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Unermüdlich zieht das Pendel des Krieges seine Furchen durch das zerstrittene Land. Im Angesicht der folgenden Zerstörung müssen sich beide Seiten entscheiden, ob sie bereit sind, die Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen. Ist es überhaupt noch möglich, den reissenden Strom der Ereignisse aufzuhalten? Oder ist es sogar besser, ihn zu verstärken? * * * "Die Schwarzen Grotten von Hotrod" ist die mitreissende und emotionsstarke Fortsetzung von "Die Weissen Türme von Izzara" und führt die Geschichte zum Abschluss.
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Seitenzahl: 392
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Titelseite
Die Schwarzen Grotten von Hotrod
Über den Autor
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
XVIII
XIX
XX
XXI
XXII
XXIII
XXIV
XXV
XXVI
XXVII
XXVIII
XXIX
Epilog
Da die Veröffentlichung von Band 1 und 2 zeitgleich erfolgte, ergaben sich keine signifikanten Änderungen in der Biographie des Autors. Falls dies der erste Band ist, welchen der Leser in seinen Händen hält, soll hiermit darauf hingewiesen werden, dass dieser erste Band der zweite ist und sowohl der Anfang der Geschichte des Autors als auch der Anfang der Geschichte des Autors im ersten zu finden ist.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, sind dem Besitzer des Urheberrechts vorbehalten.
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E-Book-Ausgabe 29. November 2024
Umschlagsillustration: Pauliina Linjama
Umschlagsgestaltung: Pauliina Linjama, Pascal Bezel
Kartenillustration: Mirjana Murer, Pauliina Linjama, Map Effects
Kartengestaltung: Mirjana Murer, Pascal Bezel
Logoillustration: OpenArt AI, Pascal Bezel
Urheberrecht: Pascal Bezel
ISBN 978-3-9525784-3-8
Von Pascal Bezel erhältlich:
Band 1 «Die Weissen Türme von Izzara»
Band 2 «Die Schwarzen Grotten von Hotrod»
In Dankbarkeit und Liebe meinen Schwestern gewidmet, welche gemeinsam mit mir streitend und spielend die Welt erkundeten und meine Persönlichkeit formten.
Gemächlich glitt das Boot durch die enge Felspassage, welche die sanfte Strömung über die vergangenen Jahrtausende in das schroffe Gebirge gefressen hatte. Chandra, der am Bug des schmalen Kahnes stand, nahm mit Bewunderung den Anblick der steilen Klippen in sich auf, die sich zu beiden Seiten majestätisch aus dem Wasser erhoben und ihre dunklen Schatten über die gewundene Schlucht legten. Der düster schimmernde Glanz des schwarzen Gesteins liess erahnen, dass sich etliche Wasserläufe unterirdisch ihren Weg durch den brüchigen Schiefer suchten, um all die Büsche und Sträucher am Leben zu erhalten, deren saftiges Grün in krassem Gegensatz zur Unwirtlichkeit des kargen Bodens stand.
Weit entfernt von der Hektik der Welt vernahm Chandra das ruhige Plätschern des Ruders, mit welchem Vargo ab und zu ihren Kurs korrigierte.
«Beeindruckend, nicht wahr?», raunte Fabian, als er neben ihn hintrat.
Um die Stille der Natur nicht zu stören, nickte Chandra schweigend und richtete seinen Blick auf das klare Wasser, das sie zum Versteck der Schwarzmagier trug. Gespannt betrachtete Chandra die schwarze Masse in den Tiefen des Flusses, die ihnen seit kurzer Zeit folgte und immer grössere Wellen an die Oberfläche sandte, bis aus den bald schäumenden Wogen endlich Vargos Chimäre ausbrach und mit freudigem Gebrüll ans Ufer sprang. Kaum hatte sie ihre riesigen Pranken aufgesetzt, schoss ein lodernder Feuerball auf sie zu, dessen Flammen aber nur den feuchten Boden ansengten, auf dem Vargos Chimäre eben noch gestanden hatte. Halb belustigt, halb besorgt beobachtete Chandra, wie die mächtige Bestie fauchend die Klippen hinaufkletterte, um seiner eigenen Chimäre hinterherzujagen.
«Sie ist ... beängstigend geworden», bemerkte Fabian.
«Das soll sie auch sein», gab Chandra grinsend zurück. «Vargos Chimäre sollte sich davor hüten, sie einzuholen!», prahlte er übermütig.
Sein Meister schnaubte amüsiert. «Vielleicht ist dies der richtige Zeitpunkt, um zu erwähnen, dass das nicht meine Chimäre ist.»
Chandra drehte sich skeptisch zu ihm um und entgegnete selbstsicher: «Ich denke, ich hatte während meiner Ausbildung genug Zeit, ihre Narben zu zählen, um sie zu erkennen. So leichtgläubig bin ich nicht.»
Vargo verzog seine Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen. «Aber ganz offensichtlich bist du immer noch naiv genug, selbst dein sicheres Wissen nicht zu hinterfragen. Du kennst diese Chimäre, ja. Aber das ist nicht meine Chimäre.»
«Ihr habt recht, oh weisester und mächtigster aller Meister!», begegnete Fabian Vargos Wortklauberei scherzend. «Wir Unwürdigen unterwerfen uns Eurem Allwissen. So bitte ich Euch denn: Erleuchtet uns über den Verbleib Eurer Chimäre, welche nicht die diese ist, die Ihr als Eure bezeichnet, sondern die andere, welche Ihr als Eure definiert.»
Chandra konnte sich ein Lachen nicht unterdrücken.
Vargo entgegnete in freudig drohendem Tonfall: «Sie ist tot. Ihr zerfetzter Leichnam liegt verrottet in den Weiten des Waldes.»
Chandra hielt erschrocken die Luft an. Wie konnte Vargo ihnen das ohne jegliche Trauer in seiner Stimme erzählen? Beinahe schien er –
«Zerfetzt?», wiederholte Fabian fragend. Auch er war plötzlich wieder ernst.
«Ich war’s nicht», erklärte Vargo unschuldig. Sein unheilvoller Unterton schlich sich jedoch sogleich wieder zurück in seine Stimme, als er stolz das Monster betrachtete, das soeben Chandras Chimäre nachsetzte. «Sie war es. Schon damals die Stärkste ihrer Art fand ich sie über den reglosen Leib meiner Chimäre gebeugt, die Schlange bereits badend in dem unerschöpflichen Schwall frischen Bluts, der sich aus meiner Chimäre ergoss.»
Chandra wurde kreidebleich. Angstvoll riss auch er seinen Blick in diejenige Richtung, aus welcher entferntes Gebrüll zu ihnen herüberschallte.
«Eine wilde Chimäre», flüsterte er fassungslos.
«Oh, sie war keineswegs wild», korrigierte ihn Vargo süffisant.
«Du hast die Chimäre eines anderen Schwarzmagiers übernommen?», rief Chandra entsetzt aus und tauschte einen vielsagenden Blick mit Fabian aus. Das war also der Grund, weshalb Vargo ein Einzelgänger war, ging es ihnen plötzlich auf. Die Schwarzmagier waren gar nicht in einzelne Zellen separiert! Vargo war ein Ausgestossener! Ein Verräter unter Seinesgleichen!
Vargo schüttelte missbilligend den Kopf. «Und wieder zieht ihr beide viel zu voreilig eure Schlüsse. Ich habe Fendars Chimäre nicht gestohlen. Sie hat sich von sich aus ... selbständig gemacht. Fendar war ihr als Meister zu schwach und hat den Preis dafür bezahlt. Man entdeckte seine Leiche gut zwei Wochen später – wobei Leiche eine übertriebene Beschreibung ist für einen abgenagten Knochenhaufen. Aber seiner Chimäre gefiel der Lebensstil der Schwarzmagier: ein täglicher Kampf um die eigene Existenz, der entsprechende Opfer forderte. Also suchte sie sich einen neuen Herrn.»
Chandra schüttelte verständnislos den Kopf. «Und deine ehemalige Chimäre? Vermisst du sie nicht?»
Vargo zuckte gleichgültig mit seinen Schultern. «Sie hatte meine Erwartungen nie zur Genüge erfüllt. Fendars Chimäre hingegen trug vom Duell mit ihr kaum mehr als ein halbes Dutzend Wunden davon. Seither hat sie mir schon öfters das Leben gerettet, als die erste es je zu nehmen in der Lage gewesen wäre.»
Seinen Worten folgte eine schreckliche Stille, in welcher nicht einmal mehr das ferne Fauchen der beiden Chimären zu vernehmen waren. Vargo hatte sein Ziel erreicht: Chandras Chimäre war nur knapp kleiner als Vargos Biest. Kraftstrotzend, blutrünstig und unnachgiebig – Chandra hatte sie für unbesiegbar gehalten. Doch nun bebte er vor Sorge um seine Schöpfung. Es graute ihm vor dem Moment, in welchem sie – oder auch er – als zu schwach eingeschätzt würden.
Umso grösser war die Erleichterung, als ihre furchterregenden Begleiter plötzlich wieder über der Felskante auftauchten und in halsbrecherischer Geschwindigkeit die beinahe senkrechte Felswand hinunterstürmten. Geschickt stiess sich Chandras Chimäre von einem Vorsprung ab, flog mit wildem Gebrüll über ihre Köpfe hinweg auf die andere Seite der Schlucht und fegte dort ungebremst weiter nach unten. Ein einzelner Blutstriemen unter ihrem linken Ohr war alles, was auf eine spielerische Auseinandersetzung mit Vargos Chimäre hindeutete.
Chandra löste seine verkrampfte Haltung und setzte sich wieder auf die harten Planken ihres Ruderbootes. Im nächsten Moment wurde er von einem kalten Wasserschwall übergossen, als beide Chimären vor ihnen in den Fluss klatschten.
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Sie liessen sich von der Strömung tief in die immer enger werdende Schlucht treiben, bis Vargo ihnen endlich ihre Ankunft verkündete.
Chandra blickte sich überrascht um, entdeckte aber nichts, was sein Meister erspäht haben könnte. Erst als Vargo den Kahn an das nahe Ufer lenkte und sie abspringen liess, sah Chandra, dass hier ein kleines Bächlein vom Fluss abging und leise plätschernd in einem düsteren Spalt im Gestein verschwand, vor welchen jemand einen schweren Felsbrocken gerollt hatte.
Gemeinsam schritten Fabian und Chandra ehrfürchtig näher und hefteten ihre fernen Blicke auf den Felsbrocken. Hinter diesem Stein verbarg sich ihre Bestimmung. Ihr Ziel, welchem sie ihr Leben verschworen hatten. Die Erlösung von ihrem Leid.
In den vergangenen Monaten hatten sie Fabians Fähigkeit mehrfach ausgetestet, indem sie insgesamt vier Transporte der Weissmagier überfallen hatten, welche die Steuereinnahmen der umliegenden Städte nach Izzara hätten tragen sollen. Die Soldaten der Weissen Armee, welche die Transportwagen eskortiert hatten, hatten nicht im Geringsten mit einem Überfall gerechnet – eine Tatsache, welche beinahe an Respektlosigkeit grenzte. Umso mehr hatte Chandra es genossen, sie daran zu erinnern, dass die Schwarzmagier nicht ausgerottet waren. Mit Genugtuung hatte er beobachtet, wie sich die Augen der Weissmagier in panischer Erkenntnis geweitet hatten, als Vargo und er auf ihren Chimären reitend vor ihnen erschienen waren. Ihre Furcht hatte Chandras Macht gewürdigt.
Natürlich hatte jeweils Vargo den grössten Teil des Schlachtens übernommen. Beim ersten Überfall hatte Chandra kaum mehr gemacht als zugesehen, wie Vargo ihre Feinde einäscherte. Erst beim zweiten Überfall hatte Chandra mit einem Kraftimpuls einen Weissmagier so fest in die Erde gehämmert, dass dieser nicht einmal mehr begraben werden musste.
Das Bild des verrenkten Leichnams hätte sich tief in Chandras Gewissen eingebrannt, hätte Vargo nicht sogleich laut aufgelacht und am Abend beim Lagerfeuer nochmal in allen Einzelheiten geschildert, wie beeindruckend Chandra ausgesehen hatte, als er über dem Weissmagier gestanden und ihn im Boden versenkt hatte. In wildem Stolz hatte der vielleicht mächtigste Schwarzmagier Gandriens Chandra bei den Schultern gepackt und ihn fest an sich gedrückt. Es war Chandra unmöglich, nicht mit Freude an diesen Tag zurückzudenken.
Vargos Lob hatte die letzten Reste von Chandras lähmender Zurückhaltung abfallen lassen. Chandra war nun eines der mächtigsten Wesen in Gandrien.
Jeder hatte das zu wissen.
Chandra hätte gerne jeden einzelnen Weissmagier von der Erde getilgt, der sich aus Izzara hinaus in sein Revier gewagt hatte. Doch Vargo hatte ihn davon abgehalten, allzu viel Aufmerksamkeit auf sie und vor allem Fabians Fähigkeit zu ziehen. Solange sie nur einzelne Anschläge auf die Weissmagier verübten, würden diese nicht einmal realisieren, dass sie sich bereits im Krieg befanden.
Chandra sollte es recht sein. Mehr als nur recht sogar. Er war zum ersten Mal glücklich mit seinem Leben. Er hatte endlich die Freiheit und Stärke erlangt, zu tun, was er wollte. War umgeben von Personen, die ihm vertrauten und ihn unterstützten. Besass eine wundervolle Chimäre, die er selber erschaffen und grossgezogen hatte.
Zum ersten Mal in seinem Leben war er nicht bereit, zu sterben. Es war ein ungewohntes Gefühl, das dem Jetzt eine immense Bedeutung verlieh.
Nun vor Hotrod zu stehen, war die Kulmination all seiner Mühen. Die Anerkennung seiner Arbeit. Die Erfüllung seines neuen Schicksals.
Er richtete seinen Blick auf Fabian. Auch für seinen Freund war dies ein bedeutender Moment.
«Endlich kann ich meinen Vater rächen», führte Fabian Chandras Gedanken zu Ende.
«Wir werden ihn zusammen rächen», ergänzte Chandra.
Fabian schenkte ihm ein dankbares Lächeln.
«Packt mal mit an!», erschallte da Vargos Stimme hinter ihnen.
Chandra drehte sich zu ihm um und sah mit Überraschung, wie sein Meister das Boot aus dem Wasser hievte. Sofort eilten Fabian und er zu Vargo hin und zogen gemeinsam mit ihm das Gefährt an Land.
Als Nächstes deutete Vargo auffordernd auf den Felsbrocken, der ihnen den Weg versperrte: «Wer meldet sich freiwillig?»
Chandra stellte sich ohne zu zögern neben den Brocken und legte seine Hände auf das raue Gestein. Er wollte Vargo beweisen, dass er trotz Abschluss seiner Ausbildung immer noch Fortschritte erzielte und täglich stärker wurde.
«Denkst du, du kannst ihn lange genug halten, bis wir alle hindurch sind?», fragte Vargo.
«Natürlich!», entgegnete Chandra zuversichtlich.
Sein Meister nickte zufrieden.
Chandra sammelte sein Métakris, das in den letzten Jahren zu einer lebhaft wabernden Masse angeschwollen war, und liess es durch seine Muskeln fluten. Seine Arme spannten sich tastend gegen den Felsbrocken, als Chandra seine Energie bündelte und den wankenden Stein mit einem einzelnen Kraftimpuls aus dem Flussbett löste. Bevor der Fels wieder zurückrollen konnte, stellte Chandra sich ihm entgegen, stemmte seine Stiefel in den Schlamm und schob ihn Schritt für Schritt das steile Ufer hinauf, bis genug Platz für die anderen blieb, sich hinter ihm durch den schmalen Höhleneingang zu drücken.
Vargo und Fabian trugen das Boot hinein in das Versteck der Schwarzmagier und wateten sogleich tiefer in die Höhle hinein, um den nachfolgenden Chimären Platz zu machen.
Als Chandras Chimäre schon den Kopf hineingestreckt hatte, hielt sie kurz inne und drehte sich mit genüsslichem Knurren zu Chandra um, der mit zitternden Armen den Stein davon abhielt, sie beide zu überrollen. Der Löwe stupste ihn auffordernd in den Rücken, während sich die Schlange mit nervösem Züngeln um seine Schultern legte. Es war lange her, dass ihr Meister ihren Drohungen wehrlos ausgeliefert war. Auf keinen Fall liess sie sich die Gelegenheit entgehen, den Moment der vorübergehenden Überlegenheit auszukosten.
Chandra fühlte die aufsteigende Wärme im Hals der Schlange, bevor sich ein Flammenmeer aus ihrem aufgesperrten Maul ergoss und den Gesteinsbrocken in hell loderndes Feuer tauchte. Das Gestein, das mit seinem ganzen Gewicht gegen Chandras Hände drückte, erhitzte sich immer mehr und drohte bald, Chandras Haut zu verbrennen, als Vargos Chimäre ihre Gefährtin ungeduldig anfauchte. Chandras Chimäre gab ein wütendes Zischen zurück, liess jedoch mit widerwilligem Gehorsam von ihrem Spiel ab und drückte sich durch die Felsritze.
Als die Bestien in Hotrods Schatten verschwunden waren, löste Chandra vorsichtig eine Hand, spürte jedoch sogleich, dass er nicht genug Kraft besass, den Stein kontrolliert zurückrollen zu lassen. So fokussierte er sein Métakris auf seine Beine, riss gleichzeitig seine Arme los und hechtete in die Höhle, als der riesige Steinblock bereits wieder mit einem dumpfen Platschen in das Flussbett zurücksank. Mit wild pochendem Herzen schlich Chandra in der schlagartig eingetretenen Finsternis den erahnten Umrissen seiner Chimären nach.
Bereits hinter der nächsten Abbiegung konnte er vor sich den flackernden Schein von Feuer ausmachen. Gespannt folgte er dem Licht, erkannte aber erst, was vor ihm lag, als die Chimären vor ihm den nachfolgenden Raum betraten und ihm die Sicht darauf freigaben.
Chandras Kinnlade sank unwillkürlich nach unten, als er die Halle betrat, in welcher Vargo bereits mit einem breiten Grinsen auf ihn wartete.
«Willkommen in den Grotten von Hotrod!», verkündete sein Meister, seine Stimme vom Widerhall angeschwollen zu einem schallenden Männerchor.
Mit Feuerbällen, die freudig um ihn herumtanzten, erleuchtete er die eindrucksvolle Halle, deren gesamte Oberfläche von einer feuchten, schleimig aussehenden Schicht bedeckt war, die nun in rötlichem Schimmer erstrahlte. Chandra strich bewundernd den Säulen entlang, die um ihn herum aus dem Boden wuchsen. Sie waren viel zu unförmig, viel zu schön, um menschengemacht zu sein. Gefesselt von dem Naturkunstwerk, das sich ihm bot, liess Chandra seinen Blick zur Decke wandern, von welcher hunderte Steinzapfen hingen. Die einen waren bereits abgebrochen und am Boden zerschellt, die anderen warteten in stoischer Ruhe auf ihren künftigen Fall. Über das ferne Echo eines plätschernden Baches ertönte in verspielt wechselhaftem Rhythmus das leise Ploppen von Wassertropfen, die sich mit kaum hörbarem Schmatzen von den unzähligen Steinspitzen lösten.
«Es ist atemberaubend», flüsterte Chandra.
«Das ist es», bestätigte Vargo. «Trotzdem freue ich mich auf den Moment, wenn wir auch ausserhalb von Höhlen willkommen sind.»
Chandra schwieg verstehend.
Auch er entfachte nun einen Feuerball, den er in seiner Hand mittragen konnte. Auffordernd blickte er zu Fabian, doch Vargo schüttelte mahnend seinen Kopf.
«Ich habe ihm verboten, Magie zu wirken», erklärte ihr Meister. «Wir müssen den anderen ja nicht gleich entgegenschreien, dass Fabian ein Weissmagier ist. Sie sind so schon misstrauisch genug.»
«Ganz anders als du», spottete Chandra.
«Ich habe ihn damals immerhin nicht sofort umgebracht», gab Vargo gelassen zurück. «Das rechne ich meiner Selbstbeherrschung hoch an. Und nun kommt. Ich habe ein Festmahl für uns angefordert!»
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Hotrods Höhlensystem schien sich kilometerweit zu erstrecken. Vom Hauptgang, dem sie folgten, zweigten etliche Tunnel ab, die sich in der Dunkelheit immer weiter verwinkelten. Es schien in diesem unterirdischen Irrgarten unmöglich, das Versteck der Schwarzmagier überhaupt je zu finden. Doch Vargo führte sie unbeirrt in die Richtung des gedämpften Rauschens eines Flusses und immer weiter in die Tiefe des Berges, bis sie in einen engen Raum gelangten, in dessen Boden sich ein grosses Loch befand.
Vargo grinste Chandra an. «Nach dir, du Sinnbild der Vertrauensseligkeit.»
Chandra trat sogleich vor und stellte sich furchtlos an den Rand des schwarzen Abgrundes. «Fabian, es war mir eine Ehre. Vargo, du hast eine krumme Nase.»
Mit diesen Worten stiess er sich nach hinten ab, drehte sich in der Luft elegant um die eigene Achse und verschwand in der Dunkelheit. Mit locker gebeugten Knien machte er sich bereit für den harten Aufprall, als seine Füsse plötzlich in Wasser eintauchten und kurz später sein ganzer Körper davon verschlungen wurde.
Nach Luft ringend kämpfte er sich wieder an die Oberfläche und entfachte einen Feuerball, um sich zu orientieren.
«Platz da, ich komme!», rief Fabian fröhlich und war im nächsten Moment schon abgesprungen.
Chandra konnte sich gerade noch in Sicherheit bringen, als Fabian ihm entgegenschoss, gefolgt von zwei feuerspeienden Chimären, deren lodernde Flammen einen kurzen Augenblick lang ein gewaltiges Höhlengewölbe erhellten, das sich über einen weitläufigen See spannte. Chandra sah gerade noch, wie sich auch Vargo durch die Öffnung zu ihnen herunterfallen liess, bevor die Chimären donnernd aufklatschten und ihr Feuer, das mit einem letzten Fauchen über die entstehenden Wellen schoss, zischend verglühte.
Selten war Chandra so dankbar gewesen für sein geistiges Auge wie jetzt, als zwei blutrünstige Bestien unter ihm durchs dunkle Wasser glitten. Obwohl ihre Bewegungen langsam und gemächlich aussahen, pflügten sie mit einer unglaublichen Geschwindigkeit durch das Wasser. Chandra war hypnotisiert von der ruhigen Kraft, die diese zwei – nein, drei! Plötzlich vier, fünf und immer mehr Chimären schossen durch das Wasser auf sie zu! Sofort wirbelte Chandra herum und kraulte panisch zu Fabian hin. Ohne Erklärung packte er den Weissmagier und katapultierte sich und seinen Freund mit dem Rückschlag eines mächtigen Kraftimpulses aus dem Wasser, das bald schon von mordlustigen Ungeheuern wimmelte, die alle nach dem Weissmagier zu schnappen versuchten.
Die beiden Magier konnten den ersten vorschnellenden Schlangenfängen gerade noch ausweichen, als sie bereits wieder abwärts stürzten. Chandra fing ihren Fall mit einem erneuten Kraftimpuls auf, der sie abermals nach oben schleuderte. So hielt er Fabian mühevoll von den geifernden Mäulern der Chimären fern und trug ihn in ruckartigem Flug zum viel zu weit entfernten Ufer hin. Die Höhle hallte wider vom grausamen Gebrüll ihrer gefrässigen Verfolger, nur noch übertönt vom donnernden Grollen von Chandras Kraftimpulsen, während Vargo völlig unbeschwert zwischen den tobenden Bestien hindurchschwamm.
Das Ufer, das ihnen zwar keine Ausflucht bot, aber wenigstens nicht den sicheren Tod bedeutete, war immer noch gut fünfzig Meter entfernt, als Chandra spürte, dass Fabian im Begriff war, ihm zu Hilfe zu kommen.
«Wenn du jetzt dein Seelenwesen beschwörst, sterben wir in einem Feuersturm!», schrie Chandra ihm über das dröhnende Echo der Chimären zu. «Sie spielen mit uns. Geniessen die Jagd und ihre eigene Ohnmacht. Doch wenn du auch nur einen einzigen Zauber wirkst, werden sie sich blindwütig auf uns stürzen.»
Fabian grunzte unzufrieden, sah aber ein, dass Chandra recht hatte.
Trotzdem fühlte Chandra nach wenigen Augenblicken, wie frische Energie durch ihn hindurchfloss und sein schwindendes Métakris wieder auffüllte. Bevor er aufbegehren konnte, erinnerte ihn Fabian: «Das können sie nicht sehen.» Missmutig führte er an: «So kann wenigstens einer von uns mein Métakris benutzen.»
Chandra, dankbar, dass er den Chimären nicht gegenübertreten musste, nachdem er sein Métakris dafür verschwendet hatte, einen ganzen See mit Kraftimpulsen zu überqueren, liess seinen Freund gewähren. Er würde Fabians Energie brauchen können, wenn sie das Ufer erreichten, auf welchem Vargo es sich gerade neben einem aufgeregt wartenden Rudel Chimären bequem einrichtete.
Kaum hatte Fabian den ersten Fuss auf den Boden gesetzt, stürzten sich die blutlüsternen Jäger auf ihre Beute. Doch Vargos Chimäre war schneller. Auf das leise Schnalzen ihres Meisters hin sprang sie vor Fabian hin und stellte sich den Angreifern in den Weg. Der Löwe richtete sich zu seiner vollen Grösse auf und schmetterte den anderen Chimären ein markerschütterndes Brüllen entgegen, während die Schlange sich gierig zu dem beschützten Weissmagier niederbeugte. Ein winziger Kraftimpuls, den Vargo ihr gegen den Schädel schnippte, war aber Drohung genug, dass sie von Fabian abliess und sich ebenfalls gegen ihre Artgenossen wandte.
Zu Chandras Erstaunen wichen die Chimären zurück – eine Bewegung, die den Anschein machte, als verneigten sie sich gar vor dem Monster, das sich vor ihnen erhob.
«Das ist also der berühmte Weissmagier», ertönte eine eisige Stimme hinter ihnen.
Chandra hatte den Schwarzmagier längst bemerkt, erschrak aber über die unbarmherzige Kälte in seinen Worten.
Fabian hingegen, wie immer durch Nichts aus der Ruhe zu bringen, hob seine Hand zum Gruss und hatte schon den Mund geöffnet, als Vargo ihm gerade noch zuvorkam: «Korrekt. Das ist der Überläufer, der all die Überfälle auf die Weissmagier ermöglicht hat und uns vielleicht sogar den Sieg bringen kann.»
«Oder den Tod», entgegnete der andere schneidend.
«Oder das», bestätigte Vargo fröhlich. «Darf ich dir also vorstellen: Fabian, unser zweifelhafter Verbündeter, sowie Chandra, mein ehemaliger Lehrling, nun voll ausgebildeter Schwarzmagier. Fabian, Chandra, vor euch steht Volthar, Oberbefehlshaber der Streitkräfte des Südens und Hüter von Hotrod.»
Chandra und Fabian neigten ihre Köpfe. «Es ist uns eine Ehre.»
Volthar fing schallend an zu lachen. «Sind die immer so?»
«Die tauen schon noch auf», versicherte ihm Vargo. «Stell die zwei auf ein Schlachtfeld, dann sind sie nicht mehr aufzuhalten!»
Ein breites Grinsen trat auf Volthars Gesicht. «Genau das werden wir testen.» Er musterte die zwei neuen Gesichter eingehend. «Na gut, dann kommt mal mit. Wir sind alle begierig darauf, mehr zu erfahren über den Weissmagier, der Vargo überlebt hat.»
Volthar führte sie in eine Grotte, wo bereits eine kleine Gruppe anderer Schwarzmagier auf sie wartete. Entgegen Chandras Erwartungen brachen diese bei ihrem Auftritt jedoch nicht in aufgeregtes Getuschel aus, sondern starrten sie nur schweigend an. Erst als Vargo hinter ihnen auftauchte, wandten sich die Köpfe weg von den zwei Neuankömmlingen. Jeder grüsste den Oberbefehlshaber respektvoll. Chandra entging jedoch nicht, dass sie ihrem früheren Kriegsgefährten gegenüber eine gewisse Zurückhaltung zeigten. Wenn er sich daran erinnerte, wie damals Vargo auf Fabian reagiert hatte, konnte er auch nachvollziehen, wieso.
Vargo hingegen liess seinen Blick zufrieden über die versammelten Schwarzmagier schweifen, die gemeinsam mit ihm vor über zwei Jahrzehnten gegen die Weissmagier gekämpft hatten. Seine Lippen verzogen sich zu einem bösen Lächeln. Seine flammenden Augen erfüllt von unersättlichem Blutdurst. Seine Stimme ein drohendes Zischen:
«Seid ihr bereit für einen Krieg?»
Mit wütendem Gebrüll stürmte Aleya auf ihren Gegner zu. Geschickt wich sie den Feuerbällen aus, die unaufhörlich auf sie niederprasselten, als plötzlich ein gewaltiger Kraftimpuls an ihr vorbeiraste und den Stein, hinter welchem sie gerade noch Schutz gesucht hatte, in tausend Stücke zerbersten liess. Doch Aleya war nicht mehr aufzuhalten. Zwischen den steilen Felshängen vor sich erblickte sie bereits den in die Enge getriebenen Schwarzmagier, der die Chimären über ihr anführte. Mit gezückten Schwertern baute sie sich vor ihm auf und rammte ihm ihre Klinge – doch im letzten Moment sprang der Schwarzmagier zurück, duckte sich sogleich unter ihrem zweiten Streich weg und schlug ihr seine geballte Faust in den Magen. Der Schlag traf Aleya mit voller Wucht und sandte sie keuchend durch die Luft. Sie war kaum zu Boden geprallt, als von oben ein glühender Feuerball herabschoss, der sie mitten ins Gesicht traf. Nach Atem ringend rappelte sie sich auf, während sich ein zufriedenes Grinsen auf ihrem Gesicht ausbreitete. Der Schwarzmagier war gut. Aber nicht so gut wie sie.
Ihr Métakris explodierte förmlich, als es endlich von Aleya freigelassen wurde und fauchend durch ihre kräftigen Adern schoss. Für einen kurzen Moment schwelgte Aleya in dem Gefühl unbändiger Kraft, als ihre Muskeln schmerzhaft aufglühten, bevor sie die schmelzenden Enden ihrer beiden Sigkanas zusammenführte. Erst langsam, dann immer schneller und schneller wirbelte sie den doppelseitigen Speer vor sich her, bis die surrenden Schwerter nur noch als verschwommener Kreisel des Todes wahrzunehmen waren. Abermals stürzte sie sich auf den Feind, der ihrem Klingenhagel kein zweites Mal auszuweichen vermochte.
Der Schwarzmagier hechtete panisch ausser Reichweite, stand jedoch bald mit dem Rücken zum harten Gestein der steil aufsteigenden Schlucht. Aleya setzte zum finalen Schlag an, als der Schwarzmagier sich plötzlich vom Boden abstiess und über sie hinwegsprang. Nichts, was sie nicht erwartet hätte. Ohne Zeit zu verlieren, wirbelte sie herum, löste noch in derselben fliessenden Bewegung ihre Sigkanas voneinander und stiess die Klingen von beiden Seiten auf ihn zu. Dem Schwarzmagier gelang es sogar, ihre Schwerter mit den blossen Händen abzufangen, doch zu seiner Überraschung liess Aleya sie noch im selben Augenblick los und schlug ihm stattdessen ihre Faust ins Gesicht. Noch bevor der Schwarzmagier auf dem Boden aufgeprallt war, hatte sie ihm die Sigkanas bereits wieder entwunden und bohrte sie ihm mitten durchs Herz.
Triumphierend zog sie die blutgetränkten Klingen aus dem leblosen Körper und schaute hoch zum Rand der Schlucht, wo Kira gerade die letzte noch verbliebene Chimäre am Schwanz packte und das Biest mit einer Wildheit, welche die Eleganz der Pantherdame in finsterem Grauen erstrahlen liess, in die Schlucht hinunterwarf. Dumpf prallte das Ungetüm neben Aleya auf, die ihr mit einem einzigen Hieb ihres Sigkanas den Kopf abschlug.
So geschah es zumindest in ihrer Fantasie.
Mit einem Seufzen löste sie sich aus ihren Tagträumen und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder der Öde ihrer gegenwärtigen Mission. Hinter ihr ritt ein halbes Dutzend Soldaten der Weissen Armee, die genauso wie Aleya ihre gelangweilten Blicke in die Ferne gerichtet hielten, während ihre Pferde sie in langsamem Trott zurück nach Izzara trugen. Ein weiteres Pferd zog schlurfenden Schrittes den Wagen mit den Steuereinnahmen aus der Nordostregion Gandriens hinter sich her.
In den letzten Monaten war es mehrfach zu Überfällen auf die Weissmagier gekommen, sodass der Hohe Rat nun auch Offiziere als Begleitschutz für wertvolle Transporte aufbot. Die Weissmagier behaupteten stolz, ihre Macht sei der Grund, weshalb sich die Schwarzmagier noch nicht in einen offenen Krieg gewagt hatten, doch Aleya zweifelte an diesem Optimismus. Die vereinzelten Raubzüge waren viel zu wenig zielgerichtet gewesen, um dem Einfluss des Hohen Rates tatsächlich schaden zu können. Für Aleya schien es vielmehr so, als wollten die Schwarzmagier ihre Fähigkeiten erst an kleinen Gruppen austesten, bevor sie sich in voller Stärke auf Izzara stürzten. So oder so wagte kaum mehr ein Weissmagier, sich allein ausserhalb der Stadtmauern aufzuhalten.
Gedankenverloren tastete Aleya nach der goldenen Brosche, die ihr bei der Beförderung zur Offizierin verliehen worden war. Ein Drachenkopf, hinter welchem die Anstecknadel in Form eines Sigkanas hervorschaute. Das Symbol der Weissen Garde.
Mitleidig betrachtete Aleya den anderen Offizier, auf dessen Rücken sie seit Tagen starrte. Sie selber und die ihr unterstellten Soldaten hatten es sich noch nicht verdient, spannendere Aufträge zu erhalten, als die Abgaben der umliegenden Siedlungen nach Izzara zu eskortierten. Der ältere Offizier vor ihr hingegen war ein altgedienter Gardist, dem nun die undankbare Aufgabe zufiel, gemeinsam mit unerfahrenen Taugenichtsen eine Truhe zu bewachen. Aleya hoffte, sie würde niemals an seiner Stelle stehen.
Sehnsüchtig dachte sie zurück an den abenteuerlichen Tag, an welchem sie sich gemeinsam mit Nuria und Drogan aus Izzara geschlichen hatte, um Schwarzmagier zu jagen. Sie hatte damals tatenlos zugesehen, wie ihr von den Toten auferstandener Freund das Seelenwesen seines eigenen Bruders abstach, während ein desertierter Weissmagier eine Chimäre heilte, die sie alle zu verschlingen drohte. Alles, was Aleya beigetragen hatte, war, ihrer eigenen Verbündeten eine Klinge an die Kehle gehalten zu haben.
Nach dem Kampf hatte Aleya die beiden Gardisten nicht mehr aufholen können, bevor diese die Altmeister erreicht hatten. So war sie noch vor den Toren Izzaras von zwei Gardisten empfangen worden, die sie schweigend zum Weissen Palast begleitet hatten.
Aleya erlebte ihre Erinnerungen selbst jetzt noch so lebhaft, als würde es eben erst geschehen: Sie wurde von den zwei fremden Gardisten in einen Raum oberhalb des Thronsaals geführt, in welchem neben Nuria und Drogan auch Epheïmos, die beiden anderen Altmeister und drei weitere Mitglieder des Hohen Rates ihre Ankunft erwarteten. Aleya erkannte sie als Drana, die oberste Rechtssprecherin Gandriens, Veroneas, den Minister für interne Angelegenheiten, und Naharis, die Oberbefehlshaberin der Weissen Armee – jede für sich eine Respektsperson, deren Anwesenheit selbst Aleya einzuschüchtern vermochte. Umso dankbarer war sie, dass auch Epheïmos zugegen war. Von seinem bestärkenden Lächeln hätte sie beinahe Mut gefasst, hätte nicht schon im nächsten Moment Drana ihrer Eskorte aufgetragen, den Regenten zu informieren, dass die ausgebliebene Studentin nun eingetroffen sei.
Aleya erstarrte bei der Erwähnung von Bellerophons Namen. Der Regent höchstselbst würde ihrer Anhörung beiwohnen? Sie womöglich persönlich ausfragen? Die Erkenntnis, dass sie etwas getan hatte, das weit über die Belange der Akademie hinausging, traf sie wie ein Hammerschlag. Mit ihren Handlungen hatte sie nicht nur die Mauern Izzaras, sondern auch die Welt des behüteten Studentenlebens hinter sich gelassen. Durch den Kontakt mit dem Feind markierten ihre übereilten Entscheidungen plötzlich den Beginn eines neuen Krieges.
Nuria und Drogan wandten ihr nicht einmal den Kopf zum Gruss zu. Anscheinend wollten sie auf keinen Fall den Anschein erwecken, mit Aleya in mehr als nur einer aufgezwungenen Verbindung zu stehen. Aleya konnte es nachvollziehen. Um diesen Eindruck zu verstärken, stellte sie sich mit betontem Abstand neben ihnen hin und richtete ihren ruhigen, klaren Blick stolz geradeaus, während sie in ihrem Inneren verzweifelt gegen den tobenden Sturm hemmungsloser Panik ankämpfte.
Diese Anhörung würde nicht mit frechen Sprüchen zu lösen sein. In wenigen Augenblicken würde sie dem Regenten erklären müssen, weshalb sie sich geweigert hatte, zu kämpfen. Weshalb sie ihr Schwert gegen eine verbündete Weissmagierin erhoben hatte! Aleya spürte, wie sich ihr Magen krampfhaft zusammenzog.
Da endlich betrat Bellerophon den Raum. Aleya liess sich sofort auf ein Knie fallen. Ohne die Studentin zu beachten, schritt der Regent an ihr vorbei und setzte sich auf den für ihn freigehaltenen Stuhl in der Mitte der versammelten Ratsmitglieder. Der Regent lehnte sich aufmerksam vor und betrachtete die drei jungen Weissmagier einen nach dem anderen. Ganz zuletzt blieb sein durchdringender Blick auf Aleya haften.
«Du bist also Aleya, die Schwarzmagierschlächterin, die auch gerne mal einen Schwarzmagier verschont.»
Aleya brachte kein Wort über ihre Lippen. Bellerophons tragende, jedoch ruhige Stimme schwoll in ihrem Kopf an zu einem gewaltigen Dröhnen, das jeden ihrer eigenen Gedanken erstickte. Mit Mühe zwang sie ihre verkrampften Muskeln zu einem steifen Nicken.
Der Regent, der nicht auf ihre Bestätigung gewartet hatte, hatte sich bereits ihren Mitstreitern zugewandt: «Und Ihr seid die zwei frischen Gardisten, die eine Studentin auf eine Selbstmordmission begleiteten. Wie lauten Eure Namen?»
Aleya fand Genugtuung in dem Wissen, dass Drogans – Andruins – aufgeblasenes Selbstbild zerbrach an der Enttäuschung, dass der mächtigste Mann Gandriens Aleyas Namen kannte und seinen nicht. So war es Nuria, die zuerst antwortete und sich ihrem obersten Befehlshaber gebührend vorstellte, bevor auch Drogan seine erfundene Identität präsentierte.
Bellerophon gebot ihnen mit einer ausladenden Geste, sich wieder zu erheben. Aleya erwartete mit Sorge seine erste Frage, doch zu ihrer immensen Erleichterung ergriff der Regent gleich selber das Wort: «Epheïmos hat bereits die Verantwortung für Euren Ausflug ausserhalb der Stadtmauern übernommen. Ihr seid also nicht hier, um Euch dafür zu rechtfertigen. Diese Angelegenheit werden wir separat mit ihm besprechen.»
Aleya blickte bekümmert hinüber zu ihrem Lehrmeister. Würde er etwa ihretwegen in Schwierigkeiten geraten? Sie war es immerhin gewesen, die ihn dazu gedrängt hatte, sie aus Izzara hinauszulassen. Natürlich drohten ihr auch ohne diese Verfehlung noch genug andere Dinge, über welche sie Rechenschaft ablegen musste, sie fühlte sich jedoch schrecklich, die Schuld für ihren Ausbruch aus Izzara auf ihren Lehrmeister abzuschieben. Etwas unsicher öffnete sie den Mund, sah aber gerade noch, wie Epheïmos kaum merklich den Kopf schüttelte. Seine Verantwortung würde nicht weniger, nur weil sich Aleya ebenfalls dazu bekannte. Ihr trotziger Versuch, ihrem Ehrgefühl treu zu bleiben, entspräche nur einem unnötigen Aufbegehren, das wiederum eine kindliche Naivität bezeugen würde. Aleya schloss ihre Lippen wieder. Sie würde ihrer Dankbarkeit später Ausdruck verleihen.
Der Regent war sich wohl bewusst, dass die jungen Gardisten von der Flut der Ereignisse noch zu überfordert waren, um klare Gedanken fassen zu können. Mit überlegtem Zögern schlug er deshalb vor: «Ich denke, es ist am besten, wenn erst einmal Epheïmos seine Sichtweise des Geschehens schildert. Danach erhaltet auch Ihr die Gelegenheit, Eure Erlebnisse zu erzählen.»
Während Epheïmos berichtete, wie es dazu gekommen war, dass zwei unerfahrene Gardisten und eine Studentin in das Revier eines Schwarzmagiers geschickt worden waren, hatte Aleya Zeit, sich an die Anwesenheit des ehrfurchtsgebietenden Oberhauptes der Weissmagier zu gewöhnen und die lähmende Anspannung, die sie in ihrem Bann hielt, wenigstens teilweise abzulegen.
Als Nächstes war Nuria, die offensichtliche Anführerin ihres Erkundungstrupps, an der Reihe. Die Ermordung Akimenons. Das Bündnis zwischen Fabian und den beiden Schwarzmagiern. Ihr eigener Kampf mit dem Verräter und dem Schwarzmagier Chandra. Aleyas Weigerung, in ebendiesen Kampf helfend einzugreifen.
Aleya rechnete es ihr hoch an, dass sie versuchte, ihre Version der Geschichte möglichst sachlich wiederzugeben und Aleya nicht aufgrund von Spekulationen anzuklagen.
Drogan durfte Nurias Geschichte bestätigen und einige Dinge ergänzen, doch für seine Ausführungen bestand kaum noch Interesse. Im Gegenteil dünkte es Aleya, als ginge Bellerophon sehr bewusst nicht darauf ein, dass Drogan Chandras Bruder war. Sie musste davon ausgehen, dass der Regent Kenntnis davon besass, dass Drogan seine wahre Identität verheimlichte. Doch dies und die Tatsache, dass einer ihrer Feinde sein eigener Bruder war, unkommentiert zu lassen, schien Aleya doch etwas eigenartig. An Bellerophons Stelle hätte Aleya Drogan bis ins kleinste Detail ausgefragt, wie seine Beziehung zu Chandra aussah, was es für ihn bedeutete, seinen Bruder zum Feind zu haben, und ob er erahnen konnte, was Chandra vorhatte. Doch Bellerophon ging in keinster Weise auf Drogans Vergangenheit ein und lenkte die gesamte Aufmerksamkeit auf Aleya. Er behielt dabei einen derart natürlichen Gesprächsfluss aufrecht, dass Aleya beinahe nicht bemerkt hätte, wie auffallend inhaltslos der Wortwechsel zwischen Bellerophon und Drogan ablief.
Je genauer sie das Gespräch beobachtete, desto mehr zweifelte sie daran, dass dies Drogans erste Begegnung mit dem Regenten war. Beide von ihnen schienen zur Aufrechterhaltung einer ausführlichen Befragung der Pflicht eines Gesprächs nachzukommen, arbeiteten aber gleichzeitig daran, dieses so vergessenswürdig wie nur möglich zu gestalten. Hatte Bellerophon zu Beginn absichtlich hervorgehoben, dass er Drogans Name nicht kannte, um Aleya von genau diesem Verdacht abzuhalten?
Sie hatte jedoch keine Gelegenheit, dies weiter zu hinterfragen, da nun sie selber erklären musste, weshalb sie den Gardisten nicht beigestanden hatte, sondern sogar noch ihr Schwert gegen Nuria erhoben hatte und nach dem Kampf allein zurückgeblieben war.
Sie wusste, dass es nur eine Möglichkeit gab, ungeschoren aus ihrer misslichen Lage hinauszukommen. Dass der Regent nur die komplette, unverblümte Wahrheit akzeptieren würde. So gab sie offen zu, dass sie noch mit Chandra gesprochen hatte, und schwärmte dem Regenten ausführlich von ihrer wunderbaren Freundschaft mit einem Schwarzmagier vor, den sie lange totgeglaubt hatte. Sie erzählte ihm von ihrer gemeinsamen Reise nach Izzara und dem Überfall durch Vargo. Von ihrer Reue, ihn zurückgelassen zu haben. Von ihrer Trauer, ihn tot zu wissen. Von ihrem Ehrgeiz, die Schwarzmagier dafür zu bestrafen, sie auseinandergerissen zu haben. Sowie zuletzt auch von ihrer unglaublichen Freude, Chandra am Leben zu wissen. Das Einzige, was sie ausliess, war ihre Sorge, welchen Einfluss die erneute Enttäuschung, die Härte seiner Ausbildung, das Leben in der Verbannung und die Verheissung von Macht auf den einst so fröhlichen Jungen gehabt hatte.
Sie gab absichtlich all ihre Gefühle preis, damit es Bellerophon unmöglich war, sie nicht zu verstehen. Damit er ihren Schock nachvollziehen konnte, als sie Chandra wiedersah. Die Gewissheit mit ihr teilen konnte, dass Chandra Drogan niemals hätte sterben lassen. Die daraus folgende Konsequenz einsah, dass sie seine Heilung durch Nuria um jeden Preis stoppen musste.
Durch das Mitgefühl mit ihren eigenen Emotionen sollte der Regent selber spüren können, dass Chandra Aleya gebraucht hatte, nachdem ihn sein eigener Bruder so brutal verletzt hatte. Dass sie es sich selber schuldig gewesen war, noch einmal mit ihrem Freund zu sprechen und sich angemessen von ihm zu verabschieden.
Der Regent hörte aufmerksam zu. Als Aleya geendet hatte, fragte er nur: «Wenn Du diesem Chandra wieder begegnest, wirst Du bereit sein, ihn zu töten?»
«Nein», antwortete Aleya ohne zu zögern. Laut und deutlich.
Aus ihren Augen funkelte die Herausforderung, sie dafür zu bestrafen.
Der Regent hielt für einen Moment seinen prüfenden Blick auf sie gerichtet, bevor er zufrieden nickte. Er schien das lodernde Feuer in ihr erkannt zu haben, das sie weiterhin dazu antrieb, jeden anderen Schwarzmagier von dieser Erde zu tilgen. Sie hatte sich nicht davor gefürchtet, Aussagen zu machen, die ihre eigene Loyalität in Frage stellten. Genau damit hatte sie diese bewiesen.
«Nun gut», schloss Bellerophon, «ich denke, ich brauche dem nichts mehr hinzuzufügen. Ich bitte Euch, niemandem etwas von diesem Zwischenfall zu erzählen.» Das hörte Aleya nun schon zum zweiten Mal, seit sie an der Akademie war. «Wir werden die anderen Studenten selber über Akimenons Ableben informieren. Ihr habt alle so gehandelt, wie es Euch am besten dünkte. Begebt Euch nun zurück in Eure Zimmer und erholt Euch.»
Keine Zurechtweisung. Keine Ermahnung. Der Regent hatte Aleya weder versichert, dass er ihr glaubte, noch hatte er ihr gedroht, sie unter Beobachtung zu halten. Der Regent wusste, dass Aleya sich etliche Horrorszenarien ausgemalt hatte, was er alles hätte sagen oder anordnen können. Mit seinem Verhalten hatte er ihr sein vorläufiges Vertrauen in sie versichert, sich aber jeglichen negativen wie auch positiven Kommentars enthalten. Sein ausstehendes Urteil würde weiterhin über Aleya hängen bleiben und sie in all ihren zukünftigen Handlungen begleiten.
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Erst einige Wochen später hatte sie mit Drogan über den Vorfall gesprochen. Obwohl sie in gegenseitigem Einverständnis beschlossen hatten, ihr gemeinsames Training zu beenden, hatte er sich eines Tages neben sie hingesetzt und angefangen zu sprechen, als befänden sie sich längst mitten in einer Unterhaltung.
«Akimenon hätte Chandra nicht getötet.»
«Bitte was?» Was sollte das denn jetzt? Woher wollte dieser Wicht wissen, was Akimenon vorgehabt hatte und was nicht?
«Wir hätten Chandra nicht getötet», wiederholte Drogan bestimmt.
Aleya wurde hellhörig.
«Wir?», wiederholte sie misstrauisch. Hatte Drogan etwa gewusst, dass Chandra noch lebte?
«Genauer gesagt: der Hohe Rat.»
«Jaja, schon klar, komm zum Punkt!», schnauzte ihn Aleya ungehalten an.
Drogan wich sofort etwas zurück und entgegnete schnippisch: «Ich brauche es dir auch gar nicht zu erzählen, wenn du –»
«Andruin», fauchte Aleya drohend. Sie betonte jedes Wort einzeln: «Was hattet ihr mit Chandra vor?»
Drogan, der ihr widerwillig gehorchte, begann mit spöttischer Herablassung zu erzählen: «Ist das nicht offensichtlich? Wie oft kommt es schon vor, dass der Bruder eines Schwarzmagiers an der Akademie studiert? Zumal dies ein Bruder ist, den der besagte Schwarzmagier zutiefst bewundert und für den er alles tun würde? Egal, was Chandra selber ist und was ihm die Schwarzmagier versprechen mögen, er wird sich immer auf die Seite seines Bruders – meine Seite – schlagen. Denkst du wirklich, der Hohe Rat würde sich diese Chance auf einen bedingungslos loyalen Spitzel entgehen lassen? Weshalb sonst hätten wir Chandra an die Akademie holen und das Risiko eines Transportes auf uns nehmen sollen?»
Aleya schnaubte verächtlich. «Du sprichst von ‘wir’ und ‘uns’, als hättest du irgendetwas entschieden. Was hast du schon getan? Welches Risiko hast du auf dich genommen?»
«Du verstehst ganz offensichtlich immer noch nicht, wie die Welt funktioniert», gab Drogan höhnisch zurück. «Ich habe Chandra das Leben gerettet! Nicht du, nicht Akimenon, nicht der Hohe Rat, sondern ich! Nur durch meine Einwilligung, meinen Bruder dazu zu bringen, sich in unserem Auftrag in die Reihen der Schwarzmagier zu begeben, wurde er verschont!»
«Und zufälligerweise musstest du diese Entscheidung genau vor Abschluss deines dritten Studienjahres treffen. Das erklärt immerhin, wie ein Weichei wie du der Garde beitreten konnte. Du hast Chandra nicht geholfen. Du hast ihn eingehandelt, um selber aufzusteigen! Du wusstest, wie leicht Chandra zu beeinflussen sein würde. In seiner Unsicherheit, es allen rechtmachen zu wollen, hätte er getan, was auch immer du von ihm verlangt hättest, selbst wenn er selber dabei zugrunde gegangen wäre! Du hättest ihn schamlos ausgenutzt!»
«Ich mag die eine oder andere Bedingung für meine Mitarbeit gestellt haben, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass er dank mir überhaupt noch lebt. Ohne mich würde seine Leiche irgendwo bei Asberan im Wald verscharrt liegen. Ich bin derjenige, der ihm eine Zukunft ermöglicht hätte!»
«Und was für eine Zukunft! Im Lager des Feindes, als Spion für eine Regierung, die ihn verabscheut. Ein ewiger Aussenseiter sowohl in Izzara als auch bei den Schwarzmagiern! Du hättest ihn erneut in genau diejenige Rolle gedrängt, die er am meisten fürchtet. Aber die Hauptsache ist doch, dass du befördert wurdest. Freut mich für dich!», spuckte Aleya gehässig aus.
Drogan hatte mit der Abweisung von Chandra auch noch den letzten Funken an Respekt erstickt, den Aleya aus grundlegendem Anstand für ihn bewahrt hatte. Sie hasste den selbstgefälligen Angeber dafür, dass er sich in seinem verzerrten Weltbild gar noch als der grosse Retter fühlte, dem sein geschundener Bruder Dankbarkeit schuldete.
Sie bohrte ihren zornigen Blick tief in sein Gewissen, als sie fortfuhr: «Denkst du ernsthaft, der Hohe Rat hätte Chandra seine Ausbildung vollenden lassen und ihn dann einfach als einen der ihren akzeptiert, ohne ihn in einem Hinterhalt gemeinsam mit all den anderen Schwarzmagiern abzuschlachten? So dumm ist der Hohe Rat nicht! Aber vielleicht bist tatsächlich du es, dass du so etwas glauben würdest. Ich hoffe es sogar. Ich wünsche Chandra lieber einen naiven Bruder als einen grausamen.»
Drogan wiederholte stur: «Es war die einzige Möglichkeit, wie er überleben konnte.» Seine Stimme nahm einen bitteren Ton an, als er ergänzte: «Ich hätte ihn besser sterben lassen. Dann hätte ich ihn als fröhlichen Jungen in Erinnerungen behalten können und nicht als ein Monster, das das Seelenwesen seines eigenen Bruders abschlachtet.»
«Du hast deinem Seelenwesen den Befehl zum Angriff erteilt. Chandra wäre niemals von sich aus auf die Hyäne losgegangen, wenn er dich erkannt hätte.»
«Wenn und hätte. Aber er hat. Er ist genauso ein Schwarzmagier wie die anderen auch. Er hat Akimenon getötet. Meine Hyäne getötet. Chandra hat sich gegen seinen eigenen Bruder gestellt! Gegen mich! Ich bin das Opfer! Er tut ach so besorgt, dabei ist es ihm völlig egal, wie viel Zerstörung er anrichtet! Wegen dem Scheisskerl sehe ich verdammt noch mal nichts mehr auf meinem linken Auge! Ich bin ein halbblinder Krüppel! Gerade du solltest es verstehen können, wenn einem ein Teil seiner eigenen Seele genommen wird.»
Aleya betrachtete zufrieden Drogans halbseitig gelähmtes Gesicht. Es gefiel ihr, dass ihm seine Niederlage nun ins Gesicht geschrieben stand. Sie hätte ihm eine noch deutlich härtere Strafe gewünscht für das, was er Chandra angetan hatte.
«Wolltest du nicht genauso seine Chimäre abstechen?», entgegnete sie kalt.
«Ein schwarzmagisches Wesen, ja. Keine Person.»
«Ich hoffe, du zählst Chandra zu Letzterem», erwiderte Aleya in trauriger Wut. Ohne auf seine überflüssige Antwort zu warten, fuhr sie fort: «Um deine jähzornige Hyäne ist es sowieso nicht schade. Eine launische, kleine Dreckstöle, die vom Jagderfolg anderer lebt. Ein hinterhältiges Tier, das andere arbeiten lässt und diese dann von ihrer Beute verjagt. Was sagt das wohl über dich selber aus? Wenn das alles ist, was deine Seele zu bieten hat, gibt es nichts, dem nachzutrauern wäre.»
«Du hast sowieso gut reden», brummte Drogan. «Für dich ist das alles einfach. Du hast Talent, das dir in allem Erfolg gönnt. Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie es für jemanden wie mich sein muss, an die Akademie zu kommen? Bevor ich Izzara betrat, hatte ich stets jemanden, der mich bewunderte – ja, fast vergötterte! Ich war immer der Grosse, der Starke, der Beste in allem. Ich war ein Held! Umso mehr, als ich an die Akademie aufgenommen wurde! Doch hier? Hier war ich der ungebildete, arme Junge aus einem Dorf, von dem niemand je gehört hatte. Ich musste erst einmal lesen und schreiben lernen! Plötzlich gehörte ich zu den Dummen, Schwachen und Untalentierten! Du hast keine Ahnung, welche Erniedrigungen ich seit meiner Aushebung erleiden musste. Doch auch wenn ich meine Begabungen nicht beeinflussen konnte, so konnte ich doch meine Herkunft ändern. Es wusste schliesslich niemand, wer ich war oder woher ich kam. Ich konnte sein, wer auch immer ich sein wollte! Mein Namenswechsel hat mir ermöglicht, meine Vergangenheit zu vergessen und all die schrecklichen Erinnerungen zusammen mit meinem alten Leben fortzuwerfen! Ich hatte die Chance, neu zu starten! Neu zu leben! Wie kannst du dir mit deinem perfekten Leben anmassen, über mich zu urteilen?»
«Unglaublich», raunte Aleya erschlagen. «Das ist der grösste Haufen Pferdemist, den ich je gehört habe. Erwartest du ernsthaft Mitgefühl – ja, sogar Mitleid – von mir? Dafür, dass du zu faul bist, etwas aus deiner Zukunft zu machen und für deinen Erfolg zu kämpfen, sondern lieber deine Vergangenheit verleugnest, um ja nichts an dir selber ändern zu müssen? Du bist jämmerlich. Du versuchst ja nicht einmal, dich zu verbessern! Denn das wäre ja Arbeit. Nein, es ist viel einfacher, sich zurückzulehnen und dem Schicksal und ungerecht verteilten ‘Talenten’ die Schuld zu geben! Ist dir mal aufgefallen, dass ‘Talent’ ein Wort ist, das nur diejenigen Leute benutzen, die es selber nicht besitzen? All diejenigen, welche dieses scheinbare ‘Talent’ besitzen, wissen nämlich, dass ‘Talent’ wenig mit Begabung zu tun hat, sondern mit jahrelanger Hingabe und Übung. Von nichts kommt nichts, du Wurm.»
Aleya geriet mehr und mehr in Rage, als sie Drogan anschrie: «Chandra hat –», sie stoppte sich gerade noch im Wissen, dass Chandra nicht wollen würde, dass sie Drogan erzählte, was er alles durchlitten hatte. Auf keinen Fall hätte Chandra ihn damit belasten wollen.
Aleya spürte blindwütigen Zorn in sich aufsteigen. Chandra hatte die Hölle durchlitten, war von seinem eigenen Bruder zum Teufel geschickt worden und hätte immer noch verhindern wollen, dass dieser Arsch von einem Bruder wenigstens ein schlechtes Gewissen hatte.
Aber sie war nicht Chandra. Sie konnte Drogans ekelerregendes Selbstmitleid unmöglich anhören, ohne ihn endlich aus seinem erfundenen Weltbild zu rütteln und ihm zu zeigen, was wahre Brüderlichkeit, wahre Freundschaft, bedeutete.
Zwischen zusammengebissenen Zähnen knurrte sie: «Hast du irgendeine Ahnung, was Chandra wegen dir Scheisskerl durchgestanden hat? Hast du dir auch nur einmal um ihn Gedanken gemacht? Du siehst ihn nach sechs Jahren zum ersten Mal wieder und hörst dir nicht einmal an, was dein eigener Bruder zu sagen hat? Verurteilst ihn sogar noch für etwas, wofür er selber nichts kann? Hätte er etwa lieber sterben sollen? Ist es das, was du ihm nach sechs Jahren des Schweigens zu sagen hattest? Ist es dir jemals in den Sinn gekommen, dich vielleicht mal bei ihm zu entschuldigen?»
«Dafür, dass ich an die Akademie aufgenommen wurde? Dafür, dass er ein Schwarzmagier ist? Oder vielleicht dafür, dass ich mich mein ganzes Leben lang um ihn gekümmert habe? Bilde dir ja nicht ein, mehr zu wissen als ich! Ich war dort! Jahrelang. Chandra ist mein Bruder!»
«Oh, glaub mir, ich weiss deutlich mehr als du! Ich verrate dir auch wieso: Weil ich mit Chandra spreche.»
«Du kannst mir kein schlechtes Gewissen einreden. Die Akademie war unser gemeinsamer Traum. Chandra wollte, dass ich gehe.»
«Und trotzdem wäre es schön gewesen, wenn du ihm einmal gezeigt hättest, dass du es schätzt, dass er dich darin unterstützt, ihn allein zu lassen!»
«Ich habe ihn nicht allein gelassen. Er hatte ein Zuhause, Essen, Leute, die sich um ihn –»
«Nein, hatte er nicht», fiel ihm Aleya ins Wort.
«Jetzt hör endlich –»
«Nein, hatte er nicht!», schrie Aleya ihn ungehalten an. Chandra hätte seinem Bruder niemals die Wahrheit erzählt. Jetzt, da es keine Rolle spielte, erst recht nicht. Und genau deshalb musste sie es tun. Sie brüllte Drogan das Leid seines Bruders ins Gesicht, schleuderte es ihm entgegen und begrub ihn unter dem Gewicht der Wahrheit. Sie war bereits ausser Atem gekommen von ihrer Hasstirade, als sie mit wutzitternder Stimme endete: «Er hat so viel für dich getan. So viel für dich durchgestanden und erreicht. Und du behandelst ihn wie Abschaum.»