Die Schuld der anderen - Gila Lustiger - E-Book

Die Schuld der anderen E-Book

Gila Lustiger

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Beschreibung

Schwüler Hochsommer beherrscht ganz Frankreich und lässt das Pariser Leben unter einer Hitzeglocke fast erstarren, als dem Redakteur Marc Rappaport ein besonderer Fahndungserfolg auffällt: Ein 27 Jahre zurückliegender Prostituiertenmord soll mit Hilfe modernster Technik endlich gelöst sein. Schnell steht für den investigativen Journalisten fest, dass es so einfach nicht sein kann. Er rollt den Fall neu auf. Seine Recherchen führen ihn bis tief in die französische Provinz und zu einem global agierenden Konzern, dessen Arbeiter seit dreißig Jahren an einer grausamen Krankheit sterben. Ein Abgrund an Korruption und Vertuschung tut sich auf, der schließlich auch Marc hinabzuziehen droht, denn alte Seilschaften sind in Funktion und wirken nicht nur in höchste politische Kreise, sondern auch bis in seine nächste Nähe. – Gila Lustiger gelingt mit »Die Schuld der anderen« ein atmosphärisch dichter und klug gebauter Roman über französische Verhältnisse als Spiegel unserer Gegenwart.

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»Kam endlich eine Zeit, wo alles, was die Menschen bisher als unveräußerlich betrachtet hatten, Gegenstand des Austausches, des Schachers, veräußert wurde. Es ist dies die Zeit, wo selbst Dinge, die bis dahin mitgeteilt wurden, aber nie ausgetauscht, gegeben, aber nie verkauft, erworben, aber nie gekauft: Tugend, Liebe, Überzeugung, Wissen, Gewissen etc., wo mit einem Wort alles Sache des Handels wurde.«

Karl Marx

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

I

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

II

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

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17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

35.

36.

37.

38.

39.

40.

41.

43.

43.

III

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

I

1.

Es hatte ununterbrochen geregnet, doch schon in den frühen Morgenstunden war sämtliche Feuchtigkeit wieder verdunstet. Paris, für Sonne geradezu erschaffen, strahlte unter einem makellos blauen Himmel. Das Licht tanzte auf dem Fluss, während ein Boot voller träger, selbstvergessener Touristen vorbeizog und unter einer Brücke hindurchglitt. Die Ufermauern waren wie weiß gewaschen. Überhaupt schien dieses Vormittagslicht alle Farben zu schlucken. Nur noch hell, dunkel, Weiß, Ocker, Blau. Und dort, bei den akkurat gepflanzten Bäumen neben der Mauer des Seineufers, ein paar Flecken Grün.

Marc ließ den Blick zum Quai weiterschweifen. Autos, Lieferwagen, Busse, Motorradfahrer: Ungeduld, wie immer. Noch war der Verkehr fast flüssig und dennoch war das Geräusch, das die Reifen auf dem Pflaster der Uferstraße machten, so ohrenbetäubend, dass Pierre, der neben ihm schritt, sein Telefongespräch mit Simone mehrmals unterbrechen musste, um auf das Rot für die Autofahrer zu warten. Er hörte, wie Pierre seine Sekretärin damit beauftragte, einen jungen Journalisten namens Stan zum Palais Bourbon, dem Sitz der Assemblée nationale, zu schicken, weil dort Landwirte demonstrierten. Natürlich hätte Pierre den zuständigen Redakteur auch direkt anrufen können, aber alles lief beharrlich über Simone, die, obwohl erst Ende zwanzig, eine Art Mutterrolle für ihn übernommen hatte.

Ein roter Touristenbus füllte aus ihrer Perspektive die ganze Spannweite der Arkade des Louvre aus und rollte, als die Ampel auf Grün umsprang, gemächlich an ihnen vorbei. Ein paar helle Gesichter mit überdimensionierten Sonnenbrillen wandten sich ihnen vom offenen Oberdeck aus zu, musterten sie, als seien sie beide eine weitere Attraktion dieser an Attraktionen so grenzenlosen Stadt. Ein Kind winkte, und er winkte zurück, während Pierre seiner Sekretärin auseinandersetzte, warum er den Landwirten, die nun schon zum vierten Mal in diesem Jahr demonstrierten und gerade Obst und Kuhmist vor dem Parlament auszuschütten gedachten, höchstens zehn Zeilen zukommen lassen wollte.

»In den Acht-Uhr-Nachrichten kriegen die so kurz vor den Sommerferien höchstens dreißig Sekunden«, sagte Pierre, und er, Marc, wusste, dass er sich nicht vor Simone, sondern wegen seines schlechten Gewissens zu rechtfertigen versuchte und dass die geduldige, die freundliche Simone, schon das Nötige erwidern würde, damit Pierre, sein Chefredakteur, wohlgelaunt den Nachmittag in Angriff nehmen konnte. Der Bus rumpelte über die Brücke und bog rechts ab zum Musée d’Orsay. Ein Inder oder Pakistani, der im Schatten der Arkaden sein Geschäft aufgebaut hatte, bestehend aus einem mit Eiswürfeln und Getränken gefüllten Kübel, streckte ihm eine Wasserflasche zu horrenden fünf Euro entgegen. Marc kannte ihn. Er war ihm schon mehrmals begegnet. Im Herbst verkaufte er vor dem Louvre Regenschirme Made in China, und abends streifte er durch die umliegenden Terrassen und versuchte, verliebt dreinblickenden Paaren Rosen aus Holland anzudrehen. Marc winkte ab, und der Mann mit den großen Zähnen und dem pechschwarzen Haar legte seine Wasserflasche wieder in den Kübel und hielt nach Touristen Ausschau.

Es war kurz vor halb eins. Ein jeder eilte seinem Ziel zu, nur er, Marc Rappaport, schlenderte über eine Brücke und nahm sich Zeit zu schauen. Es war kurz vor halb eins, und ihm gehörten die Brücke, die Bäume, das Ufer und dieses Trottoir, auf dem die Sonne jeden Schatten verdrängte und wo alles im gleißenden Mittagslicht miteinander verschmolz.

Eigentlich hatten sie wie jeden Dienstag bei Lipp essen wollen, aber die CRS hatten in Erwartung der Kuhmist-Demo den gesamten Boulevard St. Germain abgesperrt. Marc hatte vierzehn Einsatzfahrzeuge gezählt. Aus den Augenwinkeln hatte er verfolgt, wie die Polizisten vom Viertel Besitz nahmen, aus den Bussen stiegen, sich mit Helm, Polycarbonat-Schildern und Schlagstöcken bewehrt aufbauten, so die Straße verriegelten und auf den Einsatzbefehl warteten, alle mit dieser unverkennbaren Spannung im Gesicht. Beide hassten sie die Männer in Dunkelblau und hatten kurzweg beschlossen, in einen anderen Stadtteil auszuweichen. Sie hassten die Art, wie sie sich aufstellten, sich Kommandos zuriefen, miteinander redeten, dieses ganze militärische, durchtrainierte Gehabe. Sie sahen sie, wie nur ehemalige Sympathisanten der autonomen Szene sie sehen konnten, die sich in ihrer Jugend selbst kleine Scharmützel mit der Staatsgewalt geliefert hatten und die nun den Umstand, dass man sie einfach so passieren ließ, ohne auch nur nach ihren Ausweisen zu fragen, als besonders schmerzliche Beleidigung empfanden. Älter werden, das ließ sich nicht vermeiden, aber nun waren sie, gerade einmal knapp über vierzig, an einem Punkt angelangt, an dem sie in ihren dunkelgrauen Designerklamotten mindestens so harmlos wirkten wie ihre Väter früher in ihren Anzügen.

»Schick auch jemanden hin, der ein paar Fotos macht, zur Sicherheit, falls das doch irgendwie ausartet«, sagte Pierre zu Simone und warf ihm einen kurzen Blick zu. »Wohin gehen wir eigentlich?«

»In die Rue Sainte-Anne«, sagte Marc.

Noch vor ein paar Jahren hätte das bedeutet, einen der zahllosen Massagesalons aufsuchen zu wollen, die dort reihenweise ihre Dienste angeboten hatten. Aber eine Stadt verändert sich, wie schon Baudelaire bemerkt hatte, schneller als ein Menschenherz. Die Schwulenclubs hatten geschlossen, und aus irgendeinem unerklärbaren Grund hatten vor allem japanische Restaurants das Quartier übernommen.

2.

Die Prostituierte hieß Emilie Thevenin, das zu erfahren hatte ihn eine gute halbe Stunde Telefonrecherche gekostet. Es war eine von diesen Informationen, die er nicht unbedingt zu verwenden gedachte. Denn wen interessierte der wirkliche Name einer Hure, die vor dreißig Jahren erdrosselt worden war? Und dennoch gehörten für ihn zu jeder seiner Geschichten auch Namen. Andere hätten sich damit begnügt, Emilie »das Opfer« zu nennen, aber die anderen waren auch nicht so gut wie er.

Sie war nicht älter als neunzehn geworden. Und obwohl er eigentlich nur von ihr wusste, dass sie mit achtzehn aus einer Kleinstadt nach Paris gekommen war, um Geschichte an der Sorbonne zu studieren, hätte er nun bis ins Detail genau beschreiben können, wie das alles abgelaufen war. Wie sie sich neben dem Studium als Verkäuferin oder Kellnerin ihren Lebensunterhalt zu verdienen versucht. Wie sie an irgendeinem Wochenende in irgendeiner Disco irgendeine alte Freundin wiedertrifft. Wie sie sich beschwatzen lässt, es wenigstens ein Mal zu probieren. Sie solle doch keine große Sache daraus machen und das Thema einmal nüchtern angehen. Ob sie sich denn wirklich von Montag bis Samstag herumkommandieren lassen wolle? Das sei doch völlig unlogisch, sich für ein kümmerliches Gehalt derart abzuschinden. Was denn schon dabei sei, ein paar gutsituierten Geschäftsmännern zum Orgasmus zu verhelfen und mit ihnen, sozusagen als Escort-Bonus, außerdem noch guten Wein und gute Küche zu genießen? Ob sie sich etwa für den Einzigen aufsparen wolle? Na also. Wie sie sich am Ende selbst davon überzeugt, sogar stolz darauf zu sein. Nein, sie ist nicht eine von diesen unglücklich hineingeschlitterten Frauen, die zur Prostitution gezwungen werden. Sie nicht. Sie vögelt freiwillig, gegen eine finanzielle Zuwendung, die sich stattlich nennen kann. Denn sie ist jung, gebildet (zweites Semester Geschichte), Französin, hübsch. Und wer da etwas zu beanstanden hat, ist sowieso nur ein kleiner Spießer. Ein makelloser Frauenkörper, die unbestreitbare jugendliche Frische und Naivität, die ihr ein leicht verdientes Geld verschaffen, dazu die völlig selbstbestimmte Zeiteinteilung, ja, daran kann sie sich schnell gewöhnen. Und es hätte noch ein, zwei Jahre so weitergehen können, vielleicht sogar länger, hätte sie nicht an einem späten Nachmittag im Mai der Banklehrling Gilles Neuhart erdrosselt. Geschlagen, gefesselt, missbraucht, stranguliert.

Getötet.

3.

Sie hatten die Misosuppe ausgeschlürft und machten sich gerade an den mit einer schlappen Gurkenscheibe verzierten Krautsalat. Bis zum Sushi würde er Pierre, seinen Freund aus Jugendzeiten und heutigen Chefredakteur, überzeugt haben müssen, dass es sich lohnte, aus einer wenige Zeilen langen Meldung einen größeren Artikel zu machen. Die Meldung war unter einer furchtbar banalen Headline erschienen. Irgendwo auf Seite 4. Keine Autorenzeile.

Täter nach 27 Jahren gefasst

Nach Angaben der Kriminalpolizei ist es anhand einer DNA-Probe gelungen, einen 27 Jahre zurückliegenden Mordfall aufzuklären. 1984 war eine 19-jährige Prostituierte in einer sogenannten Modellwohnung auf dem Boulevard Edgar Quinet vergewaltigt und danach ermordet worden. Dank neuer kriminaltechnischer Untersuchungsmethoden führt die Spur nun zu einem 49-jährigen Bankangestellten. Der damals 21-Jährige soll die Prostituierte niedergeschlagen, vergewaltigt und mit einem Nylonstrumpf erdrosselt haben. »Nach umfangreichen DNA-Analysen gehen wir davon aus, dass es sich bei dem Beschuldigten um den Täter handelt«, bestätigte Kriminalkommissar Stefanaggi und fügte hinzu, dass die Polizei Hautschuppen auf dem Strumpf entdeckt habe, die dem mutmaßlichen Täter eindeutig zugeordnet werden können.

 

Natürlich wusste Marc, dass es zwecklos war, dennoch erzählte er Pierre, während dieser die geübten Handbewegungen des Kochs verfolgte und dabei zusah, wie auf einer Matte schwarz schimmernder Seetang ausgebreitet wurde, vom mutmaßlichen Mörder Gilles Neuhart.

Bis vor zwei Tagen hatte der Mann mit seiner Ehefrau und seiner neunzehnjährigen Tochter in einer Vierzimmerwohnung mit Balkon in Clamart ein stilles Leben geführt. Jeden Morgen war er mit dem Acht-Uhr-fünfunddreißig-Zug nach Paris gefahren, sieben Minuten später an der Gare Montparnasse ausgestiegen, nicht unweit übrigens von der Wohnung, in der er vor siebenundzwanzig Jahren die junge Emilie erdrosselt auf dem Bett zurückgelassen hatte. Hiernach hatte er die Metro Linie 4 nach Saint-Michel genommen, die ihn fast bis zu der Filiale der Bank brachte, in der er seit dreizehn Jahren ohne große Ambitionen seine Arbeit verrichtete. Fast täglich trank Neuhart, bevor er seinen Tag begann, an der Theke eines Cafés am Boulevard, einen Espresso und las dazu die Zeitung, kommentierte mit einem anderen Stammgast und dem Wirt das Weltgeschehen und schimpfte ein wenig auf die Regierung. Fast jeden Mittag aß er das Menü A beim Chinesen um die Ecke. Und trank fast jeden Abend, bevor er den Neunzehn-Uhr-eins- oder den Neunzehn-Uhr-sechzehn-Zug erwischte, ein Bier am Tresen eines der Bistros neben der Gare Montparnasse. Jeden Montag ging er mit einem Arbeitskollegen Tennis spielen. Jeden Dienstag mit seiner Tochter neben ihrer Uni zum Libanesen. Jeden Donnerstag mit seiner Frau nach der Arbeit ins Kino. Jeden ersten Freitag des Monats zum Friseur. So ging das nun dreizehn Jahre lang. Das gleiche Café, der gleiche Zug, die gleiche Zeitung, das gleiche Menü, der gleiche Friseur … Ein Leben erstarrt im Ritual. Und auch in der Bank hatte Neuhart seine kleinen Marotten gehabt. Die Zigarette um Punkt halb elf auf dem Bürgersteig zwischen Briefkasten und Blumenladen war eine davon gewesen. Überhaupt hatte Marc den Eindruck gewonnen, dass sich Neuharts Leben in viele kleine, sorgfältig geplante Augenblicke aufteilen ließ. Augenblicke, die man wiederum in Pflichten und schlichte Vergnügungen zergliedern konnte, die sich Neuhart mit der Akribie eines manischen Gewohnheitsmenschen gönnte.

Marc hatte ein wenig herumgeschnüffelt, viel telefoniert und herumgefragt, hatte Nachbarn und Arbeitskollegen abgeklappert. Er besaß einen guten Riecher für Geschichten, aus denen mehr herauszuholen war, und hier lag noch viel verborgen, er spürte so was. Er hatte sich den Schock zunutze gemacht – man erfuhr schließlich nicht alle Tage, dass man neben einem Mörder gelebt und gearbeitet hatte –, aber allseits war er auf das gleiche Unverständnis gestoßen. Neuhart galt als zuverlässiger Kollege. Als guter Nachbar. Führsorglicher Familienvater. Höflicher Kunde. Fairer Tennispartner. Einstimmig hätten sie alle schwören können, dass es sich in dem Fall um einen Justizirrtum handeln müsse. Nur dass eben eine DNA-Analyse nicht log.

Ein Langweiler. Ein Spießer. Ein freundlicher Familienmensch mit einem kleinen Geheimnis, einem kleinen Ausrutscher, einem kleinen Schnitzer in der Biographie: Mord. Ansonsten makellos.

Er hatte ein paar Schnappschüsse von Neuhart »organisiert«. Eine feinere Art zu sagen, dass er dessen digitalen Bilderrahmen vom Schreibtisch in der Bank entwendet hatte. Seit zwei Tagen schaute er nun schon in Gilles Neuharts Gesicht. Da stand er in seiner roten Badehose an einer Küste zwischen seiner Frau und seiner vier- oder fünfjährigen Tochter. Da saß er neben seiner Gattin einige Jahre später vor einem festlich gedeckten Tisch. Da streckte er den Arm aus und deutete stolz auf sein frisch erstandenes Auto. Da schmückte er einen Weihnachtsbaum. Und da hielt seine Tochter ein Meerschweinchen hoch, sang auf dem Klassenfest, lernte schwimmen mit seiner Hilfe. Und da schließlich das ganze Hochzeitsprogramm: Ankunft Bräutigam, Ankunft Braut, Ringübergabe, Hochzeitstorte.

Gilles Neuhart, ein Mann, der die letzten zwanzig Jahre das Objektiv so unschuldig angelächelt hatte, dass Marc es für seine professionelle Pflicht hielt, hinter das Geheimnis dieses Menschen zu kommen, der, hätte ihm einer noch vor drei Tagen ins Gesicht gesagt, sein Leben würde sich schon bald verändern, bestimmt nur ungläubig den Kopf geschüttelt hätte.

4.

»Aber wieso haben sie den Fall denn überhaupt wieder aufgenommen?«, fragte Pierre, nachdem Marc ihm erzählt hatte, was er wusste.

»Weil er noch ungelöst war.«

»Und er hat sie wirklich vor dreißig Jahren ermordet?«

»Vor siebenundzwanzig.«

Pierre runzelte skeptisch die Stirn.

»Und warum nehmen die einen Fall von vor siebenundzwanzig Jahren wieder auf?«

»Neuhart hat Spuren am Tatort hinterlassen, nur hatten sie damals noch nicht die technischen Mittel, um das auszuwerten.«

»Und er hat davor und danach nie gemordet?«

»Jedenfalls soweit bekannt ist, nicht.«

»Aber Moment mal, woher haben die denn seine DNA?«

Hier war er wieder, der Journalist, der nachhakte, nichts für bare Münze nahm.

»Er hat vor ein paar Wochen einen Gentest machen lassen, weil er eine Vaterschaft widerlegen wollte. Eine alte Flamme hat sich bei ihm gemeldet und behauptet, ihr siebzehnjähriger Sohn sei sein Kind. Seine Frau hat geheult und gedroht, sich scheiden zu lassen, und er ist sofort in ein Labor gerannt und hat eine Speichelprobe abgegeben.«

Pierre sah ihn ungläubig an. Und Marc ahnte, was seinem Freund durch den Kopf ging. Wie unglaublich das Leben war. Welche Streiche es einem spielte. Des Mordes überführt zu werden, weil man sich gegen eine Lüge zur Wehr setzen wollte.

»Ich wusste gar nicht, dass die Polizei zu solchen Analyseergebnissen Zugang hat.«

»Wenn du wüsstest, wozu die alles Zugang haben.«

»Und das war ein Privatlabor, sagst du?«

Marc entgegnete nichts, denn er bemerkte, dass Pierre drauf und dran war, einen Beschluss zu fassen. Er fuhr sich durchs Haar, so wie er es immer tat, wenn er eine Entscheidung traf oder eine Mitteilung zu machen hatte.

Na los, komm schon. Gib mir grünes Licht. Er sah zum Koch, der eine dünne Lage Reis auf dem Tang glattstrich, sie mit Gurkenstreifen belegte, mit Sesam bestreute. Lage um Lage arbeitete der Mann sich vor, bis er alles aufrollte und in gleich große Stücke schnitt.

»Also was denkst du?«, fragte er und sah, wie Pierres Mund harte Züge annahm.

Wenn Pierre nachgab und sich im gleichen Augenblick vorwarf, wieder mal viel zu weich für seine neue Stellung zu sein, verschloss sich sein Gesicht. Doch noch kapitulierte er nicht, noch haderte er mit diesem Job, der die Unannehmlichkeit mit sich brachte, nicht einmal mittags beim Japaner in Ruhe gelassen zu werden. Das Hauptgericht wurde serviert, und er entschied, die Diskussion auch deshalb aufzuschieben, weil er Hunger hatte. Schweigend machten sie sich über das Essen her. Es war heiß und stickig im Lokal. Wie dumm, in ein Restaurant ohne Klimaanlage gegangen zu sein. Nur dass es eben in der ganzen Gegend kein einziges Lokal mit Klimaanlage gab. Und auf einer überfüllten Terrasse auf einen überforderten Kellner zu warten, der sich mit einem Tablett den Weg durch die Tischreihen zu bahnen versuchte, dazu hatten sie beide keine Zeit.

Den ganzen Tag über hatte Marc geschwitzt. Stehend, liegend, sitzend, in der Metro, im Büro, bei der Redaktionssitzung und nun hier. Normalerweise herrschte um diese Zeit in der Rue Sainte-Anne reges Treiben, aber heute waren selbst in ihrem Restaurant, das als gut galt, der Himmel wusste, warum, nur zwei Tische besetzt. Sobald es warm wurde, trieb es die Pariser aufs Land. Kaum ging es aufs Wochenende zu, stürmten sie aus ihren Wohnungen und überließen die Stadt den Tauben, dem Staub und den um diese Jahreszeit stetig wachsenden Touristenschwärmen.

Marc spähte zum Gastwirt hinüber, einem gedrungenen Asiaten mit alterslosem Gesicht, schaute ihm dabei zu, wie auch er die Menschen beobachtete, die an seiner Tür vorbeizogen. In regelmäßigen Abständen wechselte er besorgte Blicke mit seiner Frau, die an der Kasse stand. Nur der Koch arbeitete stetig, in ruhigem Fluss, mit gleichmäßigen, harmonischen Bewegungen, so als bereite er nicht Mahlzeiten für eine sich nun rar machende Klientel vor, sondern als gebe er sich einer Meditation hin.

»Kann ich?«, noch während er das Paar am Nachbartisch fragte, richtete Pierre sich leicht auf und griff nach der Sojasoße.

»Natürlich«, erwiderte die Frau und lächelte ihm zu, aber Pierre hatte das Interesse an ihr schon wieder verloren.

»Du willst also über ihn recherchieren?«

»Ja«, sagte Marc und studierte einem Instinkt gehorchend das Paar: ihre Gesten, die Haltung, das Gesicht. Wie die meisten arbeitenden Menschen waren beide mit unauffälliger Konfektionsware gekleidet. Nur die Handtasche der blonden Frau sah teuer aus. Gutes, gegerbtes dunkelgrünes Leder. Jede Wette, ein Weihnachtsgeschenk.

»Du hast doch bestimmt schon recherchiert und nichts gefunden, oder?«

Die Frau blätterte in einem Magazin, während ihr Freund sein Handy bediente. Vielleicht waren sie ja auch nur Arbeitskollegen. Das hoffte er zumindest.

»Wie kommst du überhaupt darauf, dass die Geschichte etwas wert ist?«

Offen gestanden, war er selbst vom journalistischen Wert solch einer Geschichte nicht überzeugt. Eine Zeitung hatte auf vierzig Seiten aus der Welt zu berichten. Für einen Gilles Neuhart, seine Motivationen, Bedenken und Skrupel, war angesichts der politischen und sozialen Turbulenzen eigentlich kein Platz. Schon die siebzehn Zeilen lange Meldung, die Marc in einem überheizten Großraumbüro voller verkniffener Gestalten vor flimmernden Monitoren geschrieben hatte, war der Ehre genug. Gewissenhaft hatte er die entscheidenden fünf Fragen abzuhaken versucht.

Wer? Gilles Neuhart.

Wo? In einer Modellwohnung an der Gare Montparnasse.

Wann? In den frühen Achtzigern.

Was? Mord.

Warum?

Warum, warum … Du immer mit deinem Warum, hätte sein Großvater ausgerufen. Mit warum kommt man nicht weiter. Mit warum kann man sich nichts kaufen. Damit kriegt man keine Frau, zeugt keine Nachkommen, erobert man nicht die Welt … Bloß dass Marc gar nicht vorhatte, die Welt zu erobern, jedenfalls nicht so wie sein Großvater mütterlicherseits sich das für ihn in allen Details ausgemalt hatte. Er hatte es auch gar nicht nötig. Denn ganz im Gegensatz zu seinem Aufsteiger von Ahnherr, hatte Marc seine Umgangsformen im gediegenen Neuilly gelernt. Er war fernab der sozialen Brennpunkte aufgewachsen, fernab von Lärm, Schmutz und Gewalt. Selbst die Sorgen hatten hier, kratzte man nicht weiter am Lack, ein stilvolles Erscheinungsbild.

Interessierte er sich deshalb für Neuhart, weil ihn das Leben, das sich dieser mit manischer Akribie zu erschaffen versucht hatte, an die Gleichförmigkeit seiner Kindheit erinnerte? Forschte er deshalb nach dem Motiv, einer Zäsur, der Bruchstelle, dem Warum?

Aus welchem Grund erdrosselt ein unbescholtener junger Mensch eine Prostituierte? Wie überhaupt trifft ein erfolgreiches Escort-Girl solch einen Mann? Woher hat er das Geld, sich so eine Frau zu leisten? Und warum, warum, warum erdrosselt er sie, statt sich mit ihr zu vergnügen? Hatte sie sich über ihn lustig gemacht? Nichts, was er über Neuhart in Erfahrung gebracht hatte, ließ darauf schließen, dass er einer von diesen aufbrausenden, unbeherrschten Typen war, der eine Frau im Affekt tötete. Aber wenn der Auslöser nicht Wut gewesen war, was dann? Genau das würde er herauszufinden versuchen.

5.

Natürlich fand Pierre, nachdem er gesättigt den Teller von sich geschoben hatte, noch ein weiteres Warum.

»Also warum«, fragte er und schaute Marc amüsiert an »willst du dich mit einem Neuhart abgeben?«

Pierre kannte ihn und kannte die Antwort. Seit fünf Jahren schrieb er, Marc Rappaport, Abiturient des renommierten Privatgymnasiums Stanislas, Spitzenschüler der Prépa Henry IV, Absolvent der École Normale Supérieure und der Hochschule für politische Wissenschaften, kurz: jemand, der alle selektiven Aufnahmeprüfungen aller Kaderschmieden der französischen Gesellschaft spielend bestanden und gleich zwei »Grandes écoles« besucht hatte, seit fünf Jahren schrieb er nichts anderes als Meldungen und Artikel über Morde, Sexualverbrechen und Finanzskandale, und immer türmte er Fakten auf und begrub darunter jegliches Leben. Auch diesmal hatte für ihn bislang der faktische Aspekt der Geschichte im Vordergrund gestanden. Ein Mann, ruhig, ausgeglichen, immer hilfsbereit, der nach siebenundzwanzig Jahren dank einer neuartigen Analysemethode überführt wurde, das war etwas, womit man die Leserschaft siebzehn Zeilen lang von ihren eigenen Sorgen ablenken konnte. Wollte er etwa einen Abstecher zu den großen, metaphysischen Fragen machen? Nun, vielleicht nicht gerade das, aber zumindest wollte er dem nachgehen, was die endgültige Erfahrung des Todes in so einem Menschen wie Neuhart bewirkt hatte. Hatte der Mann Gewissensbisse? Hatte er all die Jahre danach an Emilie T. gedacht? Hatte der Mord vielleicht sogar den Lauf seines Lebens verändert? War er ein anderer Mensch geworden? Oder hatte Neuhart die Prostituierte aus seiner Erinnerung gelöscht? Mit welchen Mitteln hatte er sich, wenn überhaupt, Frieden verschafft?

Fragen, Fragen, Fragen. Und sie verwiesen nur auf eins, dass er älter wurde und weicher, so weich wie Pierre, der nun solch ein verkniffenes Gesicht machte, dass Marc genau wusste, was kam: Er würde nachgeben. Also gut, würde er sagen, du recherchierst eine Woche, nur eine Woche, mehr kriegst du nicht. Und natürlich würde Pierre seinen Entschluss schon auf dem Weg ins Büro bereuen und seinen Freund zur Strafe zehn Tage lang die ödesten Lokalnachrichten schreiben lassen. Und auch das würde er bereuen und eines Abends mit einer Flasche Pomerol und einem ziemlich schiefen Lächeln bei ihm klingeln. Lass mich rein, würde er sagen, ich schau nicht hin. Und Marc würde aufmachen, und sie würden in seine Küche gehen, und er würde ein wenig verschämt die schmutzigen Teller in die Spüle stellen. Das macht doch nichts, lass doch, würde Pierre einwenden und die Flasche öffnen. Schweigend würden sie sie leeren. Dann würde er den Scotch herausholen. Er würde Pierre zum Araber schicken, weil man Zitronen für einen Whisky sour braucht, und während er sie auspressen würde, würde Pierre aus dem Küchenfenster auf die gegenüberliegende Häuserfront starren und ihm vorjammern, wie sehr ihn die neue Verantwortung anöde. Er meinte es ernst. Er meinte es in diesen Momenten immer ernst. Er wiederholte seine Klage wie eine Formel, die die magische Kraft besaß, ihn in das Reich seiner Jugend zurückkehren zu lassen, zu jenen Tagen, in denen sie beide zum Kampf gegen die Alten aufgerufen hatten, in denen sie sich als Hüter der Wahrheit wähnten und als Retter der Zukunft. Und irgendwann im Laufe der Nacht würden sie ins Wohnzimmer gehen und Bob Dylan hören, Nick Cave, Patty Smith und was seine alte Vinylsammlung sonst noch hergab. Im Haus gegenüber würden die letzten Lichter ausgehen, während Pierre auf seiner verstimmten Gitarre, ein Andenken an längst vergangene Zeiten, ein paar simple Akkorde anschlug. Und wieder würde er auf seinen Freund blicken, der sich, im Schneidersitz auf dem Teppich, kläglich an Boots Of Spanish Leather und Ballad in Plain D vergriff, und sich fragen, mit welchen Lebenslügen er, Marc, sich zu betäuben versuchte.

Ja, wie stand es mit ihm? Er saß immer noch in seiner Dreizimmerwohnung, die seine Eltern oder eher seine Mutter ihm in einem der Wohnhäuser eingerichtet hatte, die ihrer Familie gehörten. Fuhr immer noch das gleiche Schrottauto. Hatte immer noch nicht die Hoffnung aufgegeben, eines Tages seine Doktorarbeit zu schreiben. Bekam von seiner Mutter immer noch regelmäßig zu hören, wie schade es doch sei, dass er Beatrice, seiner angeblichen größten Liebe, damals nicht nach Berkeley gefolgt war. Weigerte sich immer noch hartnäckig, in der Familienholding mehr zu tun, als im Aufsichtsrat zu sitzen und zweimal jährlich mit sieben Vertretern der Arbeitnehmer, Alain Toulouse, dem Geschäftsführer, seiner Mutter und seinen drei durchgeknallten Cousinen in einem Konferenzsaal über dies und das abzustimmen und im Anschluss mit ihnen essen zu gehen. Aber tat er all dies, weil er genügsam war? Unfähig, jemandem zur Last zu fallen? Oder verharrte er in seinem engen Leben, weil er doch nichts anderes war als träge? Wie viele von den Möglichkeiten, die ein ganz normales Leben bot, hatte er denn ausprobiert? Hatte er je auch nur eine Koordinate seines kleinen, wohlgeordneten Daseins verändert? War er je näher auf einen anderen Menschen eingegangen? Hatte er je für jemanden oder etwas Verantwortung übernommen? Nun, das hing davon ab, was man mit Verantwortung meinte. Wenn man meinte, was seine diversen Familienmitglieder darunter verstanden, dann war er einer, der aus Trägheit, Schwäche und Gewohnheit noch nicht von dem Podest hinuntergestiegen war, von dem aus die Jugend so gerne verächtliche Blicke auf die schmutzige Welt der Erwachsenen warf. Einer, der noch nicht gelernt hatte, sich mit Kompromissen herumzuschlagen wie jedermann. Seine Familienmitglieder waren, was ihn betraf, ratlos. Er ließ ihre Vorwürfe gleichmütig über sich ergehen. Nur manchmal hallten sie nach.

Aber das waren Nachtgedanken. Morgens spülte er sie mit dem ersten starken Kaffee weg. Und sobald er das Radio angeschaltet hatte und ein tiefer Bariton ihm die Welt in knappen, präzisen Worten zusammenfasste und ihn die gewohnte Erregung wieder packte, wusste er, warum er machte, was er machte. Morgens kam alles wieder ins Lot, und von dem Selbstmitleid blieb meist nur ein vager, ihn ein klein wenig beschämender Nachgeschmack.

Zum Glück ging die Tür auf, und ein kühles Lüftchen schlängelte sich bis an ihren Tisch. Ein Tourist, dem Typ nach Spanier oder Südamerikaner, betrat mit einem Reiseführer bewehrt das Lokal. Was hatte der Mann hier verloren, in dieser Straße, die kein bisschen pittoresk war, viel zu authentisch für einen klassischen Paris-Urlauber? Und tatsächlich schaute der Mann sich verlegen um, doch bevor er flüchten konnte, eilte der Besitzer schon mit einer Speisekarte herbei und nötigte ihm einen Platz neben dem Fenster auf.

»Und was ist mit Deborah?« Pierre wischte sich den Mund mit einer Papierserviette ab.

»Was soll mit ihr sein?«

»Es ist also schon wieder aus zwischen euch?«

Er spürte Pierres Blick auf sich ruhen, reagierte nicht.

»Ich frage nur, weil du vorhast, dich hinter so einer dummen Geschichte zu verkriechen.«

Der Tourist schien nur halb überzeugt, aber er setzte sich und wurde, noch bevor er die Jacke über die Lehne gehängt hatte, mit einem Begrüßungscocktail bestürmt.

»Sie ist wirklich nett, weißt du. Sie ist eine wirklich nette Frau. Es hätte zwischen euch klappen können. Sie hat dich Volltrottel gern. Frag mich nicht, warum, aber sie mag dich.«

Pierre lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, denn er wusste, dass sein Freund nun zu dem bekannten Vortrag »Marc und die Frauen« ansetzen würde, wenn er ihn gewähren ließ.

»Also was jetzt?«, warf er ein. »Ja oder nein?«

»Wieso kannst du dich nie auf eine Beziehung einlassen? Was ist los mit dir?«

Was mit ihm los war? Nichts. Er wollte nur nicht so leben müssen wie Pierre. Er wollte keine Frau, die ihn umsorgte, keine Kinder, die an ihm hochsprangen, kein Landhaus, in das zu fahren man sich verpflichtet glaubte, weil man es die nächsten zwanzig Jahre abzahlte, kein Familienauto, das nach dem Hund stank, keine Lebensversicherung, kein Sparbuch. Er konnte die Liste noch eine Weile fortsetzen, sie ließ sich aber auch so resümieren: Vor allen Dingen wollte er nicht um halb elf bei seinem Jugendfreund klingeln müssen, um dann um drei Uhr nachts auf einer verstimmten Klampfe Dylan anzuschlagen und seiner wilden Zeit nachzutrauern.

»Ich verstehe dich nicht. Ich verstehe dich wirklich nicht. Werde doch endlich erwachsen. Sie ist klug, witzig, sexy, selbständig …«

Und jüdisch. Was das bedeutete? Dass sie ihn schon nach zwei Wochen zur Bar-Mizwa des Sohnes ihrer Schwester hatte mitnehmen wollen und ein paar Tage später zur Beerdigung ihres Großonkels Eduard. Dass sie jeden Tag mit ihrer Mutter telefonierte und stritt und alles, aber auch wirklich alles mit Noemi, Mimi und Nilli, ihren drei besten Freundinnen aus der zionistischen Jugendbewegung, besprach. Sie wussten alles von ihm. Er sah es an der Art, wie sie ihn beäugten. Sie wussten, was er gerne aß, wie er einschlief, wo er wohnte und wie Deborah ihn zu berühren hatte, damit er kam. Drei Wochen hatten sie ausschweifenden Sex gehabt, so wild und aufregend, dass er nur daran zu denken brauchte, um eine Erektion zu bekommen, und dann hatte die Fragerei begonnen.

Ob ihm sein Job gefiele? Ja.

Wie lange er studiert hätte? Lange.

Ob er je unterrichtet hätte? Nein.

Ob er Geschwister hätte? Nein.

Jeden Abend Whisky trinken müsse? Ja.

Warum er nie Krawatten trüge? Keine Antwort.

Wie lange er Pierre kenne? Eine Ewigkeit.

Ob Pierre sein bester Freund sei? Ja.

Wieso er dann keine Gehaltserhöhung bekäme? Keine Antwort.

Ob Pierre nicht auch an ihm gefiele, dass er ihm nie würde den Rang streitig machen wollen? Keine Antwort.

Ob er denn nicht vorwärtskommen wolle? Nein. Er sei in dieser Hinsicht völlig ohne Ambitionen.

Warum seine Mutter nicht übergetreten sei? Ob er sich dennoch jüdisch fühle? Was ihm daran gefiele, über Mörder zu schreiben? Warum er nie geheiratet hätte? Ob er keine Kinder mochte?

Er keine Kinder mögen? Was für ein Unsinn! Natürlich mochte er Kinder. Nun, vielleicht nicht so sehr wie Pierres Hund …

Was er sagen würde, sollte sie plötzlich schwanger werden?

Was er sagen würde? Er hatte sich im Bett aufgesetzt und sie angeschaut. Wieso? War sie schwanger?

Nein, hatte sie erwidert, es sei nur so eine Frage.

Das war auch etwas, was jüdisch war. Eine Welt im Konjunktiv. Voller sollte, hätte, würde, könnte und voller Hypothesen. Er war dem nicht gewachsen. Ihm reichte die Gegenwart. Und wenn er in näherer Zukunft Hypothesen aufstellte, dann nur solche, die sich mit dem Mörder Neuhart befassten.

»Also was jetzt?« Er blickte Pierre an, der das Zeichen zum Zahlen gab.

»Komm, du kriegst auch meinen Wohnungsschlüssel und darfst dieses Wochenende auf meiner Gibson spielen.«

»Weil du auch noch vorhast zu verreisen?«

»Ich muss das Material ordnen, ja.«

»Welches Material? Ich sehe kein Material«, sagte er. »Okay, du hast vier Tage.« Und als sie aufstanden: »Aber du übernimmst mir dafür den morveux.«

Le morveux, das war der Spitzname der Redaktion für einen Praktikanten. Er war der Sohn der dritten Frau eines Großaktionärs, und sollte er bei irgendeinem der Kollegen je einen Sympathiewert besessen haben, so war dieser wegen seiner Manie, ohne Unterlass Fragen zu stellen und Vorschläge zu machen, schon längst in den Keller gesunken. Oh ja, der Junge war motiviert. Aber war das dem Umstand geschuldet, dass Stiefpapa im Aufsichtsrat saß? Wohl kaum. Alle Heranwachsenden waren ehrgeizig. Das machte sie sympathisch, oder? Nein, das machte sie zu einem Problem.

6.

Er wollte gerade Stefanaggi anrufen, als Pierre ihm den Jungen vorbeibrachte, und er konnte die allgemeine Schadenfreude darüber, sechs Wochen lang mit diesem Klotz am Bein arbeiten zu müssen, an den hämisch grinsenden Gesichtern der Kollegen ablesen. Nun gut, er gönnte ihnen diese kleine Aufheiterung.

»Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte er den Jungen, als Pierre wieder abgezogen war.

»Alex.«

Er blickte ihn an. Alex also. Er sah nicht einmal unsympathisch aus, ein bisschen verzärtelt vielleicht, als wäre er jahrelang der kleine wohlgehütete Liebling seiner alleinerziehenden Mutter gewesen.

»Und wie alt sind Sie?«

»Einundzwanzig.«

Er sah tatsächlich drei, vier Jahre jünger aus. Hatte kaum Bartwuchs. Steckte irgendwie noch in jenem Zwitteralter.

»Was haben Sie denn davor gemacht?«

»Informatik. Aber ich habe mein Studium abgebrochen.«

»Dann sind Sie also einer von diesen Hackern, die im Handumdrehen Verschlüsselungen knacken?«

»Das ist leider ein Klischee. Informatik ist viel theoretischer, als man glaubt. Es geht zwar auch ums Programmieren, aber in erster Linie darum, wie Daten repräsentiert werden, was Informationen eigentlich sind und wie es dazu kommt, dass aus Informationen andere werden, zum Beispiel aus Suchanfragen Suchergebnisse …«

»Schon gut«, unterbrach ihn Marc. »Sie werden für mich Recherchearbeit übernehmen.« Konnte der Junge nicht gerade stehen? Mein Gott. »Vielleicht lass ich Sie auch mal eine Meldung verfassen, aber sicher ist das nicht. Sie fangen Montag um neun Uhr an. Und, Alex, wenn Sie wollen, dass das zwischen uns klappt, dann tun Sie eins nie: mich mit Ihrem Enthusiasmus belästigen.« Das war ein wenig zu hart, er wusste es, und deshalb fügte er etwas umsichtiger hinzu: »In diesem Universum wird Übereifer als Frevel gegen die Götter angesehen.« War das besser? Nein. »Vor allen Dingen illustriert jugendliche Begeisterung eins, dass der Reibungswiderstand in unserem Gewerbe groß ist, verstehen Sie?«

Der junge Mann bejahte, obwohl er natürlich keine Ahnung hatte, wovon Marc sprach. Wie denn auch? Um zu begreifen, was sein neuer Lehrmeister damit meinte, hätte er sich erst mal Tag für Tag seinen Schwung durch irgendwelche Direktiven bremsen lassen müssen. Der Junge wollte Einblick ins Erwerbsleben? Hier die erste Erkenntnis: Verschleiß hieß das Spiel, das in der Arbeitswelt gespielt wurde. Verschleiß, das war das kleine, lästige Übel, das aus einem begeisterten Anfänger in nur wenigen Jahren einen nörgelnden Profi machte. Man musste bloß einen raschen Blick auf die zu Zynikern herabgewirtschafteten Kollegen werfen, um sich dessen bewusst zu werden. Der Kontrast zwischen ihnen und diesem vor Aufregung an seiner Unterlippe knabbernden Jungen war bedrückend. Also gut, er würde ihm etwas Kleines mit ins Wochenende geben.

»Lassen Sie mir Ihre Handynummer da, man weiß ja nie.«

Er bereute es sofort, noch während der Junge freudestrahlend seine Verbindungsdaten auf den Block kritzelte. Er würde also sechs Wochen lang damit zubringen müssen, seinen Elan, wenn auch nicht zu dämpfen, so doch zu katalysieren. Und vielleicht würde er sich von diesem Enthusiasmus mitreißen lassen. Würde ihm das gefallen? Aber gewiss doch. Und war das schlimm? Schlimm oder nicht schlimm, er würde versuchen, das Beste daraus zu machen.

 

Marc hatte Stefanaggi vor zehn Jahren kennengelernt, als dieser noch Streife gefahren war. Gerade hatte er seine Hoffnung, eine Doktorarbeit zu schreiben, als Illusion entlarvt, einen Job bei der Zeitung angenommen und angefangen, das Universum der Drogensüchtigen, Dealer und Mörder zu erforschen, als er bei gleich mehreren Fällen über den Patrouillengänger Lisandru Stefanaggi gestolpert war.

Das Chaos, das sich ihm darbot, die Sinnlosigkeit der Gewalt, mit der er plötzlich konfrontiert wurde, die Sprachlosigkeit, mit der sie ausgeübt wurde, sie hatte ihn schier umgehauen. In seiner Welt war alles geordnet, gepflegt und bestens durchdacht. In seiner Welt hatte selbst die Illegalität Hand und Fuß, fand man selbst für das Übertreten von Gesetzen, wenn auch nicht moralisch, so doch ökonomisch plausible Begründungen. Aber was machte man mit einem dreiundzwanzigjährigen Crackdealer, der einer Frau in den Magen schoss, weil er mit ihr um den Parkplatz stritt? Was mit ein paar Siebzehnjährigen, die aus Langeweile und wegen ein paar Euro Rentner angriffen, schweigend und ohne die leiseste menschliche Regung auf ihre Opfer einprügelten, sie traten, den Raub als Anlass nahmen, um … Um was? Ihre Wut auszuleben? Die Grenzen des Erlaubten auszuloten? Sich ihre eigene Macht vor Augen zu führen? Aus dem Gewaltakt ein Ritual zu machen? Er wusste es nicht. Es gab eine Gewalt, die sich an sich selbst entzündete, die sich vernunftmäßig nicht fassen ließ, die keiner anderen Triebfeder bedurfte als des eigenen schonungslosen Schwungs. Sie machte ihn sprachlos. Und sie ließ ihn daran zweifeln, dass es noch ein gegenseitiges Verstehen gab, irgendeinen Bestand an gemeinsamen Werten, der das Zusammenleben strukturierte und in gewissem Grad berechenbar machte. Was verband Opfer und Täter noch? Verfolgten sie die gleichen Ziele? Standen sie vor den gleichen Problemen? Teilten sie sich die gleichen Chancen? Ja, lebten sie überhaupt noch in der gleichen Welt? Was führte eine Bande Siebzehnjähriger, für die Raub, Körperverletzung und Erpressung schon längst zum Alltag gehörten, und einen zweiundvierzigjährigen Juwelier zusammen? Wo begegneten sie sich? Doch nur noch am Ort der Tat.

Angesichts dieser Kinder, die mit fünfzehn, sechzehn, siebzehn nicht mehr in der Lage waren, Mitgefühl mit ihren Opfern zu empfinden und denen die emotionale Fähigkeit abhandengekommen war, die Folgen ihres Handelns zu begreifen, kamen ihm die philosophischen Aussagesätze, mit denen er aufgewachsen war, wie leere Worthülsen vor. Vernunft als das Vermögen der Prinzipien? Die Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien? Nun, nicht unbedingt hier, in den Eingeweiden der Stadt. Er war nur zu froh gewesen, dass Stefanaggi sich seiner angenommen und ihm, er wusste selber nicht, warum, sein Aktionsfeld, die Straße erschlossen hatte. Viele Jahre hatte er ihn regelmäßig auf seinen Streifzügen begleiten dürfen. Hatte ihn dabei beobachtet, wie er die Gare du Nord, den Knotenpunkt der Bandenkriege, bewachte, Crackdealer der Rue Myrha jagte, mit den Prostituierten der Rue Sofia scherzte und ihn die plündernden, marodierenden Jugendhorden zähmen sehen, die jedes Wochenende mit den RER-Zügen aus den Vororten in die Stadt strömten. Wie oft hatten sie in den Supermärkten der Tamilen, Singhalesen und Paschtunen eingekauft, bei den Chinesen gegessen, sich von Afrikanern die Haare schneiden lassen, und dann war Lisandru Stefanaggi plötzlich befördert und zu einem gutbezahlten Bürojob verdonnert worden. Seitdem saß er als stellvertretender Leiter der zweiten Polizeidirektion in einem geräumigen, lichtdurchfluteten Büro, hatte einen Sekretär, den er herumscheuchen konnte, und hörte sich jeden Morgen an, was die Jungs, die ihm unterstanden, über Kreditkartenfälschung, Schmuggel, Falschgelddelikte, Geldwäsche, Autodiebstahl, Glücksspiel, Drogendealer, Prostitution, Entführung, Menschenhandel und Mord zu berichten hatten. Es nannte sich »Karriere machen«. Es nannte sich »Weiterkommen«. Es nannte sich »den Ton angeben«, »Entscheidungen treffen« – Auszeichnung, Nimbus, Macht. Aber für Kriminalhauptkommissar Stefanaggi war es nur das Ende der Streifzüge, das Ende der Jagd. Für Stefanaggi nannte es sich »zum alten Eisen gehören« und weiter nichts. Und das mit gerade einmal zweiundfünfzig. Sieben Monate saß er nun schon dort in der obersten Etage und trauerte seiner Jugend nach und den Überstunden, den Nachtschichten und dem schnell heruntergeschlungenen Essen.

Marc traf ihn immer noch. Manchmal sogar häufiger als früher. Er beriet sich gern mit ihm, wenn er über einen Fall schrieb. Er kannte niemanden, der so viel Erfahrung hatte und dessen Menschenkenntnis er mehr schätzte. Dessen Lebensweisheiten er aufmerksamer lauschte.

»Alle labern immer vom Motiv, Rappaport, aber gibt es ein anderes Motiv als Profitsucht und Raffgier? Lass das Motiv sausen und konzentriere dich auf das Opfer. Wenn du erkennst, wie es in die Falle gegangen ist, hast du die Masche des Täters, dann hast du seine unabänderliche DNA aufgedeckt.«

Wie war das Opfer Emilie in die Falle gegangen? Die Frage erübrigte sich für Stefanaggi nun, denn sie hatten den Täter geschnappt. Oder eher gesagt, die neuesten Errungenschaften der Technik hatten ihm die Arbeit abgenommen, über diesen Fall, der sich ereignet hatte, als sie beide noch knietief in ihrer pickligen Pubertät steckten, so nachzudenken, wie er es üblicherweise tat. Aber Lisandru Stefanaggi dachte momentan sowieso an nichts anderes mehr, als dass Bürokraten und ihre Richtlinien ihn gezwungen hatten kürzerzutreten. Ein Bürojob. Tiefer ging es für einen Korsen nicht. Tiefer wäre allenfalls, zum Unterstützungsempfänger zu degenerieren und vom Staat Sozialhilfe oder eine Invalidenrente zu beziehen.

Stefanaggi war wirklich davon überzeugt, ein echter Korse zu sein. Und er glaubte ebenso felsenfest, dass er, Marc, ein richtiger Jude sei. Einer von denen, die sich durch Schläue auszeichneten, durch Kulturbeflissenheit, Weltgewandtheit, alles verbrämt mit dem nötigen Quäntchen Witz. Kein Jude hätte ihm diese Definition von Judentum durchgehen lassen. Als persönliches Kompliment wohl, aber bestimmt nicht als allgemein verstandenes Lebensgefühl. Doch Stefanaggi ging es gar nicht ums Lebensgefühl, auch er war ein Meister in Lebenslügen. Er gab sich der Illusion hin, dass das, was sie miteinander verband, darauf beruhte, dass sie beide Außenseiter waren, ein jüdischer und ein korsischer Außenseiter, dabei gründete ihre Männerfreundschaft auf etwas viel Komplizierterem, etwas, was auch damit zu tun hatte, dass sie sich ihrer Zerbrechlichkeit sehr bewusst waren und ebenso ihrer Begierden. Aber Lisandru Stefanaggi wollte vom hohen Thron des Außenseiters die Franzosen belächeln, dieses Beamtenvolk, das immerzu von seinem »Jour de RTT« quatschte, den Gleittagen, die ihm laut der 35-Stunden-Woche zustanden. Und Marc ließ ihm den Spaß.

»Wenn sie nicht ausrechnen, wie viele Überstunden sie gemacht haben und wie viele Ferientage sie einsacken können, dann nur, weil sie sich überlegen, ob sie genug Punkte gescheffelt haben, um frühzeitig in Rente zu gehen. Hast du jemals ein anderes Volk gesehen, Rappaport, das derart chronisch leidet? Du findest in diesem Land keine Arzthelfer, Drucker, Lehrer, Richter, Polizisten, sondern nur Profis im Leiden. Bei mir in der Etage leiden sie alle. Meine Sekretärin hat Heuschnupfen, ihr Bengel Blähungen. Die Tusse von der Dokumentation Rückenschmerzen und der Typ von der Informatik Schlafstörungen. Sie alle stehen ständig am Kaffeeautomaten und jammern rum. Beschweren sich über die Hitze und über den Regen und über die Metro zur Stoßzeit und ihr Gehalt …«

Und über ihre Kollegen, dachte Marc, sobald Stefanaggi loslegte.

Eigentlich war Stefanaggi genauso korsisch, wie er jüdisch war. Oder, um es anders auszudrücken: Sie waren beide ganz normale Prototypen des Franzosen, der sich permanent der Illusion hingab, nicht dazuzugehören, weil er schwul war oder eine Frau oder zu jung oder zu alt, zu arm, zu reich, korsisch, jüdisch, chinesisch, vietnamesisch, italienisch, polnisch, algerisch, vegetarisch. Er hatte sogar einmal jemanden kennengelernt, der allen Ernstes glaubte, wegen seiner bretonischen Herkunft diskriminiert zu werden. Kriminalhauptkommissar Lisandru Stefanaggi jedenfalls hegte das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, wie einen Schatz. Und was war, bitte schön, französischer, als sich permanent mit seiner sakrosankten Singularität zu brüsten und darunter zu leiden?

7.

Stefanaggi hob schon beim zweiten Klingeln ab.

»Ist Neuhart eigentlich noch bei euch?«

»Warum?«

Wieder ein Warum, es hörte damit heute wohl nicht auf.

»Ich möchte über ihn schreiben.«

»Hast du doch schon.«

»Ja, aber ich will noch ein bisschen was dranhängen: Umfeld, Motivation, menschliche Seite …«

»Seit wann interessiert ihr euch für die menschliche Seite?«

»Also, kann ich dabei sein, wenn einer deiner Fahnder ihn wieder verhört?«

»Als was, als Mücke? Wie soll ich deine Anwesenheit vor seinem Anwalt rechtfertigen? Und außerdem ist die Geschichte kalter Kaffee. Das weißt du so gut wie ich.«

Marc ging nicht darauf ein, fragte stattdessen: »Wie lange ist er schon in Polizeigewahrsam?«

»Seit gestern.«

»Das heißt, er kommt spätestens morgen in die Santé.«

»Nichts heißt das.«

»Wurde ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet?«

»Er wird heute noch vor den Untersuchungsrichter geführt.«

»Lass mich dabei sein«, bettelte Marc, wohl wissend, dass er, sollte Neuhart am Abend ins Gefängnis überführt werden, nicht mehr an ihn herankäme, jedenfalls nicht mehr so leicht.

Marc musste noch eine Weile auf ihn einreden, da Stefanaggi beschlossen hatte, bei der brütenden Hitze ins Kino zu gehen, ganz gleich in welchen Film, Hauptsache, in einen Saal mit Klimaanlage, wenn möglich auf den Grandes Boulevards, aber am Ende ließ er sich breitschlagen, ihn wenigstens noch einmal die Akte durchlesen zu lassen.

Es war Freitag, und in ein paar Stunden würde außer einem geschiedenen Dummkopf wie Stefanaggi und einem ledigen Dummkopf wie ihm, kurz: außer zwei mehr oder weniger alleinlebenden Männern niemand mehr arbeiten, und Marc ahnte, warum der Kommissar entschieden hatte, direkt vom Büro in die Frühvorstellung zu marschieren, schnurstracks an den Terrassen vorbei, auf denen, so kam es auch ihm vor, zur Sommerzeit ausschließlich eng umschlungene Paare zu sitzen pflegten. Freitags, zwischen fünf und sechs, wenn die Büros sich langsam leerten und ein langes, sonniges Wochenende bevorstand, musste selbst er, der notorisch Bindungsscheue, achtgeben, nicht in eine spontane Depression zu verfallen.

 

Er schlitterte mitten in eine Feier hinein. Die Drogenfahnder hatten nach wochenlangen Ermittlungen zwei Dealer festgenommen, und nun saßen sie bei einer Pizza und stießen brav mit Bier an.

»Drei Tonnen Cannabis und 64 Kilo Cannabisharz«, erklärte ihm ein kleiner Rothaariger namens Arthur, und während er ihm stolz schilderte, wie sie die Dealer wochenlang beschattet und abgehört hatten, um ihnen schließlich an einer Mautstelle vor Paris aufzulauern, konnte er nicht umhin, zu rechnen. Er warf Stefanaggi, der an der Tür mit einer jungen Polizistin flirtete, einen kurzen Blick zu. Drei Tonnen, das waren 3000 Kilo. Er zahlte seinem Dealer derzeit 10 Euro das Gramm. Wo zum Teufel nahmen diese blutjungen Zwischenhändler das Geld her?

»Wie alt sind die eigentlich?«, fragte er, als sie später in Stefanaggis Büro gingen und, einem Ritual folgend, beim Getränkeautomaten im zweiten Stock haltmachten. Der Kriminalhauptkommissar verstand sofort: »Zweiundzwanzig. Und das ist bestimmt nicht ihr erstes Geschäft, denn sonst hätten sie diese Lieferung nicht bekommen.« Er zog ein paar Münzen aus seiner Jeans, warf das Geld ein, wählte ein Getränk, drückte auf die Taste. »Wenn sie Pech haben«, sagte er, während sie beide mitverfolgten, wie die Dose ins Ausgabefach plumpste, »kriegen sie zehn Jahre und kommen in fünf wegen gutem Betragen raus, weil die Gefängnisse in Paris überfüllt sind.« Er reichte ihm die Cola und warf erneut Geld in den Schlitz. »Das sind pfiffige Kerle, Rappaport. Die sehen ihre Väter sich ein Leben lang abrackern. Und wofür? Für den Profit anderer. Die sehen, wie ausgelaugt, grau und gerädert die nach Hause kommen, um nach dreißig Jahren was zu haben? Nicht viel mehr als ein mickriges Sparbuch und Bandscheibenprobleme. Die, die uns hier heranwachsen, pfeifen auf Assimilation. Die wollen gar nicht als Vorzeigeexemplare gehandelt werden. Und was wir über sie denken und ob wir sie dreckige Araber nennen, das geht denen knapp am Arsch vorbei. Die haben in einem Monat mehr zusammengescheffelt, als du und ich vereint, inklusive ihre Väter, die brav zur Schicht gehen. Und ganz bestimmt haben sie mehr verdient als der Oberschleimer, dem alle eine glorreiche Zukunft prophezeit haben, weil er sich bis zum Abitur durchgerackert hat, um dann mit der Hochschulreife in der Tasche doch nur bei Burger King zu landen und 6 Euro 50 netto die Stunde mit nach Hause zu nehmen, weil in diesem Land Jugendliche eben keine Arbeit finden.«

»Was hör ich denn da heraus?«

»Was du raushörst? Nichts.«

»Ist das etwa eine Apologie des Verbrechens?«

»Hör raus, was du willst«, erwiderte Stefanaggi.

»Steh ich vor einem Bullen, der beginnt, Verbrecher zu verstehen?«

Sie waren in seinem Rumpelbüro angelangt.

»Die Welt ist ziemlich versaut, weißt du.« Stefanaggi deutete ihm an, Platz zu nehmen, da wo er Platz fand.

»Oh, oh, oh, mein Freund, pass auf, wenn Leclair mitkriegt, dass du nun schon vor der französischen Presse Dealer verteidigst.«

Leclair war Leiter der Kriminaldirektion und somit Stefanaggis Vorgesetzter. Er war bekannt dafür, per Rundmail Informationen zu verbreiten, die niemanden wirklich interessierten, wenn er nicht kurz vor dem Mittagessen von Raum zu Raum streunte, um nach dem Rechten zu sehen und alle von der Arbeit abzuhalten.

Stefanaggi schob die Tagesausgabe von L’équipe beiseite.

»Hier.«

»Willst du nicht mal aufräumen?«, fragte Marc aus Tradition, denn er kannte die Antwort, die nicht auf sich warten ließ.

»Nein.«

Er seufzte und setzte sich auf das durchgesessene Cordsofa, dessen Farbe undefinierbar blieb (etwas zwischen Grün und Braun). Es war Diebesgut, das Stefanaggis schon längst in Rente gegangener Vorgänger eines Tages erbeutet hatte und für das, aus offensichtlichen Gründen, nie ein Herausgabeantrag gestellt worden war. Der ganze Raum glich mit seinen Kartontürmen, in denen Beweismaterial verstaut war und die sich meterhoch neben der Tür stapelten, den vollgestopften Regalen und Aktenschränken, in denen Stefanaggi in jahrelanger Kleinstarbeit und nach einem nur ihm bekannten Ordnungsprinzip Rechnungen, Prospekte, Gebrauchsanweisungen, Zeitungsartikel, alte Infos und Schriftwechsel aller Art gehortet hatte, eher einer Rumpelkammer als einem Arbeitsplatz. Und natürlich war da seine berühmte Sammlung von Miniaturfläschchen, die jede freie Abstellfläche zierte: Bols Creme de Cacao, Brandy Stock 68, Hennessy X.O., Royal Jamaika Rum, Aalborg Jubiläums Aquavit, Campari, Jägermeister, Ouzo, Pernod … Stefanaggi war schon längst vom Sammelvirus geheilt, dennoch blieb er dazu verdammt, von jedem Kollegen, der aus dem Urlaub zurückkam, ein Fläschchen aus der Minibar eines Hotels geschenkt zu bekommen. Nur sein Tisch, der mit Blick auf eine Linde vor einem der Fenster stand, war verhältnismäßig aufgeräumt.

»Also, was willst du über Neuhart wissen?«, fragte Stefanaggi, sich ebenfalls setzend.

»Hat er gestanden?«

»Er versteht nicht, warum er hier ist. Er ist sich keiner Schuld bewusst. Und so weiter und so fort.« Er zog die Stirn kraus. »Der hat Angst. Aber ich kann dir nicht sagen, wovor. Er ist nicht nur eingeschüchtert, er hat Schiss.«

Das Telefon klingelte. Stefanaggi antwortete ungeduldig und rief, nachdem er das Gespräch beendet und Marc die Akte von Emilie T. gereicht hatte, nach Antoine.

»Antoine«, brüllte er, und als ein junger Mann mit Brille im Türrahmen erschien: »Der Untersuchungsrichter hat die Akte mit dem Mord in der Rue Tesson nicht erhalten. Bringst du sie ihm rüber?«

»Ja, Chef.«

»Und, Antoine«, hielt er seinen Sekretär auf, als dieser sich gerade umdrehen und hinausgehen wollte, »was haben die Jungs von der Drogenfahndung denn vorhin mitgebracht?«

»Sie meinen die Kartons im Keller, Chef?«

Stefanaggi reckte sich.

»Was denn sonst?«

»Das sind gefälschte Markenartikel, die sie heute Mittag im Erdgeschoss eines Hauses in der Rue des Poissonniers gefunden haben. Die Hehler wollten die Ware gerade verladen, und sie haben sie hochgenommen.«

»Was ist denn drin?«

»Das Übliche«, erwiderte Antoine, »imitierte Louis-Vuitton-Handtaschen, Versace-Brillen, Schals, Portemonnaies, Gürtel, Seiko- und Cartier-Uhren …«

»Gibt es in dem Haus Lagerräume?«

»Ja, Chef.«

»Dann macht die Eigentümer und Mieter ausfindig und stattet den Straßenhändlern einen Besuch ab.«

Beide wussten, dass dies nicht viel bringen würde.

»Gut, Chef«, erwiderte Antoine. »Noch was?«

»Haben wir etwas Neues über die Vermisste aus der Rue Binet?«

»Nein.«

»Wer kümmert sich darum?«

»Der junge Bonneau.«

»Er soll sich mit der Tochter in Verbindung setzen.«

»Gut, Chef.«

Endlich ließ Stefanaggi seinen Sekretär davonziehen.

»Und?«, fragte der Kriminalhauptkommissar, als Marc die Unterlagen zurückgegeben hatte. »Aufregend, was?«

Er ging nicht darauf ein.

»Kann ich dabei sein, wenn ihr Neuhart wieder in die Mangel nehmt?«

»Nein. Ausgeschlossen.«

»Lass mich ihn wenigstens einmal sehen.«

Stefanaggi seufzte mit Blick auf die Uhr. »Du lässt wohl nie locker. Also gut.«

 

Es herrschte Hochbetrieb, als sie in den ersten Stock zu den Zellen gingen.

»Bringen Sie Neuhart bitte in den Aufenthaltsraum«, sagte Stefanaggi einem jungen Polizisten in Uniform, der vor den fünf Zellen Wache hielt. »Und bringen Sie uns bitte Kaffee.«

Stefanaggi führte Marc in das zwanzig Quadratmeter große Refugium der Polizisten, das sich auf der gleichen Etage am anderen Ende des Flurs befand und das sie mit Stühlen und Sesseln verschiedenster Art, einem Tisch, einem Kühlschrank, einem Mikrowellenherd, einem Fernseher und, das Prunkstück der Einrichtung, einem Kickertisch ausgestattet hatten. Die zwei Fenster gingen nach Norden raus, so dass das Deckenlicht selbst jetzt angeschaltet sein musste.

»Setz dich da hin«, sagte Stefanaggi und deutete auf einen Stuhl an der Wand gleich neben der Tür. »Und keinen Mucks.«

»Was hast du vor?«

»Das überlass mir.«

Er schien sich zu amüsieren. Umso besser.

8.

»Ich habe mir gedacht, dass Sie sich vielleicht ein bisschen die Beine vertreten wollen. Die Zelle ist ja nicht gerade groß«, sagte Stefanaggi, als Gilles Neuhart in den Raum geführt wurde. »Wir haben keinen Hof, Sie müssen mit dem Aufenthaltsraum hier vorliebnehmen. Ich habe Kaffee bestellt. Wie geht es Ihnen?«

Der Mordverdächtige hatte in seinen Kleidern geschlafen, sie waren genauso zerknittert wie sein Gesicht. Er trug einen Anzug, nicht mehr ganz neu, aber gut geschnitten und aus dezentem, nicht gerade billigem Stoff, und Marc hätte schwören können, dass Neuhart ihn an einem Samstag im Winterschlussverkauf erstanden hatte, angefeuert von seiner auf einem Hocker sitzenden, in ihrem Mantel schwitzenden Frau. Ein Anzug allerbester Qualität, den zu erstehen er sich nach einer Beförderung in der Bank verpflichtet gefühlt hatte. Aber dies war nun Geschichte. Und es hatte dafür nur zwei Tage Polizeigewahrsam gebraucht. Zwei Tage, mehr nicht, um den Schutzwall niederzureißen, den er sich ein Leben lang errichtet hatte.

»Wollen Sie vielleicht etwas essen?«, fragte Stefanaggi.

Neuhart schüttelte den Kopf und setzte sich auf den ihm angebotenen Stuhl. Er sah alt aus. Und er war so verunsichert, dass er überall Halt suchte. Seine rot geäderten Augen durchkämmten den Raum, blieben kurz an Marc hängen, ohne ihm jedoch Beachtung zu schenken, und wandten sich dann Stefanaggi zu, dessen allerkleinste Bewegungen er verfolgte, so als könne ihm der Umstand, dass der Kriminalhauptkommissar das Fenster öffnete, das Licht löschte, sich am Kinn kratzte, Auskunft über sein Schicksal geben. Stefanaggi setzte sich nun auch.

»Ihr Anwalt hat angerufen«, sagte er. »Er steckt im Stau. Er hat gebeten, auf ihn zu warten.« Der junge Polizist kam mit dem Kaffee herein.

»Milch und Zucker?«

»Nein, danke«, gab Neuhart zurück.

»Haben Sie schlafen können?«

»Es geht so.«

»Hat der Betrunkene nebenan gebrüllt?«

Ah, das war Stefanaggi in Höchstform. Das war Stefanaggi, der sich amüsierte und der für Marc seine kleine Show abzog. Er wusste, wozu das »Haben Sie zu essen bekommen? War es nicht zu schlecht? Haben Sie Ihre Frau erreicht? Hat sie Ihnen frische Wäsche gebracht?« diente. Das ganze Gespräch wurde einzig und allein zu dem Zweck geführt, damit er, Marc, den Verdächtigen in entspannten Minuten in Augenschein nehmen konnte. Er sollte Neuhart so unbefangen und locker reden hören, wie es ihm der Umstand, festgenommen und des Mordes verdächtig zu sein, ermöglichte. »Wenn du den Bodensatz der Nervosität kennst, dann kannst du später leichter ermessen, bei welchen Fragen er austickt«, hatte Stefanaggi ihm einmal erklärt. »Ersparst du dir das Geplauder am Anfang, dann wirst du nie eindeutig wissen, ob er aufgeregt ist, weil er vor einem Bullen sitzt, oder ob ihn eine der Fragen, die du gerade gestellt hast, beunruhigt. Alle denken immer, ich will Vertrauen schaffen. Als ob die Frage, ob man ein Glas Wasser wolle, Vertrauen schafft.«

»Können wir nicht anfangen?«

Neuhart war nun so nervös, dass er nicht einmal mehr ruhig auf seinem Stuhl sitzen konnte.

»Wie bitte?«

»Können wir nicht schon anfangen?«

Der Kriminalhauptkommissar schaute ihn ungläubig an.

»Sie wollen das Gespräch ohne Ihren Rechtsanwalt führen?«

»Ja, ja, genau.«

»Sie müssen keine Aussage machen, das wissen Sie, nicht wahr?«

»Bringen wir es hinter uns.«

Sie hatten kein Vernehmungszimmer reserviert und gingen in eins der leeren Büros, und Stefanaggi rief einen Inspektor Namens Russo herbei, damit er Neuharts Aussage protokollierte. Und nachdem Stefanaggi ihn über seine Rechte belehrt und ihm eröffnet hatte, welche Tat ihm zur Last gelegt wurde, begannen sie mit dem Verhör.

Sie waren zu fünft im Raum, denn mittlerweile hatte sich auch Stefanaggis Assistent Antoine hinzugesellt, wenn er auch nur gelangweilt zuhörte, was sich, nach Neuharts Ansicht, vor siebenundzwanzig Jahren in jener Modellwohnung neben der Gare Montparnasse zugetragen hatte. Sie unterbrachen Neuhart nicht, weder mit Nachfragen noch mit Vorbehalten, nur einmal bat Russo, der mit dem Schreiben nicht hinterherkam, den Wortlaut zu wiederholen, dann fing Stefanaggi mit dem Einkreisen an.

»War es ein Spiel, das ausgeartet ist? War es das? Hat sie sich über Sie lustig gemacht? Hat sie Sie ausgelacht?«

Neuhart kämpfte gegen den Ansturm der Gefühle an, die die Worte oder eher die Erinnerung, die sie bei ihm auslösten, verursachten, das war nicht zu übersehen. Seine Hände berührten das Gesicht, fuhren durchs Haar, zupften an der Jacke, dann verschränkte der Mann seine fahrigen Finger so fest ineinander, dass die Knöchel weiß hervortraten.

»Sie sind ein anständiger Junge, nicht wahr? Sie schreiben lange Liebesbriefe. Sie nehmen die Mädels mit ins Kino, und dass Sie zu einer Nutte gehen, ist schon unerhört genug.«

Stefanaggi fixierte Neuhart nach jeder Frage, und jedes Mal errötete dieser, wenn er sich stammelnd an Antworten machte.

»Wie haben Sie das überhaupt gemacht, Neuhart? Hat sie Ihnen geholfen? Hat sie den Strumpf geholt? Hat sie Ihnen gezeigt, wie man sie fesselt? Wer von Ihnen hatte die Idee mit dem Fesseln?«

»Nein, nein, nein, ich habe sie doch nicht … Ich hätte doch nicht …«

Neuhart vergrub den Kopf in den Händen.

Stefanaggi erwiderte mit beschwichtigender Stimme, die nicht zu dem wachsamen Glanz in seinen Augen passte: »Natürlich haben Sie sie nicht erwürgen wollen. Sie haben gespielt, nicht wahr? Sie sind erregt. Sie wollen sehen, wie das ist, wie sich das anfühlt mit ein bisschen Gewalt. Sie hat auch zugestimmt. Aber Sie haben keine rechte Ahnung, wie man es anstellt. Sie sind ein aufgeklärter junger Mann, das schon, Sie haben Ihre Erfahrungen gemacht, aber keiner in Périgueux hat Ihnen je erklärt, wie Sadomasochismus geht, was das wirklich ist.«

Neuhart sah Stefanaggi mit großen Telleraugen an.

»Die Obduktion der Leiche hat ergeben, dass sie geschlagen wurde. Der Pathologe, der damals die Autopsie durchführte, hat geschrieben … warten Sie …« Er wendete sich an Antoine: »Hast du die Akte da?«

»Ja, Chef«, antwortete dieser.

Stefanaggi nahm die Akte entgegen, öffnete sie, setzte die Brille auf und las den schreibmaschinengeschriebenen Bericht des Gerichtsmediziners laut vor: »Blaue Flecke am Rumpf, an der Brust und an den Oberschenkeln. Risse und blaue Flecke in Vagina und Anus.«

Man hätte eine Nadel fallen hören. Keiner von beiden sagte ein Wort. Stefanaggi schien Neuhart Zeit zu lassen, Zeit für eine Reaktion. Aber da kam nichts, kein Aufbegehren, keine Antwort, keine Erklärung, nichts.

Der Kriminalhauptkommissar nahm seine Anfangsidee wieder auf: »Hat sie sich über Sie lustig gemacht, weil Sie nicht wussten, wie man sich bei solchen Spielen verhält? Hat sie Sie ausgelacht? Einen Grünschnabel genannt, ein Landei? Ein bisschen Schlagen gehörte doch zum Spiel. Sind Sie damit nicht klargekommen? Wie war das, Neuhart?«

Er war abgedriftet. Hätte man Neuharts Anspannung zuvor wie bei einem elektrisch geladenen Körper regelrecht messen können, tat er jetzt, als verstünde er nicht oder als ginge ihn dies alles gar nichts an. Aber vielleicht verstand er wirklich nicht, worüber Stefanaggi sprach, als der einfach weitermachte: »Und Sie haben das Wort vergessen, nicht wahr? Oder vielleicht haben Sie es im Rausch erst gar nicht gehört? So ist es doch gewesen, Neuhart, oder? Sie hat Ihnen zu Beginn klargemacht, dass es bei einem gewissen Wort sofort vorbei ist. Was war das für ein Wort, Neuhart, können Sie sich noch erinnern?«

Keine Reaktion. Stefanaggi ließ die Faust auf den Tisch donnern.

»Ich versuche, Ihnen aus der Patsche zu helfen, Sie kleiner Mistkerl. Ich reiße mir den Arsch auf, damit Sie nicht wegen Mordes, sondern wegen Totschlags angeklagt werden. Wir haben Ihre verdammte DNA. Wir haben Ihre Hautschuppen gefunden. Verstehen Sie das? Sie haben am Strumpf, mit dem Emilie erwürgt wurde, Spuren hinterlassen.« Er beugte sich vor und sagte wieder ganz ruhig: »Haben Sie sie im Rausch geschlagen? Wann ist das ausgeartet. Wie war das, na los!«

»Mein Gott, wie können Sie annehmen … dass ich geschlagen … ich sie schlagen … ich? Wie können Sie nur.« Neuhart war so aufgebracht, dass er die Sätze nicht zu Ende sprechen konnte. Er schaute Stefanaggi eindringlich an und sagte: »Ich schwöre Ihnen, ich habe sie nicht angefasst. Ich schwöre es.«

»Sie haben sie nicht töten wollen. Das nicht. Ich glaube Ihnen ja. Ich glaube Ihnen das sogar aufs Wort. Sie haben nur ein bisschen zu fest zugedrückt.«

»Nein, nein, nein, nein. Als ich in die Wohnung kam, war sie doch schon tot. Da lag sie schon tot auf dem Bett. Ich war doch derjenige, der die Polizei benachrichtigt hat. Aus der Telefonzelle gleich neben ihrer Wohnung. Ich war das.«

Stefanaggi seufzte, blickte auf seine Uhr. Es war sechs. Feierabend. Die Gänge waren voller Stimmen, die mal ferner, mal näher, bis zu ihnen drangen. Alles ging ins Wochenende.

»Also fangen wir noch mal von vorn an.« Stefanaggi lehnte sich zurück. »Ich habe Zeit, kein Problem. Ich habe den ganzen Abend und die ganze Nacht und das ganze verdammte Wochenende Zeit. Sie waren mit ihr im Bett. Oder wollen Sie das auch bestreiten? Wir haben eingetrocknetes Sperma gefunden.«

Er pokerte, denn sie hatten nichts anderes gefunden als Hautschuppen. Keine auswertbaren Fingerabdrücke, kein Blut und auch kein Sperma.

»Nein, nein, nein … Sie hatte einen Kunden vor mir da und ich … Die Tür war nicht richtig zu. Und ich bin rein, und dann habe ich sie auf dem Bett gesehen … da bin ich in Panik geraten … Weil ich …« Er sprach den Satz nicht zu Ende.

»Weil Sie was?«