Die Schwarze Madonna - Fatou Falls Erster Fall - Noah Sow - E-Book

Die Schwarze Madonna - Fatou Falls Erster Fall E-Book

Noah Sow

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Beschreibung

Die Hamburger Kaufhausdetektivin Fatou Fall fährt mit ihrer elfjährigen Tochter Yesim in die katholische Wallfahrtsstadt Altötting im tiefen Oberbayern. Beim Besuch der örtlichen Kapelle werden sie Zeuginnen eines Vandalismus mit islamistischen Parolen. Im Regionalwahlkampf wird die Stimmung zunehmend angespannt und fremdenfeindlich, doch Fatou glaubt nicht daran, dass die Täter Fremde waren. Sie folgt ihrer Intuition und beschließt, den Vorfall aufzudecken. Mit Unterstützung der örtlichen Refugee-Gruppe ermittelt sie in mono- und multikulturellen Milieus und parteipolitischen Parallelgesellschaften - und ist der Lösung zum Greifen nahe, als ein weitaus schwereres Verbrechen geschieht. "Die Schwarze Madonna" ist eine Geschichte voller Leben und Authentizität. Sie geht als vergnüglicher Mystery im Urlaub genauso unter die Haut wie als gesellschaftliche Analyse. Schwarze Deutsche werden vieles wiedererkennen und sich womöglich zum ersten Mal in diesem Genre unmittelbar adressiert wiederfinden. Die anderen lernen eine neue Perspektive dazu, mit Gefühl und tiefgründigem Humor. Fatou Fall ist die erste afrodeutsche Detektivin aus afrodeutscher Feder. Die Ermittlerin und ihre Tochter haben das Potenzial, dem Lesepublikum jedweden kulturellen Hinter- und Vordergrundes schnell ans Herz zu wachsen. Exzellent: politisch, spannend, witzig, unterhaltsam und das, ohne Diskriminierung zu reproduzieren. Dieses Buch hat auf dem deutschen Markt gefehlt. - Deutschlandradio Kultur Die Schwarze Madonna ist ein "afrodeutscher Heimatkrimi", ein Roman, in dem Schwarze Menschen endlich so repräsentiert werden, dass sie zum einen im Mittelpunkt der Handlung stehen und zum anderen nicht in rassistischen Stereotypen dargestellt werden. SPEX

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Die Geschichte spielt in der Fiktion eines realen Ortes. So wie die Schnulzenfilme im ZDF, die in Nairobi spielen. Oder wie Karl May (nicht) unterwegs war. Jede Ähnlichkeit mit lebenden und realen Bürgermeistern, Brauereien, Landwirtschaftserzeugnissen, Gaststätten, Geistlichen, Arbeiterparteien, kulturellen Eigenheiten, Wahlkampfslogans, Kapellen, Studentenverbindungen, ALDIs oder Internetcafés ist unbeabsichtigt und besteht höchstens rein zufällig.

Mama, ich will auf die Stadtteilschule.«

Die Schlieren am Fenster des französischen Kleinbusses waren orange von der Nachmittagssonne. Fatou verpasste ihrer Tochter Yesim ein Kopfschütteln via Rückspiegel. Der reggaefarbene Wunderbaum schaukelte.

»Sammel doch schon mal deine Höhle zusammen.«

Vom Rücksitz war Rascheln zu hören – Yesim kämpfte gegen ihren Sitzgurt. Eine leere Packung Ramen-Nudeln, ungekocht gegessen, Sudoku-Heftchen, glitzernde Sticker, Leuchtstifte, Kekse und ein Comicheft mit Nagellack-Beilage wurden verstaut.

»Die Krümel bitte auch.«

»Jaha!« Yesim sah ihrer Mutter durch den Rückspiegel ins Gesicht. Fatou konzentrierte sich auf die Straße. Sie hatte immer die Hände am Lenkrad und gestikulierte selten. Sicherheit ging vor. Ein Auto war kein Wohnzimmer. Allerdings sah es im Moment wie eines aus. Es fehlten nur ein Gummibaum und Gardinen.

Sie drehte den Oldie im Radio lauter, ein Hit aus ihrer Kindheit, den sie schon ewig nicht mehr gehört hatte, »Live to tell«. Begeistert stimmte sie mit ein.

»Mama, du singst schief.«

»Ja und?«, sagte Fatou. »Madonna kann auch nicht wirklich singen.«

Yesim sah sie fragend an.

»Madonna«, wiederholte Fatou in den Rückspiegel. »Von der das Lied ist, das gerade läuft. Als ich in deinem Alter war, war sie die berühmteste Sängerin überhaupt. Dass sie nicht besonders gut singen konnte, hat niemanden interessiert.«

»Werd doch auch als Sängerin berühmt«, sagte Yesim, »dann bist du die Schwarze Madonna.«

Fatou musste so lachen, dass sie schlagartig auf vierzig Stundenkilometer herunter bremste. Wenn sie groß war, würde sie einmal so scharfzüngig werden wie ihre Tochter, nahm sie sich vor. Sie nahm einen Schluck von der warmen Brühe aus der Wasserflasche. Es war eine anstrengende Fahrt gewesen. Der Holzperlen-Sitzbehang bohrte sich mehr in ihren Rücken, als dass er massierte.

»Kann ich jetzt das Fenster aufmachen?«, fragte Yesim.

»Ja. Schau, wir sind schon fast im Voralpenland. Ich zeig dir alles.«

Yesim betrachtete die Kühe, die grauen Bauernhöfe und die gelben Rapsfelder zwischen Industriehöfen und McDonald’s.

Fatou erinnerte sich an die Fahrradausflüge ihrer Kindheit. Wenn es regnete, erschienen über den Feldern gleich mehrere Regenbögen. Wenn sie genau hinsah und die Luft klar und ruhig war, konnte sie in der Ferne die Silhouette der Berge sehen, ein Hintergrund in hellgrauen Wasserfarben.

An Tagen, an denen es föhnig war, eine bestimmte Konstellation aus fernem Gebirgswind und naher trockener Luft, bekamen die wetterempfindlichen Menschen Kopfschmerzen. Migräne gab es in Oberbayern nicht, sondern Kopfweh. Es gab dort auch keine Alpen, sondern die Berge. Keine Kühe, sondern Vieh. Keine Frauen, die Sandra oder Jasmin hießen, sondern die Huber Sani und die Moser Minni. Die Leute hier hielten sich nicht mit Kleinigkeiten auf, sondern sahen direkt das Große und Ganze.

»Wenn ich auf die Stadtteilschule darf, werde ich später nicht eingebildet. Bitte, Mama.«

Fatou runzelte die Stirn. »Wo hast du so einen Quatsch her?«

Yesim räumte mit beleidigtem Gesichtsausdruck Bonbonpapiere zusammen. Fatou fand, dass sie in der Sonne wie Gold glänzte.

»Normal, Mama!«, sagte Yesim genervt. »Am Gymnasium sind nur Eingebildete, die spielen dann Hockey und so. Alle meine Freundinnen gehen auf die Stadtteilschule.«

»Alle deine Freundinnen wohnen in Hamburg, und ihr könnt euch jeden Tag sehen, auch wenn ihr auf verschiedene Schulen geht.«

Yesim gab einen Laut der Empörung von sich. »Hast du vergessen, wie das beim Orientierungstag war?«

Fatou hatte es nicht vergessen. Sie hatte das ungute Gefühl, angestarrt zu werden, ertragen, weil es sie getroffen hatte und nicht Yesim, und weil es nicht von den anderen Kindern, sondern von den Erwachsenen ausgegangen war. »Ich fand die Kinder eigentlich nett«, sagte sie. »Die haben sich doch ganz normal benommen.«

Yesim ruckelte an ihrem Gurt, um sich weiter vorzubeugen. »Und als die Frau mit dem Fragebogen so fies getan hat ›Fall, das ist ja sooo ein ungewöhnlicher Name, kannst du den schon buchstabiiieren? Wo kommt denn der Name heeer?‹«

Auch daran erinnerte Fatou sich. Mit solchen Irritationen würde Yesim an allen Orten umgehen müssen, an denen sie neu war, ob an dieser Schule oder an einer anderen. Vielleicht würde es ihren Enkelkindern erspart bleiben.

»Mama, weißt du noch, was ich gesagt habe? ›Buchstabieren von deutschen Hauptwörtern haben wir aber schon in der Grundschule gelernt‹, hab ich der gesagt. Wie die so getan hat, als ob sie ein normales deutsches Wort nicht schreiben kann, wenn ich’s ihr nicht buchstabiere, F-A-L-L, was ist daran denn bitte schwer?«

Fatou bemerkte einen Schweißfilm, den ihre Handflächen am Lenkrad gebildet hatten. »Das hast du gut gemacht«, sagte sie. »Ich schätze, sie war verwirrt, weil einfach nicht viele Leute so mit Nachnamen heißen.«

»Ich weiß, dass das ein westafrikanischer Name ist und nicht nur ein deutsches Wort«, sagte Yesim. »Aber das geht die nix an.« Sie blickte trotzig drein. »Nur weil du früher nicht auf dem Gymnasium warst, muss ich da jetzt hin, oder was? Das ist ungerecht.«

Fatou strich sich mit der Hand über die Augen. Dann erinnerte sie sich daran, dass sie auf der Autobahn waren. Wie sollte sie nur ihrem elfjährigen einzigen Kind erklären, dass es wichtig war, dass sie die beste Ausbildung bekam? Das konnte sie jetzt vielleicht noch nicht verstehen, aber später würde sie ihr sehr dankbar sein. Um Gottes Willen, mein Kopf hört sich an wie Tante Rosa, dachte sie. »Glaubst du, ich nehm dann Drogen oder was, nur weil ich auf der Stadtteilschule bin?«

Aus dieser Kombinationsgabe und Hartnäckigkeit sollte Yesim unbedingt etwas machen. Sie könnte Rechtsanwältin werden oder sogar Richterin. Oder Forensikerin. Bis es jedoch so weit war, würde diese Fähigkeit in erster Linie ihre Mutter zur Weißglut bringen.

Fatou riskierte einen kurzen Blick in den Spiegel an der Sonnenblende. Ihr geglätteter Pony war zugleich spröde und ölig. Die Hitze war zu viel gewesen für Lateesha’s Zero-Frizz-Strong-Hold-Pomade, etwas davon bildete mit dem Schweiß auf ihrer Stirn einen Film. Mit dem Rest ihres Gesichts war sie einverstanden. Mit sehr dezenten Wangenknochen hatte sie sich schon lange abgefunden – nicht jede konnte Angela Bassett sein –, dafür gehörte ihren Lippen die ganze Show. Sie waren braun und von einer natürlichen dunkleren Linie umrahmt. Make-up benutzte sie nur im Winter, wenn ihre Haut Gefahr lief, ungemütliche Grüntöne zu entwickeln. Ihre Wimpern waren auch ohne Schminke dicht genug. Fatou fand, dass sie aussah wie eine fünf Jahre ältere Version von Jennifer Hudson minus Hollywood-Visagist. Sie lächelte sich kurz zu, wie sie es vor vielen Jahren einmal in einem Selbstakzeptanz-Ratgeber gelesen hatte.

»Mama!«

Schnell konzentrierte sie sich wieder auf die Straße.

»Yesim, schau. Ich bin gerade arbeitslos, weil ich kein Abitur habe. Wenn ich studiert hätte, hätte ich schon was Neues gefunden.«

Und müsste nicht womöglich kellnern oder putzen, dachte sie. Diese beiden Berufe hatte sie sich geschworen, niemals auszuüben. Sie waren einfach zu nah an dem, was von ihr erwartet wurde.

Fatou kontrollierte im Rückspiegel, ob ihre Botschaft angekommen war. Sie bezweifelte es. Yesim sah genervt aus dem Fenster. Natürlich waren ihr Zukunftsängste fern. Fatou war auch immer darauf bedacht gewesen, sie von existenziellen Sorgen nichts mitbekommen zu lassen. Dass kurz vor ihrer Abreise die letzte Mahnung der Stromrechnung angekommen war und sie keine Ahnung hatte, wie sie das bezahlen sollte, behielt sie für sich. Wenn sie nicht stark war und vermittelte, dass sie jede Herausforderung des Lebens bezwingen konnte, würde Yesim womöglich ihren Halt verlieren, das Vertrauen in ihre Mutter und damit das Vertrauen, dass auch sie selbst einmal alles schaffen konnte. Das durfte nie passieren. Yesim sollte nie so in der Luft hängen, voller Zweifel und voller Fragen ohne Antworten, wie es Fatou als Kind ergangen war. Fatou hatte ihre Ziehtante Hortensia immer geliebt und liebte sie auch heute noch. Gegen das Gefühl, von der eigenen Mutter im Stich gelassen worden zu sein, war aber nicht einmal die Stabilität der enorm stabilen Tanten angekommen. Meinem Kind soll es besser gehen als mir, war Fatous erster Gedanke gewesen, als sie erfahren hatte, dass sie schwanger war. Yesim sollte immer wissen, wer und was sie genau war, und welchen Platz sie auf der Welt hatte. Seit es sie gab, hatte Fatou für sich selbst zumindest auf zwei dieser Fragen eine Antwort: Sie war Yesims Mutter und ihre Aufgabe lag darin, das so gut wie möglich zu machen. Dazu gehörte auch, ihrer Tochter starke Roots zu vermitteln.

Deswegen hatte Fatou beschlossen, diese Sommerferien in Bayern zu verbringen.

Es war höchste Zeit, dass Yesim Oberbayern und ein bisschen Bergluft kennenlernte und nicht als vollends entfremdetes Großstadtkind aufwuchs. Manche ihrer Freundinnen hatten noch nie einen Bauernhof gesehen und dachten, dass BiFis auf Bäumen wuchsen. Die ruhige Umgebung und traditionsbewusste bayrische Mentalität würden Yesim hoffentlich beeindrucken. Zumindest sollten sie ihr vermitteln, dass es nicht nur in Hamburg, sondern auch da, wo sie herkam, Lebensqualität und Werte gab.

»Hallo, ist da noch jemand?« Yesim wedelte mit ihrem Peanuts-Comic zwischen den Vordersitzen herum. »Die Frist für die Nachrutschplätze ist am Montag in einer Woche, oder?«

Sie ließ nicht locker. Sie war strukturiert und organisiert. Sie hatte so viel Potenzial. Sie nervte.

»Ja, Liebe, die Frist ist am Montag, und ich muss denen nur eine E-Mail schreiben. Ich hätte das auch schon längst machen können, aber mir ist wichtig, dass du einverstanden bist. Ich bin ja keine Rabenmutter.« Yesim lehnte sich so schnell nach vorne, dass ihr Gurt sperrte. Ihre Zöpfchen wackelten vor und zurück, die bunten Perlen an den Enden klackerten.

»Und wenn ich nicht einverstanden bin?«

Fatou konnte jetzt nichts gewinnen, wenn sie ehrlich blieb. Was sollte sie sagen? »Dann bin ich traurig?« Das klang passiv-aggressiv. »Dann schau’n wir mal, was weiß denn ich, wahrscheinlich werde ich dich zu deinem Glück zwingen?«, verbot sich auszusprechen. »Dann mache ich mir mein Leben lang Vorwürfe, egal, auf welche Schule du gehst?« Das traf sicherlich zu, aber es kam nicht in Frage, es zu verkünden. Sie entschloss sich für vielsagendes Schweigen.

Zum Glück war Yesim nicht penetrant, sondern effizient. Sie vergaß zwar nie etwas und würde die Sache sicher nicht auf sich beruhen lassen, aber sie wusste, wann es keinen Sinn hatte, weiterzubohren. Das hatte sie von ihrer Mutter.

»Wolltest du nicht sowieso deinen Job kündigen?«

Fatou zuckte zusammen.

»Du hast doch gesagt, dass die da gemein sind und meistens immer nur Ausländer kontrollieren.«

»Ja, das stimmt, Schatz. Aber ich hätte mir schon gern in Ruhe was Neues gesucht, statt von heute auf morgen eine Kündigung zu kriegen.«

In Wirklichkeit hatte die Arbeit als Kaufhausdetektivin sie mehr und mehr belastet. Als sie mit Anfang zwanzig die Ausbildung gemacht hatte, waren die Ladenöffnungszeiten noch bis 19 Uhr gewesen. Doch in letzter Zeit war sie oft erst um 23 Uhr nach Hause gekommen. Die Spätschichten wurden besser bezahlt. Trotzdem hatte sich am Lohn in den letzten fünfzehn Jahren kaum etwas verändert. Es hatte gerade so gereicht. Nein, genau genommen hatte es nicht gereicht. Alle Ersparnisse waren für die Operation von Aytaçs Mutter draufgegangen. Fatou bereute die Ausgabe keine Sekunde. Das war schließlich der Grund, aus dem es Geld gab. Aber jetzt waren sie und Aytaç beide pleite und hatten seit kurzem auch noch zwei Haushalte zu führen.

»Kannst du nicht Privatdetektivin werden, so wie Number One Ladies Agency?«

Fatou lachte. Die TV-Serie, in der Jill Scott alias Mma Ramotswe gegen alle Gepflogenheiten ein Detektivbüro in Botswana aufmachte, hatten sie Abende lang gefeiert. Yesims Augen glänzten. Was wusste sie schon über Selbständigkeit.

»Wenn ich ich im Lotto gewinne, mache ich als Erstes ein Detektivbüro auf. Versprochen. Schau, wir sind bald da.« Hell- und ockergelbe Äcker säumten die Autobahn jenseits der Leitplanken. Die flache Landschaft flirrte in der Sommerhitze. Außer vereinzelten Silos, Baumärkten und Strohballen hatte es auf den letzten fast hundert Kilometern nichts Interessantes zu sehen gegeben. Sie nahm die Ausfahrt »Neuötting« und bog auf die Landstraße ein. Der Wunderbaum neigte sich in der Kurve nach rechts. Es roch nach Kühen und Landwirtschaft. Fatou kannte den Geruch aus ihrer Kindheit und sog ihn tief ein.

»Hier stinkt’s, Mama.«

»Yesim, bitte. Ohne den Geruch vom Land könntest du keinen Kakao trinken und keine Burger essen.«

»Was ist das denn?«

Fatou erinnerte sich. Linker Hand tauchte eine Disco auf, die sich »Felsen-Alm« nannte, eine als Skihütte verkleidete architektonische Irritation mit bunten Lampions und Neonschildern davor, vom schrillen Aussehen her hätte sie auch eine Spielhalle in Las Vegas sein können. »Das ist eine Disco, also, ein Club«, sagte Fatou. »Jetzt ist es nur noch ein Kilometer, bis wir da sind.«

Sie schaltete runter auf fünfzig. Der Ortseingang von Neuötting begrüßte sie mit typisch oberbayrischer Nachkriegsarchitektur. Graue und blass gelb gestrichene Häuser aus den 1950er- und 60er-Jahren standen am Straßenrand, einige hatten Geranien vor den dunkelbraunen Fensterläden. Parallel zur Hauptstraße säumten spärliche Birken Wohnsiedlungen. Es gab weniger Bauernhöfe, als Fatou in Erinnerung hatte.

»Schau mal, hier gibt’s auch Refugees.«

Fatou sah rechts und links aus den Autofenstern. Es war niemand zu sehen, auf den die Beschreibung gepasst hätte. Zwei ältere Bayern mit Hut und Lodenjacke führten einen Dackel spazieren. Eine junge Frau mit Bluse und Stöckelschuhen schloss eine Haustür auf. »Wen meinst du?«

»Die Wahlplakate«, sagte Yesim und deutete auf eine Serie von Postern am Straßenrand, die eine unschöne Karikatur einer flüchtenden Familie zeigten. Darüber stand »Wallfahrt statt Wohlfahrt – Flüchtlingsstrom stoppen!«. Die örtlichen Rechten übertrafen sich selbst.

»Solche Leute gibt’s leider überall. In Bayern und in Hamburg«, sagte Fatou.

»Aber in Hamburg gibt’s mehr von uns und mehr Refugees und Ausländer.«

»Du hast doch noch fast gar nichts gesehen. Jetzt kommen wir erst mal an und dann schauen wir uns in Ruhe um. Ich zeig dir Altötting und Neuötting, wir gehen in die Stadt, und dann sehen wir schon, welche Leute hier alles wohnen.«

In ihrem Kopf war das Bild von ihrer alten Heimat im Jahr 1980 stehengeblieben, fiel Fatou auf. Damals war sie immer und überall die Einzige gewesen. Sie hatte gar nicht daran gedacht, dass sich das inzwischen geändert haben könnte.

Zwar hatte sie seither Tante Hortensia sporadisch besucht – nicht oft genug, meldete ihr schlechtes Gewissen –, aber nie länger als für einen Nachmittag. Eine innere Stimme hatte sie immer zur Vorsicht gewarnt. Es galt, gerade lang genug zu bleiben, um mit der Tante Tee zu trinken und alte Fotoalben anzusehen – und sich wieder zu verabschieden, bevor ein Streit über ihre Lebensführung ausbrach. Fatou hatte sich bei ihren Besuchen fühlen wollen wie das kleine Mädchen, das sie einmal gewesen war, nicht wie eine erwachsene Frau, die sich für ständige Jobwechsel und komplizierte Beziehungen rechtfertigen musste. Sie habe einen Termin in München, hatte sie immer vorgeschwindelt und war dann am späten Nachmittag jedes Mal wieder nach Frankfurt zurück gefahren. Seit sie in Hamburg wohnte, hatte sie Tante Hortensia nur noch einmal besucht, ohne Yesim. Das war fünf Jahre her. Ein, zweimal im Jahr telefonierten sie. Sie waren beide nicht besonders gut darin.

***

Die Rosenbeete waren noch immer die alten: üppig und gepflegt. Es waren widerstandsfähige Rosen, die draußen überwintern mussten, keine neumodischen Züchtungen mit Namen wie »Lady Diana«. Sie waren schnörkellos wie der Rest des Gartens. Vor der großen Wiese, auf der Fatou als Kind viele Frühlinge und Sommer verbracht hatte, blühten lila Stiefmütterchen, gelbe Primeln und weiße Margeriten, mit einem eindrucksvollen Besuchsaufkommen an Hummeln und Schmetterlingen. Der Stumpf der großen Linde, die der Blitz getroffen hatte, war nicht mehr zu sehen. Knöchelhohes dunkelgrünes Gras hatte den Platz übernommen. Yesim folgte ihrer Mutter den knirschenden Kieselweg entlang. Fatou musste lächeln, als sie die Wäschestange sah, an der sie ihr erstes selbst geschossenes Foto gemacht hatte. Es war eine Aufnahme von Tante Hortensias Hut gewesen, vor einem Teppich, der zum Lüften darüber hing.

Hinter dem Haus war es schattig und roch schon nach Essen.

»Ich hab Hunger«, sagte Yesim. Fatou hatte ihr Magenknurren seit dem Raststätten-Hotdog ignoriert. Jetzt machte es mit Nachdruck auf sich aufmerksam. Tante Hortensia hatte es sich sicher nicht nehmen lassen, etwas besonders Leckeres zur Feier ihrer Ankunft zu kochen.

»Gleich. Ich zeig dir noch schnell den Rest vom Garten.« Sie nahm Yesims Hand und führte sie zur gepflegten Sonnenwiese an der Südseite des Hauses. Zwei Stühle und ein Tischchen standen dort bereit. Und eine lachende Tante Hortensia.

»Mir ist es schon zu heiß da, ich bin sonst immer auf dem Balkon«, sagte sie. »Wenn ich nicht gerade auf hohen Besuch warte. Lasst euch anschauen.«

Hortensia Fideltaler war immer noch eine beeindrukkende Erscheinung. Sie war einen guten Kopf größer als die durchschnittliche Dame ihres Alters. Mit ihrer schlanken, aufrechten Statur, hellblauen Augen und apartem Hut hatte sie immer etwas Gouvernantenhaftes. Sie hat sich gar nicht verändert, dachte Fatou. Sie ging zu ihr und umarmte sie.

»Geh«, sagte Hortensia und hielt ihre Gartenhandschuhe von Fatous Kleidung fern. Yesim war in sicherer Entfernung stehengeblieben.

»Wenn ihr keinen Hunger habt, stell ich euch gern einen Schirm raus«, sagte Hortensia. Fatou beäugte den Jägerzaun. Als Kind hatte sie sich keine Gedanken gemacht, was wohl die Nachbarn dachten, wenn ein Schwarzes Mädchen im Garten spielte.

»Soll ich dir das Planschbecken holen?«, fragte die Tante. Yesim sah schockiert drein. Sie kennt Tante Hortensias Humor noch nicht, dachte Fatou. Wahrscheinlich befürchtet sie gerade, dass sie in ein Taschentuch spucken und ihr damit das Gesicht abwischen wird.

»Ich hab es aufgehoben«, sagte Hortensia. »Erinnerst du dich noch an das Planschbecken, Fatou?« Sie war damals erst fünf Jahre alt gewesen. Sie und ein paar Nachbarskinder hatten darin eine tolle Woche verbracht, bis die reiche Familie mit dem Bungalow nebenan ihren Swimmingpool eröffnet hatte. Yesim sah Fatou verunsichert an. Tante Hortensia erlöste sie lachend. »Brauchst keine Angst zu haben. Ich weiß ja, dass du schon elf bist.« Sie öffnete die Eingangstür. »Alt genug, dass du mir im Garten zur Hand gehst.«

Der kurze Flur war neu tapeziert worden, in Beige mit dezent glänzendem Blumenmuster. »Ja, ja«, seufzte Tante Hortensia, als sie ihren Hut abnahm und an die Garderobe hängte. Sie strich sich durchs Haar und legte ihren Schal auf der Kommode ab.

»Die ist auch neu«, sagte sie zu Fatou. »Das schiache alte Ding hab ich auf den Sperrmüll.«

»Schiech?«, flüsterte Yesim.

»Schiach«, sagte Fatou. »Das heißt in deiner Muttersprache: hässlich.« Yesim kicherte.

Die Dekoration der Wohnung war weniger geworden, seit Tante Rosa nicht mehr lebte. Ein Foto von ihr, mit silbernem, vollem Haar, in goldenem Rahmen mit schwarzem Trauerrand. Daneben ein Zierteller mit dem Bild einer Alpenlandschaft. »Gebts mir eure Jacken. Das Gepäck holen wir später.«

Fatou und Yesim setzten sich auf die Holzbank in der zweckmäßig eingerichteten Küche. Sie war hell und roch nach Backstube.

»Ich hab uns Dampfnudeln gemacht. Die mach ich sonst nie. Zu viel Aufwand für eine.« Fatou riss sich zusammen, nicht zu fragen, ob sie schon fertig seien. »Hast du schon mal Dampfnudeln gegessen, Yesim, oder gibt’s so was nicht bei euch in Hamburg?« Yesim verneinte schüchtern.

»Jetzt kriegst du deine bayrische Herkunft serviert«, sagte Fatou. »Deine ersten Dampfnudeln.«

»Und ein Bier dazu?«, fragte Yesim. Tante Hortensia lachte.

»Das kannst du dir abschminken. Frühestens, wenn du zwölf bist.«

Tante Hortensia tischte ihnen auf. Die selbstgemachte Vanillesauce war preisgekrönt.

»Und jetzt freust du dich schon auf langweilige vierzehn Tage in Bayern.«

Yesim verlor augenblicklich an Körperspannung. »Geh, ich mach nur Spaß. Hier gibt’s viel, was ihr unternehmen könnt. Ihr könnt in die Berge fahren und Geißen füttern. Hast du schon mal einen echten Gamsbock gesehen?« Yesim schüttelte den Kopf. »Da musst du aufpassen, die haben große Hörner und spießen dich damit auf, wenn du sie ärgerst.« Yesim schielte zu ihrer Mutter. »In Altötting gibt es ein Freibad. Da könnt ihr hinradeln. Ich nicht mehr, dafür bin ich zu alt. Aber wir können auch was zusammen machen. Magst du gern Kartenspielen?«

Fatou beschlich die Befürchtung, dass es vielleicht eine schlechte Idee gewesen war, ihre elfjährige Großstadttochter mit der über achtzigjährigen bayrischen Hortensia zusammen zu bringen. Was, wenn sie keinerlei Gemeinsamkeiten finden und nun zwei Wochen lang unter peinlichen Gesprächsversuchen und unangenehmem Schweigen leiden würden?

»Ich habe Pow-Ru Karten! Soll ich sie dir zeigen?«

Während Hortensia versuchte, das ausländische Wort nachzusprechen, lief Yesim ins Schlafzimmer.

»Das sind Sammelkarten, keine Spielkarten« erklärte Fatou. »Da gibt’s so Trickfilmserien, und die verkaufen den Kindern die Karten.« Nebenan wutschte energisch der Reißverschluss des kleinen bunten Koffers.

»Rupf nicht alles raus und verteil es überall!«, rief Fatou. »Das ist hier ein ordentlicher Haushalt. Nicht wie bei uns.« Yesim kicherte von nebenan.

»Bist du immer noch so unordentlich?«, fragte Hortensia.

»Seit kurzem wieder«, antwortete Fatou. »Seit ihr Vater und ich … getrennt sind, ist es ziemlich viel, für mich allein.«

»Da hast du dir ja einen schönen Hallodri ausgesucht«, antwortete Hortensia knapp. Fatou wollte gerade anheben, ihr zu sagen, dass das nicht stimmte. Dass Aytaç kein Hallodri war und sie genau genommen auch gar nicht alleinerziehend. Ihre Trennung beruhte sozusagen auf höherer Gewalt. Den Grund dafür konnte sie Hortensia aber unmöglich erzählen. Dass sie nicht zusammenbleiben konnten, war nicht seine Schuld.

Yesim kam mit einem durchsichtigen Etui in die Küche gerannt.

»Nicht so schnell, junge Dame, nicht, dass du dich noch an der Türkante stößt«, mahnte Hortensia.

»Mama! Das hast du von ihr?«

Fatous Gesicht wurde warm.

»Jetzt zeig mal deine Bauernkarten«, sagte Hortensia.

»Pow-Ru!«, korrigierte Yesim. Sie legte feierlich ihr Etui auf den Küchentisch und holte die Karten heraus. »Das ist Panto. Der kann sich in einen Panther verwandeln und kämpft für Gerechtigkeit. Das ist Saintela. Sie kann Engel rufen, und die helfen dann Menschen in Not.«

»Das sind ja moderne Heiligenbildchen«, schmunzelte Hortensia und zwinkerte Fatou zu.

Fatou setzte sich auf die Bank am Küchentisch und betrachtete die Präsentation ihrer Tochter. Yesim moderierte jede Karte an und gab sie dann vorsichtig Tante Hortensia zur Betrachtung in die Hand. Die wusste das Privileg zu würdigen und antwortete mit den angemessenen »Aha«s, »Oh«s und »M-hm«s.

Zum ersten Mal seit Tagen konnte sich Fatou entspannen. Ihr fiel auf, dass das Nachmittagslicht, das durch die dünne Gardine fiel, noch immer sonnenfarbene Punkte an die Spüle warf.

Die Holzbank, die vor Urzeiten aus der Garage in die Küche versetzt worden war, hatte noch die Kerbe auf der rechten Seite, die sie mit einem Taschenmesser hineingeschnitzt hatte, nachdem sie von einen Abenteuerfilm inspiriert gewesen war. In der Speisekammer standen auf dem oberen Regal fein säuberlich aufgereiht Gläser mit dem besten selbstgemachten schwarzen Johannisbeergelee der Welt.

»Wollts ihr heut noch was unternehmen?«, fragte Hortensia. Fatou war müde von der Fahrt. Sie war nicht scharf darauf. Wenn Yesim noch Energie hatte, sollte sie die am besten im Garten loswerden.

»Können wir fernsehen?«, war Yesims Gegenvorschlag.

»Holt doch euer Gepäck aus dem Auto, deine Mama zeigt dir ein bisschen die Florastraße, und dann mach ich uns Abendessen. Danach kannst du noch ein bisschen fernsehen.«

Yesim sollte gegen 20 Uhr im Bett sein. Das war in Hamburg schwer einzuhalten, wenn im Hochsommer die Sonne erst nachts um halb elf unterging. Vielleicht würde es hier in Bayern gelingen. Fatou konnte etwas abendliche Erholung gut gebrauchen.

Sie spritzte sich im Badezimmer etwas Wasser ins Gesicht und ignorierte das Versagen ihres Deodorants. Duschen würde sie vor dem Abendessen. Sie musterte sich im Spiegel. Ihre Nase glänzte. Ihre vollen Augenbrauen waren noch einigermaßen in Form. Im Verlauf des Sommers hatte sie gottlob wieder eine ordentliche Farbe angenommen.

Sie zwinkerte sich im Spiegel zu und fand, dass ihre neuen zusätzlichen Pfunde sie seriös und erwachsen machten. Als sie dünn gewesen war, hatte sie weniger Freude daran gehabt, schöne Oberteile und Blusen zu tragen. Mit ihrer jetzigen Figur gefiel sie sich besser.

Als sie im Schlafzimmer nach Yesim sah, zog die sich gerade ein Paar Turnschuhe an.

»Meine Liebe, wir gehen nicht bergwandern, nur die Straße hoch und runter. Du kannst auch barfuß gehen«, zog sie sie auf. Wahrscheinlich hatte sie ohnehin keine praktischen Gründe für die Auswahl der lila-neongrün-rosafarbenen Sneakers. Yesim hatte ihren eigenen Stil. Dieses Jahr hatte sie sogar angefangen zu nähen und trug das Ergebnis mit Stolz. Fatou wäre wahrscheinlich zum Kostümverleih geschickt worden, wenn sie eins der Outfits getragen hätte, die ihre Tochter mit Selbstverständlichkeit in die Schule anzog. Muster, Farben, Oversize und Stretch zu kombinieren, und dabei nicht wie ein Clown auszusehen, gelang nicht vielen Menschen. Yesim kam damit durch.

Als sie das Gartentor passierten, nahm Yesim Fatous Hand. Wie lang würde es wohl noch dauern, bis sie das uncool finden würde? Fatou hatte fest vor, dass dieser Sommer in Bayern etwas ganz Besonderes für sie beide werden würde.

Die schwüle Nachmittagshitze ließ den Asphalt flimmern und ihre Schritte langsam und schlurfend werden. Linker Hand waren größtenteils Zweifamilienhäuser mit großen gepflegten Gärten hinter Jägerzäunen. Garagen, Familienautos, vereinzelte Tannen, Gartenschläuche. Die Häuser auf der anderen Straßenseite hatten die Gärten zur Landstraße hin, von der sie gekommen waren. Dort gab es nicht viel zu sehen außer ein paar Gartenzwergen und Hexenmobiles im Fenster, wie Fatou etwas peinlich berührt feststellte.

Außer ihnen war kein Mensch auf der Straße. Es roch nach Heu und heißem Asphalt, dem Aroma sommerlichoberbayrischer Kleinstadtsiedlungs-Idylle. Hier hatte sie das Fahrradfahren gelernt, und dass es besser war, beim Gehen nicht auf den Boden, sondern nach vorne zu sehen. Fatou genoss die Erinnerungen, so zufrieden sie auch damit war, in Hamburg zu leben.

Das Ende der Straße passte nicht ganz zum Rest. Dort war ein größeres Haus aus den 1970er Jahren. Für hiesige Verhältnisse galt es wahrscheinlich als Wohnblock. Seine fünf Stockwerke ragten über eine Gruppe Bäume hinaus. Er hatte zwei Trakte, zwischen denen sich ein Spielplatz befand. Das war den Architekten bestimmt aus Versehen passiert.

Die Florastraße machte eine leichte Biegung, hinter der einmal Felder gelegen hatten. Jetzt befand sich dort eine Neubausiedlung. In Fatous Bauch zog sich etwas zusammen. Hatte sie erwartet, dass alles so bleiben würde wie vor dreißig Jahren? Eine Erinnerung blitzte in ihr auf, erst trübe, dann gegenwärtiger, das Gesicht eines Freundes aus der ersten Klasse. Seine glatten braunen Strubbelhaare und Pausbacken. Sein zahnlückiges Lachen. Ihre Handflächen wurden feucht. Schnell schob sie die Erinnerung beiseite.

»Mama, du hast CDs unter den Armen«, stellte Yesim fest. Fatou sah unter den dünnen Trägern ihres Oberteils nach. Dort hatten sich in der Tat links und rechts scheibenförmige Flächen breit gemacht.

»Ist da oben der Club?«, zeigte Yesim in die Richtung, die sie mit dem Auto hergekommen waren. Sie klang ein bisschen aufgeregt. Fatou schmunzelte. In Hamburg konnten Clubs sich in jedem Keller, Kaufhaus und Wohnzimmer verbergen. Ein Club war dort wirklich nichts Besonderes. Die überaus schrille Hütte, die sie auf der Hinfahrt passiert hatten, war damit verglichen extrem exotisch.

»Du willst in die Disco? Dafür ist es noch zu früh«, sagte Fatou vieldeutig. Sie machte sich daran, wieder umzukehren. Doch eine Erinnerung war an die Oberfläche geschwemmt worden. Fatou blieb stehen.

»Ich war mal dort drin. Das habe ich ganz vergessen.« Sie sah Yesim an. »Und weißt du was? Da war ich erst fünf Jahre alt.« Yesim machte große Augen und schirmte mit der Hand die Sonne ab, wohl um besser erkennen zu können, ob Fatou es ernst meinte. »Es war ein Faschingsfest. Weil es um 10 Uhr früh anfing, dachte meine Mutter, dass es für Kinder ist. Damals kam meine Mama noch manchmal zu Besuch zu den Tanten und mir. Sie haben mich verkleidet, dann hat meine Mutter mich zur Disco gebracht und gesagt, dass sie mich in zwei Stunden wieder abholen kommt. Sie ist aber nicht mit reingegangen. Sonst hätte sie gleich gesehen, dass das Fest gar nicht für Kinder gedacht war.«

Schon morgens um zehn war es schwül und stickig gewesen. Es roch nach dem Bier, den Zigaretten und dem Schweiß der Besucher vom Vortag.

Sogar an diesem grauen Februarvormittag war es im Raum vergleichsweise so düster, dass sich die Augen erst einmal umgewöhnen mussten. Die Fenster waren von innen blickdicht verschlossen. Das Mädchen schaute sich um. In so einem Lokal war sie noch nie gewesen. Einiges kam ihr bekannt vor, aus den Ausflugslokalen, in die ihre Oma sie manchmal zum Mittagessen mitnahm. Der rustikale Tresen bestand aus dunkelbraunem Holz mit gedrechselten Säulen und grob geschnitztem Efeumuster. Tönerne Bierkrüge standen und hingen dort und konkurrierten mit der restlichen Dekoration, die aus Lebkuchenherzen und Bildern von großbusigen Frauen im Dirndl bestand. Zu beiden Seiten des Tresens waren aus demselben Holz stabile Bänke und Tische gezimmert, mit massiven Rückwänden. Von dort aus war die Tanzfläche ein paar Stufen tiefer zu erreichen. Über ihr hing eine Discokugel, angestrahlt von gedimmten rot-blau-gelben Lichterampeln und Leuchtketten an den Kanten der Wände. Orangefarbene Strahler drehten sich und blinkten – sodass hundert verschiedenen Farben miteinander konkurrierend umherirrten wie in einem Partykeller, über den jemand die Kontrolle verloren hatte.

Das Mädchen stützte sich an der Brüstung ab und überprüfte den Sitz ihrer Schnürsenkel.

»Und was hast du dann gemacht?«, fragte Yesim und hielt die Hand ihrer Mutter fest, obwohl sie schweißnass war.

»Ich habe gar nicht gemerkt, dass es kein Kinderfest war. Alle haben mit mir gespielt und die Musik war gut, es lief sogar Boney M. Ich habe getanzt und als ich durstig war, kam meine Mutter und hat mich abgeholt. Die Erwachsenen haben miteinander herumdiskutiert, und ich bin mir ganz groß vorgekommen. Weil ich schon allein weg war.« Dass sie sich zwischendurch ein paarmal fast in die Hosen gemacht hatte, vor lauter Angst bei dem Gedanken, dass ihre Mutter sie vielleicht nicht wieder abholen kommen würde, verschwieg sie lieber. »Danach hat mein Afro nach Bier und Zigaretten gestunken. Meine Mutter wollte mir in der Badewanne die Haare waschen, so dass die Tanten es nicht bemerken, aber ich hab beim Kämmen so ein Theater gemacht, dass sie ins Bad gekommen sind. Deine Oma hatte von Haaren keine Ahnung. Die war überfordert.« Yesim kicherte. »Was die für eine Szene gemacht haben, als ihnen klar wurde, dass meine Mutter ihr fünfjähriges Kind in die Disco gebracht hat!«

»Was für Leute waren auf der Party um zehn Uhr morgens mit Bier und Zigaretten?«, fragte Yesim. »Und wieso ist deine Mama nicht mit dir reingegangen?« Fatou wusste keine altersgerechte Antwort. Sie zog ihren Mund zu einem Ausdruck fatalistischen Bedauerns in die Breite und ließ es dabei bewenden. Yesim würde zweifellos einmal eine gute Mutter sein, falls sie diesen Weg einschlagen würde.

Seit ein paar Monaten war Fatou mit Prognosen allerdings insgesamt vorsichtiger geworden. Vorhersehbar war gar nichts. Das hatte sie an ihrer eigenen Beziehung gesehen.

***

»Ist Yesim muslimisch?«, fragte Hortensia. Sie versuchte anscheinend nicht, ihren Argwohn zu verbergen und sprach es so aus wie »Habt ihr wirklich einen Wasserrohrbruch in eurem Keller?«

»Das kann sie sich selbst aussuchen«, sagte Fatou. Dass Religion nicht unbedingt sichtbar war, hatte Fatou seinerzeit von Tante Hortensia gelernt. Sie und Tante Rosa hatten sich in der Kirche engagiert, ohne dass Fatou je eine von beiden hatte beten sehen. Kurz nach Tante Rosas Tod hatte Hortensia ihr gegenüber einmal eine Andeutung gemacht. Es sei sicherer für die beiden gewesen, in der Kirche zu sein, als nicht in der Kirche zu sein. Fatou hatte daraus ihre eigenen Schlüsse gezogen. Die »Tanten« hatten ihr Leben lang unverheiratet zusammen gelebt. Wenn sie sich nicht in der Gemeinde engagiert hätten, wären sie womöglich in der ganzen katholischen Stadt geschnitten worden.

»Aber von den Muslimen hört man doch so viel«, sagte Hortensia. »Und dein Ali–« »Aytaç«, korrigierte Fatou.

»Eitschatsch …, der war doch auch einer. Und jetzt bist du alleinerziehend.«

Fatou fühlte sich erschöpft. Es war ihr zu anstrengend, dagegen anzuargumentieren, dass eine Beziehung auch aus anderen Gründen nicht fortgeführt werden konnte, als dem Grund, dass ein Partner türkisch oder muslimisch war. Tante Hortensia war schon über achtzig. Ihr Weltbild würde sie sicher nicht mehr ändern. Kurz erwägte sie, der Tante die wahren Gründe zu sagen. Dann würde sie Aytaç nicht mehr so einfach ablehnen können, weil er ein »Ausländer« war. Aber dann würde sie wahrscheinlich andere unangenehme Fragen stellen und von Fatou denken, dass sie hoffnungslos naiv sei und unfähig zur Partnerwahl.

Nie hatte sie Tante Hortensia und Tante Rosa ein klares Wort über deren Beziehung sagen hören. Sie lebten einfach wie ein Ehepaar, lästerten über alle Männer, mit denen sie nicht verwandt waren, und schalteten im Fernsehen bei Knutschszenen um. Aber sie hatten getrennte Schlafzimmer, benutzten das Bad niemals gleichzeitig, und selbst als kleines Kind hatte Fatou nie auch nur eine zärtliche Berührung zwischen den Beiden gesehen. Wenn Tante Rosa weinte, tröstete Tante Hortensia sie wie eine … beste Freundin.

Vielleicht waren sie vor sich selbst nicht geoutet und haben tatsächlich sechzig Jahre lang nur ab und zu ..., dachte Fatou. Sie wusste es nicht. Und sie wollte dieses Fass nicht aufmachen. Hortensia hatte Fatou aufgenommen, als ihre Mutter nicht mehr für sie da sein konnte. Obwohl sie genau genommen nicht einmal miteinander verwandt waren. Ihre Ansichten waren konservativ. Sie misstraute Ausländern und Norddeutschen. Aber in machen Dingen war sie trotzdem anders als viele ihrer Generation. Sie hatte sich schon zu Zeiten wie ein Mann gekleidet, in denen es noch unerhört war, dass Frauen Hosen trugen. Sie war sogar mit Hosen und Hut arbeiten gegangen. Tante Hortensia hatte Fatou viel darüber beigebracht, wie eine Frau mit Pragmatismus und trockenem Humor stark durch ein schwieriges Leben gehen konnte. Wie sie dazu stehen würde, dass Aytaç schwul war, konnte Fatou aber nicht einschätzen. Sie beschloss, es dabei bewenden zu lassen und ihre Ferien nicht unnötig zu verkomplizieren. Dazu gehörte auch eine Ex-Beziehungs-Auszeit. Sie hatte sich für vierzehn Tage Funkstille ausgebeten. Den räumlichen Abstand würde sie nutzen, um endlich in sich selbst den nötigen Abstand zu ihm zu schaffen. Zumindest hoffte sie das.Der Balkon sah aus wie früher. Ein altmodischer hölzerner Liegestuhl, ein kleiner Tisch und Stühle unter einem Sonnenschirm standen darauf. Yesims Limonadenglas hinterließ Kringel auf der Wachstuchtischdecke. »Gehts doch nachher in den Garten und sonnts euch ein bisschen im Bikini«, schlug Tante Hortensia augenzwinkernd vor.

»Danke, Tante, aber wir wollen nicht, dass die ganze Straße Handyfotos von uns macht«, sagte Fatou.

»Ach geh«, sagte Hortensia, »das ist doch heut nichts Besonderes mehr. Als du klein warst, schon. Aber jetzt gibt’s nebenan sogar auch ein braunes Mädchen.« Yesim verschluckte sich an ihrer Limo.

»Tante Hortensia, sag doch bitte nicht braun«, sagte Fatou.

»Was denn sonst?«

»Wir sagen Schwarz«, half Yesim aus.

»Geh, aber ihr seids doch nicht schwarz, ihr seids doch braun.«

»Du bist rosa, Tante«, sagte Fatou. Yesim lachte.

»Was? Meinetwegen. Wenn ihr euch unbedingt nennen wollt wie die CSU, mir soll’s recht sein.«

Yesim beobachtete ihre Mutter mit dem ernsten Gesicht einer Punktrichterin.

»Das wollte ich dir sowieso noch sagen«, fuhr Hortensia fort. »Erinnerst du dich noch an die kleine Anita, mit der du als Kind gespielt hast?« Fatou kramte in ihrem Gedächtnis. Hortensia half ihr auf die Sprünge. »Die in dem Bungalow nebenan.«

An die erinnerte sie sich. Sie war ein nervöses Mädchen gewesen und hatte Fatou einmal nachhaltig mit einem Schreikrampf traumatisiert. »Die hat das Haus geerbt und lebt jetzt da.« Tante Hortensia nickte in Richtung der großen dunkelgrünen Büsche, die das Grundstück vor Blicken sogar aus dem ersten Stock abschirmten. »Und sie hat eine Tochter wie du. Wie ihr zwei eigentlich. Die ist auch ohne Papa.«

»Ich bin nicht ohne Papa!«, sagte Yesim, »die sind nur getrennt.«

»Ich weiß schon«, sagte Hortensia. »Anita hat jedenfalls ein adoptiertes … schwarzes Kind«, das Wort schien ihr Mühe zu bereiten, »und ihre anderen Kinder sind von einem norma... , ich meine, von einem Deutschen.«

»Wir sind auch Deutsche«, sagte Yesim. Fatou freute sich insgeheim über Yesims Schlagfertigkeit, wollte aber nicht, dass das ganze in eine Debatte ausartete. Sie hatte Angst, dass Tante Hortensia sich dann noch unpassender ausdrücken würde und es zum Streit käme. Wenn sie allein war mit Menschen, die wohlmeinend rassistische Dinge sagten, konnte sie damit umgehen, aber wenn Yesim mit dabei war, ging es nicht so einfach. Sie war in der Verantwortung, ihr die Orientierung zu geben, was richtig und was falsch war, was erlaubt war und wo die Toleranzgrenze enden sollte. Und sie wollte, dass Yesim und Tante Hortensia sich gut verstanden. Dass sie eine Familie waren, nicht wie die Familien, die anfingen, übereinander zu lästern, sobald sie auf der Rückfahrt waren.

»Du meinst, der Vater der anderen Kinder ist ein Weißer«, bot Fatou an.

»Aber klar, was denn sonst?« Tante Hortensia sah Fatou an, als hätte sie etwas Seltsames gesagt. »Aber er ist ja sowieso tot. Wollt ihr nicht nachher noch rübergehen?«

Fatou dachte an das nervöse Mädchen von früher. Ob sie wohl immer noch so war? Hatte sie inzwischen einen Schrank voller Rüschenblusen und das Barbiepferd als lebende Version im riesigen Vorgarten?

»Warum nicht«, sagte Fatou. »Hast du Lust, Yesim?« Die beäugte ihre Mutter misstrauisch.

»Woher ist die denn adoptiert?«

»Das weiß ich nicht«, sagte Hortensia, »aber das kannst du sie ja fragen. Sie müsste genau so alt sein wie du, vielleicht ein Jahr jünger.«

Es musste schwer für das Mädchen sein, in der fremden Umgebung, dachte Fatou.

***

»So, bittschön – hier ist bayrische Kultur zur Genüge«, sagte Tante Hortensia zu Yesim und stellte die Butterschale aus beigefarbenen Emaille auf den Wohnzimmertisch. Es gab regionales Abendessen. Schinken, Wurst, Käse, dickes Graubrot, Essiggurken, Limonade in Glasflaschen und alkoholfreies Bier. Der Fernseher lief ohne Ton. Die Balkontür war geöffnet, es drang aber kaum ein Luftzug ins Zimmer. Hortensia trug einen ärmellosen Hausanzug mit buntem Karomuster, Yesim war schon im Nachthemd, Fatou trug Jogginghose und T-Shirt und kam sich underdressed vor.

»Was ist das denn für eine Wurst?«, fragte Yesim und hob mit ihrer Gabel die Scheibe eines sehr unhomogen aussehenden Wurstrandes an, als wäre sie eine Kontaminationsbiologin und die Gabel ein Messinstrument.

»Das ist eine Tiroler Wurst,« antwortete Tante Hortensia. »Sie ist aus–«

»Tirol?«, fragte Yesim schnell. Hortensia hielt einen Moment inne und zog die rechte Augenbraue nach oben. »Ja. Das auch«, sagte sie.

»Yesim. Unterbrich nicht. Was wolltest du sagen?«, bot Fatou an.

»Ich wollte sagen, sie ist aus Blut, größtenteils.«

»Whoa«, rief Yesim, zog die Gabel schnell von der Wurst fort und beäugte sie misstrauisch.

»Die andere Wurst da, die ist aus Hirn. Kalbshirn.«

Yesim schluckte. Fatou riss sich zusammen, um nicht zu lachen.

Hortensia biss genussvoll in ein Brot mit zwei dicken Scheiben Tiroler Wurst.

»Ich hab keinen Hunger«, sagte Yesim.

Um ihren Kulturschock etwas zu lindern, bekam sie ausnahmsweise Marmelade und Gouda und ging danach ins Bett.

Tante Hortensia lehnte sich auf der Couch zurück und stieß einen Seufzer der Erschöpfung nach einem langen erfolgreich bewältigten Tag in hohem Alter aus. »Kochst du noch deine exotischen Gerichte?«

Fatou lachte. »Die sind nicht so exotisch wie Wurst mit Blut und Gehirn«, sagte sie. Sie wusste, was Hortensia meinte. Auf der experimentellen Suche nach ihren Wurzeln, in ihren Zwanzigern, hatte Fatou angefangen, westafrikanische Gerichte kochen zu lernen. Sie hatte Tante Hortensia am Telefon davon erzählt und nicht mehr als ein »Aha« geerntet. Als Fatou einen zweiten Anlauf gemacht hatte, über Fufu und Thieb zu berichten, darüber, wie stolz sie darauf war, wenn das Maffé die richtige Konsistenz hatte, wie lang es dauerte, minutiös die Gräten aus dem Fisch zu klauben, um perfekte Fischbällchen zu produzieren, und wie scharf und aufregend die Ballon-Chili war – sie brauchte sie praktisch nur eine Minute in die Sauce zu tunken, damit diese eine Zulassung als Aufputschmittel bekam –, hatte die Tante sich abermals unbeeindruckt gezeigt. Vielleicht hatte sie schon einmal ausländisches Essen probiert – zum Beispiel Pizza – und befunden, dass es nicht mit Dampfnudeln konkurrieren konnte.

»Du, ich koche richtig gut inzwischen«, sagte Fatou hoffnungsvoll. »Ich hab sogar schon für Veranstaltungen gekocht. Und stell dir vor, in Hamburg, in unserer Straße, habe ich ein Bistro früher manchmal mit Vorspeisen beliefert.«

»Dann bist du ja Gastronomin«, sagte Hortensia. Sie hatte ein Pokerface, mit dem sie jeden Profi hätte abziehen können. Sie war so … beherrscht. Nie ließ sie eine Regung unkontrolliert heraus. Sie zeigte durchaus bestimmte Emotionen. Lächelte, lachte, mahnte und ärgerte sich manchmal. Fatou war sich jedoch sicher, dass diese Gefühlsäußerungen zuvor bereits in vierfacher Beglaubigung diverse Filter durchlaufen hatten und von Hortensia als temporär präsentabel befunden worden waren.

»Wenn ich davon leben könnte, das wär natürlich was«, sagte Fatou. Aber alleinerziehend selbständig ist mir wirklich zu viel Risiko.«

»Tjaja.« Das war die Vokabel, mit der Hortensia ein Thema beendete.

Sie will nicht gleich am ersten Abend schon mit mir mekkern, dachte Fatou und räumte das Abendbrot zusammen.

»Morgen früh fahre ich mit Yesim nach Altötting. Kommst du mit?«

»Nein danke, da sind mir zu viele Heilige«, erwiderte Hortensia und schaltete den Ton des Fernsehers an. Es lief der Vorspann der Dornenvögel.

Die Kaffeemaschine gurgelte zum Vormittagsradio. Yesim präsentierte sich in einer weißen Hose mit selbstgebatikten rosa Flecken darauf, einem hellblauen Käppi, einer großen Hello-Kitty-Sonnenbrille und einem blassgelben Trägertop.

»Wow« war alles, was Fatou dazu sagte. Sie wollte ihre Tochter so schrill herumlaufen lassen, wie sie Lust hatte, so lange sie es noch unbeschwert tun konnte. Insgeheim war sie heilfroh, dass ihr dadurch die Forderung nach Markenklamotten erspart blieb. Der Aufzug ihrer Tochter war zwar oft genug extravagant, aber wenigstens nicht teuer.

Nachdem sie lange ausgeschlafen und sich dann mit einem extrem zuckerhaltigen Frühstück aus Dampfnudeln vom Vortag gestärkt hatten, gingen sie zum Auto. Es hatte in der prallen Sonne gestanden und sich so aufgeheizt, dass sich Fatou fast am Lenkrad verbrannte. Eine Sauna, die nach Wunderbaum roch. Sie ließ alle Fensterscheiben herunter und kontrollierte im Rückspiegel, ob Yesim noch atmete.

»Nächstes Jahr kann ich einfach so auf den Vordersitz«, stellte die fest.

»Ein Cabrio. Ich hätte gern ein Cabrio«, murmelte Fatou. Sie fuhr auf die Landstraße, von der sie gekommen waren, und bog von dort aus ab in Richtung Altötting. Tante Hortensias Haus befand sich in Neuötting, einer eigenen Kleinstadt, in der Fatou in ihren ersten Jahren aufgewachsen war und Kindergarten und Grundschule hinter sich gebracht hatte. Es war sehr ruhig dort, um nicht zu sagen, langweilig. Neuötting stand im Schatten des berühmten Wallfahrtsorts Altötting. Das lag nur drei Kilometer entfernt und war zwar auch nicht gerade eine Großstadt, verfügte aber über beachtlichen katholischen Weltruhm. Hier gab es die Kapelle der Schwarzen Madonna, regelmäßige Massensegnungen, eine Altstadt mit Postkarten-Optik, ein Freibad, ein Mönchskloster, das eine Brauerei betrieb, und sogar einen ALDI.

Fatou gefiel Neuötting besser. Da ließ es sich gemütlich im Garten sitzen, ohne dass Touristen daran vorbeiliefen, und es war möglich, in der Stadt etwas einzukaufen, ohne von sakralem Kitsch erschlagen zu werden.

Yesim sah aus dem Fenster. Fatou fragte sich, ob es für ein junges Mädchen, das zum ersten Mal hier war, etwas Interessantes zu sehen gab, oder ob für sie alles langweilig aussah. Sie wollte sie nicht danach fragen – noch nicht, denn sie fürchtete die Antwort ein wenig. Wenn Yesim es einmal laut und offiziell als ›langweilig‹ befunden hatte, würde es noch schwerer sein, in ihr Interesse für ihre bayrische Herkunft zu wecken. Wären sie durch dieselbe ländliche Gegend in Anatolien gefahren, hätte Fatou es selbstbewusster als aufregend verkaufen können. Oberbayern war wunderschön, hatte aber bei multikulturellen Kids aus Norddeutschland Imageprobleme.

Fatou fand einen Parkplatz am Rand der Altöttinger Innenstadt und fragte sich, ob es richtig gewesen war, Yesim in so grellen Kleidern herumlaufen zu lassen. Sie würden wahrscheinlich auch so schon genügend Blicke auf sich ziehen.

Sie orientierte sich kurz und fand dann die Gasse, die zum Kapellplatz führte. Den hatte sie aus ihrer Kindheit als spannenden Ort in Erinnerung.

Es war elf Uhr und die Augusthitze bereitete sich auf mittägliche Gnadenlosigkeit vor. Yesim deutete auf einen Wald von Wahlplakaten. Offensichtlich standen Landtags- und Bürgermeisterwahlen bevor. Die CSU hatte die Worte »Absolute Mehrheit« auf weiß-blauem Hintergrund, die Grünen titelten: »Naturschutzgebiete erhalten!«, die Bayernpartei forderte »Kriminalität verbieten!« und die SPD titelte »Flexiblere Gestaltung von Kinderbetreuungsangeboten für Berufstätige«.

Der Rand des Kapellplatzes war so überladen mit Souvenirständen, dass Fatou und Yesim zuerst auf dem Bürgersteig blieben. Der wiederum war mit Tischen, Bänken und Stühlen der Gastronomien, die ihn säumten, übersät und daher ebenfalls ein ziemlicher Hindernislauf. Fatou blinzelte in die Sonne und wünschte sich einen Teleporter.

»Wo gehen wir denn jetzt hin?«, fragte Yesim, als Fatou vor einem Café anhielt, um den besten Weg durch die Buden auf den Platz zu eruieren. »Kriege ich ein Eis?«

Sie vereinbarten, dass sie eine möglichst kurze Beschau der Besonderheiten unternehmen würden, die es in Hamburg und Norddeutschland nicht zu sehen gab, und dann ein Eis essen würden.

Fatou rückte den rutschigen Kunstlederriemen ihrer Handtasche zurecht. Sie schwitzte jetzt schon. Auf dem Platz gingen Menschen hin und her, zur Gnadenkapelle, die in seiner Mitte stand, und zu anderen Kirchen, die sich hier geradezu drängelten. Zwei Mönche mit Tonsur in groben braunen Leinenkutten, die mit einem Seil zusammengehalten wurden, gingen gemächlichen Schrittes an einem Stand vorbei, der Mönchsfiguren aus Plastik verkaufte, die genauso aussahen wie sie. Eine Nonne mit Brille im grauen Habit grüßte eine ältere Frau, die sehr gebückt ging, weil sie ein Kreuz auf der Schulter trug. Weiter hinten fuhr eine Kutsche vorbei, die von zwei riesigen Brauereipferden gezogen wurde und auf einem Anhänger Bierfässer geladen hatte. Es sah ein wenig aus wie das Set eines Kostümfilms.

Yesim war still und betrachtete die Szenerie mit offenem Mund.

»Hast du einen Kulturschock?«, fragte Fatou stolz.

»Warum trägt die Frau ein Kreuz?«, fragte Yesim.

»Das machen hier viele Leute«, sagte Fatou. »Sie wollen sich Jesus näher fühlen, schätze ich. Oder sich für irgendwas bestrafen.«

»Krass«, sagte Yesim und nahm Fatous Hand.

»Komm mit«, sagte Fatou. »Ich zeige dir noch was Abgefahrenes.«

Sie gingen über den Platz zur Gnadenkapelle hinüber. Kein Mensch achtete auf sie. Sie selbst waren wohl mit die unauffälligsten Gestalten auf dem Platz. Außerdem waren viele international aussehenden Menschen dort unterwegs. Kleine Gruppen, die vielleicht asiatische Studierende waren, falteten Stadtpläne auseinander. Vier Schwarze amerikanische Touristen, erkennbar an »I Jesus«Baseballmützen und schallenden texanisch klingenden »Amazing!«-Rufen fotografierten sich gegenseitig. Einer fotografierte sogar das Mosaik des Kopfsteinpflasters. An einem Stand feilschten ein paar Leute in südamerikanischen Trachten in lautem Spanisch um den Preis für einen großen Stapel sehr bunter Heiligenposter.

Fatou kramte in ihrer Erinnerung danach, ob es hier in ihrer Kindheit schon so international zugegangen war. Wahrscheinlich nicht. Sie erinnerte sich vage an unangenehme Blicke und an Streitereien ihrer Mutter mit Passanten, bei denen es irgendwie um sie ging.

Der Kern der Kapelle war ein Achteck, das von einem überdachten Außengang umgeben war. Uralte Torbögen wölbten sich in Kopfhöhe unter dem ausladenden Schindeldach und tauchten den Außengang in Schatten. Fatou hatte den Eindruck, in einer dunklen Halle zu stehen anstatt im Freien. Geräusche wirkten gedämpft. Es roch nach Weihrauch. Automatisch bewegte sie sich vorsichtig und langsam. Von einer Rückseite des Außengangs hörte sie leises Murmeln, Flüstern und Wimmern.

Die Kapellenwand war vollständig mit kleinen vierekkigen Bildern in bunten Farben bedeckt. Sie sahen uralt aus. Darauf waren Zeichnungen gruseliger Szenen zu sehen: ein Mann auf dem Sterbebett. Ein Kind, das gerade im Fluss ertrank. Eine Frau, die blutend auf dem Boden lag. Auf den meisten Bildertafeln stand Text in Sütterlinschrift. Yesim stieß Fatou am Unterarm an. »Kannst du das lesen?«

Als Kind hatte sie es gekonnt. Die Tanten hatten ihr Märchenbücher in altdeutscher Schrift gegeben, und nach einer Weile hatte sie es lesen können. Nur waren die Märchen ihr zu gruselig zum Einschlafen gewesen, da hatte sie damit aufgehört und es schließlich verlernt. Während Fatou eine Tafel entzifferte, die für die Heilung eines kranken Jungen bat, der von einem Pferd fast totgetreten worden war, betrachtete Yesim das Dach des Kapellengangs.

»Schau mal, Mama«, flüsterte sie. Am oberen Rand des Torbogens und des Dachs befanden sich noch weitere Bildtafeln. Diese waren größer und zeigten gelbe Schimmer um Heilige herum. Fatou buchstabierte »Gnaden« und »Dank«.

»Das sind Fürbittenbilder«, erklärte sie. »Die Leute haben sie anfertigen lassen, für Hilfe in Notsituationen.«

»Hilfe von Gott?«, fragte Yesim.

»Von der Schwarzen Madonna«, antwortete Fatou. »Die schauen wir uns als Nächstes an.«

Von den Szenen auf den Bildtafeln etwas bedrückt, ging Fatou weiter um die Kapelle herum. Ein paar Meter weiter dachte sie, sie traue ihren Augen nicht, blieb stehen und bedeutete Yesim, es ihr gleichzutun.

»Psst«, sagte Fatou mit dem Zeigefinger am Mund.

Eine kleine Prozession von Menschen verschiedenen Alters kniete vor der Kapellenwand. Sie trugen schwarze und braune Gewänder und hatten Kreuze auf dem Rücken. Eine alte Frau mit Kopftuch weinte und küsste den Steinboden. Ein junger Mann mit langen Haaren und Bart legte beschwörerisch die Handflächen an die Wand. Dann faltete er sie zum Gebet zusammen, sagte etwas zum Rest der Gruppe und stand langsam auf. Die anderen rückten ihre Kreuze zurecht, folgten ihm durch einen der Bogengänge und gingen über den Kapellplatz davon.

Als die Gruppe weg war, traute sich Fatou, dorthin zu gehen, wo die Gläubigen gekniet hatten. Eine kleine Figur war in die Wand eingelassen. Sie zeigte eine Schwarze Madonna mit ihrem Kind. Die Statue war höchstens vierzig Zentimeter groß, aber sie schien auf bestimmte Katholiken aus der ganzen Welt eine außerordentliche Anziehungskraft auszuüben.

»Schau«, sagte Fatou, »das ist die Schwarze Madonna. Die hier ist nachgemacht, in der Kapelle drin steht die echte. Die ist ganz wertvoll. Altötting ist für sie berühmt. Sie ist wie eine Schutzheilige.«

Sie erinnerte sich daran, wie ihre Mutter ihr einmal ein Halskettchen geschenkt hatte, dessen Anhänger die Schwarze Madonna und ihr Kind waren. Sie hatte eines in klein und ihre Mutter trug denselben Anhänger in groß. Es war selten vorgekommen, dass sie von Neuötting nach Altötting gefahren waren. Nur, um alle paar Monate im ALDI einzukaufen. Einmal hatte Fatou ihre Mutter gefragt, ob sie an der Kapelle warten dürfe. Sie konnte höchstens sieben Jahre alt gewesen sein. Die Mutter war einverstanden gewesen und hatte Fatou ermahnt, den Kapellengang nicht zu verlassen, bis sie zurück wäre. Fatou hatte sich gefreut und gewartet. Wahrscheinlich hatte sie sich die Bildertafeln angesehen, sie konnte sich nicht mehr genau erinnern. Nur daran, dass eine alte Frau, die sie nicht hatte kommen sehen, plötzlich vor ihr niederkniete und sich an ihren Waden festklammerte. Fatou hatte nicht gewagt, sich zu bewegen. Die Frau hatte sich bekreuzigt und war davongegangen. Danach war eine Ordensschwester aufgetaucht, die Fatou anstrahlte und ihr selig zulächelte. Eine weitere Frau hatte nach Fatous Händen gegriffen, sie in die ihren genommen und sich mit zum Himmel gewandten Augen beim lieben Herrgott bedankt. Lauter kuriose Menschen taten plötzlich kuriose Sachen. Alle waren so freundlich zu ihr, fast … ehrfürchtig. Fatou hatte das gut gefallen. In den ALDI hatte sie nämlich nicht mehr hineingehen wollen, weil dort immer alle so unfreundlich waren. Menschen murmelten Beleidigungen, warfen Fatou und ihrer Mutter bösartige Blicke zu, und die Kassiererin knallte das Wechselgeld auf die Ablage, als wollte sie ein Insekt erschlagen. Nach ihrem Erlebnis in der Kapelle hatte sie ihre Mutter jedes Mal, wenn sie in der Stadt waren, gefragt, ob sie dort warten dürfe, anstatt in den Supermarkt mitzukommen, und daheim geübt, bescheiden und huldvoll zu lächeln, wenn sie von fremden Gläubigen wieder einmal gesegnet oder selbst als Segenszeichen interpretiert wurde, so genau war das nicht auseinanderzuhalten. Ganze Nachmittage hatte die kleine Fatou allein im Kapellengang verbracht. Dass das hieß, dass mit ihrer Mutter etwas nicht stimmte, war ihr erst Jahrzehnte später klar geworden.

Yesim kicherte. »Die haben dich angebetet, weil du Schwarz bist?«

»So ungefähr«, sagte Fatou. »Ich glaube, die haben so ein religiöses Zeichen darin gesehen, dass ich da stand. Zu meiner Zeit gab es hier keine Schwarzen Leute. Ich habe jedenfalls nie welche gesehen.«

Sie betrachteten die Statue der Mutter mit Kind. Es gelang Fatou nicht, daran irgendetwas Außergewöhnliches zu erkennen, was sie so berühmt machte. Sie sahen auch nicht aus wie eine afrikanische Mutter mit Kind, sondern wie eine europäische Madonna mit langen glatten Haaren, die einfach nur schwarz eingefärbt war.

»Gehen wir jetzt ein Eis essen?«, fragte Yesim.

Fatou wollte dem Vorschlag gerade stattgeben, da erklang von der Seite der Kapelle, von der sie gekommen waren, ein lautes Rufen, aufgeregt und aggressiv. Es hörte sich an wie von einer verstärkten Stereoanlage, eindringlich und übersteuert wie eine Durchsage bei einem Alarm. Etwas polterte. Während Fatou erschrocken auf der Stelle stehen blieb, um den Lärm zu lokalisieren, lief ihre Tochter schon los.

»Yesim! Halt!«, rief Fatou und stolperte hinterher. Yesim hatte sich hinter einer Säule versteckt und betrachtete mit großen Augen einen Mann mit Spraydose. Er trug eine Skimütze, die seinen ganzen Kopf bedeckte. Fatou gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie sich nicht rühren sollte. Der Mann war keine drei Meter von ihr entfernt. Dann kam ein Zweiter dazu. Auch er trug eine Skimütze, hatte einen Rucksack und eine Spraydose dabei, und begann, etwas über die alten Fürbittentafeln zu sprühen. Es roch nach Lösungsmittel. Eine Frau, die gerade vorbei kam, stieß einen Schrei aus und lief schnell davon. Die Männer riefen ihr Unverständliches hinterher, der eine schüttelte die Faust. Fatou wagte es nicht, zu Yesim zu gehen. Bisher hatten die beiden Kerle sie nicht bemerkt. Die zwei Männer waren mittelgroß und sportlich gebaut. Fatou konnte sie nur von hinten sehen. Sie sprühten schnell und hastig. Der eine stieß den anderen mit dem Ellenbogen an. Darauf nahm der ein kleines Megafon, das auf dem Boden neben ihm stand, und rief laut etwas hinein, das wie »Allahu’Akbar« klang. Der andere packte hastig die Rucksäcke zusammen. Als er sich umsah, stockte Fatou der Atem: Von den Gesichtern der Männer war durch die Skimützen die Augenpartie zu sehen. Ihre Haut war dunkelbraun. Fatou sah sofort, dass es Schminke war.

»Allah!«, rief der eine wieder, diesmal ohne Megafon, und hob zwei behandschuhte Fäuste in die Luft. Sie sprangen mitsamt ihren Rucksäcken blitzschnell über die kleine Hecke vor der Kapelle und liefen über den Platz hinweg fort. Unterwegs stießen sie ein paar Passanten an und riefen weiterhin »Allah« und »Allahu’Akbar«.

Die ganze Vorstellung hatte nur ein paar Sekunden gedauert. Fatou hatte gar nicht richtig aufnehmen können, was gerade passiert war. Sie eilte zu Yesim, die immer noch wie angewurzelt hinter der Säule stand, ihr Kinn nach vorne geschoben, ihr Blick streng. Ihre schmalen Schultern zitterten. Fatou nahm sie in den Arm und streichelte ihr über den Kopf. Yesim war starr wie ein Holzbrett. Im Arm ihrer Mutter löste sich ihre Spannung langsam.

»Pssst«, beruhigte Fatou sie, »sie sind weg. Ich habe gesehen, wie sie weggelaufen sind. Du brauchst keine Angst zu haben.«

Yesim nickte. Sie sah nicht ängstlich drein, sondern entschlossen. Eine einzelne Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel. Yesim wischte sie mit dem Handrücken weg.

Passanten kamen zur Kapelle; ein Mann mit blauer Schürze, auf der ein Cartoon-Schwein lachend neben einer Wurstkette stand, schaulustige Jugendliche, ein Mann im Anzug, eine ältere Frau mit Kopftuch und Kreuz um den Hals. Alle standen sie vor der Wand und sahen sich das Werk der Sprüher an. Sie schüttelten die Köpfe und stießen Stoßgebete und Rufe der Empörung aus: »Also das ist doch!« – »Heilige Maria Mutter Gottes!« Fatou drehte sich um und fasste Yesim um die Schultern. Sie wollte es endlich auch sehen.

In großen neongelben Buchstaben stand dort quer über die Fürbittenbilder gesprüht »ALLAH WAKBA«.

Ihr wurde schwindelig. Sie hätte sich jetzt gerne hingesetzt. Es gab jedoch keine Sitzgelegenheit. Sie machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber ihr fiel nichts ein. Yesim befreite sich aus ihrem Griff. »Mama«, flüsterte sie. Eine ältere Frau in schwarzem Kleid drehte sich zu ihnen um und musterte sie von oben bis unten. Sie starrte sie einfach an. Fatou starrte zurück und achtete darauf, nicht zu blinzeln. Sie würde nicht als Erste wegsehen. Es musste doch irgendein Funken Anstand in dieser Person stecken. Eine Mutter mit Kind war nicht zum Anstarren da wie eine Kinoleinwand! Wahrscheinlich war bei dem letzten Kinobesuch der Frau noch ein Heinz-Rühmann-Film gelaufen. Sie sah immer noch nicht weg. Stattdessen stieß sie, ohne die Augen von Fatou und Yesim zu lassen, einen Mann mit schütterem Haar und Aktenkoffer neben sich an. Anscheinend wollte sie schnell irgendeinen Zeugen finden für die unerhörte Sensation, die die Anwesenheit zweier atmender Schwarzer Personen an diesem Ort zu dieser Zeit für sie darstellte. Fatou strengte sich an, nicht zu blinzeln. Warum musste sie jetzt ein Grinsen unterdrücken? Wahrscheinlich irgendein Überbleibsel aus der Schulzeit. Sie wurde streng von der Lehrerin gemustert, sie lächelte entschuldigend oder machte einen Witz, um nur ja möglichst harmlos zu wirken. Der Mann mit Aktenkoffer drehte sich nun auch zu ihnen um und sah sie an. Dann schaute er auf den Platz hinter ihnen, Fatou sah, wie sein Fokus sich änderte. Er beugte sich zu der Frau im schwarzen Kleid hinab und flüsterte ihr etwas zu. Die Frau starrte inzwischen auf Yesim.

»Was guckst’n so? Willst’n Foto?«, stieß diese aus. Fatou strich ihr über den Kopf. Der Mann stupste die Frau leicht gegen den Oberarm, um sie auf etwas aufmerksam zu machen. Dann winkte er.

Über den Platz kam mit Blaulicht ein Polizeiauto gefahren. Es hielt direkt vor der Kapelle an.

»Mama,« sagte Yesim wieder und zupfte Fatou am Arm.

»Das hast du gut gemacht, den Spruch mit dem Foto«, sagte Fatou.

»Mama, ich muss dir was sagen.«

Zwei Polizisten, ein junger vom Typ Bundeswehr und ein grauhaariger mit Bauch und Schnurrbart, betraten den Kapellengang und scheuchten den kleinen Menschenauflauf beiseite. Das verlieh der Empörung der Anwesenden neuen Schwung. Sie begannen mit ihrem Erstaunen und Entsetzen von vorn, als hätten sie das Graffiti gerade erst gesehen.

»Unglaublich«, sagte einer. »Also, ist denn das die–«, rief ein zweiter aus. Die Frau bekreuzigte sich und der Metzger stieß ein paar unchristliche Aussprüche aus.

Yesim zupfte Fatou energischer, bis die ihr endlich die volle Aufmerksamkeit schenkte. »Okay, ich hör dir zu. Sag.«

Yesim zog Fatou am Arm, damit sie sich herunterbeugte. Dann hielt sie ihr die Hände vors Ohr und flüsterte mit wackeliger Stimme hinein: »Mama. Die waren braun angemalt.«