf die Truhen zugeschlichen, verfing er sich in der Schlinge, die ihn nicht mehr losgab.

Jetzt war guter Rat teuer. Als er erkannte, dass seine Lage aussichtslos war und er nicht befreit werden konnte, rief er seinem Bruder zu, ihm eiligst den Kopf abzuschlagen, damit man ihn nicht erkenne, wenn die Wächter des Königs die Kammer öffneten. »Wenn man mich erkennt«, sagte er, »so wirst vor allem du verdächtigt und in die Sache hineingezogen. Mich wird ohnehin dieser heutige nächtliche Zug den Kopf kosten.« Trotz aller Liebe zu seinem Bruder leuchtete diese Rede dem noch freien Dieb als vernünftig ein. Er erfüllte seinem Bruder diesen letzten Wunsch, setzte den losen Stein wieder ins Mauerwerk ein und verschwand ungesehen, den Kopf seines Bruders unter dem Mantel, nach Hause.

Als der Tag nun dämmerte, ließ der König die Schatzkammer, neugierig auf den Erfolg seiner Falle, öffnen. Voll Entsetzen sah er da den Leichnam eines Diebes ohne Kopf in den Fallschlingen hängen; doch waren die Riegel zur Schatzkammer wie vordem unbeschädigt, noch konnte man gewahr werden, wo oder wie der Dieb hineingeschlüpft sein könnte. Nun konnte der König sich die Sache vollends nicht mehr erklären. Da er aber annahm, dass es sich um ein menschliches Wesen handeln müsse, nicht um einen Geist oder ein Gespenst, gab er seinen Dienern folgenden Befehl: »Hängt den kopflosen Leichnam draußen an der Mauer öffentlich auf, stellt euch als Wächter daneben, und wenn jemand vorbeikommt und weint, so nehmt ihn fest und führt ihn mir vor!« Der König war nämlich der Meinung, dass keine Menschenseele so verrucht sein könne, dass sie nicht beim Anblick eines verstümmelten und aufgehängten Angehörigen ein Zeichen des Schmerzes von sich gibt. Damit wollte er die Diebe überlisten. Und er sollte recht behalten!

Kaum war die Leiche des einen Bruders so erbärmlich an der Mauer aufgehängt, wurde dessen Mutter von tiefem Schmerz bewegt. Da sie es nicht ansehen konnte, dass ihr eigen Fleisch und Blut derart gedemütigt wie ein Vieh aufgehängt blieb, rief sie ihren noch verbliebenen Sohn zu sich. »Bringe mir irgendwie meinen toten Sohn zurück, koste es, was es wolle«, bat sie ihn flehentlich und setzte drohend hinzu: »Wenn du es nicht zuwege bringst, die Leiche deines unglückseligen Bruders abzunehmen und seiner alten Mutter als letzte Gabe zu überbringen, werde ich selbst zum König gehen und ihm verraten, dass du die gestohlenen Schätze besitzt.«