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Die Schulter ist eines der komplexesten Gelenke des Menschen. Dementsprechend vielschichtig können Beschwerden sein, die Patienten im Bereich von Glenohumeralgelenk und Schultergürtel haben. Die Autorinnen und Autoren dieses Buches stellen einen evidenzbasierten physiotherapeutischen Behandlungsansatz vor – von der funktionellen Anatomie der Schulter über Anamnese und körperliche Untersuchung bis hin zu aktiver und passiver Therapie sowie Selbstmanagement.
Ergänzt werden die Inhalte mit Fallbeispielen, die zeigen, wie die beschriebenen Untersuchungs- und Therapieverfahren problemlos in der Praxis umzusetzen sind.
Die Beschreibung chirurgischer Verfahren sowie der jeweiligen Nachbehandlung runden das Buch ab.
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Seitenzahl: 657
Veröffentlichungsjahr: 2022
Marcel Enzler, Harald Bant
Lukas Ernstbrunner, Silvan Beeler, Paul Borbas, Martin Ophey, Samy Bouaicha, Linda Dyer, Robert van den Berg, Arjen van Duijn, Christian Weber, Florian Grubhofer, Karl Wieser
475 Abbildungen
„Man soll gebrochene und verrenkte Glieder nach den Weisungen der Natur und nicht nach vorgefassten Meinungen behandeln.“ Aber Bewegungstherapie habe hinzuzutreten, wobei die Schmerzen beachtet und auf Gewalt verzichtet werden soll. Diese Worte stammen von Hippokrates von Kos, der die hippokratische Schrift „über die Gelenke“ verfasste und von 460–377 v. Chr. lebte.
Einige seiner Auffassungen finden sich auch heute noch in der Physiotherapie wieder, so z.B. die Empfehlung zur „Ruhigstellung“ nach einer Verletzung. Heute weiß man, dass es nach einer Verletzung oder einem operativen Eingriff an der Schulter eine physiotherapeutische Behandlung geben wird, die von geschulten Physiotherapeut*Innen übernommen wird.
Die Physiotherapie setzt ein, wenn beim Menschen Funktions-, Aktivitäts- und Partizipationseinschränkungen auftreten. Gerade Verletzungen oder Operationen an der Schulter sind hierfür ein gutes Beispiel. Der Patient ist durch Entzündungszeichen, Beweglichkeits-, Koordinations- oder Kraftverlust in seinen Aktivitäten des täglichen Lebens eingeschränkt.
Die Aufgabe der Therapeut*Innen ist es, durch einen wissenschaftlich fundierten klinischen diagnostischen Prozess diese Faktoren zu analysieren, einen Behandlungsplan aufzustellen und die Rehabilitation mit dem Patienten so zu planen, dass wieder ein optimales Funktionieren auf der Partizipationsebene erreicht wird.
Die verletzten Bindegewebsstrukturen und die Dauer der einzelnen Wundheilungsphasen bilden hierbei den Rahmen für den therapeutischen Prozess. Innerhalb dieser zeitlichen Vorgabe bestimmen die Belastbarkeit der verletzten Strukturen und die motorischen sowie konditionellen Fähigkeiten die Therapie. Das Ziel ist es, die physiologischen Prozesse unter möglichst optimalen Bedingungen zufriedenstellend ablaufen zu lassen. Die wichtigsten Maßnahmen in der Physiotherapie sind Aufklärung und Beratung (patient education), passive und aktive physiotherapeutische Maßnahmen und das Selbstmanagement. Auch die Evaluation und die Dokumentation der Fortschritte dürfen in ihrer Bedeutung für den Prozess nicht unterschätzt werden. Denn von ihnen hängt das weitere therapeutische Vorgehen ab, damit erneute Verletzungen infolge einer übermäßigen Belastungen oder falscher Bewegungsabläufe verhindert werden.
Der Inhalt dieses Buches wird genau diesen Anforderungen gerecht und gibt eine detaillierte Einsicht in alle diese Punkte.
Das Kapitel 1 beschreibt wichtige Grundlagen, um muskuloskelettale Beschwerden an der Schulter besser verstehen und behandeln zu können. Es befasst sich mit der funktionellen Anatomie des Schultergürtels, den physiologischen Prozessen der Wundheilung und deren klinischer Relevanz für die Behandlung. Das Verständnis der 6 typischen klinischen Bewegungsmuster der Schulter ist für den diagnostischen Prozess und die Behandlung ebenso wichtig wie die Kenntnis des in diesem Kapitel beschriebenen physiotherapeutischen Qualitätszyklus.
Kapitel 2 gibt einen umfassenden Einblick in den gesamten klinischen diagnostischen Prozess bis hin zur Erstellung der physiotherapeutischen Diagnose.
Das 3. Kapitel bietet einen klinischen Leitfaden für passive- und aktive physiotherapeutische Maßnahmen in der Therapie der Schulterpathologien. Ebenso werden passive- und aktive Übungsempfehlungen erläutert und ein methodischer Aufbau für die aktive Schulterrehabilitation beschrieben.
Das Kapitel 4 vermittelt Einblicke in die Schulterchirurgie deren wichtigste und häufigste Entscheidungswege bei der Indikationsstellung zur Operation. Neben einer kurzen Darstellung der gängigen Operationsverfahren selbst, werden auch deren Voraussetzungen sowie ihre Konsequenzen für das weitere Vorgehen und die Behandlung im Anschluss daran beschrieben.
In Kapitel 5 werden je drei konservative und drei postoperative praxisnahe Fallbeispiele ausführlich dargestellt. Dabei lassen sich die Umsetzung der theoretisch abgehandelten Grundlagen aus den vorherigen Kapiteln in konkrete Entscheidungswege im Patientenmanagement und die Übertragung in die tatsächliche Behandlung nachverfolgen. Es werden dafür nicht nur die rein wissenschaftlichen Evidenzen aus der Physiologie und Pathologie einbezogen, sondern auch die empirischen Evidenzen der jeweiligen Experten sowie die Überzeugungen und Erfahrungen des Patienten berücksichtigt.
Das vorliegende Buch basiert auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, Expertenmeinungen und den persönlichen Erfahrungen der Autoren aus vielen Jahren praktischer Tätigkeit mit Patienten und deren muskuloskelettalen Schulterbeschwerden.
An dieser Stelle gilt unserer besonderer Dank Jan Derek Stenvers. Seine große klinische Erfahrung in der Diagnostik und Therapie von Patienten mit Schulter-, Nacken- und Armbeschwerden, hat in all den Jahren der engen Zusammenarbeit das Physiotherapeut*Innen-Team der Universitätsklinik Balgrist in ihrem Denken und Handeln bei der Behandlung von Schulterpatienten stark beeinflusst. Die vielen Untersuchungs- und Behandlungssupervisionen sowie die zahllosen fachlichen Diskussionen führten im Verlauf der Jahre zu einem besseren Verständnis von Schulterproblematiken. Diese Erfahrungen und Erkenntnisse haben den Inhalt und die Struktur dieses Buches nachhaltig beeinflusst.
Jan Derek Stenvers
Jan Derek Stenvers
Im Jahr 1975 startete Stenvers zusammen mit dem Neuroradiologen W. J. Overbeek Untersuchungen zur Bewegungsmechanik der Frozen Shoulder mithilfe von Durchleuchtungen. Es wurde ein standardisiertes Untersuchungsverfahren entwickelt, wobei das Durchleuchtungsbild auf Video aufgenommen wurde. Die Analysen von über 2000 solcher Durchleuchtungen erweiterte unser Verständnis für die Bewegungsmechanik bei verschiedenen Schulterpathologien. Auf dieser Grundlage hat Stenvers 6 typische klinische Bewegungsmuster der Schulter beschrieben. Weiter hat er einen klinischen Untersuchungs- und Behandlungsalgorithmus beschrieben, mit dem Physiotherapeut*Innen eine eingeschränkte Schulterfunktion beurteilen und mit geeigneten Behandlungstechniken angehen können. 1994 promovierte er an der medizinischen Fakultät der Universität Groningen mit seiner Doktorarbeit „De primaire Frozen Schoulder“. Er ist Autor mehrerer Publikationen. Als Physiotherapeut hat er in seiner Praxis ab 1984 nur Nacken-, Schulter- und Armbeschwerden behandelt. Über 20 Jahre hat er in den Niederlanden, in Deutschland und in der Schweiz sein Wissen und seine Erfahrungen regelmäßig in einem 6-tägigen Kurs an Physiotherapeut*Innen weitergegeben. In seinen jungen Jahren war er ein leidenschaftlicher Fußballspieler. Aufgrund einer Krebserkrankung verstarb Jan Derek Stenvers 2015 leider viel zu früh.
Wir bedanken uns zudem herzlich bei den Mitautoren Linda Dyer, Arjen van Duijn, Christian Weber, Robert van den Berg, Martin Ophey für ihre Beiträge – Anregungen und gute Zusammenarbeit.
Ein weiterer Dank geht an die Ärzte des Schulter- und Ellenbogenteams der Universitätsklinik Balgrist (Samy Bouaicha, Karl Wieser, Florian Grubhofer, Lukas Ernstbrunner, Paul Borbas, Silvan Beeler), die für den Inhalt von Kapitel 4 „Operationen“ verantwortlich waren. Schon bei der ersten Anfrage nach einer Mitarbeit stießen wir auf großes Interesse und bekamen auch prompt ihre Zusagen.
Ebenso möchten wir uns bei dem Arzt und Autor Markus Vieten als Übersetzer und Redakteur dieses Buches bedanken.
Last but not least bedanken wir uns bei Prof. em. Christian Gerber für das Verfassen des Geleitwortes sowie die langjährige Zusammenarbeit und den guten fachlichen Austausch im Interesse der Schulterpatienten.
Marcel Enzler und Harald Bant
Die Behandlung von Schulterpathologien hat sich in den letzten Dekaden zu einem großen Teil von der Hausarztpraxis und der Rheumatologie in die Orthopädie und die Chirurgie verlagert. Die detailgenauen und ausdifferenzierten Darstellungen aus den bildgebenden Verfahren haben die sorgfältige Erhebung eines klinischen Untersuchungsbefundes über Anamnese und körperliche Untersuchung beim operierenden Arzt in den Hintergrund gedrängt. Dass dabei beispielsweise Pathologien des Akromioklavikulargelenks oder Zeichen einer Frozen Shoulder regelmäßig übersehen und skapulothorakale Probleme gar nicht berücksichtigt werden, hat einen großen Anteil daran, dass Operationen aufgrund fehlerhafter Indikationen durchgeführt werden und die chirurgischen Behandlungsresultate entsprechend schlecht sind.
Erst nach Jahrzehnten einer deutlich zu aggressiven, chirurgischen Therapie wissen wir heute um die äußerst fragwürdige Wirksamkeit einiger Operationen.
Interessierte und begabte Physiotherapeut*Innen werden meist nicht von Zufallsbefunden aus der Bildgebung fehlgeleitet, sondern bleiben auf eine gründliche Befragung und die körperliche Untersuchung angewiesen. Sie prüfen die Funktionen, beobachten Befunde und korrigieren gezielt Dysfunktionen im hochkomplexen Schulter-Arm-System. Sie verbessern stets ihre klinische Diagnostik und entwickeln durch das angesammelte Wissen und die Erfahrung Therapien, die ihre Position in der Medizin verändert haben. Man ist nicht mehr allein die ausführende Instanz ärztlicher Verordnungen, sondern hat sich durch eigene und bereichernde Ergänzungen zur Chirurgie oder Pharmakotherapie emanzipiert und ist zum eigentlichen Repräsentanten einer konservativen, also bewahrenden Therapie am Bewegungsapparat geworden.
Es gibt posttraumatische Schultergelenksverletzungen, die kaum einer konservativen Therapie zugänglich sind, und auch bei der fortgeschrittenen Arthrose beschränkt sich die Physiotherapie vorwiegend auf die postoperative Phase. Wesentlich häufiger sind aber strukturelle idiopathische oder posttraumatische Schultersteifen oder funktionelle Dyskinesien, bei denen die konservative Therapie nicht nur indiziert, sondern vielfach auch der chirurgischen überlegen ist. Ich habe gerade in diesen Bereichen viel von Physiotherapeut*Innen gelernt und bedanke mich auch im Namen meiner Patienten sehr dafür.
Das vorliegende Buch zeigt, wie wichtig fundierte Anatomiekenntnisse und das Verständnis der funktionellen Anatomie sind. Es zeigt zudem, dass wohl auch in der Physiotherapie letztlich eine Spezialisierung unumgänglich ist, wenn es um die Lösung schwieriger Probleme geht. Das Buch erklärt den klinischen diagnostischen Prozess, die Prinzipien von konservativer physikalischer Therapie, ohne sich dabei in der Theorie zu verlieren. Es zeigt vielmehr das therapeutische Potenzial an konkreten Patientenbeispielen auf und ist daher praxisrelevant.
Die enge Zusammenarbeit der physiotherapeutischen und orthopädischen Schulterteams in den letzten 20 Jahren hat nicht nur aufrichtigen, gegenseitigen Respekt erzeugt, sondern zweifelsfrei die Abklärung und Behandlung der uns anvertrauten Patienten verbessert. Ja, es gibt Indikationen für die Chirurgie – aber es gibt auch Indikationen für die Physiotherapie. Es ist Zeit, dass dieses Buch erscheint, denn es ist die erhoffte und erwartete Hilfe bei der Auswahl der optimalen Behandlungsform.
Ich gratuliere den Autoren und Herausgebern für einen außerordentlich wertvollen Beitrag zu unserem Verständnis und Wissen.
Prof. em. Christian Gerber, Orthopädischer Chirurg
Präsident der SECHC (Spanish Society of Shoulder and Elbow Surgery 1995–1998)
Vierfacher Preisträger des Neer Award of the American Shoulder and Elbow Surgeons
Pioneer of Shoulder Surgery der ICSES
Titelei
Vorwort
Geleitwort
1 Funktionelle Anatomie und biomechanische Aspekte der Schulter
1.1 Anatomie des Schultergürtels
1.1.1 Glenohumeralgelenk
1.1.2 Skapulothorakalgelenk
1.1.3 Sternoklavikulargelenk
1.1.4 Akromioklavikulargelenk
1.1.5 Subakromiale Gleitfläche
1.1.6 Vertiefung: Das Glenohumeralgelenk – Stabilität des Art. glenohumerale
1.1.7 Muskuläres Zusammenspiel bei funktionellen Bewegungen – Beispiel Wurfbewegung
1.2 Wundheilung
1.2.1 Einleitung
1.2.2 Entzündungsphase – Hämostase
1.2.3 Entzündungsphase – vaskuläre und zelluläre Phase
1.2.4 Proliferationsphase
1.2.5 Remodellierungsphase
1.2.6 Physiotherapeutische Interventionen in der Maturationsphase
1.2.7 Zusammenfassung
1.3 Bewegungsmuster der Schulter
1.3.1 Einleitung
1.3.2 Die normal bewegliche Schulter
1.3.3 Die leicht eingeschränkte Schulter
1.3.4 Die partiell eingeschränkte Schulter
1.3.5 Die 90° eingeschränkte Schulter
1.3.6 Die instabile Schulter
1.3.7 Funktionsverlust
1.4 Physiotherapeutischer Qualitätszyklus
1.4.1 Einleitung
1.4.2 Die diagnostische Phase
1.4.3 Die therapeutische Phase
1.5 Literatur
2 Diagnostik der Schulter
2.1 Einleitung
2.2 Allgemeine Anamnese
2.3 Spezielle Anamnese
2.3.1 Aktuelle Beschwerden
2.3.2 Beginn und Verlauf der Beschwerden
2.3.3 Verhalten, Art und Intensität der Beschwerden
2.3.4 Lokalisation der Beschwerden
2.3.5 Fragebogen
2.3.6 Vorläufige Hypothese
2.4 Untersuchung der Schulter
2.4.1 Inspektion
2.4.2 Aktive Bewegungsuntersuchung
2.4.3 Passive Bewegungsuntersuchung
2.4.4 Palpation
2.4.5 Screening angrenzender Gelenke
2.4.6 Kraftmessung der Schultermuskulatur
2.5 Spezifische Tests der Schulter
2.5.1 Test auf neurovaskuläre Kompression (Roos-Test)
2.5.2 Neurologie (Kennmuskeln, Reflexe, Sensibilität)
2.5.3 Rotatorenmanschette und M. deltoideus
2.5.4 M. biceps brachii
2.5.5 Akromioklavikulargelenk
2.5.6 Instabilität
2.5.7 Hyperlaxität
2.5.8 Subakromiales Impingement-Syndrom
2.5.9 Aktivitätsorientierter Funktionstest
2.6 Physiotherapeutische Diagnose
2.7 Literatur
3 Therapie der Schulter
3.1 Aufklärung und Beratung
3.1.1 Was genau versteht man unter Patientenaufklärung?
3.1.2 Patientenzentrierte Behandlung
3.1.3 Was ist „Physiologik“?
3.1.4 Wie funktioniert der Drehzahlmesser?
3.2 Passive physiotherapeutische Maßnahmen
3.2.1 Mobilisationstechniken bei glenohumeraler Mobilitätseinschränkung
3.2.2 Mobilisationstechniken bei skapulothorakaler Mobilitätseinschränkung
3.2.3 Automobilisationstechniken
3.2.4 Weichteiltechniken
3.3 Aktive physiotherapeutische Maßnahmen
3.3.1 Einleitung
3.3.2 Reha-/Trainingskreis Beweglichkeit
3.3.3 Reha-/Trainingskreis Koordination
3.3.4 Reha-/Trainingskreis Kraft
3.3.5 Progressiver Aufbau der Skills
3.4 Schulterübungskarten nach den „5 P“
3.4.1 Preparators
3.4.2 Pivoters
3.4.3 Protectors
3.4.4 Positioners
3.4.5 Propellors
3.5 Literatur
4 Operationen der Schulter
4.1 Operationen der Rotatorenmanschette
4.1.1 Einleitung
4.1.2 Evaluation der Rotatorenmanschettenruptur
4.1.3 Therapie
4.2 Operationen bei glenohumeraler Instabilität
4.2.1 Einleitung
4.2.2 Postoperative Physiotherapie
4.3 Operationen bei Omarthrose
4.3.1 Einleitung
4.3.2 Arthroskopisches Débridement (Gelenktoilette)
4.3.3 Arthrodese (Gelenkversteifung)
4.3.4 Hemiprothese
4.3.5 Totalprothese
4.3.6 Inverse Totalprothese
4.4 Operationen bei Frakturen und ligamentären Verletzungen des Schultergürtels
4.4.1 Skapulafraktur
4.4.2 Klavikulafraktur
4.4.3 Proximale Humerusfraktur
4.4.4 Humeruskopfnekrose
4.4.5 Verletzungen des Akromioklavikulargelenks
4.4.6 Verletzungen des Sternoklavikulargelenks
4.5 Literatur
5 Sechs Fallbeispiele aus der Praxis
5.1 Fall 1: Tennisspieler mit traumatischer anteriorer Schulterinstabilität – konservativ
5.1.1 Einleitung
5.1.2 Vorgeschichte und Anamnese
5.1.3 Untersuchung
5.1.4 Behandlungsplanung
5.1.5 Behandlung und Rehabilitation
5.1.6 Abschluss der Behandlung
5.2 Fall 2: Tendinose der rechten Supra- und Infraspinatussehne – konservativ
5.2.1 Einleitung
5.2.2 Vorgeschichte und Anamnese
5.2.3 Untersuchung
5.2.4 Behandlungsplanung
5.2.5 Behandlung und Rehabilitation
5.2.6 Abschluss der Behandlung
5.3 Fall 3: Frozen Shoulder – konservativ
5.3.1 Einleitung
5.3.2 Vorgeschichte und Anamnese
5.3.3 Untersuchung
5.3.4 Behandlungsplanung
5.3.5 Behandlung und Rehabilitation
5.3.6 Abschluss der Behandlung
5.4 Fall 4: Hornussenspieler mit Rotatorenmanschettenruptur – postoperativ
5.4.1 Einleitung
5.4.2 Vorgeschichte und Anamnese
5.4.3 Untersuchung
5.4.4 Operation
5.4.5 Nachbehandlung und Rehabilitation
5.4.6 Abschluss der Behandlung
5.5 Fall 5: Fußballspieler mit anteroinferiorer Schulterinstabilität – postoperativ
5.5.1 Einleitung
5.5.2 Vorgeschichte und Anamnese
5.5.3 Untersuchung
5.5.4 Operation
5.5.5 Nachbehandlung und Rehabilitation
5.5.6 Abschluss der Behandlung
5.6 Fall 6: Rentner nach inverser Schulterprothese – postoperativ
5.6.1 Einleitung
5.6.2 Vorgeschichte und Anamnese
5.6.3 Untersuchung
5.6.4 Operation
5.6.5 Nachbehandlung und Rehabilitation
5.6.6 Abschluss der Behandlung
5.7 Literatur
6 Abkürzungsverzeichnis
Autorenvorstellung
Herausgeber
Autoren
Anschriften
Sachverzeichnis
Impressum
Arjen van Duijn
Der Schulterkomplex besteht aus mehreren Gelenken ( ▶ Abb. 1.1). Das Sternoklavikulargelenk, das Akromioklavikulargelenk und das Glenohumeralgelenk gelten als echte Gelenke. Sie verfügen über eine Gelenkskapsel, Synovialflüssigkeit und knorpelbedeckte Knochenanteile. Die skapulothorakale Gleitfläche und die subakromiale Gleitfläche werden als Nebengelenke oder auch unechte Gelenke bezeichnet, da sie weder über Kapsel und Synovia noch über Knorpel verfügen, aber dennoch Gleitbewegungen ausführen können ▶ [86].
Abb. 1.1 Die Gelenke des Schulterkomplexes: 1. Glenohumeralgelenk; 2. skapulothorakale Gleitfläche; 3. Sternoklavikulargelenk; 4. Akromioklavikulargelenk; 5. subakromiale Gleitfläche. Die echten Gelenke sind mit blauen Nummern versehen, die Gleitflächen mit roten Nummern.
Die Zusammenarbeit aller Gelenke ermöglicht das große Bewegungsausmaß des Schultergürtels ( ▶ Tab. 1.1 ).
Tab. 1.1
Normale Bewegungsausmaße der Schultergelenke (Kap.
▶ 2.4.3
).
Gelenke
Abduktion
Flexion
AR in Adduktion
Extension
Transversale Adduktion
90° Abduktion IR/AR
Glenohumeralgelenk (1)
passiv
85°–105°
85°–100°
5°–75°
40°
10°–20°
70°/90°–120°
alle Gelenke 1–5
aktiv
Endpunkt der Flexion 155°–165°
155°–165°
-
-
Das Glenohumeralgelenk (Art. glenohumeralis, Schultergelenk) hat wohl die wichtigste Rolle im Schulterkomplex. Die herausragendsten Merkmale des Gelenks sind seine große Beweglichkeit und das komplexe System, das erforderlich ist, um es zu führen und zu stabilisieren. Gelenkpartner sind die konkave Cavitas glenoidalis der Skapula und das konvexe, fast sphärische Caput humeri. Die Cavitas glenoidalis ist nach lateroventral und einige Grade nach kranial gerichtet und hat eine ovale, etwas birnenartige Form.
Die Konkavität der Cavitas selbst ist nicht sehr tief. Erst der meniskusartige Ring (Labrum glenoidale), der am Pfannenrand und an der Gelenkkapsel inseriert, verleiht der Konkavität Tiefe. Das Caput humeri verfügt über eine viel größere Knorpeloberfläche als die Cavitas glenoidalis (Verhältnis 4:1), sodass man den Vergleich zu einem Golfball (Caput humeri) auf einem Golf-Tee für den Abschlag (Cavitas glenoidalis) ziehen kann ( ▶ Abb. 1.2).
Die Konsequenz für die Biomechanik wird hierdurch evident. Das Caput humeri muss bei Bewegungen immer zentriert auf der kleinen Cavitas glenoidalis bleiben. Alle passiven und aktiven stabilisierenden Strukturen sind darauf ausgerichtet, diese Situation zu erhalten, da ansonsten der Humeruskopf vom „Tee“ fallen, sprich subluxieren würde. Für das Rollgleiten bedeutet dies, dass ein 1:1 Verhältnis besteht: Jeder Millimeter der Rollbewegung wird unmittelbar mit einer gleichgroßen Gleitbewegung in entgegengesetzter Richtung kompensiert.
Abb. 1.2 Golfball auf einem Golf-Tee.
Beim Skapulothorakalgelenk (Art. scapulothoracalis, Schulterblatt-Thorax-Gelenk) liegt die Skapula auf dem Rippenbogen des hinteren Brustkorbes auf, die Gleitflächen werden durch Muskeln gebildet, die zwischen der Skapula und dem Rippenbogen liegen. So entsteht eine Gleitfläche zwischen dem M. subscapularis und dem M. serratus anterior und eine weitere zwischen dem M. serratus anterior und dem Rippenbogen ▶ [86]; ▶ Abb. 1.3).
Abb. 1.3 Die beiden skapulothorakalen Gleitflächen (rot), Ansicht von kranial. Ventraler Zugang: Gleitfläche zwischen dem M. serratus anterior (blau) und dem M. subscapularis (grün); dorsaler Zugang: zwischen M. serratus anterior und Rippenbogen.
Empirische Klinik
Die echten Schultergelenke reagieren bei akuter Schädigung oftmals mit Schwellung, Schmerz, Erwärmung und Funktionsverlust und bei chronischen Beschwerden mit degenerativen Veränderungen wie etwa Arthrose.
Die Gleitflächen, wie das skapulothorakale System, neigen hingegen eher bei Immobilisationen oder nach Eingriffen zu Funktionsstörungen mit bindegewebigen Vernarbungen oder Verklebungen. Das Gleitlager unterhalb des M. deltoideus und des Akromions enthält zudem noch Bursae. Diese Schleimbeutel können auf eine chronische Reizung mit Schwellung reagieren und unter ungünstigen Umständen zunehmend „verkalken“. Deshalb wird in der Praxis die Verklebung zwischen den verschiedenen Schichten durch manuelle Techniken gelöst, um die freie Beweglichkeit der Strukturen untereinander zu erhalten ▶ [35]; Kap. ▶ 3.2).
Eine Bewegung des Armes über 30° in allen Ebenen erfordert fein abgestimmte Bewegungen aller Gelenke des Schulterkomplexes. Eine Funktionsstörung in einem dieser Gelenke wirkt sich sofort auf die umliegenden Gelenke aus. Dadurch wird es bei der Befundung oft schwierig, kausale Zusammenhänge zu erkennen. Das Wissen darüber, wie die Gelenke funktionell zusammenspielen und wie ihre jeweiligen normalen Bewegungsmöglichkeiten aussehen, ist hier sehr wichtig.
Zusatzbewegungen bei maximalen Bewegungen des Schultergürtels
Bei maximaler Flexion oder Abduktion wird das Bewegungsausmaß des Glenohumeral- und Skapulothorakalgelenks auch maximal ausgeschöpft. Um eine 160°- bis 170°-Position zu erreichen, muss sich die Brustwirbelsäule (BWS) mitbewegen: Bei einer einarmigen Bewegung ist dies eine homolaterale Rotation und Extension, bei zweiarmigen Bewegungen eine Extensionsbewegung in der BWS.
Diese zusätzlichen Bewegungen setzen nicht erst am Ende der Bewegung ein, sondern bereits wesentlich früher. Allerdings gibt es hier auch individuelle Unterschiede (Kap. ▶ 2.4.3).
Das Sternoklavikulargelenk (Art. sternoclavicularis, mediales Schlüsselbeingelenk) verbindet den Schultergürtel mit dem Brustkorb und leistet durch Beweglichkeit in mehreren Richtungen einen wesentlichen Beitrag zu der flüssigen Bewegung des Schultergürtels. Die wichtigsten Bewegungsausmaße als Referenz bei der Befundung sind in ▶ Tab. 1.2 aufgelistet.
Tab. 1.2
Bewegungsgrade der Klavikula
▶ [26]
.
Bewegung
Ausmaß in Grade
Elevation
30°
Depression
-
Protraktion
30°
Retraktion
20°
Rotation um die eigene Achse
45°
Das Sternoklavikulargelenk ist ein Sattelgelenk, das über Kapsel und Bänder stabilisiert wird. Zusätzlich zur Gelenkskapsel und den Bändern zwischen Manubrium und Klavikula wird das Gelenk an seiner kaudalen Seite durch kostoklavikuläre Ligamente verstärkt. Zwischen den Gelenkflächen befindet sich ein Diskus ( ▶ Abb. 1.4).
Abb. 1.4 Knöcherne Strukturen des Sternoklavikulargelenks: 1 (gelb) Klavikula mit einer von kranial nach kaudal konvexen und von ventral nach dorsal konkaven Gelenksfläche; 2 (gelb) Manubrium des Sternums mit einer von kranial nach kaudal konkaven und von dorsal nach ventral konvexen Gelenksfläche; 3 (gelb) die erste Rippe, von der die Ligg. costoclaviculare (6, grün) an der kaudalen Seite zwischen erster Rippe und kaudaler Seite der Klavikula verlaufen und das Gelenk stabilisieren; 5 (rot) Gelenkkapsel und verstärkende Ligamente; 4 (blau) Der Discus articularis liegt zwischen den Gelenkflächen und ist über Bänder (orange) an der Kapsel befestigt.
Die Elevations- und Depressionsbewegung ereignet sich hauptsächlich zwischen der Klavikula und dem Diskus, die Pro-und Retraktionsbewegung zwischen Diskus und Manubrium. Die Bewegung im Sternoklavikulargelenk sollte bei der Befunderhebung unbedingt im Zusammenhang mit der aktiven und passiven Bewegung des Armes in Flexions- und Abduktionsrichtung durchgeführt werden. Ebenso wichtig ist hierbei die aktive und passive Beweglichkeitsprüfung bei der Schultergürtelelevation. Ist diese nicht möglich, ist das ein deutlicher Hinweis auf eine Störung im Sternoklavikulargelenk. Bei der Flexion des Armes kann die normale Bewegung der Klavikula beobachtet und palpiert werden. Am laterale Ende der Klavikula kann man eine elliptische Trajektorie beobachten.
Test der Klavikulabewegung bei Flexion des Armes
Die oben erwähnte Bewegung der Klavikula kann man palpieren und mit der Gegenseite vergleichen, indem man sich hinter den Patienten stellt und die Zeigefinger sanft links und rechts auf die Fossa supraclavicularis legt. Bei Flexion sollte der Finger erst ab etwa 120° von der Klavikula gewissermaßen aus der Fossa herausgedrückt werden. Bei Funktionsstörungen ist das Bewegungstrajekt der Klavikula nicht elliptisch. Die Klavikula bewegt sich dadurch dann direkt nach dorsokranial und drückt den Finger früher aus der Fossa.
Die Ursache der Funktionsstörung ist mit diesem Test (Kap. ▶ Test 2: Klavikula-Beweglichkeit) nicht lokalisierbar. Die klinische Erfahrung zeigt jedoch, dass der Grund für eine solche abweichende Klavikulabewegung oft in Funktionsstörungen des Glenohumeralgelenks zu finden ist, wie etwa bei einer kapsulären Bewegungseinschränkung ( ▶ Abb. 1.5).
Abb. 1.5 Ellipsenförmige Bewegungstrajektorie der Klavikula unter normalen Bedingungen (grün) und unter pathologischen Bedingungen (rot).
Pathologie des Sternoklavikulargelenks
Das Sternoklavikulargelenk ist bei Verletzungen selten involviert. So beträgt etwa die Luxationsrate lediglich 3 % der Luxationen der oberen Extremität ▶ [21]. Luxationen erfolgen meistens nach anterior. Es werden 3 Grade beschrieben ▶ [21]:
Grad 1: Stauchung des Gelenks ohne Laxität oder Schmerzen
Grad 2: Verletzung der Kapsel und Bänder des Gelenks; die kostoklavikulären Bänder bleiben intakt.
Grad 3: Neben der Kapsel und den Ligamenten des Gelenks rupturieren zusätzlich die kostoklavikulären Ligamente; die Klavikula luxiert hierbei ▶ [38].
Nicht traumatische Pathologien sind degenerative oder entzündliche Gelenkveränderungen auf Basis rheumatischer Erkrankungen. Sowohl bei der traumatischen als auch bei der nicht traumatischen Pathologie wird ein konservatives Vorgehen mit u.a. Physiotherapie empfohlen ▶ [21], ▶ [38].
Obwohl das Bewegungsausmaß im Akromioklavikulargelenk (Art. acromioclavicularis, laterales Schlüsselbeingelenk, Schultereckgelenk, AC-Gelenk) geringer ist als im Sternoklavikulargelenk, liefern auch diese Bewegungen einen wichtigen Beitrag für flüssige Bewegungen des Schultergürtels. Die Bewegungsausmaße sind zu gering, um sie in Gradzahlen anzugeben. Bei der standardisierten Untersuchung werden die Gleitbewegungen der Klavikula im Akromioklavikulargelenk getestet.
Bei der Protraktionsbewegung kommt es zu einer Translationsbewegung nach anterior, bei der Retraktion zu einer Translation nach posterior ▶ [40]. Die Bänder zwischen dem Proc. coracoideus und der Klavikula steuern und begrenzen diese Bewegungen (Kapandji 1982).
Das Akromioklavikulargelenk im Kreuzfeuer
Das Akromioklavikulargelenk muss häufig Einschränkungen im Glenohumeralgelenk kompensieren. Dabei werden die Bänder dieses Gelenks stark belastet, was mittelfristig zur Überbeweglichkeit des Gelenks führt und längerfristig degenerativen Prozessen, wie etwa einer Arthrose mit reduzierter Beweglichkeit, Vorschub leistet.
Bei einer traumatischen Schädigung des Akromioklavikulargelenks sind oft die Bänder zwischen dem Proc. coracoideus und der Klavikula betroffen, die das Gelenk stabilisieren. Eine Lockerung oder eine Ruptur der Bänder (Lig. coracoclaviculare, Lig. trapezium und Lig. conoideum) führt zur Luxation des Akromions nach kaudal, vor allem wenn Kräfte über den Arm auf das Akromioklavikulargelenk einwirken. Das Verletzungsausmaß wird oft radiologisch beurteilt. Dabei steht dann der Patient und hält ein Gewicht in der Hand, um eine Zugkraft auf das Akromioklavikulargelenk auszuüben. Die Verschiebung der Klavikula gegenüber dem Akromioklavikulargelenk wird in 3 Grade unterteilt:
Tossy I: Verletzung der Gelenkkapsel ohne Subluxation
Tossy II: Schädigung der Kapsel und Bänder mit Subluxation (um eine halbe Schaftbreite)
Tossy III: Schädigung der Kapsel und Bänder mit vollständiger Luxation (ganze Schaftbreite; ▶ Abb. 1.6).
Bei der manuellen Untersuchung wird mit dem Daumen ein nach kaudal gerichteter Druck lateral auf die Oberseite der Klavikula gesetzt, um auf eine Subluxation zu testen (Klaviertastenphänomen).
Die Einteilung nach Rockwood erweitert das Spektrum der möglichen Verletzungen des Gelenks:
Rockwood IV: Verschiebung der Klavikula nach dorsal durch Abriss der Pars anterior des M deltoideus (Pars clavicularis)
Rockwood V: starke Luxation der Klavikula durch weitere Muskelabrisse, M. deltoideus und M. trapezius descendens
Rockwood VI: Luxation der Klavikula unter das Acromion (kaudale Luxation; ▶ [86].
Abb. 1.6 Intakte Kapselbandstrukturen und schematische Darstellung der Kapsel-Band-Verletzungen. Tossy I: Verletzung der Gelenkkapsel ohne Subluxation; Tossy II: Schädigung der Kapsel und Bänder mit Subluxation (um eine halbe Schaftbreite); Tossy III: Schädigung der Kapsel und Bänder mit vollständiger Luxation (ganze Schaftbreite).
Dieses unechte Gelenk besteht aus verschiedenen „Gelenkpartnern“. Von lateral betrachtet bilden dorsal das Akromiondach und ventral das Lig. coracoacromiale die obere Begrenzung. Das Dach ist also dorsal knöchern und ventral ligamentär. Die Unterseite des Gelenks wird von der Außenseite der Kapsel des Glenohumeralgelenks geformt. Zwischen diesen Strukturen, also im Subakromialraum, verlaufen verschiedene andere Strukturen ▶ [40]; ▶ Tab. 1.3 ).
Tab. 1.3
Strukturen des ventralen und dorsalen Subakromialraumes.
Dorsal
Ventral
Acromion
Lig. coracohumerale
Bursa subacromialis, teils auch Bursa subdeltoidea
kleiner Teil der Bursa subacromialis
dorsale Anteile der Rotatorenmanschette M. infraspinatus, Teile des M. supraspinatus
ventrale Anteile der Rotatorenmanschette
M. supraspinatus, M. subscapularis
oberflächliche Kapselanteile dorsal
Sehne des M. biceps brachii caput longum
oberflächliche Kapselanteile ventral
Wichtig für einen reibungslosen Bewegungsablauf im Subakromialraum sind einerseits eine ausreichende Distanz zwischen Kapsel und Akromionunterseite (es existieren jedoch keine Angaben über Normalwerte), kontrollierte Bewegungen im Glenohumeralgelenk ohne unkontrollierte Krafteinwirkungen auf den Humeruskopf, die diesen nach kranial gleiten lassen, eine ausreichende Beweglichkeit im Skapulothorakalgelenk und in den anderen Gelenken sowie eine optimale Absorption der Gleit- und Scherkräfte im Subakromialraum durch die Bursae.
Das subakromiale Schmerzsyndrom (früher Impingement-Syndrom)
Der Subakromialraum und die darin befindlichen Strukturen können sich entzündlich oder degenerativ verändern. Ein dabei auftretendes klassisches Symptom ist der Painful Arc (schmerzhafte Bogen). Dabei kommt es bei Abduktion oder Flexion im Glenohumeralgelenk im lateralen Oberarm zu einem stechenden Schmerz, der eher als ausstrahlender Schmerz beschrieben (referred pain) zwischen dem Akromion und dem Ansatz des M. deltoideus wahrgenommen wird.
So groß wie die Zahl der zu diesem Thema veröffentlichten Literatur und der wissenschaftlichen Studien hinsichtlich der Pathologie, der Entstehungsweise und der Therapie des subakromialen Schmerzsyndroms ist auch die Zahl der darüber existierenden Kontroversen.
Wir verwenden im Weiteren hier nun die Begriffe „externes“ und „internes Impingement“, da diese Begriffe aus klinischer Sicht die potenziellen Quellen definieren und somit verständlicher sind.
Beim externen Impingement sind alle in ▶ Tab. 1.3 aufgeführten Strukturen potenzielle Quellen der Symptome. Zudem können Formveränderungen des Akromions oder degenerative Prozesse im Akromioklavikulargelenk mit Osteophytenablagerung zu Beschwerden führen.
Die Faktoren, die zu einem Impingement Syndrom führen können, sind mannigfaltig. Hier wird zwischen extrinsischen (sekundären) und intrinsischen (primären) Faktoren unterschieden. Bei den intrinsischen Faktoren kommen die in ▶ Tab. 1.3 genannten Strukturen als primäre Auslöser infrage, wie z.B. eine geschwollene oder verkalkte Bursa subacromialis ( ▶ Abb. 1.7). Zu den extrinsischen Faktoren zählen Veränderungen im Bewegungsapparat, welche indirekt zu einem Impingement-Syndrom führen können. Auch hier herrscht keine rechte Einigkeit darüber, welche Faktoren in einem kausalen Zusammenhang mit dem Syndrom stehen. Beispiele für extrinsische Faktoren sind eine Gelenksinstabilität des Art. glenohumerale durch Kapsel-Band- und Labrumschäden, eine Schädigung oder Schwäche der Muskulatur der Rotatorenmanschette oder auch die Kombination dieser Faktoren. In der Klinik gelten auch Abweichungen der Thoraxform und Haltungsabweichungen als beitragende Faktoren.
In der Literatur finden sich verschiedene manuelle Teste zur Diagnose des subakromialen Schmerzsyndroms (s. ▶ Neer-Test , ▶ Hawkins-Kennedy-Test , Jobe-Test), die jedoch nicht strukturspezifisch sind. Damit eignen sie sich jedoch sehr gut zur Verlaufskontrolle und können zusammen mit Skapulatests (Scapular-Assistance-Test oder Scapular-Reposition-Test) kombiniert werden, um Behandlungsstrategien zu erörtern (Kap. ▶ 2.4.3). Auch über die richtige Behandlung gehen die Meinungen auseinander. Die Physiotherapie gilt grundsätzlich als effektive Intervention ▶ [22], ▶ [61]. In hartnäckigen Fällen kann eine Operation indiziert sein, die auf die Reparatur bestimmter Strukturen abzielt.
Beim internen Impingement handelt es sich um eine Einklemmung der dorsalen Kapselinnenseite und des Labrums zwischen Humeruskopf und Cavitas glenoidalis. Dies provoziert dorsal einen charakteristischen stechenden Schmerz in Höhe des glenohumeralen Gelenkspaltes. Als auslösende Faktoren gelten hauptsächlich Wurf- und Schlagbewegungen bei gleichzeitig eingeschränkter Innenrotation im Glenohumeralgelenk in der Literatur erwähnt ▶ [5]. Manchmal wird auch eine Einschränkung des inferioren glenohumeralen Ligaments damit in Zusammenhang gebracht. Auch hier streitet die Wissenschaft noch über die Entstehung und die Zusammenhänge. Wie beim externen Impingement-Syndrom ist primär die Physiotherapie indiziert ▶ [43].
Eine seltene Impingement-Form ist das subkorakoidale Impingement, bei dem Strukturen zwischen dem Proc. coracoideus und dem Tuberculum minus eingeklemmt werden können. Dazu gehören die Mm. subscapularis, coracobrachialis, pectoralis minor sowie die Bursa.
An dieser Stelle sei erwähnt werden, dass es beim subakromialen Schmerzsyndrom sehr schwierig ist, Zusammenhänge zwischen den betroffenen Strukturen und möglichen kausalen Faktoren herzustellen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es keine solche kausalen Zusammenhänge gibt, sondern vielmehr das verschiedene Arbeitshypothesen existieren, die bei der Untersuchung bestmöglich analysiert werden sollten. Nachfolgend ein Beispiel für ein Schmerzsyndrom und einige mögliche kausale Faktoren ( ▶ Abb. 1.7).
Abb. 1.7 Beispiel für ein Impingement bei einer Abduktionsbewegung. Links, normale Situation: Das Caput humeri (1) steht zentriert auf der Cavitas glenoidalis (markiert mit zwei roten Strichen). Hierdurch ist die Distanz zwischen dem Caput humeri und dem Acromion (2) ausreichend. Die Bursa subacromialis (3) kann Ihre Funktion erfüllen und entstehende Friktionen absorbieren. Rechts, pathologische Situation: Durch extrinsische Faktoren, wie z.B. Laxität des Kapsel-Band-Apparates oder verminderte Aktivität des M. supraspinatus (4) wird das Caput humeri (1) nicht mehr zentriert auf der Cavitas glenoidalis geführt, sondern ist nach kranial verschoben. Die Bursa (3) wird nun komprimiert (intrinsische Struktur) und zeigt eine Entzündungsreaktion (roter Bereich, rote Pfeile). Sie kann ihre ursprüngliche Funktion nicht erfüllen. Durch chronische Kompression kann sich in der Bursa eine kalkartige Substanz einlagern, die wiederum zu mehr Einengung, erhöhter Reibung und vermehrter Entzündung führt (Circulus vitiosus). Die Folge ist ein Painful Arc zwischen etwa 60° und 110° bei der Abduktionsbewegung.
Topografie rund um den Proc. coracoideus
Der Proc. coracoideus ist ein wichtiger Ansatzpunkt vieler Sehnen und Bänder ( ▶ Abb. 1.8), daher sollte seine palpatorische Befundung bei der Untersuchung nicht fehlen. Zudem wird dieser Knochen bei schulterstabilisierenden Eingriffen verwendet, um die ventrale Seite der Cavitas zu augmentieren und somit wiederholte Luxationen des Humeruskopfes nach ventral zu vermeiden (Latarjet-Operation; s. Kap. ▶ 4.2).
Bei manchen Erkrankungen ist die Palpation des Proc. coracoideus oft schmerzhaft. Der Grund ist die Position der Schulter und des Schulterblatts. Man sieht in diesen Fällen oft eine tiefer liegende und in Protraktion hängende Schulter mit nach vorne gekipptem Schulterblatt. Hierbei kann es zu einer Situation zwischen dem Proc. coracoideus und den umliegenden Strukturen kommen, die dem Impingement ähnelt.
Bei der Werferschulter werden entzündliche Prozesse der Ligg. coracoclaviculares beschrieben, die vermutlich auf eine Verengung des Raumes zwischen dem Proc. coracoideus und der Klavikula zurückgehen (nach Art eines Impingements). Dieser Prozess ist Teil einer größeren Pathologie bei Wurfsportlern, die als „SICK Scapula“ bezeichnet wird. SICK ist dabei ein Apronym für „scapula malposition, inferior winging, coracoid pain and dyskinesis“ ▶ [14].
Kaudal setzt der M. pectoralis minor am Proc. coracoideus an. Dieser Muskel wurde oft mit einer Verkürzung oder Hypertonie und folglich einem nach vorn gekippten Schulterblatt in Zusammenhang gebracht. In Studien konnte jedoch keine Verbindung zwischen der Skapulaposition und einer Verkürzung des M. pectoralis minor aufgezeigt werden ▶ [99].
Abb. 1.8 Proc. coracoideus (orangefarbiger Punkt) mit Ligamenten, Sehnen und Muskeln.
Pathologie des Proc. coracoideus
Der Proc. coracoideus kann auch bei ventralen Schulterbeschwerden betroffen sein. Das „kissing coracoid“ ▶ [91] wird im Zusammenhang mit einem Impingement des Proc. coracoideus bei folgenden Strukturen beschrieben:
Einklemmung der Sehne des M. subscapularis ▶ [73]
Einengung des Sulcus Intertubercularis mit der Sehne des M. biceps brachii caput longum ▶ [63].
Die Beschwerden treten hierbei oftmals bei horizontaler Adduktion des Armes in 90° Flexion auf.
Weitere Strukturen, die bei einer Pathologie des Proc. coracoideus entzündlich gereizt sein können, sind die Sehnenansätze der Mm. coracobrachialis und biceps brachii caput breve ▶ [29].
In Gelenken mit einem großen Bewegungsausmaß sind die Gelenkpartner oft sehr inkongruent, was bei der Schulter deutlich erkennbar ist. Der Humerus ist sphärisch konvex, die Cavitas glenoidalis ist praktisch plan. Hierdurch erlangt das Art. glenohumerale das größte Bewegungsausmaß aller Gelenke im Körper. Der Vorteil dieser großen Beweglichkeit birgt jedoch auch das Risiko einer vermehrten Instabilität.
Nach Panjabi hängt die Stabilität eines Gelenks von der Zusammenarbeit der folgenden drei Subsysteme ab: das neuromuskuläre Subsystem, das passive Subsystem und das Subsystem Kraft ▶ [75]. Die Systeme sind miteinander verbunden. Die Propriosensoren der passiven Strukturen (Kapsel und Ligamente der Schulter) liefern dem neuromuskulären System Information über die Spannung im Gewebe und die Position des Gelenks. Das neuromuskuläre System moduliert seinerseits die Muskulatur, sodass die Kraft funktionell eingesetzt werden kann. Wenn Defizite oder Differenzen bezüglich Input und Output entstehen, hat dies Konsequenzen für das einwandfreie Funktionieren des Gelenks. Fällt einer dieser Faktoren aus (z.B. durch einen Bänderriss) oder ist funktionell beeinträchtigt, wirkt sich das auf die Stabilität des Gelenks aus und die Frage ist dann, ob die anderen Subsysteme dieses Defizit kompensieren können.
Das Glenohumeralgelenk ist hinsichtlich des passiven Subsystems in einzigartiger Weise aufgebaut. Es verfügt zusätzlich über ein aktives stabilisierendes Subsystem in Form der Rotatorenmanschetten-Muskulatur, die eine Doppelfunktion erfüllt. Sie ermöglicht als dynamisches Stabilisierungssystem ein sehr großes Bewegungsausmaß des Schultergelenks, ist aber gleichzeitig Teil des Subsystems Kraft und leistet einen beträchtlichen Beitrag zur Bewegungsdurchführung im Glenohumeralgelenk.
Somit könnte man das Modell von Panjabi modifizieren ▶ [41]; ▶ Abb. 1.9)
Abb. 1.9 Zusammenhänge zwischen den Subsystemen der Schulter.
Das passive Subsystem verfügt im Schultergelenk über genügend passive Elemente wie Bänder und Kapseln, um die Stabilität grundsätzlich gewährleisten zu können ( ▶ Tab. 1.4 , ▶ Abb. 1.10). Die Bänder und Kapsel müssen jedoch so angelegt sein, dass das große Bewegungsausmaß des Glenohumeralgelenks gewährleistet werden kann.
Tab. 1.4
Das passive Subsystem des Glenohumeralgelenks
▶ [40]
.
Struktur
Ursprung
Ansatz
Funktion
Lig. coracohumerale (1) – lange Fasern
Proc. coracoideus
Tuberculum major
Stabilisierung des Humeruskopfes in der Cavitas glenoidalis , wenn nach kranial gerichtete Kräfte auf den Humeruskopf einwirken
Lig. coracohumerale (1) – kurze Fasern
Proc. coracoideus
Tuberculum minor
Stabilisierung bei nach kranial gerichteten Kräften auf den Humeruskopf
Lig. glenohumerale (2) – superius
Collum cavitas glenoidalis kranialer Bereich
Collum caput femoris, kranialer Bereich
Stabilisierung bei nach kaudal/ventral gerichteten Kräften auf den Humeruskopf
Lig. glenohumerale (3) – mediale
Collum cavitas glenoidalis medialer Bereich
Collum caput femoris, medialer Bereich
Stabilisierung bei nach ventral gerichteten Kräften auf den Humeruskopf
Lig. glenohumerale (4) – inferius
Collum cavitas glenoidalis inferiorer Bereich
Collum caput femoris, inferiorer Bereich
Stabilisierung bei nach kaudal gerichteten Kräften auf den Humeruskopf
Kapsel
Zirkumferenz des Collum scapulae
Zirkumferenz des Caput humeri
steuert und begrenzt Bewegungen in alle Richtungen
Labrumkomplex (8)
Cavitas glenoidalis gesamte Zirkumferenz; ein Teil ist mit der Bizepssehne verbunden.
Kapselinnenseite
zentriert den Humeruskopf auf der Cavitas glenoidalis; steuert und begrenzt Bewegungen in alle Richtungen
Lange Bizepssehne (5) – (teilweise aktive Stabilisierung)
a) Tuberculum supraglenoidale, etwa 50 % der Fasern,
b) 50 % der Fasern stehen in Verbindung mit dem Labrum an der kranialen Seite
Tuberculum ossis radii
a) Stabilisierung durch Kompressionskräfte (bei Aktivierung des M. biceps brachii)
b) Stabilisierung über Spannung des Labrumkomplexes und somit Stabilisierung des Humerus auf der Cavitas glenoidalis
Abb. 1.10 Passive Stabilisierung des Art. glenohumerale mit Bizepssehne: 1 Lig. coracohumerale; 2 Lig. glenohumerale superius; 3 Lig. glenohumerale medius; 4 Lig. glenohumerale inferius; 5 M. biceps brachii, caput longum, 6 M. biceps brachii, caput breve (hier durchtrennt), 7 Lig. transversum; 8 Komplex aus Labrum und M. biceps brachii, caput longum.
Neben der Stabilisierung hat der Kapsel-Band-Apparat auch die Aufgabe, die Bewegungen des Gelenks zu steuern und den Humeruskopf zentriert auf der Cavitas glenoidalis zu halten. Hierbei spielt die Verbindung zwischen dem Labrum glenoidale und der Kapsel eine wichtige Rolle. Durch physiologische Bewegungen (z.B. Abduktion) wirken Zugkräfte auf die Kapselfasern ein, welche diese Kraft direkt auf das Labrum weiterleiten. Diese Kräfte sorgen nun dafür, dass der Humeruskopf in die entgegengesetzte Richtung gleitet, d.h. bei der Abduktion rollt er also nach kranial und gleitet nach kaudal ▶ [24]; ▶ Abb. 1.11)
Abb. 1.11 Rollgleiten gesteuert durch den Kapsel-Labrum-Komplex: 1 Abduktionsbewegung; 2 diagonale Kapselfasern werden gespannt; 3 Kräfte werden auf das Labrum übertragen; 4 Der Labrumkomplex unterstützt die Gleitbewegung des Caput humeri nach kaudal.
Bankart-Läsion und SLAP-Läsion
Bei Schädigung des Labrums, der Verbindung zwischen Labrum und Kapsel oder der Verbindung zwischen Labrum und Bizepssehne ist die Stabilität und somit die zentrale Positionierung des Humeruskopfes auf der Cavitas glenoidalis beeinträchtigt.
Bei der Bankart-Läsion entsteht primär ein Defekt zwischen dem Labrum und der Gelenkkapsel an der ventralen inferioren Seite des Gelenks. Dadurch wandert der Humeruskopf vermehrt auf das Labrum und beide Strukturen können geschädigt werden. Diese Verletzungen treten oft bei Traumata wie Subluxation oder Luxation des Humeruskopfes nach ventral inferior über den Pfannenrand hinaus auf und werden dann oft mit dem Begriff TUBS (traumatic, unidirectional, Bankart, surgical treatment) abgekürzt. Eine Operation kann in dieser Situation indiziert sein, da längerfristig Knorpelschäden auf dem Humeruskopf drohen, weil dieser durch die übermäßigen Gleitbewegungen mit der Cavitas glenoidalis in Kontakt gerät, die keinen Knorpel haben. Dies wird Hill-Sachs-Läsion genannt.
Bei der SLAP-Läsion (superior-labrum-anterior-to-posterior lesion) löst sich die Verbindung zwischen Bizepssehne-Labrum und dem Knochen. Es bestehen mehrere Unterformen, die als Typ I bis IV beschrieben werden ▶ [23]; ▶ Abb. 1.12). Die Typen bezeichnen jedoch keine Steigerung der Schwere. Die kausalen Vorgänge, die zu diesen Schäden führen, sind noch nicht völlig geklärt. Die Verletzung kommt jedoch häufiger bei Sportarten oder Berufen mit Überkopfbewegungen vor, bei denen die Bizepssehne eine häufige, starke und exzentrische Kontraktion erfährt, welche die Ellenbogenextension am Ende der Wurfbewegung abzubremsen. Dadurch werden der Ursprung des Caput longum am Tuberkulum supraglenoidale und das Labrum starken Zugbelastungen ausgesetzt. Auch diese Verletzung kann zu einer Instabilität im Schultergelenk führen.
Diese beiden Verletzungsformen werden auch als mögliche Ursache des subakromialen Schmerzsyndroms genannt.
Abb. 1.12 In der Bildmitte ist das Labrum dargestellt (Ansicht von lateral, der Humeruskopf ist entfernt). Situation A zeigt eine intakte Verbindung zwischen der Kapsel und dem Labrum glenoidale. Situation B zeigt eine Bankart-Läsion, wobei sich die Verbindung zwischen dem Labrum und der Gelenkkapsel gelöst hat (rot) und im Hintergrund eine Diskontinuität im Labrum. Die mit dem Stern (*) markierte Stelle kann nach Schulterluxation auf dem Humeruskopf degenerative Veränderungen auslösen (Hill-Sachs-Läsion).
Das Teilbild (C) zeigt eine intakte Verbindung zwischen dem Labrum und der Bizepssehne. D bis G zeigen verschiedene Formen von SLAP-Läsionen: (D) Typ I – Ausfransen des Labrums ohne strukturellen Schaden; (E) Typ II – Abrisss der Bizepssehne vom Tuberculum supraglenoidale, Verbindung mit Labrum intakt; (F) Typ III – geschädigte Verbindung der Bizepssehne mit dem Labrum, das Labrum kann wie ein Korbhenkel zur Gelenkinnenseite einschlagen; (G) Typ IV – Die Bizepssehne ist im Faserverlauf längs gespalten und eingerissen, die Bizepsverankerung ist jedoch sowohl am Labrum als auch am Tuberculum supraglenoidale intakt.
Wir kennen den Bizepsmuskel als wichtigen Beuger und Supinator des Ellenbogens. Er übernimmt aber auch in der Schulter einige Funktionen. Das Caput breve ist an der Flexion und der Adduktion des Armes im Glenohumeralgelenk beteiligt. Das Caput longum ist bei der Flexionsbewegung involviert und wird durch seinen Verlauf im Bereich des Caput humeri auch als aktiver Stabilisator des Glenohumeralgelenks bei Bewegungen, die unter 30° Elevation bleiben, beschrieben ▶ [58], ▶ [102].
Einen Beitrag zur passiven Stabilisierung liefert es mit den Faserzügen, die am Labrum glenoidale entspringen. Die Stabilisierung durch den Zug der Sehne am Labrum kann man mit der Stabilisierung des Kapsel-Labrum-Komplexes vergleichen ( ▶ Abb. 1.13). Etwa 50 % der Fasern der langen Bizepssehne entspringen am Labrum, während die anderen 50 % am Tuberculum supraglenoidale inserieren ▶ [96]. Die Stabilität stellt sich ein vor allem dann ein, wenn der Bizepsmuskel unter einer belasteten Ellenbogenflexion Spannung auf die lange Bizepssehne überträgt. Je nach Position des Armes ändert sich auch die Stabilisierungsrichtung dieser Sehne. In der Neutralstellung verläuft die Sehne durch den Pulley im Sulcus des Caput humeri an der ventralen Seite und stabilisiert somit die nach anterior gerichteten Scherkräfte. Wenn der Humerus aus der Neutralstellung weiter nach außen rotiert wird, verlagert sich die Sehne nach lateral und stabilisiert nun Kräfte, die nach lateral gerichtet sind ▶ [58]. Die Bedeutung der Stabilisierung bei diesen speziellen Armpositionen und -bewegungen wird kontrovers diskutiert, da der Bizepsmuskel nur stabilisierend wirken kann, wenn er angespannt ist. Seine stabilisierende und schützende Funktion bei Wurfbewegungen wird jedoch als relevant angesehen.
Pathologie der Bizepssehne
Die lange Bizepssehne ist aufgrund ihres Verlaufs und ihrer Funktion stark exponiert und entwickelt so auch an bestimmten Schwachpunkten u.U. eine Pathologie. Neben der oben besprochenen SLAP-Läsion am Ursprung der Sehne kann sich die Sehne auch im Subakromialraum durch Kompressionskräfte entzünden, die etwa beim Impingement-Syndrom zwischen dem Humerus und dem Lig. coracohumerale wirken. Ein weiterer kritischer Bereich ist die Austrittsstelle der Sehne aus der Gelenkskapsel. Hier wird die Sehne umgelenkt und unter dem Lig. transversum hindurch geführt. Diese Stelle wird im mechanischen Sinn oft mit einem Flaschenzugrädchen verglichen, das ein Seil umlenkt (pulley). Der Sulkus ist mit einer Knorpelschicht ausgekleidet und die Sehne mit einer Gleitflüssigkeit absondernden Schicht bedeckt, um reibungslose Bewegungen zu ermöglichen. An der Umlenkstelle kann ein Riss des Lig. transversum dazu führen, dass die Sehne unter dem Ligament nach medial aus der Furche (Sulcus intertubercularis) subluxiert. Dann ist das reibungslose Bewegen nicht mehr möglich und die Sehne kann sich entzünden, degenerieren und sogar rupturieren. Ähnliche Prozesse können auch weiter unten im Sulkus ablaufen. Mitunter besteht dabei die Indikation für einen operativen Eingriff, bei dem die Sehne durchtrennt und im Sulkus befestigt wird.
Abb. 1.13 M. biceps brachii und seine Sehnen im Schultergelenk. 1–4 anatomische Strukturen (grün): 1 Proc. coracoideus, 2 M. biceps brachii caput breve, 3 M. coracobrachialis, 4 M. biceps brachii caput longum. 5–7 häufige Schädigungsorte (gelb): 5 Bizepssehne im Sulkus (Erosion), 6 Subluxation der Sehne nach medial (Pfeile) aus dem Sulcus intertubercularis, 7 SLAP-Läsion (Kap. ▶ 1.1.6.1).
Rotatorenintervall
Das Rotatorenintervall ist eine dreieckige Muskellücke in der ventralen Schulterkapsel. Es steht auch im Zusammenhang mit den Ligamenten und der Bizepssehne. Die Lücke wird kaudal von der kranialen Seite des M. subscapularis und kranial vom M. supraspinatus begrenzt. Sie wird in der Rotatorenmanschette durch die Ligg. glenohumerale superius und coracohumerale verstärkt. Diese Bänder vereinigen sich auf dem Tuberculum majus und minus und bilden die Rotatorenintervallschlinge oder den „Bizepssehnen-Pulley“. Man kann diese Struktur wie eine Umlenkrolle betrachten, in der die Sehne verläuft. Die Intervallschlinge und das Lig. transversum humeri sorgen dafür, dass die Sehne nicht aus dem Pulley springt ( ▶ Abb. 1.13, Punkt 6; ▶ [86].
Die Anlage der passiven Strukturen des Art. glenohumerale ermöglichen ein sehr großes Bewegungsausmaß, das jedoch auch seinen Preis hat. Die Bänder sind relativ lang, was ihre stabilisierenden Eigenschaften etwas schmälert. Das passive Subsystem erhält daher Unterstützung durch das aktive stabilisierende Subsystem, die Rotatorenmanschette. Die 4 Muskeln der Rotatorenmanschette sind der M. supraspinatus, der M. infraspinatus, der M. teres minor und der M. subscapularis ( ▶ Tab. 1.5 , ▶ Abb. 1.14, ▶ Abb. 1.15). Der Begriff Manschette stammt daher, dass die Ansätze dieser Muskeln zusammenkommen und ähnlich einer Manschette das Caput humeri insgesamt umfassen. Somit hat die Rotatorenmanschette als Ganzes einen direkten Einfluss auf jede Bewegungsrichtung des Caput humeri. Der Faserverlauf der Sehnenanteile im Bereich des Ansatzes ist komplex. Klassischerweise wird zwar für jeden Muskel eine Ansatzstelle auf dem Caput humeri definiert, doch fächern sich funktionell gesehen Faseranteile der Sehne sowohl in der oberen als auch in der unteren Schicht auf ▶ [44]. Kurz vor dem Ansatz inserieren die tieferen Faseranteile in einer bandartigen Struktur. Diese ist an beiden Enden fest mit dem Caput humeri verbunden. Ihre Funktion ähnelt der einer Hängebrücke. Sie nimmt die durch die Rotatorenmanschette generierten Kräfte über die „vertikalen Seile“ der Hängebrücke auf und leitet sie weiter an die Ansatzstellen ▶ [45].
Tab. 1.5
Ursprung, Ansatz und Funktion der Rotatorenmanschette
▶ [40]
.
Muskel
Ursprung (Skapula)
Ansatz (Humerus)
Funktion
Innervation
M. supraspinatus
Fossa supraspinata
Tuberculum majus, kranialer Anteil
Abduktion
(Zentrierung, Stabilisierung)
N. suprascapularis
C4–6
M. infraspinatus
Fossa infraspinata
Tuberculum majus, posteriorer/mittlerer Anteil
Außenrotation
Extension
(Zentrierung, Stabilisierung)
kraniale Fasern: Abduktion
kaudale Fasern: Adduktion
N. suprascapularis
C4–6
M. teres minor
mittlerer Abschnitt der Margo lateralis
Tuberculum majus, posterokaudaler Bereich
Außenrotation
(Zentrierung, Stabilisierung)
Adduktion
Extension
N. axillaris
C5–6
M. subscapularis
Fossa subscapularis
Tuberculum minus crista tuberculum minoris; horizontale Fasern überqueren den Sulkus und inserieren an der Crista tuberculi majoris
Innerotation (starker wichtiger Muskel bei Wurf- und Schlagbewegung
(Zentrierung, Stabilisierung)
N. subscapularis
C5–6
Abb. 1.14 Rotatorenmanschette (Ansicht von dorsal): M. supraspinatus (grün 1; Ansatz Tuberculum majus 1*); M. infraspinatus (blau 2; Ansatz: Tuberculum majus, posteriorer Teil 2*); M. teres minor (rot 3; Ansatz Tuberculum majus posteroinferior 3*); M. teres major (der Vollständigkeit wegen aufgeführt; gelb 5); bandartige Struktur, in welche große Teile der Fasern aller Rotatorenmanschettenmuskeln inserieren (lila 5). Aufgrund seines Ansatzes kaudal an der Crista tuberculi minoris wird er nicht zur Rotatorenmanschette gezählt, sondern er unterstützt den M. latissimus dorsi bei der Extension, Innenrotation und Adduktion.
Bei Betrachtung der Funktion fällt auf, dass jeder Muskel der Rotatorenmanschette eine Doppelfunktion besitzt: Zum einen unterstützt er die Bewegung in eine Richtung und zum anderen wirkt er aktiv gelenksstabilisierend. Neben der selektiven Rekrutierung der einzelnen Rotatorenmanschetten-Muskeln bietet auch das Modell der Rekrutierung unterschiedlicher Muskelfasertypen innerhalb jedes Muskels eine Erklärung für die Doppelfunktion. Jeder Muskel verfügt demnach über die 3 Fasertypen 1a, 2a und 2x. Je nach Bewegungsausführung könnten die unterschiedlichen Fasertypen in der klassischen Reihenfolge des Rekrutierungsprinzips aktiviert werden. Bei geringer Belastung oder Bewegungsgeschwindigkeit werden zuerst die 1a-Fasern aktiviert (Stabilisierung). Wird die Belastung höher, können die 2a-Fasern zusätzlich rekrutiert werden, die tendenziell eher für schnelle und kräftige Bewegungen geeignet sind. Bei sehr großen Kräften können schließlich auch die 2x-Fasern für maximale Kraft aktiviert werden. Bei schnellen Bewegungen findet diese Rekrutierung grundsätzlich in gleicher Weise statt. Durch Herabsetzung der Reizschwelle der zentralen Motorneurone der Motor-Units mit Fasertypen 2a und 2x erfolgt die Aktivierung aller Fasertypen fast gleichzeitig ▶ [94].
Das neuromuskuläre Subsystem, das die Bewegungen aller Gelenke der Schulter koordiniert, ist sehr komplex und zu einem großen Teil unerforscht. Somit ist es auch schwierig, pathologische Veränderungen dieses Subsystems in der Funktion der Schulter als solche zu bezeichnen. Da bei einer Reihe von Pathologien die tatsächliche Ursache noch nicht bekannt ist, ist es gut möglich, dass in manchen Fällen Veränderungen in diesem Subsystem (neuroplastische Veränderungen) involviert sind. So können zum Beispiel Traumata, noziplastische Prozesse oder Immobilisationen zu neuroplastischen Veränderungen führen, was wiederum die Grundlage für veränderte Bewegungen oder ein verändertes Bewegungsverhalten sein könnte. Diese Mechanismen könnten durchaus der Grund für manche Schulterpathologie, wie z.B. die Skapuladyskinesie, eine Rotatorenmanschettenschwäche oder -insuffizienz oder auch das subakromiale Schmerzssyndrom, sein. Solchen Prozessen muss bei der Untersuchung und Behandlung Rechnung getragen werden. Vielleicht können weitere Forschungsanstrengunen in den nächsten Jahren einige dieser Rätsel lösen.
Abb. 1.15 Rotatorenmanschette (Ansicht von ventral, ohne Brustkorb): M. subscapularis (gelb; Ursprung Fossa subscapularis 1; Ansatz Tuberculum minus 1*).
Der Ursprung, Verlauf und Ansatz von Muskeln, die für kräftige Bewegungen des Armes im Schultergelenk wichtig sind, liegt relativ weit von der Gelenksachse entfernt wie etwa der M. pectoralis major, der M. latissimus dorsi und der M. deltoideus. Die Folge sind häufig größere Scherkräfte im Gelenk, die dort eine Gleitbewegung erzeugen. Grundsätzlich werden diese Kräfte durch den Kapsel-Band-Apparat aufgefangen. In der Schulter unterstützt die Rotatorenmanschette den Kapsel-Band-Apparat zusätzlich, indem sie den Humerus in die Cavitas presst, also eine zentrierende Kraft ausübt. Wird z.B. das Glenohumeralgelenk abduziert, wird der M. deltoideus aktiviert. Durch seine Lage erzeugt dieser Muskel bei einer Abduktion zwischen 0° und 80° auch eine Scherkraft in Form eines nach kranial gerichteten Gleitens. Bereits während der ersten Grade der Abduktion wird die Rotatorenmanschette aktiviert, und zwar vor allem der M. supraspinatus. Aufgrund seiner Lage kann er wiederum neben der Abduktion auch eine nach kaudal gerichtete Kraft generieren. Diese Kräfte lassen sich durch Vektoren darstellen, und somit lässt sich auch die Resultante der Kräfte berechnen ( ▶ Abb. 1.16).
Abb. 1.16 Auf den Humeruskopf einwirkende Kräfte bei Abduktion, Ansicht von ventral. 1 (rot) Richtung der Kraft des M. deltoideus nach kranial lateral; 1* (rot) Richtung des gleitenden Humeruskopfes bei alleiniger Aktivierung des M. deltoideus; 2* (blau) nach medial und kaudal gerichtete Kraft der Rotatorenmanschette; 2 (blau) Richtung des gleitenden Humeruskopfes bei alleiniger Aktivierung der Rotatorenmanschette; 3 (grün) Richtung der einwirkenden Kraft bei gleichzeitiger Aktivierung von Rotatorenmanschette und M. deltoideus (Resultante der 2 Vektorpfeile 1* und 2*).
Ein Ungleichgewicht der Kräfte zwischen den Mm. deltoideus und supraspinatus bei nicht ausreichend kräftiger Korrektur durch den M. supraspinatus kann zu einem vermehrten kranialen Humeruskopfgleiten führen. Stößt dieser dabei an das Akromiondach, kann es zur Einklemmung von Strukturen kommen (Impingement). Es gibt viele mögliche Ursachen für ein solches Missverhältnis wie etwa eine Muskelatrophie durch ein Trauma des Muskelsehnenkomplexes, Schmerzen (Inhibition) oder Inaktivität der Rotatorenmanschette. Zudem kann eine verminderte Stabilität der passiven Strukturen wie etwa durch eine Luxation die kompensatorische Kapazität der Rotatorenmanschette übersteigen.
Ein Training der Rotatorenmanschette mit spezifischen Übungen kann in manchen Fällen die Zentrierung wieder verbessern.
Die oben beschriebene Situation wirft möglicherweise ein schlechtes Licht auf den M. deltoideus, was jedoch ein Fehlschluss ist. Ohne die großen Muskeln sind keine kraftvollen Bewegungen möglich. Zudem können auch große Muskeln zentrierende Kräfte generieren. Ein Beispiel hierfür ist die zentrierende Kraft des M. deltoideus bei einer Abduktion zwischen 70° und etwa 120°.
Umgekehrt ist die Rotatorenmanschette einerseits an der subtilen Zentrierung beteiligt, aber andererseits auch mit der Aushol- und der Bremsbewegung am Ende der Wurfbewegung bei einem Wurf oder Schlag sehr stark belastet. Vor allem bei der Bremsbewegung nach einem Wurf muss die Rotatorenmanschette bisweilen Kräfte absorbieren, die dem Körpergewicht entsprechen. Muskulatur ist also grundsätzlich polyvalent.
Ruptur der Rotatorenmanschette
Der Bereich, in dem die Sehnen der Mm. supraspinatus, infraspinatus und teres minor in die Kapsel und die bandartige Struktur übergehen, liegt im Subakromialraum, der gleich mehrfach exponiert ist.
Einerseits können Prozesse, die diesen Raum einengen, wie etwa Gleitbewegungen des Caput humeri nach kranial oder raumfordernde Prozesse im Subakromialraum (verkalkte Bursa durch Kompression und Reibung, also Impingement-Problematik), durch Abnutzung zur Ausdünnung und schließlich zur Ruptur der Sehnen führen. Auch eine erhöhte Krafteinwirkung wie die Auffangbewegung bei einem Sturz auf den Arm oder infolge repetitiv erhöhter Kräfte wie bei Wurfbewegungen kann der Sehnenkomplex überlastet werden oder reißen.
In der Praxis sieht man oft eine Kombination dieser Faktoren, die dann zur Manschettenruptur führt. Angesichts der polyvalenten Funktion der Rotatorenmanschette kann eine Ruptur entsprechend weitreichende Folgen für die Funktion haben. Die klinische Untersuchung führt oftmals eine Schwäche der Außenrotation und einen Ausfall der Armabduktion mit kompensatorischer Schultergürtelelevation zutage. Mit bildgebenden Verfahren, wie z.B. dem MRT, können die Defekte gut dargestellt werden. Verschiedenen Untersuchungen zufolge erlaubt jedoch das Ausmaß einer Ruptur noch keine Aussage über die Funktion des Schultergelenks, sodass auch bei größeren Verletzungen eine konservative Rehabilitation durchaus möglich sein kann. Die Physiotherapie ist also bei Rupturen gewiss eine legitime primäre Option.
Diese Muskeln werden auch „propellors“ genannt ( ▶ Tab. 1.6 ). Sie arbeiten oft mit den Stabilisatoren des Glenohumeralgelenks und der skapulothorakalen Muskulatur zusammen, um optimale und ökonomische Bewegungen zu generieren: Die Gleit- und Scherkräfte, welche die großen Muskeln erzeugen können, lassen sich durch das optimale Zusammenwirken mit den stabilisierenden Muskeln des Glenohumeralgelenks und der skapulothorakalen Muskulatur reduzieren.
Tab. 1.6
Muskulatur des Schultergelenks und Schultergürtels (propellors).
Muskel
Ursprung
Ansatz
Funktion
Innervation
M. pectoralis major
Pars clavicularis: mediale Hälfte der Klavikula
Pars sternocostalis: Sternum und 1.– 6. Rippenknorpel
Pars abdominalis: ventrales Blatt der Rektusscheide
Crista tuberculi majoris. Die Fasern kreuzen sich, sodass die Pars clavicularis am weitesten ventral und kaudal ansetzt.
horizontale Adduktion
Flexion
Innenrotation
Nn. pectorales mediales und laterales (C5–Th1)
M. deltoideus
Pars clavicularis: Klavikula distaler Bereich
Pars acromialis: Akromion
Pars spinalis: posteriorer Bereich Akromion und lateraler Bereich der Spina scapulae
Tuberculum deltoideum humeri
Pars clavicularis: Abduktion, horizontale Adduktion, Innenrotation
Pars acromialis: Abduktion
Pars spinalis: horizontale Extension, Außenrotation
N. axillaris
M. biceps brachii
Caput longum: Tuberculum supraglenoidale und Labrum gleniodale
Caput breve: Proc. coracoideus
Tuberositas ossis radii, über Lacertus fibrosus in die Fascia antebrachii
Caput longum:
Flexion u. Supination des Ellenbogens
glenohumeral: Depression des Caput humeri, Abduktion Innerotation, Flexion
Caput breve:
Flexion u. Supination des Ellenbogens
glenohumeral: Abduktion, Innerotation, Flexion
N. musculocutaneus (C5–7)
M. coracobrachialis
Proc. coracoideus unterhalb des Caput breve des M. biceps brachii
Mitte des Humerusschaftes distal der Crista tuberculi minoris
Flexion und Adduktion vor dem Körper
Stabilisierung bei Translation nach kaudal
N. musculocutaneus (C6–7)
M. triceps brachii
Caput longum: Tuberculum infraglenoidale
Caput laterale: dorsaler Humerus des Collum chirurgicum
Caput mediale: distal des Sulcus nervi radialis
Olekranon
Ellenbogenextension
Caput longum: Extension, Adduktion und etwas Außenrotation im Schultergelenk
N. radialis
M. latissimus dorsi
Pars scapularis: Angulus inferior scapulae
Pars costalis: 10.–12. Rippe
Pars vertebralis: Fascia thoracolumbalis und Dornfortsätze von Th7–12 und L1–5
Pars iliaca: dorsales Drittel der Crista iliaca und Fascia thoracolumbalis
Crista tuberculi minoris
Innenrotation, Extension und Adduktion
N. thoracodorsalis (C6–8).
M. teres major
kaudal-laterale Skapula nah dem Angulus inferior
Crista tuberculi minoris
Innenrotation, Extension und Adduktion
N. subscapularis (C5–6) und N. thoracodorsalis (C6–7)
Die wohl wichtigste Aufgabe der skapulothorakalen Muskulatur besteht darin, die Cavitas glenoidalis in die richtige Position für Bewegungen des Glenohumeralgelenks zu bringen. Bei 6 Freiheitsgraden im Glenohumeralgelenk ist dies eine sehr komplexe Aufgabe für das skapulothorakale System. Somit gestalten sich auch wissenschaftliche Untersuchungen zur Funktion sehr schwierig. In der Literatur werden die Bewegungsrichtungen der Skapula leider sehr unterschiedlich benannt. Im deutschsprachigen Raum wird meist die in ▶ Tab. 1.7 aufgeführte Nomenklatur verwendet.
Tab. 1.7
Nomenklatur der Skapulabewegungen.
Begriff
Beschreibung
Elevation
Die Skapula gleitet auf dem Thorax nach kranial.
Depression
Die Skapula gleitet auf dem Thorax nach kaudal.
Außenrotation
Der Angulus Inferior rotiert aufwärts und nach außen (upward rotation).
Innenrotation
Der Angulus Inferior rotiert nach unten und nach innen (downward rotation).
Abduktion
Die Skapula gleitet nach lateral.
Adduktion
Die Skapula gleitet nach medial.
Die Bewegungen in ▶ Tab. 1.7 erfolgen selten isoliert. In der Regel werden kombinierte skapulothorakale Bewegungen erzeugt. Die zusammenarbeitenden Muskeln werden in Muskelschlingen eingeteilt, die meist aus 2 antagonistisch wirkenden Muskeln gebildet werden ( ▶ Abb. 1.17). Aus funktioneller Sicht ist die Aktivität einer Schlinge allein für eine Skapulabewegung unwahrscheinlich, doch hilft diese Einteilung dabei, die Muskulatur der Skapula und ihre Aktivität zu gliedern und besser zu verstehen. Da zahllose Bewegungskombinationen möglich sind, müssen die Schlingen zum Teil zusammen aktiviert werden, um eine Bewegung im Glenohumeralgelenk zu optimieren. Daher werden für kombinierte skapulothorakale Bewegungen oft auch andere Begriffe wie Protraktion oder Retraktion verwendet.
Abb. 1.17 Muskelschlingen der Skapula.
Es ist noch nicht klar, wie genau die Rekrutierung der Muskulatur abläuft. Auch ein Rotationszentrum ist bei oft translatorischen Bewegungen der Skapula schwierig zu definieren. Meistens wird das Rotationszentrum in der Nähe des Proc. coracoideus angenommen. Unklar ist auch, ob die Antagonisten bei Aktivierung ihrer Gegenspieler inhibiert werden oder über exzentrische Kontraktion die Bewegung steuern und begrenzen. Man könnte für die Bewegung die Analogie eines Spinnennetzes verwenden, in dessen Zentrum die Skapula liegt. Die Fäden entsprechen den Muskeln, die in verschiedenen Kombinationen aktiviert werden und so die Skapula in jede gewünschte Richtung bewegen können ( ▶ Abb. 1.18).
Abb. 1.18 Analogie Spinnennetz mit zentraler Positionierung der Skapula.
Skapulothorakaler Rhythmus
Die Skapuladyskinesie kann man als abnorme Stellung oder Bewegung der Skapula beschreiben. Es ist eine häufig thematisierte Pathologie, doch auch die existierende wissenschaftliche Literatur zu diesem Thema liefert kontroverse Informationen zu den Zusammenhängen zwischen einer Dyskinesie und den möglichen Pathologien ▶ [76], ▶ [71], ▶ [37]. Die Schwierigkeiten bei einer Befunderhebung oder auch bei wissenschaftlichen Studien bestehen darin, eine Norm für die Skapulapositionen und -bewegungen festzulegen. Somit ist auch die Festlegung auf einen Befund als pathologische Skapulabewegung im Einzelfall sehr schwierig. Um hier eine wenig Rückhalt zu bieten, wurde in Fachkreisen eine Übereinkunft über 3 als pathologisch einzustufende Skapulapositionen getroffen ▶ [83], ▶ [53]:
Typ I: Die Skapula hebt mit dem Angulus inferior und mit der kaudalen Margo medialis vom Thorax ab (inferiore mediale Scapula alata).
Typ II: Die Skapula hebt mit der Margo medialis vom Thorax ab (mediale Scapula alata).
Typ III: Die Skapula hebt mit dem Angulus superior mit der Margo medialis vom Thorax ab (superiore mediale Scapula alata; Kap. ▶ 2.4.3.2).
Auch abweichende Bewegungen werden als pathologisch eingestuft. Wenn es bei Elevation des Armes im Glenohumeralgelenk zu einer sakkadierenden, nicht flüssigen Bewegung der Skapula kommt, ist dies pathologisch. Die Dyskinesie kann auch in Kombination mit der Scapula alata auftreten. Zudem wird oft ein abweichender skapulothorakaler Rhythmus beobachtet. Verschiedene Autoren haben gezeigt, dass die Bewegung der Skapula im Dienst des Glenohumeralgelenks steht und sich zu diesem in einem bestimmten Rhythmus bewegt. Dieser Rhythmus verändert sich je nach Position des Humerus im glenohumeralen Gelenk und steht zwischen 0° bis 90° Abduktion des Armes in einem Verhältnis von 3:1. Danach reduziert sich der Rhythmus bis zum Bewegungsende auf 1:1. Schließlich rotiert auch die BWS während der Flexion im Glenohumeralgelenk zur sich bewegenden Seite ( ▶ Abb. 1.19). Diese Informationen helfen bei der Untersuchung des Schultergürtels.
Bis zu einem gewissen Grad kann zur Beurteilung des Rhythmus und der Dyskinesie auch der Vergleich mit der gesunden kontralateralen Schulter hilfreich sein. Allerdings sollte man sich klar machen, dass die Ursache einer Dyskinesie nicht in der Skapula liegen muss, sondern auch veränderte Bewegungsmuster anderer Gelenke dafür verantwortlich sein können ▶ [71].
Es gab die Hypothese, nach der ein verkürzter M. pectoralis minor einen kausalen Beitrag zur Typ-I-Skapulaposition leistet. Daher wurde empfohlen, den M. pectoralis in der Physiotherapie zu dehnen. Derzeit sprechen jedoch verschiedene Studienergebnisse gegen diese Vorstellung ▶ [99].
Abb. 1.19 Skapulathorakaler Rhythmus und BWS-Bewegungen: Auf dem Humeruskopf sind die Grade der Abduktion des Art. glenohumerale zusammen mit dem skapulothorakalen System aufgezeigt. Zudem werden die Skapulabewegungen anhand der Positionen der Margo medialis angegeben. Die roten Zahlen beschreiben das Verhältnis zwischen der glenohumeralen und der skapulothorakalen Bewegung. Die BWS-Bewegungen sind mit Pfeilen dargestellt. Die farbigen Pfeile geben die Zugrichtung der wichtigsten Muskeln bei dieser Bewegung an.
Durch Nervenwurzelkompressionen oder durch Kompressionsneuropathie der peripheren Nerven kann die Funktion diverser Muskeln des Schultergürtels beeinträchtigt werden oder gar ausfallen. Es lohnt sich daher, bei Verdacht auf eine Nervenbeteiligung eine neurologische Untersuchung im Rahmen des Schulter-Assessments durchzuführen und ggf. einen Arzt oder Neurologen zur weiteren neurologischen Abklärung einzuschalten ( ▶ Abb. 1.20; Kap. ▶ 2.5.2).
Abb. 1.20 Rückenmarksegmente, Plexus und periphere Nerven. Am linken Bildrand sind die Rückenmarksegemente aufgeführt (C4– T1). Die daraus entspringenden Spinalnerven teilen sich im Plexus brachialis auf und formen schließlich die peripheren Nerven (gelb), welche unterschiedliche Muskeln (blau) und Hautareale innervieren.
Im Bereich des Schultergürtels sind einige Nerven besonders exponiert und können daher betroffen sein ( ▶ Tab. 1.8 ). Nervenausfälle führen oft zu einem charakteristischen Ausfallbild durch die reduzierte oder erloschene Kontraktionsfähigkeit einiger spezifischer Muskeln, manchmal gepaart mit einer eingeschränkten Sensibilität im betroffenen Hautareal (Kap. ▶ 2.4.3.2).
Tab. 1.8
Die wichtigsten Nervenläsionen im Schultergürtel
▶ [68]
,
▶ [87]
.
Nerv
Innervierte Muskeln
Hautareal
Pathologie
Assessment
N. suprascapularis
M. supraspinatus
M. infraspinatus
keine
Druckparesen in der Incisura scapulae vermutlich durch repetitive Überkopfarbeit
Inspektion: Atrophie der Muskeln
Bewegung: bei Lähmung des M. supraspinatus erschwerte Abduktion aus der Neutralstellung; Kompensation über M. deltoideus und teilweise auch M. trapezius descendens. Endgradige Positionen können nicht gehalten werden.
N. thoracicus longus
M. serratus anterior
keine
Druckparesen durch das Tragen schwerer Lasten (Rucksack)
bei Operationen im Nackenbereich (radikale Neck dissection)
selten durch Hypertonie der Mm. scaleni
Position: Der selektive Ausfall des M. serratus anterior führt dazu, dass die Skapula nicht mehr am Thorax angefügt wird. Es entsteht eine deutliche mediale Scapula alata.
Bewegung: bei Armflexion verstärkte mediale Scapula alata. Bei leichter Parese kann der Effekt durch das Heben eines Gewichtes betont werden. Die Scapula alata verstärkt sich auch, wenn in der geschlossenen Kette (Stützposition gegen die Wand) eine Protraktion ausgeführt wird.
traumatisch: durch vordere untere Schulterluxation oder während ihrer Reposition
Armlagerung bei Schulteramyotrophie
Bewegung: Die Kraft des M. Deltoideus ist reduziert, die Abduktion ist ab 30° geschwächt.
Sensibilität: Hypoaesthesie in einem Hautareal über dem M. Deltoideus.
N. acessorius
(XI)
M. trapezius pars descendens, pars transversa und pars ascendens
bei hohen Läsionen: Ausfall des M. sternocleidomastoideus
keine
Verletzung des Nervs bei Operationen im Halsbereich (iatrogen)
Inspektion: Atrophie der Trapeziusmuskulatur, mediorotierte Skapula, oftmals auch vermehrtes Abhängen (Depressionsstellung)
Bewegung: Die Abduktionsbewegung ist reduziert, die Skapula gleitet bei der Bewegung vermehrt nach lateral.
Bei den meisten Armbewegungen ist nicht nur die Schultergürtelmuskulatur, sondern der gesamte Körper beteiligt. Dies gilt vor allem bei kräftigen Bewegungen, wie etwa Wurf- oder Schlagbewegungen. Gerade hier liegt der Anteil für die notwendige Kraftentfaltung des Armes zu 60 % im Rumpf und in den Beinen. Das Glenohumeralgelenk wird somit großen Kräften ausgesetzt. Daher bedarf es einer guten Koordination, um die Kräfte zu erzeugen, zu übertragen und auch wieder abzubremsen. Das Assessment der Schulter sollte daher wenn möglich eine funktionelle Demonstration, Alltagsbewegungen und auch arbeits- oder sportspezifische Handlungen beinhalten, wobei der Köper als Ganzes betrachtet wird. In der Physiotherapie der Schulter ist somit oft die ganze kinetische Kette gefordert und zu behandeln.
Es gibt in der Bewegungsanalyse mehrere Möglichkeiten, wie man die Funktionen der Muskelgruppen in der Bewegungskette beschreiben kann. Hier betrachten wird die Systematik, die in Verbindung mit der Wurfbewegung entwickelt wurde ( ▶ Tab. 1.9 ). Muskeln sind „polyvalent“ oder „multifunktionell“, daher ist keine exakte Zuteilung der Muskeln in eine Kategorie möglich. Zudem wechselt die Funktion oft mit der Bewegung oder Bewegungsvariation.
Tab. 1.9
Die funktionelle Muskelgruppeneinteilung.
Begriff
Funktion
Beispiele der zugeteilten Muskeln
Pivoters
bringen die Skapula in die bestmögliche Ausgangsstellung für das Glenohumeralgelenk
M. trapezius, M. serratus anterior
Protectors
führen und schützen namentlich die passiven Strukturen des Glenohumeralgelenks
Rotatorenmanschette
Positioners
bringen und halten das Gelenk in einer Ausgangsstellung für die Bewegungsausführung
M. supraspinatus, M. deltoideus
Propellors
generieren die Kraft und die Beschleunigung für die Bewegung
M. latissimus dorsi, M. pectoralis major
Preparators
bringen die obere Extremität in die richtige Ausgangslage und generieren die notwendige Kraft, welche dann für die betreffende Bewegung zum Arm weitergeleitet wird
Muskulatur des Rumpfes und der unteren Extremität
Als Beispiel wird hier die Wurfbewegung genommen, da diese aufgrund ihrer Bedeutung für den Sport relativ gut untersucht wurde. Die grundsätzlichen Elemente können aber in leicht abgeänderter Form auch für Arbeitshandlungen übernommen werden. Die Wurfbewegung wird in unterschiedliche funktionelle Phasen eingeteilt ( ▶ Abb. 1.21).
Abb. 1.21 Die Phasen der Wurfbewegung.
(Quelle: Heger H, Wank V. Biomechanische Grundlagen des Werfens. Sportphysio 2021; 9: 8–16)
Als Beispiel für das komplexe Zusammenwirken der Muskulatur werden nachfolgend 2 Phasen dieses Bewegungsablaufes hervorgehoben und etwas genauer betrachtet.
Für Überkopfbewegungen ist dies die maximale Ausholbewegung, mit der die „ausholende“ Muskulatur die Vorspannung in der antagonistischen, für die Akzeleration wichtigen Muskulatur aufbaut ( ▶ Abb. 1.22).
Abb. 1.22 Late-cocking-Phase: aktive Muskulatur.