So sind wir - Gila Lustiger - E-Book

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Gila Lustiger

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Beschreibung

Wie ist ein Leben nach dem Holocaust möglich? In »So sind wir« erzählt Gila Lustiger von Eltern, Großeltern und näheren Verwandten, dem eigenen Heranwachsen zwischen Deutschland und Israel und von ihrem Vater Arno Lustiger, dem Auschwitz-Überlebenden, der dennoch in Deutschland blieb. Mit unverkennbar ironischem Blick nähert sie sich über das Private und Intime der europäischen Geschichte, berichtet von den Gründungsmythen des Staates Israel und der Zeit der Unabhängigkeitserklärung. Virtuos gelingt ihr so aus dem Mikrokosmos ihrer Familie die Erzählung einer Geschichte der europäischen Juden.

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ISBN 978-3-8270-7859-9August 2015Deutschsprachige Ausgabe:© 2015 Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München/BerlinCovergestaltung: ZERO Werbeagentur, MünchenCovermotiv: Fotografie von Gila Lustiger und ihrer Familievon © Israel SunDatenkonvertierung: psb, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Erster Teil

Als ich an einem frühen Morgen im Jardin du Luxembourg joggte, eine sportliche Betätigung, die ich seit einem guten Jahr betreibe und zu der ich mich anfangs zwingen musste, da sich mein Körper mit all den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln sträubte und ich in erbärmlichem physischem Zustand und grauenhafter Stimmung heimkam, wenn auch mit der Gewissheit, jetzt erst recht und von nun an noch rücksichtsloser mit meinem Körper umzugehen, um ihn und mich zu einem disziplinierten Vollstrecker meines Willens zu machen, weil Menschen, so hatten es mir mein Vater, der Auschwitzüberlebende, und meine Mutter, Tochter eines zionistischen Pioniers, beigebracht, nicht an ihrer Willenskraft, sondern an ihren Gefühlen zugrunde gehen, hatte ich plötzlich die Eingebung, dass ich nicht rannte, um mich in den Griff zu kriegen, sondern um förmlich aus allen Poren auszuschwitzen, was man Erinnerungsgiftstoff nennen könnte. Zuvor hatte ich freilich andere Wege gesucht, um aus dem Schlamm meiner Kindheit zu kriechen und mich von einer Vorgeschichte zu befreien, die, so dachte ich, nichts mit mir zu tun haben durfte. Vergebens. Nun rannte ich. Eigentlich dachte ich, beschämt, jaja, und doch: merde über diese Familie mit all ihren Macken und Unzulänglichkeiten und ihren Helden, Possenreißern, Weltverbesserern und Verlierern. Ganz besonders merde über die in meinem Hirn gefesselte Vergangenheit. Und dann dachte ich, während ich rannte, schwitzte, rannte – warum auch nicht? Hast dich über andere gebeugt. Warum also nicht über dich?

Und dann dachte ich, während ich meine monotonen Runden drehte, rannte, schwitze, rannte, Schritt für Schritt für Schritt, dring in sie ein, lass die Kindheit reden, Schritt für Schritt für Schritt …

1

Der erste Erinnerungsknoten löst sich leicht. Er zerfällt, kaum dass ich ihn berühre. Der erste Knoten ist aus Zeitungspapier. Zeitung von einst, mit Skandalen von einst. Gestern waren sie noch triumphierende Drachen, heute sind sie ein jämmerlicher Haufen Buchstaben auf vergilbtem Papier. Haben Zeitungswörter eine Ahnung davon, was ihnen bevorsteht? Wissen sie, dass sie schon abgedankt haben, kaum dass sie ihre Herrschaft antreten, und dass die Zeit an ihrem Thron rüttelt, während sie sich noch selbstgefällig spreizen und recken? Wissen sie, dass sie immer nur die vorletzte Version der Wirklichkeit fesseln, weil die Wirklichkeit schon zu einer anderen Verabredung, einer anderen Wahrheit davoneilt, während sie auf ihrem Standpunkt beharren? Doch nicht um Zeitungswörter geht es hier, sondern um Zeitungen, eher um meinen zeitungslesenden Vater.

Mein Vater las, wo immer er sich auch befinden mochte, Zeitung. Zu jeder Tages- und Nachtzeit vertiefte er sich mit ernstem Gesicht in Mitteilungen, Darstellungen und Nachrichten, riss Artikel, die ihn interessierten, heraus, faltete sie zusammen, legte sie auf einen Tisch, auf den Boden, auf einen Stuhl, in eine Jackentasche, um sie sogleich zu verlieren.

Leidenschaftlich riss mein Vater Artikel heraus, leidenschaftlich verlor er sie. So zumindest kam es mir vor: aufgeblättert, überflogen, herausgerissen, zusammengefaltet, verloren. Das kann nicht jeder. Mein Vater konnte auch anders, er wollte nur nicht. Als Kind stieg in mir der Verdacht auf, dass es sich bei der täglichen Verliererei nicht um Nachlässigkeit handelte, sondern um ein kompliziertes, zeitraubendes Verfahren, gewissenhaft geplant und ausgeführt, für das es mathematischer Genauigkeit, Ausdauer und Präzision bedurfte. Hier sollte etwas bewiesen werden, von meinem Vater, der nach bester abendländischer Manier mehrere Tageszeitungen las, vordergründig um sich zu informieren, das ist ja gängig in der gedeuteten Welt, aber in Wirklichkeit, weil er mitten in einem Märchen steckte, das magisch ausgeschmückt war: mit Papierfetzen, die verschwanden, mit Tischen voller Hinterhalte und Gefahren, mit Interieurs wie die unendlichen Räume des Universums. Für zerstreut wird er jetzt gehalten? So eine Art liebenswürdiger, geistesabwesender Gelehrter? Ach wo. Mein Vater war ein Held auf der Suche nach dem Schrein der Erkenntnis, sobald er ratlos seufzend durch die Wohnung schlich und mit zur Frage verkniffenen Augen mitten im Arbeitszimmer stehen blieb. Da stand er wie erstorben, mit Grüblerstirn, während das Kindermädchen uns ins Badezimmer rief, Mutters Freundinnen anriefen und auflegten, das Abendessen im Kochtopf brodelte und ein fahler Tag erschöpft gegen Osten zog. Da stand er allein, frei von Zeitlichkeit und Alltag, ein absolutes Bild männlicher Hartnäckigkeit.

Fand er, was er suchte?

Nie fand er sie, die Wahrheiten und Halbwahrheiten in fetten Schlagzeilen, die doch nichts geändert hätten, und gerade deshalb gewann dieses Unterfangen an Bedeutung, wuchs zu quasi mythischen Proportionen an, denn er gab nicht auf. Mein Vater sammelte und sammelte, sammelte, verlor und suchte zimmerauf, zimmerab, allerorts. Papierfetzen über moderne Ungeheuer und Dämonen, aber die kümmerten sich nicht um seinen Wunsch, sie zu bezwingen, und hatten sich verdrückt, bevor er ihnen den Kampf ansagen konnte. Oder aber es war so: die Mutter mit ihrer berüchtigten Aufräumneurose und ihrem uns rettenden praktischen Sinn … Ja, es kann nur die Mutter gewesen sein, die dem Vater half, den lockenden Sirenen zu entrinnen. Wer sonst als die Mutter hätte gedacht: weg damit, bevor wir im Papierfetzenmeer dieses Mannes ersaufen.

Dieses Kapitel ist meinem Vater gewidmet und seinen Zeitungen und seinen Zeitungsfetzen, die bei uns einmal monatlich im Mülleimer landeten. Und hier haben wir schon so ein mustergültiges Bild, das alles darstellt: den männlichen Wunsch, das verwirrende Leben zu ordnen und zu meistern, und die weibliche Passivität, die sich durch solch eine fieberhafte Aktivität nicht stören lässt. Mach nur deinen Blödsinn, sagten die verstohlen lächelnden Augen meiner Mutter, dann landeten die Enthüllungen dort, wo sie keinen mehr belästigen konnten, und das Leben nahm seinen eignen Lauf.

Am liebsten las mein Vater bei Dunkelheit, im Wohnzimmer auf unserem gelben Sofa liegend. Oft bin ich mitten in der Nacht aufgewacht, um nachzusehen, ob das Licht seiner Leselampe noch brannte. Der kleine Lichtstrahl drang zwar nicht bis in mein Zimmer, beleuchtete dafür aber den Flur. Wenn ich aufwachte, beugte ich mich vor, um durch die geöffnete Kinderzimmertür zu sehen. Erkannte ich mit zusammengekniffenen Augen das Muster des Parketts, war mein Vater noch wach und las. Manchmal, wenn ich zu müde war, um Parkettmuster zu inspizieren, und ich mich trotz des Wunsches, den Kopf vom Kissen zu heben, nicht bewegen konnte, oh, der Wunsch lag fest im Kopf, aber der Kopf lag schwer im Kissen … ich versuchte es ja, ich stützte mich unter der Decke mit der Hand ab, aber der Kopf blieb schwer, und der Mund blieb breiig, und der Körper, vom Schlaf versteinert, wog einen Zentner … lauschte ich, ob ich sein tiefes, heiseres Räuspern hörte. Mein Vater räusperte sich regelmäßig, wenn er las. Hm, hm, hm, hörte ich aus weiter Ferne. Hm, hm, hm, und schlummerte beruhigt ein. Lügnerin! Lügst ganz erbärmlich, warst nicht nur beruhigt, sondern dankbar. Die Feindin Schwester und die Feindin Mutter schliefen fest, so räusperte sich der Vater nur für dich. Sein Räuspern hab ich mir als Dieb erstohlen. Das kleine Kindchen Dieb hörte ein heiseres Hm, hm, hm, dann stopfte es sich den Daumen in den Mund und schlief glückselig ein.

Morgens vom Kindermädchen geweckt und husch, husch im Bett angezogen, war die ganze Szene vergessen. Und auch tagsüber keine Erinnerung an das Gefühl der Geborgenheit. Um Klarheit zu schaffen, tagsüber konnte mir das heisere Brummen meines Vaters schier gestohlen bleiben. Ich war ein hoffnungslos pragmatisches Kind. So pragmatisch veranlagt, dass mich zur Christkindzeit die Weihnachtsmänner mit ihren weißen aufgeklebten Bärten vor den Kaufhäusern zur Verzweiflung brachten. Wo war meine Frische? Wo meine Treuherzigkeit? Glaubte ich denn an nichts? Ich glaubte an die Ökonomie und daran, dass der arme Angestellte für etwas zusätzliches Geld fleißig schwitzte. Als Kind kundschaftete ich hartnäckig und verbissen die Erwachsenenwelt aus. Behielt es aber nicht für mich, denn ich bildete mir etwas auf die Richtigkeit meines Urteils ein. So folgte dem Staunen ein langer, erzieherischer Kommentar aus meckerndem Kleinmädchenmund. Ich hatte den Blick des Vaters geerbt. Jedoch, was dem Mann steht, versaut ein geschlechtsloses Engelsgesicht auf unverschämteste Weise.

Ja, wenn ich in meinen Schüleralltag stampfte, machte ich mir nichts mehr aus dem väterlichen Räuspern, denn dessen magische Wirkung war mit dem Ausklingen der Nacht verschwunden. Eine läppische Morgendämmerung, und schon war die Wirkung weg. Hatte sich auf die gleiche geheimnisvolle Weise davongeschlichen, wie es meine Kindernächte durchtänzelte. Als hoffnungslos pragmatisches Kind habe ich immer gewusst: Nur in der Stille der Nacht treiben Wörter und Laute ihren merkwürdigen Zauber, doch morgens treten sie aus ihrer magischen Wirkung heraus, um nützlich und geschwätzig zu werden.

Das kleine Hm, hm meines Vaters hätte mich tagsüber nicht beschützen können, denn der Vater war in seiner Männerwelt, und ich war hier, in meiner Kinderwelt. Der eine hüben, die andere drüben, wie es sich gehört. Nun wurde ich aufgerufen. Nun stand ich auf. Nun hatte ich ein klopfendes Herz und musste an die Tafel, um eine Rechenaufgaben zu lösen. Gila! hörte ich, dachte, ich hab mich wohl verhört. Gila! hörte ich mit einem lang gezogenen, verschnupften A und dachte: Das gibt’s doch nicht, warum gerade du? Sabine, Susanne, Torsten, Karin, Wolfgang, Detlef, Helge, alles schöne, deutsche Namen, warum gerade dich? Dachte, von wegen Gilaaaaaaaaa, wenn der deinen Namen nicht richtig aussprechen kann, soll er es eben lassen, und überhaupt, die Verhunzung hebräischer Namen gehört in Deutschland ein für alle Mal verboten, weil, das kannst du nicht, das hast du nie gelernt. Verdammt, dachte ich, gerade mal vier Minuten vor dem Klingeln, schob den Stuhl zurück, während Sabine, Susanne, Torsten, Karin, Wolfgang, Detlef, Helge scheinheilig durch die Gegend guckten, setzte mein Alles-unter-Kontrolle-Gesicht auf und trat vor den Lehrer.

Vielleicht waren es das Rascheln des Papiers und sein schweigsames Mienenspiel oder das Bewusstsein, dass mein Vater Zugang hatte zu ungeahnten Katastrophen und Gräueltaten, vielleicht war es das in die Dunkelheit getauchte Wohnzimmer und der kleine flimmernde Lichtkegel unter seiner Leselampe, vielleicht war es ja auch nur der Vater, nah und doch so fern und unzugänglich – wie dem auch sei, Zeitungen haben auch heute noch für mich das Aroma von Geheimnis und Männlichkeit. Ja, auch heute noch. Und ich lasse es mir nicht nehmen.

Ich habe vor kurzem gedacht, dass du keine Zeitung liest oder dass du dich aufregst, sobald du Zeitung liest, dich förmlich zu Tode langweilst, wenn du Zeitung liest, liegt nicht etwa daran, dass Zeitungen heute schlechter sind als damals, sondern einzig und allein an deinem dummen Zeitungskult.

Sehr wahrscheinlich schmierten Zeitungsfritzen damals mit dem gleichen exhibitionistischen Vergnügen Lebensgeschichten aufs Blatt, wenn sie Handlungen nicht scheinbar objektiv dokumentierten. Wahrheit oder Geschichten. Dazwischen gibt es heute nichts.

Selten kann man heute eine Meinung lesen, die als Meinung und nicht als Wahrheit daherkommt. So als besäße einer Wahrheit, nur weil er ein paar Jahre auf einer Journalistenschule war und gelernt hat, wie man eine Story schreibt und ein Interview führt. So als könne man sich die Wahrheit mit einem Universitätsabschluss aneignen. Heute sind Zeitungen Wahrheitsträger bis zum Grad des Schwachsinns. So dass einem nichts anderes übrig bleibt, als linke und rechte, wissenschaftliche, juristische, astronomische, geopolitische, dialektische, deutsche, französische und weiß der Teufel welche Wahrheiten in Zeitungen zu lesen, um sich kein klares, sondern ein konfuses und wahrheitsgemäßes Bild von der Wahrheit zu machen.

Nur die Todesanzeigen, die ich vor allem in »Le Monde« lese, haben noch das Aroma des Geheimnisses. Sie knistern regelrecht vor elektrischer Ladung. Sie bleiben über alle Maßen unheimlich. Sie bilden den menschlichen Höhepunkt jeder Zeitung. Die Todesanzeigen sind Schmerz, Drama, Intrige im Rohformat. Ich beuge mich mit einer Gier über sie, die man bei manchen Hypochondern und alten Knackern bemerkt, wenn ich es auch ohne deren Fröhlichkeit tue und ohne deren Schadenfreude, wieder einmal davongekommen zu sein.

Aber ich weiß schon: Wenn mir Zeitungen läppisch erscheinen, dann nur aus diesem einen Grund, weil sie die Vergangenheit mit der Gegenwart verschnüren und Erinnerung eine Krankheit ist. Um sie zu bekämpfen, muss man alle erinnerungsinfizierten Orte und Dinge meiden. Sie ausgrenzen, so wie man zur Zeit der großen Seuchen Stadtteile markiert und verboten hat. Aber was machst du? Obwohl du das alles weißt, sehe ich …

Das sehe ich: Wie andächtig er sie ins Auge fasste, wie zärtlich er sie ergriff, fast glich es einer Liebkosung, wenn er über sie strich, um sie zu glätten. Wie vorsichtig er sie umblätterte, zuvor hatte er den rechten Zeigefinger an den Mund geführt, damit eine kleine, zwischen den Lippen hervorhuschende Zungenspitze die Kuppe belecken und anfeuchten konnte. Und dann, nach diesem unschuldigen Vorspiel, das sich in großer, gebannter Stille zutrug – mein Vater überflog lässig, scheinbar ohne jegliches Interesse, die Zeitung –, der Moment, in dem eine seltsame Erregung seine Gesichtszüge erfasste. Mein Vater hatte etwas entdeckt, was ihn fesselte. Und schon lag sein Körper nicht mehr kraftlos auf dem Sofa; er spannte alle Muskeln an, richtete sich auf, zum Sprung bereit. Die Zeitung wurde gepackt und ihres Geheimnisses beraubt. Den Rest warf er achtlos auf den Boden. Und so lag die Zeitung, zerrissen und vernachlässigt, eine gedemütigte Geliebte, für die mein Vater sogleich Ersatz fand. Neue Zeitung mit neuen Schlagzeilen, die, da sie die Kunst des Verführens verstanden, nur andeuteten und nicht sofort zeigten, was mein Vater alles von ihnen bekommen könnte. Und wieder fing es von vorne an, und wieder verschlang er ihr Geheimnis mit den Augen, mit der Nase und dem Mund. Ja, eigentlich nur mit dem Mund. Mein Vater schluckte haufenweise Geheimnisse und spuckte keines aus.

Geizig, dachte ich, sobald ich auf die zusammengepressten Lippen meines Vaters blickte. Geizig, und empfand Wut und Neid. Aber Wut und Neid erschöpften sich bald und schlugen in Bewunderung um. Ich blickte stolz zum Vater hoch, der gewaltig und einsam auf dem Sofa thronte, und dachte: Man braucht schon den Hunger eines großen Mannes, ja die Konstitution eines Riesen, um so eine gefährliche, von Geheimnissen und Intrigen wimmelnde, stetig wachsende Welt im Maul behalten zu wollen.

Meine allererste Zeitungserinnerung? Ich glaube, es ist Folgende, jedenfalls sehe ich mich so, wie ich auf meinen Vater blicke, der in seinem Sessel sitzt und Zeitung liest. Ich hocke gleich neben ihm auf einem kleinen Schemel. Wie still es ist, als wäre die Zeit stehen geblieben. Langsam, ganz bedächtig, rücke ich an ihn heran. Arbeite mich Zentimeter um Zentimeter vor, während ich mit einer Puppe spiele. Lügnerin, spieltest gar nicht mit der Puppe, hieltest das Ding nur an den Bauch gedrückt, um dich mit angehaltenem Atem, ein wenig beunruhigt, auf den Sessel zuzubewegen, der ein Attribut des Vaters ist, weil er allabendlich sein Hinterteil darauf ruhen lässt. Zuweilen, wenn du in die Küche oder in das Bad gerufen wirst, bleibst du einen kurzen Augenblick vor der Wohnzimmertür stehen und streifst mit den Augen über die Konturen, über das brüchige Leder, über die Risse und Vertiefungen; mit einem Blick wie eine Liebkosung befühlst du diese unbedeutende, in Serie hergestellte Sitzmöglichkeit. Die Enttäuschung, dass der Vater nicht da ist, ist in ihr eingefangen, wie auch eine unterschwellige Spannung und Aufregung, die den Raum überflutet, sobald du gegen Abend seine Stimme im Flur vernimmst. Kommt er dann, gerätst du in seinen Sog.

Nun sitze ich neben ihm im Wohnzimmer, rieche den Bohnerwachsgeruch, der noch in der Luft hängt, höre das Rascheln seiner Zeitung, höre die Anweisung meiner Mutter, aufzudecken, die aus der Küche zu mir dringt, höre die Antwort des Kindermädchens, vielmehr jene nörgelnde, unterwürfige Tönung, die von einer servilen Stellung ausgeht. Und natürlich denke ich, während ich mit unbeirrbarem Blick die Puppe fixiere, ihren runden wächsernen Kopf, ihre blauen, stumpfen Glasaugen, ihre schwarzen Wimpern und die blonden Locken aus echtem Haar, wo meine Schwester ist, ob ich ihre Stimme vernommen habe, ob sie schon schläft, denn nur darum geht es mir, die Abwesenheit meines lesenden Vaters ganz für mich zu besitzen.

Ahnt mein Vater, was hier vorgeht? Ahnt er etwas von meinen Machenschaften? Weiß er, dass ich in seinen Wahrnehmungskreis eindringen will, ganz bedächtig, langsam und konzentriert? Mein Vater ist vertieft in Zeitung. Überfliegt Schlagzeilen. Liest Weltpolitik, Innenpolitik, Außenpolitik und hat kein Auge für die Liebespolitik seines Kindes.

Und dann, nicht wie ein durchdachter Schachzug, sondern als würde ich von unsichtbaren, von ihm ausgehenden Fäden gezogen, als hätten sie mich in Bewegung gesetzt, berühre ich ganz sanft den Stoff seines Hosenbeins, streiche mit den Fingerspitzen darüber, während er einen großen Bogen Papier umblättert. Mein Herz hämmert. Und da passiert es! Mit einer linkischen Bewegung klammere ich mich ungestüm an sein Bein. Und ich spüre, wie sich meine Flaumhaare im Nacken aufstellen und wie sich eine ungewohnte Empfindung im Körper ausbreitet, die mir auch später noch den Atem verschlagen wird. Keine Empfindung der Welt wird mir jemals schöner erscheinen als diese hier. Wonneschauer? Nein! Ein kleiner, goldener, sanfter Schmerz: herzzerreißende Sehnsucht.

Hat sich der Vater von meiner Umarmung freigemacht, hat er die Augenbraue hochgezogen und verärgert und überrascht: »Lass doch!«, gesagt, oder hat er seine Frau gerufen, damit sie ihm die Arbeit abnimmt, weil Kinderbetreuung Mutterarbeit ist? Ich weiß es nicht, sehe aber mich, wie ich schreie und mich weigere, ins Bett getragen zu werden. Sehe auch die Mutter und das Kindermädchen lächeln, denn mein Geschrei ist ein Beweis dafür, dass ich müde bin. Um halb acht muss das Kind ins Bett. So hat es zu sein. Um halb acht, da ist nichts zu machen. Und wenn der Vater um halb acht noch nicht zu Hause ist? Dann geht das Kind zu Bett, ohne gesehen zu haben, wie der Vater sein Hinterteil in den Lieblingssessel drückt.

Am liebsten möchte ich weinen, aber diese Genugtuung werde ich den zwei Frauen, die mich in die Verbannung tragen, nicht gönnen. Wie ich sie verabscheue! Wie verhasst sie mir doch sind. Und wie ich mir erträume, ihren Willen zu beugen und sie zu besiegen. Ohnmacht, Entrüstung und Wut, das spüre ich angesichts des mir aufgezwungenen Verzichts. Was denn? Das Kind wird doch nicht etwa … Was denn? Also doch! Das Kind gibt sich geschlagen und beißt aus Ohnmacht, Entrüstung und Wut in die Hand der Mutter, jene böse, lachende, grausame Hand, die es die Unerreichbarkeit mancher Wünsche lehrt und jene abstoßende Beständigkeit des nicht zu verwirklichenden Traums.

»Ah, du kleine Klafte«, sagt die Mutter und überlässt das Kind dem Kindermädchen.

Und noch eine Erinnerung, ganz vage, die da hochkommt: Diese hell glänzenden Nachmittage, sonntags zum Beispiel, wenn ich neben ihm sitze, keine Forderung im Kopf, nichts von ihm will, auch nicht den Vater beobachte, wie man einen Feind beobachtet oder jemanden, den man zu verstehen sucht, einfach Kind bin, dem die Zeit zu lang wird, neben dem abwesenden Vater, der lesenden Gestalt, dort in einer Ecke des Blickwinkels, schaue ich freundlich gelangweilt zu ihm herüber, werde abgelenkt von den hohen sich im Wind wiegenden Bäumen, werde abgelenkt von dem Herbsttag, der blassrosa im gelben Laub ersäuft, werde abgelenkt von einer Fliege, die gegen Scheiben klatscht, an der Gardine hochkriecht, kleiner, schwarzer Punkt auf weißem Stoff. Lerne ich so belanglos lieben, neben dem Vater, der mich auffordert, stumm, wie er es immer tut, mir zu nehmen, was es zu nehmen gab? Hier, sagte der stumme Mund, spiel damit. Und ich spiele mit der Fliege, mit den Bäumen und dem Herbsttag. Mein Erstaunen fällt mir wieder ein, wie schnell die Zeit vergeht, wie schnell auch die Angst vergeht, wenn man sich so vertieft, neben dem geliebten Vater, und plötzlich, anstrengungslos, quasi per Zufall, wird das Schauen ein Luftstrom, der über die Dinge gleitet oder eine Bewegung, tanzen die Dinge, geraten ins Wanken und spielen verrückt, bis sie von Vaterhand zum Einhalten gebracht werden, irgendwann, ganz vorsichtig streicht seine Hand über den verträumten Kinderkopf. Dann holt er mich zurück, und ich blicke auf und sehe verwirrt und beschämt, wieder einmal ertappt, in sein lächelndes, wissendes, zärtlich verschnürtes Gesicht.

Wenn mein Vater nicht liegend oder sitzend Zeitung las, dann meist, weil er vor der Auslage eines Zeitungskiosks stand. Stehend, staunend und bewundernd habe ich meinen Vater immer nur vor der Auslage eines Zeitungskiosks gesehen. Stehend, staunend und bewundernd in Paris, Venedig, Rom, Brüssel, London, New York, Madrid. Merkwürdigerweise gleichen sich alle Zeitungskioske der Welt. Hat mein Vater jemals etwas von der fremden Umgebung wahrgenommen? Es ist nicht zu vermuten. Sehr wahrscheinlich nahm er die fremde Umgebung nur wahr, wenn sie in der Zeitung abgebildet war. So konnte er also in Frankfurt, auf seinem Sofa liegend, den Petersdom bewundern, wenn er in der Zeitung abgebildet war, in Rom hingegen bewunderte er Zeitungen. Am meisten bewunderte mein Vater New York und Paris. Nicht etwa der Sehenswürdigkeiten wegen, die meinem Vater einfach gestohlen bleiben konnten, sondern weil er in New York jiddische Zeitungen und in Paris einfach alle Zeitungen kaufen konnte. Paris ist ihm daher immer als die herrlichste aller Städte erschienen. Und selbst wenn er heute nach Paris kommt, der Stadt, in der ich seit vierzehn Jahre lebe, so doch hauptsächlich zu dem Zweck, sich alle möglichen Zeitungen in allen möglichen Sprachen zu kaufen, um genau zu sein, in acht Sprachen, zu kaufen, um dann, auf meinem roten Ledersofa liegend, Artikel auszureißen, zusammenzufalten und zu verlieren.

Selbst im Louvre habe ich meinen Vater Zeitung lesen sehen, was angesichts der Horden japanischer Touristen, die mit Fotoapparat bewaffnet auf Mona-Lisa-Hatz gehen, ein wahres Kunststück ist. Dieses Kunststück rechne ich meinem Vater hoch an, wenn es mich auch fuchst, dass ich ihn nie habe für meinen Lieblingsmaler begeistern können. Den Caravaggio hat mein Vater nur einmal kurz beäugt, so zwischen Stellenmarkt und Sportbeilage, dann widmete er sich wieder der Wirtschaftspolitik.

Meines Vaters Welt ist eine Welt aus Druckerschwärze, Konflikten, Furcht, Analysen, Unheil, Hoffnung, Torheit und Prognosen, die von fleißigen Händen in Spalten gezwängt werden. Meines Vaters Welt ist eine unheilvolle, furchtbare, dumme Welt, wenn auch übersichtlich und ordentlich in Spalten gezwängt. Mein Vater hat einen bürgerlichen Horror vor Dummheit und Unheil, sie sind ihm nur in ihrer destillierten Form, als ausgeklügeltes Zeitungswort erträglich. Die Zeitung reinigt und trennt Dummheit und Unheil vom Gefühl, stülpt Dummheit und Unheil um wie einen schmutzigen Handschuh; so sieht mein Vater nicht den Schmutz, vor dem es ihn ekelt, wenn er sich auch intellektuell damit befasst. Mein Vater hat Dummheit und Unheil immer nur so, in der umgestülpten, destillierten Form verdauen können. Das Schlimmste hat ihn daher nie direkt berührt.

Die Zeitung, habe ich vor kurzem gedacht, während ich meinen Vater Zeitung lesen sah, zertrampelt Tag für Tag das Gefühl mit ihrer zurückhaltenden, kaltblütigen Ausgeglichenheit. Und gerade da, wo sie Leid am präzisesten beschreibt, zerstört sie es rücksichtslos. Die Zeitung, habe ich immer schon gedacht, ist hoffnungslos falsch, denn sie rettet eine übersättigte, zeitungslesende Gesellschaft vor schneidendem Schmerz, und nur aus einem Grund wird sie gelesen: damit man gemütlich, enthaltsam und vernünftig das menschliche Leid erträgt.

Ganz besonders eifrig sammelte mein Vater Meldungen über das, was ihm das Unheilvollste und Dümmste auf der Welt schien: antisemitische Ausschreitungen. Diesen Sammelwahn haben wohl nur Juden und Antisemiten, wenn auch nicht mit dem gleichen Gefühl im Bauch.

Mein Vater sammelte die Meldungen aus einem Grund: Er hatte sich einmal von der Welt überrumpeln lassen, das sollte ihm nie wieder geschehen.

1939 hatte mein fünfzehnjähriger Vater noch keine Zeitung gelesen, sondern sich nach assimilierter, aufgeklärter jüdischer Tradition in irgendeinen Griechen verbissen. Und auch 1940 war der Kindertraum meines sechzehnjährigen Vaters noch nicht ganz verdorrt, wenn er auch schon zu faulen begann. Mein Vater hörte aus großer Nähe ein deutsches Barbarengeschrei, aber eine deutsche Zeitung las er nicht. Und wenn er sie gelesen hätte, hätte er den Worten Glauben geschenkt? Hätte er, der doch noch in seiner atemberaubenden, großspurigen, nach den Wolken greifenden Zukunft steckte, erkannt, dass die Zukunft für ihn momentan zu Ende war? Der Kopf meines Vaters war voller Pläne, und selbst wenn er gelesen hätte, dass der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei in der Nähe der Stadt Oświęcim die Errichtung eines neuen Konzentrations- und Vernichtungslagers befohlen hatte, das Lager Auschwitz, in das mein Vater schon bald deportiert werden sollte, so hätte er nicht begriffen, dass dies und nichts anderes sein Schicksal war. Mein Vater hatte sich einmal von der Welt überrumpeln lassen, nun hielt er sich, Zeitungen in acht Sprachen lesend, informiert. Er hatte am eigenen Leib erfahren: Kein Jude kann der Welt entfliehen, und wenn er es versucht, dann bezahlt er seine Realitätsflucht mit dem Leben. Mein Vater las Zeitung, um sich der Welt zu stellen, doch zeitungslesend entfloh er unserer Kinderwelt.

Hasse ich deshalb Zeitungen? Ich hasse sie nicht. Oder vielleicht doch? Nein, ich hasse sie nicht. Widerwillen, Missmut, aber kein Hass. Warum ich sie nicht hasse? Nun, weil sie so eng mit meinem Vater verbunden sind. Deshalb freue ich mich jedes Mal, wenn ich in die Zeitung komme, als Anekdote oder Geschichte, die von meinem Vater gelesen, ausgerissen und verloren wird. Alle Geschichten, die über mich geschrieben worden sind, hat mein Vater gelesen, ausgerissen und verloren. Dass er sie verloren hat, freut mich fast mehr, als dass er sie gelesen hat. Denn so bin auch ich Teil des gewaltigen, unauffindbaren Archivs geworden, das mein Vater angelegt hat, um die Welt zu verstehen. Manchmal denke ich: Vielleicht liegen wir, all die Zeitungsfetzen, irgendwo herum. Ganze Korridore sehe ich. Weite Räume voll mit vergilbtem Papier bis zur Decke. Eigentlich sehe ich eine unendliche Zahl von sechseckigen Galerien mit weiten Entlüftungsschächten in der Mitte und eine spiralförmige Treppe, die sich abgrundtief senkt und sich weit empor erhebt.

In so eine Galerie einzudringen, mit dem Katalog der Kataloge, in dem alle Artikel alphabetisch und thematisch aufgelistet sind, das ist mein kühnster Traum. Manchmal denke ich: Könnte ich all die Zeitungsartikel lesen, die mein Vater gesammelt und verloren hat, um die Welt zu verstehen, würde ich meinen Vater verstehen oder die Welt, die mein Vater fürchtet und ersehnt. Aber vielleicht sammelt mein Vater ja nur Buchstaben, wie es die Kabbalisten schon immer machten. Wenn es Nacht wurde, zündeten sie viele Lichter an, nahmen Tinte, Feder und Tafel in die Hand und begannen Buchstaben zusammenzusetzen und zu vertauschen. Die Buchstaben sträubten sich, sie waren plump und dem Wort treu ergeben, aber das machte auf die Kabbalisten keinen Eindruck, sie warfen sie alle zusammen, trennten sie, bewegten sie so lang, bis die Welt von ihnen abfiel und das reine, magische Wort entstand.

Oder aber es lässt sich so erklären: Eine eingefleischte und auch durch Assimilation und Krieg nicht kleinzukriegende Sehnsucht. Eine hartnäckige jüdische Sehnsucht, Gemeinschaft zu stiften.

Ja, vielleicht sammelte mein Vater Zeitungsfetzen, weil er in einem Anflug von Größenwahn beschlossen hatte, das Gottesgeschäft in eigene Hände zu nehmen. Ein zeitungslesender Geschäftsmann ist zwar nicht dazu berufen, Gottesgeschäfte abzuwickeln, aber wen stört das. Und immerhin, was man auch von solch einer Vermessenheit halten möge, das vollbrachte er allabendlich in unserem Wohnzimmer: sammelte Geschichten wie Scherben eines zerbrochenen Spiegels. Sammelte und verlor und löste somit die Knoten, die Menschen an ihre Zeit und ihr Land binden, um sie auf den Ursprung zurückzuführen, der einer ist und ohne jede Zweiheit. Denn im Nichts sind wir vereint, die kleinen und die großen Tiere, die Trunkenbolde, Dichter, Mitläufer und Helden, die Trägherzigen, Hartnäckigen, Bedachtsamen und Verzweifelten.

Ach, ich merke schon, zu viele »vielleicht«. Und wieder bin ich da angelangt, wohin ich nicht wollte, werde ich Kommentator meines Vaters, der beharrlich schweigt. Ich sehe ihn schon, wie er dasitzt, mit einem ironischen Lächeln auf den Lippen. Kindchen, denkt er jetzt, sei nicht so übergescheit, mach mir lieber Kaffee. Und wenn du keine Ruhe geben kannst (wäre ja auch zu schön, aber wollen wir nicht träumen), ja, wenn du kleine Nervensäge weitermachen musst, dann erzähle wenigstens Handfestes. Erzähl deinen Lesern zuliebe, wie es sich gehört.

Also Handfestes, wie es sich gehört. Hier haben wir sie, die Episode, die sich so oder auch anders zugetragen haben mag: Etliche Jahre später saß mein Vater in einem Hotel in Paris auf einem jener verschossenen, mit staubigem rotem Samt bezogenen Sofas, die die letzten Überreste einer verruchten Epoche sind. Meine Mutter und meine Schwester besprachen die Ausflugsziele des Tages, und ich stand, wie gewohnt, etwas abseits und schaute dem hektischen Treiben zu. Mein Vater las Zeitung. Das war ein bekanntes und beruhigendes Bild. Meine Mutter sprach gnadenlos auf meine Schwester ein. Auch das war bekannt.

»Ja. Ja. Ja«, sagte meine Schwester.

»Ja. Ja. Ja.« Kurz, blitzschnell, gezielt. Wie Schüsse, mit denen sie der chaotischen Worteinheit des Kommandanten Mutter Paroli bot. An der Art, wie meine Schwester blickte, jener gläserne Blick, zwischen »ja« und »ja« und »ja«, erkannte ich, dass sie beschäftigt war. Meine Schwester sagte ein letztes »Ja«, dann ließ sie meine Mutter mitten im Satz stehen, setzte sich zu meinem Vater und legte ihm den Arm um die Schultern. Mein Vater faltete die Zeitung zusammen und lächelte.

»Schätzchen«, sagte er und tätschelte ihre Hand. Nach einer kurzen Pause folgte die Frage, die bei uns »Wie geht es dir? Bist du glücklich? Wie steht’s mit deinem neuen Freund?« ersetzt.

»Hast du gut geschlafen?«, fragte mein Vater, und sein Gesicht legte sich vorsorglich in Falten.

Meine Schwester verneinte, und mein Vater schüttelte betrübt den Kopf. Das war ein Ritual zwischen ihnen. Seit meine Schwester aus dem Haus gezogen war, fragte mein Vater sie regelmäßig, ob sie gut geschlafen habe. Und seit mein Vater meine Schwester fragte, ob sie gut geschlafen habe, schlief meine Schwester schlecht.

Meine Schwester hat, wenn man ihrer Antwort Glauben schenkt, seit 1980 nicht mehr gut geschlafen, denn sie zog mit sechzehn aus dem Haus, zuerst nach England in ein Internat, dann, als sie aus dem englischen Internat hinausgeschmissen wurde, sich eher hinausschmeißen ließ, in ein israelisches Internat, dann zog sie in eine eigene Wohnung nach Tel Aviv, zu ihrem Freund nach New York und schließlich wieder nach Tel Aviv. Meine Schwester hat seit über zwanzig Jahren nicht gut geschlafen, was eine ganz beachtliche Leistung ist, wenn man davon ausgeht, dass sie nicht an Schlaflosigkeit leidet.

Immer und überall wurde meine Schwester in geradezu verabscheuungswürdiger Weise von einem Störenfried geweckt. Wo sie all die Störenfriede hernahm? Vielleicht hatte sie ihren ganz persönlichen Störenfried, alt und schlampig, wenn auch in genügend gutem Zustand, um ihr von Europa nach Asien und von Asien nach Amerika und von Amerika nach Asien zu folgen. Vielleicht nahm sie ihn auch im Handgepäck mit.

Hast du gut geschlafen? war die einleitende Frage, und sie wurde von meiner Schwester so oder ähnlich beantwortet:

»Nein, der Hund von nebenan hat die ganze Nacht gebellt, weil sein Herrchen gestorben ist.«

»Mein Gott! Woran ist er denn gestorben?«

»Weiß nicht, aber sein Sohn hat ihn einfach verscharrt.«

»Wen? Den Hund?«

»Nein, den Vater. Meine Nachbarin hat’s mir gesagt, sie war bei der Beerdigung. Er soll sich sogar gefreut haben und ist in Berufskleidung gekommen.«

»In Berufskleidung?«

»In Berufskleidung!«

»Armes Schätzchen«, seufzte mein Vater, nachdem er und meine Schwester über zwei weitere Beerdigungen gesprochen hatten.

Oder so: »Nein, das Arschloch, das über mir wohnt, hat sich wieder einmal mit seiner Frau gestritten.«

»Welches Arschloch?«

»Na, der Kerl, der angeblich Professor ist. Professor für ich weiß nicht was.«

»Und ein Professor streitet sich mit seiner Frau?«

»Er schlägt sie sogar. Sie läuft den ganzen Tag mit Sonnenbrille herum.«

»Armes Schätzchen.«

Hast du gut geschlafen? war ein Ritual, und nach der Frage stürzten sich beide ins Leben. Meine Schwester erzählte, und mein Vater sah, was sie ihm zeigte, sah freilich mit ihren Augen und immer nur das, was sie ihm zu zeigen beschlossen hatte. Der Ausgangspunkt war freilich die kleine Egozentrikerin Schwester, um die sich in konzentrischen Kreisen die unglaubwürdigsten Geschichten drehten. Das Leben ist meiner Schwester eine ständige Zumutung. Gewissenhaft zählt sie die Zumutungen auf, setzt Personen in Szene, lässt sie aus einer Laune heraus verschwinden, holt sie ohne Erklärung wieder aus dem Dunkeln hervor. Hast du gut geschlafen? Und schon ging der Vorhang auf, und man sah ein Stück Welt voller funkelnder Kompliziertheiten. Meine Schwester erzählte von Verzweiflung, Hunden, Pennern, der Nachbarin und ihrem Professor, Sodbrennen, Unfällen und Einsamkeit. Manchmal, wenn das Gespräch eine zu intime Wendung nahm, beendete mein Vater es schnell mit »Armes Schätzchen«. Meistens jedoch umging sie Intimität oder wagte sich ganz behutsam, auf Zehenspitzen, heran. Meine Schwester hat aus ihrem Schlafzimmer schon immer eine Bühne gemacht, auf der sie entweder verliebt die Hauptrolle spielte oder als tyrannischer Regisseur Störenfriede herumflitzen ließ. Ich glaube, sie hat die meisten Ereignisse erfunden oder wenigstens erheblich ausgemalt. Sobald ihr Leben so ganz ohne Luft und Licht war, hat sie sich glanzvolle Details hinzugedichtet. Meine Schwester ist daher immer unsterblich verliebt, ihr Leben ist ein für die Bühne gemachtes Werk, und ihre Liebesgeschichten sind, wenn auch nicht tragisch, so doch epischer Natur. Der allerkleinste Fick nimmt mühelos romanhafte Formen an. Welch eine Probe für die Liebe, in der Tat!

Meine Schwester und mein Vater bewegten sich in ihrem schönen Ritual, und ich schaute belustigt, sehr wahrscheinlich auch neidisch zu, wie sie sich einen Spaß ohnegleichen leisteten: für ein paar Augenblicke aus dem dümmsten aller Gefängnisse zu entweichen, der Wirklichkeit. Ein besonders lobenswerter Realitätsfrevel, den ich nur begehen kann, wenn ich schreibe, und selbst dann … Meine Schwester erzählte ihre Geschichte zu Ende, und plötzlich veränderte sich ihr Gesicht, es wurde betrübt. Das las ich aus ihrem Gesicht heraus: Zaudern und das Bedürfnis, etwas loszuwerden. Zaudern und da, wieder, der Wunsch, etwas zu machen, was strengstens verboten war.

Meine Schwester lehnte den Kopf an die Schulter meines Vaters, ganz sanft, versuchsweise, dann fing sie an zu sprechen. Ich sah meinen Vater an. Er sagte nichts. Hörte er überhaupt zu? Ich spürte plötzlich, wie mein Herz zu pochen begann. Unverkennbar, meine Schwester benutzte Wörter, die für meinen Vater zu schmutzig waren. Er kniff die Nasenflügel zusammen, so als könne er den Gestank der Wörter nicht ertragen.

Schmutzige Wörter waren Wörter, die keinen praktischen Wert besaßen. Schmutzig war, was sich nicht sofort in etwas Positives umsetzen ließ. Schmutzig und doch so wirksam. Kein praktisches Wort hätte meinen Vater je aus seiner Reserve gelockt. Aber die schmutzigen, ah, die schmutzigen Wörter! Nicht beschissen, Fotze, ficken, Arschloch, da hätte mein Vater missbilligend die Stirne gerunzelt. Ein Stirnrunzeln, mehr nicht. Aber die ganz und gar schmutzigen Wörter, der reinste Dreck an Wörtern, der Abschaum sozusagen, den meine Schwester hier beschlossen hatte, dem Vater rücksichtslos unter die Nase zu schmieren, das waren Wörter, die Erinnerung und, schlimmer noch, seinen Schmerz heraufbeschworen.