Die Weissen Türme von Izzara - Pascal René Bezel - E-Book

Die Weissen Türme von Izzara E-Book

Pascal René Bezel

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Beschreibung

Der Grosse Krieg ist vorbei. Die Schwarzmagier vernichtet. Ihre mörderischen Bestien ausgerottet. Der Frieden gesichert durch die unbestrittene Macht der Weissmagier und ihrer Seelenwesen. Es sind leicht verständliche Wahrheiten, die den Menschen wieder Hoffnung geben. Aleya und Chandra werden Teil dieser Hoffnung. Sie erkämpfen sich die Ehre, zu Weissmagiern ausgebildet zu werden, und treten gemeinsam die Reise nach Izzara an. Aus ihren Unterschieden wächst nicht nur Respekt, sondern auch das Verständnis des eigenen Denkens. Das Ausmass der hieraus entstehenden Verantwortung erkennen sie jedoch erst, wenn die Wahrheit der Realität nicht mehr standhält. Wenn Hoffnung plötzlich einen Preis fordert. Werden sie bereit sein, die Konsequenzen ihres Wissens zu tragen? * * * Herzlich willkommen in Gandrien! 2015 entsprang aus den ersten unreifen Gedankenfunken eine ganze Welt, welche mich über neun Jahre hinweg begleitete und herausforderte, sie würdig zu präsentieren. Es war mein oberstes Ziel, dass sowohl der Unterhaltung suchende Leser von einem fliessenden Schreibstil mitgerissen wird als auch der nach geistiger Stimulation strebende Entdecker versteckte Anspielungen und Denkanstösse findet. Ich legte grossen Wert darauf, dass die Geschichte nicht künstlich ermöglicht wird durch zufälliges Eingreifen oder auch Zurückhaltung eigentlich mächtiger Gegenspieler, die schwächere Kontrahenten aus unerfindlichen Gründen verschonen. Obwohl ich die Handlungsstränge anfangs skizziert hatte, versuchte ich, die Taten der Charaktere so wenig wie möglich zu beeinflussen. Somit schrieb ich weniger als handlungsbestimmender Autor, sondern vielmehr als unparteiischer Beobachter, wie sich die einzelnen Personen verhielten und welche Gedanken sie dabei hegten. Die Geschichte folgt somit einem natürlichen Fluss der Ereignisse und psychologischen Entwicklungen. Das vorliegende Werk ist Ausdruck meiner eigenen Freude an Fantasy, Psychologie und der deutschen Sprache.

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Seitenzahl: 531

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Die Weissen Türme von Izzara

Über den Autor

Prolog

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

XXII

XXIII

XXIV

XXV

XXVI

XXVII

XXVIII

XXIX

XXX

Über den Autor

Pascal René Bezel, 1991 in Winterthur geboren, wuchs in einer Familie auf, welche kritisches Denken und kreative Schreibkunst stets förderte. In der Schule schrieb er für seine Klassenkameraden Detektivgeschichten zum Mitraten, innerhalb der Familie wurden stumpfsinnige Gedichte ausgetauscht und bei Pen-and-Paper-Spielen werden jetzt noch im Rollenspiel rhetorische Abenteuer bestanden. Mit zehn Jahren unternahm er seinen ersten Versuch, einen Roman zu verfassen. Mit zehn Jahren und zwei Wochen beendete er seinen ersten Versuch, einen Roman zu verfassen. Zumindest sein Durchhaltewille hat sich somit deutlich verbessert.

Inzwischen ist Pascal Arzt geworden und hat eigentlich keine Zeit mehr, Autor zu sein. Jedoch konnte ihn seine Passion für Därme und Menschen nicht von seiner Passion für kreatives Weltenweben abhalten. Die Entwicklung dieses Werkes über neun Jahre hinweg erlaubte ihm, die Geschichte immer wieder aus neuen Blickwinkeln anzugehen und seinem unbelehrbaren Perfektionismus gerecht zu werden. Die folgenden Seiten sind das Ergebnis eines unterhaltsamen Lernprozesses, die Verwirklichung eines Traumes und Ausdruck seiner Leidenschaft für Fantasy, Psychologie und die deutsche Sprache.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, sind dem Besitzer des Urheberrechts vorbehalten.

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E-Book-Ausgabe 29. November 2024

Umschlagsillustration: Pauliina Linjama

Umschlagsgestaltung: Pauliina Linjama, Pascal Bezel

Kartenillustration: Mirjana Murer, Pauliina Linjama, Map Effects

Kartengestaltung: Mirjana Murer, Pascal Bezel

Logoillustration: OpenArt AI, Pascal Bezel

Urheberrecht: Pascal Bezel

ISBN 978-3-9525784-2-1

Von Pascal Bezel erhältlich:

Band 1 «Die Weissen Türme von Izzara»

Band 2 «Die Schwarzen Grotten von Hotrod»

In Dankbarkeit und Liebe meinen Eltern gewidmet, welche mich gelehrt haben, kritisch zu denken und diese Gedanken in Worte zu fassen.

Prolog

Dunkle Rauchschwaden erstickten den Himmel über Andarûn. Anklagend hing der Geruch verbrannten Fleisches über dem unschuldigen Dorf, das hilflos der Macht des Feuers erlag. Schmerzerfüllte Schreie schallten in drängender Verzweiflung durch das dumpfe Grollen einstürzender Häuser und vermischten sich mit dem flehenden Brüllen panischer Tiere. Doch jegliche Hoffnung erlosch im rasenden Feuersturm. Wütende Funken schossen aus dem Flammenmeer empor, das sich unaufhaltbar durch Andarûns Gassen wälzte und sämtliches Leben in seinen glühenden Wogen verschlang.

Inmitten des Chaos fand sich ein einziges Wesen, dessen zufriedenes Knurren sich harmonisch in die grausamen Klänge der Zerstörung einfügte. Genussvoll leckte es sich das Blut von der Schnauze. Mächtige Muskeln traten unter seinem goldenen Fell hervor, als es seine schweren Pranken tief in den knirschenden Sand grub und sich mit kraftvollen Schritten den Weg durch die Trümmer bahnte.

Der Rücken des mythischen Löwen war geschützt von schwarzen, matt glänzenden Schuppen, welche die grausame Schönheit der Feuersbrunst schimmernd in sich aufnahmen. An seinem Ende formte sich die geschmeidige Panzerung in eine gewaltige Schlange, die sich anstelle eines Schwanzes mit der Anmut einer unbezwingbaren Schlächterin hinter dem Löwen erhob. Ihr ganzer Körper zitterte vor Ekstase, während sie gierig suchend um sich schaute. In ihren stechend gelben Augen blitzte irre Mordlust auf, als sie ihr nächstes, leise wimmerndes Opfer zwischen den Ruinen erspähte.

Kaum war die zweiköpfige Bestie an den Todgeweihten herangetreten, schoss die Schlange hervor und grub ihre Zähne mit grausigem Knacken in seinen splitternden Schädel, der widerstandslos unter dem Druck ihres Gebisses zusammenbrach. Wie eine gewonnene Trophäe hob sie den leblos baumelnden Leib hoch in die Luft und warf die schlaffe Leiche klatschend gegen eine nahe Wand. Abschätzig sandte sie ihm aus ihrem Rachen einen Feuerball hinterher.

––––––––

Bellerophon, dessen eigene Erschöpfung ihn in lähmender Umklammerung zu Boden drückte, war gezwungen, die grausame Szene reglos mitanzusehen.

Träge hatte er sich aus den Tiefen seiner eigenen Bewusstlosigkeit gerissen. Hatte sich durch den Nebel seiner Benommenheit getastet und seinen Verstand gezwungen, die Welt um ihn herum wahrzunehmen. Doch er hatte nicht die leiseste Ahnung, was er vor sich sah. Er erkannte weder die blutrünstige Bestie, welche gelbrote Hitzewellen von sich schoss, noch die hoffnungslos schwachen Wesen, welche mit schrillen Lauten vor ihr davonrannten. Er hatte eine vage Vermutung, was es bedeutete, dass die meisten der schwachen Wesen stumm und in mehrere Stücke aufgeteilt am Boden lagen, während die Bestie sämtliche Gebilde in ihrer Umgebung in flachere, abstraktere Versionen ihrer ursprünglichen Form verwandelte. Doch die körnige Finsternis, die von diesen abstrakten Gebilden aufstieg, sich unaufhaltbar ausdehnte und das klare Blau, das sich scheinbar endlos über allem erstreckte, bald gänzlich zu verdrängen drohte, war ihm gänzlich unbekannt. Gebannt beobachtete er, wie sich Myriaden glühender Punkte aus der stetig wachsenden Dunkelheit lösten und in einem Schwarm rötlich schimmernder Fetzen zu Boden schwebten, wo sie alles unter einer Schicht fahler Trauer begruben. Doch all die dröhnenden Geräusche, intensiven Farben und beissenden Gerüche trugen keinerlei Bedeutung für ihn.

Widerwillig riss Bellerophon seine Aufmerksamkeit los von dem hypnotischen Schlachten und suchte in seinen entflohenen Erinnerungen nach Antworten.

Erst jetzt realisierte er, dass ihm nicht nur die Welt um ihn herum komplett fremd war: Er kannte nicht einmal sich selber. Er besass keinerlei Erinnerungen, dass er überhaupt je existiert hatte. Er wusste nicht, welchen Idealen er folgte. Welche Wünsche er hegte. Was ihn antrieb im Leben und welchen Sinn er diesem verliehen hatte. In Bellerophon herrschte eine Leere, die er nicht einmal im Ansatz zu erfassen vermochte, da ihm nur schon die Vorstellung des Fehlenden entging. Doch er spürte, dass die Inexistenz seines eigenen Ichs in krassem Gegensatz stand zu der überwältigenden Situation, in welche es ihn gebracht hatte. Haltlos im eigenen Sein blickte er an sich hinunter.

Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er sich im gleichen Körper erkannte, wie die schwachen Wesen, die erbarmungslos vor seinen Augen abgeschlachtet wurden. Über all seiner Unsicherheit prangte nun eine einzige Gewissheit: Er gehörte zu den Gejagten.

In banger Erwartung schaute er wieder auf, nur um im nächsten Moment bis in sein Innerstes zu erstarren.

Die Bestie hielt direkt auf ihn zu.

Bellerophons Brust zog sich schmerzhaft zusammen, als ein tiefes Knurren aus der Kehle der Bestie aufstieg und in erdrückender Vibration in seinem eigenen Körper widerhallte.

Da endlich vermochte er seine Erschöpfung zu überwinden. Mit der letzten ihm verbliebenen Energie zog er seine tonnenschweren Arme über die raue Erde zu sich heran. Mit schierer Willenskraft hievte er sich vom Boden hoch, als im nächsten Moment seine schlaffen Glieder kraftlos unter ihm zusammenbrachen. Ein krächzendes Stöhnen entwich Bellerophons trockener Kehle, als er ungebremst zu Boden prallte.

Wehrlos blickte er seinem Tod entgegen, der in Form eines blutgeifernden Monsters auf ihn zuschritt, als sich plötzlich der Himmel verdunkelte. Mit ohrenbetäubendem Gebrüll stürzte ein gigantischer Schatten auf die Bestie hernieder und begrub sie unter der Wucht eines donnernden Aufpralls. Mit einem einzigen Schlag seiner riesigen Schwingen balancierte das Wesen seine Landung aus, legte die ledernen Flügel an seinen Körper an, der sich hoch über die aufgeworfene Staubwolke erhob, und neigte seinen Kopf zu Bellerophon hinunter.

Zu seinem eigenen Erstaunen verspürte Bellerophon nicht die leiseste Angst vor dem kolossalen Ungeheuer, dessen warmer Atem sich um ihn legte. Er vermochte das Gefühl nicht zu benennen, welches das wilde Pochen in seinem Innern beruhigte. Genauso wenig wusste er, was dieses wunderschöne Wesen ihm bedeutete. Aber er verstand, dass seine Anwesenheit ihm erlaubte, sich seiner Schwäche hinzugeben.

Erleichtert liess er sich wieder in die Bewusstlosigkeit sinken.

*  *  *

In den späteren Geschichtsbüchern würde sich kein bestimmtes Ereignis finden, welches den Grossen Krieg ausgelöst hatte. Niemand konnte oder wollte sich an den Anfang erinnern. Die einzige Tatsache war, dass sowohl die Weissmagier als auch die Schwarzmagier zu mächtig geworden waren, um sich ein gemeinsames Land zu teilen. Zu mächtig, um einen gleich starken Rivalen neben sich akzeptieren zu können. Zu mächtig, um nicht versucht zu sein, ebendiesen Widersacher zu verdrängen und die Herrschaft über Gandrien an sich zu reissen. Aus dem unausweichlichen Wettstreit wurde ein Krieg geboren, der seine gierigen Klauen nach allen Bewohnern Gandriens ausstreckte, während er sich lustvoll über das ausgezehrte Land wälzte, um seinen unersättlichen Hunger an der Verzweiflung der Menschen zu nähren. Noch nie zuvor hatte ein Krieg so viele Opfer gefordert. Die Erde mit so viel unschuldigem Blut getränkt. Das Volk so verstört und unsicher zurückgelassen.

Doch genau dieser Mahlstrom der Verwüstung ermöglichte die Entstehung einer Legende: Bellerophon, ein mächtiger Weissmagier, erschuf ein Seelenwesen nie dagewesener Kraft und vermochte das ewig schwingende Pendel des Krieges zu seinen Gunsten auszurichten. Er säuberte das Land von der Plage der Schwarzmagier und ihren Chimären, gab den Leuten ihren bald schon in Vergessenheit geratenen Frieden zurück und wurde vom Volk zum Herrscher über Gandrien erhoben.

Der neue Regent erklärte Izzara zum Zentrum der Macht und liess nicht nur einen Palast, sondern auch eine prächtige Akademie für Weisse Magie errichten. Fortan wurden in allen noch so entfernten Dörfern des Königreiches zufällig stattfindende Wettkämpfe abgehalten, in welchen junge Anwärter ab Erreichen des siebzehnten aber noch vor Abschluss des neunzehnten Lebensjahres ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten unter Beweis stellen und sich als würdig erweisen konnten, in die ruhmreichen Ränge der Weissmagier aufgenommen zu werden.

Schwarze Magie schien schlichtweg nicht mehr zu existieren.

––––––––

Der Krieg war aber längst nicht für beide Seiten beendet. Die Schwarzmagier lechzten nach Rache. Ihr Wille war ungebrochen. Ihre Wut auf die Weissmagier frisch entfacht. An den Rand der Vernichtung getrieben, verhasst und aus ihrem eigenen Land verbannt, setzten sie den Kampf aus dem Verborgenen fort. Niemand wusste, wo sie sich versteckten, wie viele es noch gab oder wer sie anführte. Doch drohend schwebte ihr Schatten über dem zerbrechlichen Frieden Gandriens, während sie geduldig auf die passende Gelegenheit warteten, sich der Welt in neuer Stärke zu präsentieren.

I

Chandra konnte sein Glück kaum fassen. Er hatte gesiegt! Er, der kleine, abgemagerte Schwächling des Dorfes hatte alle anderen in den Schatten gestellt! Bald würde er die erhabenen Türme der Akademie sehen, durch die strahlend weissen Strassen von Izzara schreiten und die donnernden Flügelschläge des mächtigen Drachen hören, der majestätisch seine Kreise um die Königsfeste zog. Seine Zukunft – nein, sein Leben hatte begonnen!

Die Aufnahme an die Akademie war für Chandra weit mehr als nur eine Ehre. Sie verlieh ihm das, was er in seinem bisherigen Leben noch nie hatte erfahren dürfen: Bedeutung. Plötzlich war er nicht mehr der arme, hungernde Aussenseiter ohne Familie und ohne Perspektiven. Er war ein Weissmagier, Student an der Akademie von Izzara und Soldat der Weissen Armee! Nach einem Leben in Erniedrigung und Ächtung stieg er auf zu einem respektierten Mitglied der Gesellschaft. Einem Helden des Volkes.

Chandras Gedanken wanderten zu seinem Bruder. Andruin hatte ihn vor drei Jahren verlassen, um die gleiche Reise anzutreten wie jetzt auch Chandra. In wenigen Wochen würde er endlich wieder mit Andruin vereint sein – ein Moment, von dem Chandra viel zu lange hatte träumen müssen. Stolz dachte er an seinen besten Freund und Beschützer, der inzwischen ein mächtiger Weissmagier sein musste, hatte er doch schon mehr als die Hälfte seiner Ausbildung beendet. Das frohe Pochen seines Herzens wollte ihm die Brust sprengen, als er aufgeregt flüsterte: «Ich komme.»

«Wie bitte?» Sein Begleiter neigte seinen Kopf leicht zu Chandra hinunter, hielt seine Aufmerksamkeit jedoch weiterhin auf den holprigen Weg vor ihm gerichtet.

«Ich komme!», schrie Chandra in den sonst stillen Wald hinaus. Er riss die Arme in die Luft und stiess einen Jauchzer aus, der den weiss gekleideten Mann neben ihm überrascht zusammenzucken liess. Dieser zögerte kurz, bestätigte aber mit einem zurückhaltenden Lächeln: «Das wirst Du wohl.»

Peinlich berührt über den Freudenausbruch vor seinem neuen Lehrmeister verstummte Chandra wieder. Nur das breite Grinsen, das sich in sein Gesicht eingemeisselt hatte, blieb als einziges Zeichen seines Übermuts zurück. Mit leuchtenden Augen verfolgte er einen farbenprächtigen Schmetterling, der fröhlich tanzend dem nahenden Planwagen auswich, erhaschte einen flüchtigen Blick auf das flammend rote Fell eines Fuchses, der ungesehen an ihnen vorbeihuschen wollte, und lauschte bewundernd den Klängen der Vögel, welche alle seinen grossen Tag zu besingen schienen. Mit einem zufriedenen Seufzer liess er sich in den harten Sitz zurückfallen und schlug sich sogleich den Kopf an dem schwankenden Gefährt an. Als er sich wieder aufrichtete, brach seine Unbekümmertheit mit ausgelassenem Lachen aus ihm hinaus.

Er würde sich sicherlich noch an das Reisen auf dem unbequemen Planwagen gewöhnen. Sein neuer Lehrer hatte ihn informiert, sie seien ungefähr zwei Monate unterwegs, bis sie die Hauptstadt erreichten. In dieser Zeit musste Chandra unauffällig den Namen seines Meisters in Erfahrung bringen. Denn als sich ihm dieser vorgestellt hatte, hatte er vor lauter Aufregung kein einziges Wort mitbekommen. Der Weissmagier würde es hoffentlich als Respektbekenntnis verstehen, dass Chandra ihn stets mit ‘Meister’ ansprach.

––––––––

Chandra liess nichts in Asberan zurück, was er vermisst hätte. Umgekehrt gab es sowieso niemanden, der seinerseits ihn vermisst hätte. An seine Eltern konnte er sich nicht erinnern. Sie waren im Grossen Krieg umgekommen, als ihr Dorf von Schwarzmagiern überfallen worden war. Er selber war damals noch ein Kleinkind gewesen. Sein drei Jahre älterer Bruder hatte jedoch mitansehen müssen, wie seine Eltern im Flammenmeer verbrannt waren.

Chandra kannte jedes Detail der Geschichte. Denn Andruin hatte sie ihm in all ihrer Grausamkeit geschildert. Gemeinsam hatten sie um ihre Eltern geweint und die Schwarzmagier für ihre Tat verflucht. Doch eigentlich fühlte Chandra keine Trauer. Keine Wut über ihren Tod. Ihr Versterben war für ihn nichts weiter als eine abstrakte Erzählung zweier ihm fremder Leute. Er fühlte sich schuldig für seine Gleichgültigkeit. Schuldig, wenn er seinem Bruder eine künstliche Trauer vorspielte. Doch sein Bruder hätte es ihm nie verziehen, wenn er ihm die Wahrheit erzählt hätte.

Aufgewachsen waren sie beide bei ihren damaligen Nachbarn, zwei Müllersleuten, die froh gewesen waren um zwei junge Burschen, die für sie die schweren Mehlsäcke schleppen konnten. Andruin war der grosse, muskulöse Liebling des stämmigen Müllers gewesen und hatte auch den Grossteil ihrer gemeinsamen Arbeit verrichtet. Chandra hingegen mit seiner schmächtigen Statur und den dünnen Ärmchen hatte die unförmigen Säcke mühselig dem steinigen Boden entlangschleifen müssen. So war häufig einer der alten Säcke aufgerissen, wobei sich der ganze wertvolle Inhalt auf der dreckigen Erde verteilt hatte. Der cholerische Müller hätte ihn dafür längst vor die Tür gesetzt, wäre da nicht seine herrische Frau gewesen, welche ihn stets beschwichtigt hatte, der Kleine müsse bleiben, da sonst der Grosse mit ihm gehe. Chandra hatte sich, nebenbei bemerkt, immer gefragt, ob ihre Zieheltern überhaupt ihre Namen kannten, hätte sich aber niemals getraut, sie offen herauszufordern. Trotzdem war er der Müllerin unendlich dankbar gewesen für ihr Eingreifen und die schlaue Notlüge, die es ihm ermöglicht hatte, mit seinem Bruder zusammenbleiben zu können und eine kalte Mahlzeit unter einem mehrheitlich regendichten Dach zu haben. Es war ihm egal gewesen, dass sie nicht die Art Mensch war, die ihre Zuneigung zeigen konnte. Aussagen wie diese hatten ihm verraten, dass sie ihn eigentlich gerne um sich hatte.

Doch vor drei Jahren war selbst diese bescheidene Welt, die Chandra ein knappes Mindestmass an Geborgenheit verliehen hatte, in sich zusammengebrochen. Damals hatte ein Weissmagier der Akademie ihr abgelegenes Dorf besucht, um neue Studenten zu rekrutieren – ein Ereignis, das Chandras Bruder diejenige Erlösung gewährte, nach welcher er sich so lange gesehnt hatte.

Die Akademie sandte ihre Leute nicht in regelmässigen Abständen in die Dörfer. Somit hatte auch Andruin nicht wissen können, ob das Auswahlverfahren überhaupt noch stattfinden würde, bevor er das zwanzigste Lebensjahr erreichte. Umso grösser war seine Erleichterung gewesen, als der fremde Weissmagier vor drei Jahren Asberans Dorfplatz betreten hatte.

Vor dem Tag des Wettkampfes hatten die zwei Brüder die ganze Nacht wachgelegen. Chandra hatte begeistert zugehört, als Andruin ihm erzählt hatte, wie er durch die hohen Hallen des Weissen Palastes schreiten, wundersame Magie wirken, aufregende Abenteuer bestehen und andere mit seinem gewonnenen Wissen beeindrucken würde. Gemeinsam hatten sie Andruins zukünftige Taten gefeiert und seinen baldigen Ruhm genossen.

––––––––

Als schliesslich der Morgen dämmerte und es für Andruin Zeit wurde, sich zu beweisen, feuerte Chandra seinen geliebten Bruder von ganzem Herzen an und applaudierte begeistert, als dessen Sieg verkündet wurde.

Erst als er zusehen musste, wie sein Bruder seine bereits zusammengeschnürten Habseligkeiten auf den Wagen des Weissmagiers warf, traf ihn die harte Erkenntnis, dass Andruin ihn verlassen würde. Für immer. Die Ausbildung allein dauerte fünf Jahre. Anschliessend würde sein Bruder sein Leben damit verbringen, im ganzen Reich umherzuziehen, um glorreiche Heldentaten zu vollbringen, oder sogar die Ehre erhalten, als Soldat der Weissen Garde den Regenten höchstselbst zu beschützen. So oder so würde er nie wieder nach Asberan zurückkehren. Er würde ihn, Chandra, nie wieder sehen können.

Zitternd liess Chandra seine erhobenen Hände sinken und beobachtete traurig, wie sein Bruder, der einzige Mensch, der ihm je Zuneigung gezeigt hatte, mit stolzgeschwellter Brust fremde Hände schüttelte, als ihm jeder noch so entfernte Bekannte gratulierte und freundschaftlich auf die Schultern klopfte. Immer schmerzhafter drängten sich die Erinnerungen an all die wundervollen Stunden, die sie miteinander verbracht hatten, in Chandras Bewusstsein. Er dachte zurück an all die Momente, in welchen er auf seinen Bruder angewiesen gewesen war. Andruin war sein Beschützer. Sein Vorbild. Sein Freund. Wenn er fort war, gab es niemanden mehr, mit dem Chandra seine Gefühle und Gedanken teilen konnte. Niemanden, der ihm zuhörte und ihn ernst nahm. Niemanden, der ihn so kannte, wie er wirklich war. Niemanden, der ihn überhaupt kannte.

Chandra wandte sich ab von der freudvollen Szene und wischte sich die Tränen aus seinen brennenden Augen. Andruin sollte ihn nicht weinen sehen. Chandra war es ihm schuldig, seine eigenen Sorgen und Ängste zu vergessen und sich für ihn zu freuen. Es wäre unfair von Chandra, seinem Bruder diesen Moment mit Tränen zu verderben und ihn von schlechtem Gewissen geplagt auf das Abenteuer seines Lebens zu schicken. So schlich Chandra unbemerkt davon und schlurfte mit hängendem Kopf zurück zur Mühle.

Dort angekommen holte er vor der Türe noch einmal tief Luft und versuchte, eine wenigstens neutrale Miene aufzusetzen, bevor er das morsche Holz aufstiess und sich in die spärlich beleuchtete Stube begab. Er setzte sich zu seinen schmatzenden Zieheltern an den Tisch und griff sich eine trockene Brotscheibe, an welcher er lustlos knabberte. Der Müller blickte kurz auf und hob fragend eine Augenbraue, als er den gequält starren Gesichtsausdruck seines Zöglings bemerkte. Sein anfängliches Erstaunen über die Trübsal des sonst so lebensfrohen Winzlings verwandelte sich bald in hämische Schadenfreude, welcher er mit einem verächtlichen Schnauben Ausdruck verlieh. Ein schiefes Lächeln umspielte seine Lippen, als er genüsslich höhnte: «Sieh mal an: Unser kleiner Taugenichts ist enttäuscht. Ich vermute mal, das heisst, dein ach so toller Bruder ist doch nicht zu Höherem bestimmt und verfolgt weiterhin seine vielversprechende Karriere als Mehlsackschlepper?»

Chandra schoss ihm einen zornigen Blick zu. Ihre Zieheltern hatten sich geweigert, der Zeremonie beizuwohnen, die für Andruin so wichtig gewesen war. Noch nie hatten sie auch nur das geringste Interesse an den Träumen und Hoffnungen der beiden Brüder gezeigt. Genauso, wie sie sich noch nie um das Wohl ihrer Adoptivkinder gekümmert hatten, solange diese – oder zumindest Andruin – nicht zu krank wurden, um die verdammten Mehlsäcke zu schleppen. Und nun machten sie sich sogar noch über ihren gemeinsamen Traum lustig!

Leise, doch mit vor Wut bebender Stimme, entgegnete Chandra: «Er hat’s allen gezeigt. Er hat bestanden und wird der beste Weissmagier werden, den die Welt je gesehen hat!»

Der Müller kaute gemächlich seinen Bissen zu Ende, bevor er unbeeindruckt mit seinen bulligen Schultern zuckte und trocken entgegnete: «Solange er vorher noch Zeit hat, die Säcke in die Scheune zu bringen, die in der Mühle für den besten Weissmagier aller Zeiten bereitliegen.»

Diese Zeit hatte er nicht, das wusste Chandra. Andruin würde noch heute aufbrechen. Auf eine Reise, die ihn zu allen Orten dieser Welt führte, nur nicht zu ihm. Betrübt betrachtete er die angebissene Brotscheibe, die er in seiner Hand knetete. Er hätte sie am liebsten in seiner Hand zerdrückt und seinem lieblosen Ziehvater an den Kopf geworfen, doch er wollte sich nicht vom Müller provozieren lassen. Mit einem Kloss im Hals nuschelte er ein unverständliches: «Hat er nicht.»

Unwirsch schnauzte der Müller: «Sprich lauter, wenn du frech werden willst!»

Chandra schaute langsam auf. Dicke Tränen stiegen ihm in seine Augen, als er mit sich überschlagender Stimme herausbrachte: «Er hat keine Zeit. Er geht noch heute.»

«Was machst du denn noch hier?», fragte da plötzlich die Müllerin herausfordernd.

«Ich bin noch zu jung», erklärte Chandra bekümmert. «Ich darf nicht mit ihm gehen.»

«Nein, du nichtsnutziger Parasit, ich meinte: Was machst du noch in diesem Haus und isst unser Essen weg? Wenn dein Bruder nicht mehr für uns arbeitet, haben wir auch keine Verwendung mehr für dich.»

Vergnügt schlug der Müller auf den Holztisch und grölte freudig: «Endlich bist du raus! Raus aus unserem Haus, raus aus unserem Leben! Pack deine Sachen und verschwinde!»

Chandra verschlug es die Sprache. Fassungslos blickte er zur Müllerin, die ihn stets vor den Launen ihres Ehemannes beschützt hatte. Doch heute erwiderte sie sein stummes Flehen mit ungerührter Miene und gab ihm mit einem Nicken in Richtung Türe die eindeutige Botschaft zu verstehen. Chandra wusste nicht, wie ihm geschah. Seine Ziehmutter, von welcher er sich beharrlich eine versteckte Zuneigung eingeredet hatte, offenbarte sich unabstreitbar als eiskalt berechnende Geschäftsfrau. Der Müller warf ihn freudig schimpfend aus dem Haus. Und Andruin würde ihn komplett allein in diesem abgelegenen, aussichtslosen Dorf zurücklassen. Es schien zu grausam, um wahr zu sein.

Mit einem resignierten Nicken akzeptierte Chandra seine Abweisung, erhob sich und schritt apathisch zur Türe. Er brauchte seine Sachen nicht zu packen. Er besass nichts, das er hätte mitnehmen können. Chandra hatte nur noch sich selber.

Zum letzten Mal zog er die alte Türe hinter sich zu. Die Türe zu einer enttäuschenden Vergangenheit, die nun krächzend dem verdreckten Boden entlangschleifte. Der Weg zu seinem früheren Leben war verschlossen. Blieb verschlossen. Es gab keinerlei Hoffnung auf eine Rückkehr und das war gut so.

Chandra liess seinen starren Blick über die Welt schweifen, die sich ihm bot. Ihm, einem gerade mal vierzehnjährigen Jungen, dem diese Welt nun offenstand. Einem vierzehnjährigen Jungen, der von ebendieser Welt nichts mehr zu erwarten hatte.

Wenigstens seinem Bruder sollte es besser ergehen als ihm. Für ihn musste Chandra noch funktionieren. Für ihn musste er seine Verzweiflung verdrängen und der unterstützende Bruder sein, den Andruin haben wollte. Mühselig zwang er einen Fuss vor den anderen und schleppte sich wieder auf den Dorfplatz.

«Chandra!», schallte ihm der Klang von Andruins überschwänglicher Stimme entgegen. «Da bist du ja! Ich habe bestanden! Hast du gesehen? Ich war unglaublich! Der Beste von allen! Ich bin auserwählt! Du hast es gesehen, ja?»

Andruin packte Chandra an den Schultern und fing an, ausgelassen mit ihm zu tanzen. Chandra brachte kein Wort über seine klammen Lippen. Er konnte sich nicht bewegen. Es wollte ihm schlichtweg nicht gelingen, mit seinem Bruder zu frohlocken und ihm all die Dinge zu sagen, die sein Bruder so gerne von ihm gehört hätte. Es brach ihm das Herz, sich nicht gebührend für Andruin freuen zu können. Er stoppte seinen besten und einzigen Freund mitten in seinem Tanz und umarmte ihn innig. Tränen, die sich nicht mehr zurückhalten liessen, flossen hemmungslos über seine Wangen, als Chandra seinem Bruder das Einzige zuflüsterte, was er wirklich von ganzem Herzen so meinen konnte: «Ich bin stolz auf dich.»

Wehmütig genoss er, wie die Umarmung seines Bruders kurz fester wurde, bevor sich dieser wieder von ihm löste und freudestrahlend entgegnete: «Danke, Chandra. Das bin ich auch.»

Chandra schaute seinen fröhlich grinsenden Bruder aus nassen Augen an. Er raufte sich ein letztes Mal zusammen und sagte: «Unsere Zieheltern wünschen dir alles Gute und gratulieren dir zu deinem Erfolg.»

Sein Bruder lachte schallend. «Du bist ein miserabler Lügner. Aber ich nehme den erfundenen Glückwunsch gerne an. Jetzt wirst du wohl ohne mich Mehlsäcke schleppen müssen.»

Chandra nickte nur. Am liebsten hätte er Andruin angebrüllt, er solle nicht gehen. Er dürfe ihn nicht allein zurücklassen in dieser unbarmherzigen, einsamen Welt. Doch um Andruins willen schluckte er seinen eigenen Schmerz hinunter, drückte seinen Bruder ein letztes Mal mit aller Kraft an sich und vergrub schluchzend sein Gesicht in Andruins Brust.

Andruin liess es kurz zu, drückte ihn aber bald wieder von sich weg und legte ihm freundschaftlich seine Hand auf die Schulter, als er erklärte: «Bald werde ich ein mächtiger Weissmagier sein. Ein Held! Ich werde in Izzara ein neues Leben antreten! Weit weg von dieser ... Bedeutungslosigkeit hier. Weg von der Armut. Weg von den verdreckten Strassen. Weg von dem faden Essen, den kalten Nächten und den verdammten Mehlsäcken. Weg von mir und meinem jetzigen Ich!» Er führte seinen Blick zum Weissmagier, der ihn rekrutiert hatte und nun etwas abseits von der Menschenmasse mit dem Stadtamman Asberans in ein Gespräch vertieft war. «Endlich habe ich erreicht, was mir zusteht. In ein paar Jahren werde ich an seiner Stelle stehen. Dann kann ich vielleicht auch dir ein neues Leben schenken.»

Chandras Kehle verkrampfte sich. Schmerzhaft schluckte er seine Tränen hinunter und wiederholte: «Ich bin stolz auf dich. Du wirst sicher ein unglaublicher Magier werden. Ich ...» ... bleibe hier. In der Bedeutungslosigkeit. «... werde dich in meinen Gedanken begleiten. Ich bin glücklich für dich.» Das war er wirklich.

Chandra zwang sich zu einem letzten, traurigen Lächeln.

«Alles Gute, grosser Bruder.»

«Alles Gute, kleiner Bruder.»

Chandra schaute der Akademiekutsche noch nach, als die letzten Sonnenstrahlen längst hinter den fernen Bergen versunken waren und die zurückgelassenen Radspuren im schwachen Licht des Mondes verblassten. Ratlos, wohin er sich wenden sollte, liess Chandra sich auf dem leeren Dorfplatz nieder.

War es wirklich nur Gutgläubigkeit gewesen, die ihn so bereitwillig an die versteckte Zuneigung seiner Ziehmutter hatte glauben lassen? Oder hatte er aus Verzweiflung heraus die fahle Illusion ihrer aufgesetzten Maske akzeptiert? Was auch immer es gewesen war: Er hätte lieber sein ganzes Leben mit dieser Lüge verbracht, als jetzt ihr wahres Gesicht entlarvt zu sehen ... Eine Schwäche, für welche er sich selber hasste.

Beim Müller hatte Chandra wenigstens von Anfang an gewusst, dass er Chandra für jede Faser seines Seins verachtete. Und wer konnte es ihm verübeln? Ohne seinen Bruder war Chandra unbrauchbar. Er war schwach. Klein. Wusste nichts. Konnte nichts. Besass nichts. Kein Zuhause, kein Essen, keine Freunde, keine Familie. Nicht einmal eine Zukunft hatte er mehr.

––––––––

Doch Chandra schlug sich durch. Täglich kämpfte er gegen Hunger, Kälte und Krankheiten. Was er nicht kaufen konnte von dem wenigen Geld, das er für Arbeiten erhielt, welche niemand ausser ihm verrichten wollte, musste er stehlen. Liess er sich einmal auf dem Marktplatz blicken, wurde jede seiner Bewegungen genauestens verfolgt und misstrauisch beäugt. Sollte er es wagen, sich jemandem zu nähern, wich dieser angstvoll zurück, musste er doch davon ausgehen, dass das Balg etliche ansteckende Krankheiten beherbergte, mit denen er sie alle infizieren und das ganze Dorf ausrotten wollte.

Chandra hatte sich noch nie so einsam gefühlt.

Zwei Jahre mussten vergehen, bis das Dorfweib ihn in ihre Dienste nahm. Die nächsten Monate verbrachte Chandra damit, im nahen Wald nach seltenen Kräutern zu suchen, stundenlang in einem stinkenden Gebräu zu rühren oder der alten Frau zu helfen, ihre Rezepte niederzuschreiben. Sein Körper war übersät mit Kratzern und Schürfwunden vom dichten Unterholz, das er mehrmals in der Woche zu durchkämmen hatte. Seine Augen juckten, seine Lungen brannten und seine Unterarme wiesen etliche Verbrühungen auf von den beissenden Dämpfen, die aus den offenkundig planlos zusammengepanschten Gemischen aufstiegen. Doch er genoss das unglaubliche Privileg regelmässiger Mahlzeiten und lernte zudem noch lesen und schreiben. Ein besseres Leben hätte er sich nicht vorstellen können.

––––––––

Chandra hatte die ersten zwei Jahre jedoch nie vergessen. Er hatte sie tief in sich aufgenommen als stete Erinnerung an eine Vergangenheit, in welche er nie wieder zurückfallen wollte. In welche er nie wieder zurückfallen durfte.

Er hatte stets die Versuchung verspürt, sich zu erlösen von seinem ermüdenden Überlebenskampf. Endlich aufzugeben und sein Leid zu beenden. Doch die schwache Hoffnung, es seinem Bruder gleichzutun und den Weg nach Izzara anzutreten, hatte ihm die Kraft verliehen, sich jeden Tag aufs Neue zum Leben zu zwingen. Wenigstens so lange, bis er zu alt war, ein Weissmagier zu werden.

So hatte er all die Zeit auf die ungewisse Rückkehr des Weissmagiers geharrt. Der Wettkampf war sein einziger Ausweg gewesen. Seine einzige Hoffnung, Asberan zu entrinnen und seinem Schicksal eine neue Bestimmung zu geben. Doch vor allem hatte er seinen Bruder vermisst. Er hatte sich schmerzlich danach gesehnt, endlich wieder einmal echte Zuneigung und menschliche Wärme zu spüren.

Chandra wusste, dass er nicht die Kraft besessen hätte, sich erneut gegen sein Schicksal aufzulehnen, wenn er gestern nicht gewonnen hätte.

Doch er hatte gewonnen. Er hatte sich gegenüber allen anderen behauptet und den Platz in dem schaukelnden Gefährt erobert, welches ihn zur Hauptstadt bringen sollte.

––––––––

Chandra brannte vor Neugier, etwas über seine neue Heimat zu erfahren. Izzara, die Stadt der Weissen Türme! Natürlich hatte auch Chandra als Kind fasziniert den Erzählungen über den prunkvollen Königspalast und die angrenzende Akademie gelauscht. Nun sass er tatsächlich neben jemandem, der ihm all die Schwärmereien bestätigen und aus erster Hand sagenhafte Legenden rund um die Weissmagier und den Regenten erzählen konnte! Da der Lehrmeister ihn aber informiert hatte, dass sie in einer anderen Ortschaft noch einen weiteren Studenten rekrutieren würden, wartete Chandra aus Rücksicht auf diesen baldigen Freund damit, den Weissmagier mit Fragen über die Hauptstadt zu löchern. Sie würden ihn später gemeinsam ausfragen. Gemeinsam ihr neues Leben beginnen!

So wurde an diesem ersten Tag nicht viel gesprochen. Der Lehrmeister schien tief in Gedanken versunken zu sein, während Chandra ganz zufrieden war, sich schweigend in seinem neu erworbenen Glück zu sonnen und sich seine Zukunft in all ihrem Glanz vorzustellen. Er war fasziniert von dem prächtigen Hengst, der sie in unermüdlichem Trott vorwärtszog, und liess sich gerne hypnotisieren von der Gleichmässigkeit der rhythmischen Bewegungen und der sichtbaren Kraft, die seinen Muskeln innewohnte.

Als es Abend wurde, machten sie auf einer Lichtung Halt. Chandra sprang sofort vom Kutschbock, um Feuerholz für die kühle Nacht zu sammeln – er hatte schliesslich Erfahrung darin, draussen zu übernachten. Er wollte sich unbedingt auch bei ihrem gutmütigen Zugpferd bedanken und pflückte deshalb einen ganzen Strauss wohlduftender Blumen. Als er jedoch zurückkam, war der anmutige Schimmel verschwunden. Schüchtern fragte Chandra, wo denn ihr Pferd sei, und zeigte dem Lehrmeister die mitgebrachten Leckerbissen.

Dieser lachte und nahm ihm die Blumen aus der Hand. «Danke, aber ich esse doch lieber ein gutes Stück Fleisch oder ein paar Beeren, falls Du solche findest», spottete er mit einem breiten Grinsen.

Chandra blickte ihn verdattert an und erklärte verunsichert: «Die Blumen waren ja auch für das Pferd gedacht und nicht ... Kann ich sie ihm bringen?»

«Du hast sie ihm bereits gebracht», entgegnete sein Meister mit einem freundlichen Lächeln. «Ich bin das Pferd. Oder genauer gesagt: Das Pferd ist ein Teil von mir.»

Chandra stockte kurz, bevor ihm ein ehrfürchtiges Raunen entwich. Er war Zeuge eines Seelenwesens geworden! Ein fleischgewordenes Seelenfragment seines Meisters, welches je nach Gemütszustand ihres Beherrschers in einer anderen Tiergestalt beschworen werden konnte. Diese wundersamen Geschöpfe symbolisierten mit ihrer bedingungslosen Treue und unvergleichlichen Tapferkeit die Macht und Edelmut aller Weissmagier!

Vor lauter Entzücken versäumte Chandra sogar, sich zu schämen, dass er seinem Mentor gerade Blumen zu essen gebracht hatte, und fing sogleich an, seinen Lehrmeister mit begeisterten Fragen zu bombardieren. Doch der Weissmagier verriet ihm nur, dass er sein Seelenwesen jeden Abend wieder zurückholen müsse, da dieses, wenn es zu lange beschworen blieb, nicht mehr mit ihm vereint werden könne. Chandra nickte verstehend, wusste aber nicht genau, was das bedeutete.

Am nächsten Morgen beobachtete er staunend, wie das anmutige Tier aus dem Weissmagier hervorbrach und sich sogleich vor den bereitstehenden Wagen stellte, um seinen Meister und dessen Begleiter zu ihrem nächsten Ziel zu bringen. Chandra kam es unwirklich vor, dass dieses höchst reale Tier nur ein Teil einer anderen Seele sein sollte. Er hatte Angst davor, das Seelenwesen seines Lehrmeisters nur schon zu berühren oder noch schlimmer: es aus Versehen zu zerstören. So wahrte er respektvollen Abstand, konnte seinen Blick aber kaum mehr von diesem zur Wirklichkeit gewordenen Wunder lösen. Er konnte es kaum fassen, dass er selber nun auch Teil dieser Wirklichkeit war. Bald würde auch er mächtige Seelenwesen erschaffen!

––––––––

Am vierten Tag erreichten sie Juwitha, eine kleine Stadt am Fusse des südlichen Flachgebirges. Der Lehrmeister steuerte den Wagen mitten auf den Marktplatz und erhob sich majestätisch vom Kutschbock, während sich um die zwei Neuankömmlinge eine aufgeregt schnatternde Menschenmenge bildete.

Der Lehrmeister hob gebieterisch seine Arme. Schlagartig verstummte die Meute und lauschte gebannt seinen Worten, als er mit kräftiger Stimme verkündete: «Seid herzlich gegrüsst, werte Bürger von Juwitha. Ich bin Akimenon, Lehrmeister für Schwertkampf an der Weissen Akademie in Izzara.»

Akimenon! Chandra schloss konzentriert die Augen und versuchte, sich den Namen in sein Gehirn einzubrennen. Dutzende Male wiederholte er ihn in seinem Kopf, bis er das Gefühl hatte, er könne nie wieder an etwas anderes denken. Als er die Augen wieder öffnete, sah er, dass der Lehrmeister – er korrigierte sich –, dass Akimenon bereits vom Wagen gestiegen war und zielstrebig auf den nervösen Stadtammann zuschritt, um diesen zu begrüssen. Jetzt hatte Chandra die Rede schon zum zweiten Mal verpasst! Er hätte sich am liebsten mit der Hand gegen die Stirn gehauen, hatte aber Angst, dass er sich dann gleich wieder den komplizierten Namen seines Mentors aus seinem Gedächtnis schlagen würde.

Unsicher, was er nun tun sollte, schaute er sich um. Um ihn herum hatten sich bereits alle Anwärter Juwithas versammelt, die sich erhofften, genauso wie Chandra die Reise nach Izzara antreten zu dürfen. Ehrfürchtig bestaunten sie den erfolgreichen Sieger des letzten Wettkampfes. Es traute sich jedoch niemand, ihm, einer Respektsperson, Fragen über seine bisherige Reise mit Akimenon zu stellen. So standen sie sich schweigend gegenüber und starrten einander an.

Chandra, der die ihm zuteilwerdende Aufmerksamkeit anfangs noch genossen hatte, wurde die anhaltende Stille bald unangenehm, sodass er sich überlegte, ob er einfach wieder zurück in den Wagen steigen sollte. Da schritt zu seiner grossen Erleichterung eine junge Frau, etwas älter und auch knapp grösser als er, selbstsicher auf ihn zu, nahm seine feuchte Hand in die ihre und schüttelte sie kräftig. «Hallo, ich bin Aleya. Ich werde euch ab morgen begleiten.»

Chandra glaubte es ihr ohne jegliche Zweifel. Aber vor allem war er ihr unendlich dankbar für die Rettung aus seiner unbehaglichen Situation und entgegnete mit einem schüchternen Lächeln: «Hallo, Aleya. Ich freue mich auf deine Gesellschaft.»

II

Aleya musste unwillkürlich lachen. Der Junge mit dem dunklen Haar und den aufmerksamen Augen schien ihre dreiste Ankündigung vorbehaltlos zu akzeptieren und sich, dem fröhlichen Leuchten ebendieser Augen nach zu urteilen, tatsächlich von ganzem Herzen auf ihre Gesellschaft zu freuen. Sie musterte den Wettkampfsieger, der einen halben Kopf kleiner war als sie. Aufgrund der Tatsache, dass er an die Weisse Akademie aufgenommen worden war, musste er mindestens das siebzehnte Lebensjahr erreicht haben und doch wirkte er durch sein scheues Auftreten und den schmächtigen Körperbau viel jünger. Der Pubertät schien er bisher erfolgreich entflohen zu sein. Doch wenn auch etwas unbeholfen und kindlich, so lagen in seinem Strahlen eine Herzlichkeit und Vertrauensbereitschaft, welchen Aleya nur mit einem ebenso breiten Lächeln begegnen konnte. Sie mochte ihn.

«Und verrätst du mir auch deinen Namen?»

Er antwortete hasplig: «Akime – nein, Chandra. Ja, Chandra ist mein Name. Und du?»

Aleya schmunzelte amüsiert und wiederholte gutmütig: «Aleya.» Sie wollte ihn nicht hochnehmen für seine offenkundige Nervosität. Natürlich hätte sie sich ihre Verunsicherung nie so stark anmerken lassen wie er, konnte aber gut verstehen, dass eine derartig öffentliche Zurschaustellung für eine schüchterne Persönlichkeit überwältigend sein musste. Chandra warf ihr einen dankbaren Blick zu, dass sie seine Peinlichkeit kommentarlos überspielt hatte.

Bestimmt zog sie ihn an der Hand, die sie immer noch umgriffen hielt, und schlug beschwingt vor: «Komm, ich zeig dir unser kleines Städtchen. Der Wettkampf ist ja erst morgen.»

Sie war von sich selber überrascht, wie sehr sie sich darauf freute, Chandra die alten, verwinkelten Strassen ihrer Heimat zu zeigen. Natürlich folgten ihnen sämtliche anderen Anwärter in kurzem Abstand auf ihrem Weg durch die schmalen Gassen und studierten aufmerksam jede Bewegung des Auserwählten. Sie alle hofften, das entscheidende Detail in Chandras Verhalten zu finden, welches dem abgemagerten Schwächling ermöglicht hatte, die Prüfung zu bestehen. So flüsterten sie sich hinter unnötigerweise vorgehaltener Hand gut hörbar alles zu, was sie am Neuankömmling beobachten konnten, und diskutierten ausführlich sein unsicheres Auftreten und seinen schmächtigen Körperbau. Sie gaben sich dabei nicht einmal sonderlich viel Mühe, ihre Stimmen zu dämpfen, sodass Chandra unweigerlich alles mithören musste, was über ihn gelästert wurde.

Aleya hob deshalb jedes noch so unbedeutende Detail der bemerkenswert unspektakulären Häuser so laut wie möglich hervor, um die tratschende Meute zu übertönen, und führte ihren Gast so schnell wie möglich in die Schmiede ihres Vaters, vor welcher die anderen gezwungenermassen zu warten hatten. Ihr Vater begrüsste ihren neuen Freund überschwänglich und brach ihm mit seinem festen Händedruck wahrscheinlich fast die Knochen. Nachdem er Chandra gebührend gratuliert hatte, half er den beiden übertrieben verschwörerisch, ungesehen durch die Hintertür zu entschwinden.

Kaum hatten sie die anderen abgehängt, entspannte sich Chandra sichtlich. Während sie sodann gemütlich durch die Gassen schlenderten, nutzte Aleya die Gelegenheit, den unscheinbaren Sieger etwas auszufragen: «Wie hast du dich eigentlich auf den Wettkampf vorbereitet?»

Chandra schien die Frage unangenehm. Beinahe entschuldigend antwortete er: «Ich habe mich gar nicht vorbereitet.»

Aleya spürte, dass er nicht darüber sprechen wollte und versuchte es deshalb anders: «Weshalb wolltest du den Weissmagiern beitreten?»

Chandra schaute sie prüfend an, anscheinend abwägend, ob er Aleya genug vertrauen konnte, um ihr seine Gefühle zu offenbaren. «Mein Bruder wurde aufgenommen», erklärte er ausweichend, zögerte ein wenig, öffnete den Mund, entschied sich aber doch wieder um und schloss seine Lippen wortlos. Traurig starrte er auf die Kiesel am Boden, die Gedanken in sich hineingekehrt, wo tief in ihm verborgen etwas schlummerte.

Aleya schwieg respektvoll.

Um die Stimmung etwas aufzuhellen, führte sie ihn aus den bedrückend engen Gassen hinaus zum Stadtrand. Sie zeigte auf einen nahen Hügel, auf dessen Kuppe drei erhabene Eichen hoch in die Luft ragten: «Von dort haben wir einen ausgezeichneten Ausblick auf den Markt und das ganze Städtchen. Willst du es sehen?»

Ihre Stimme schien Chandra wieder aus seinen ihn zerfressenden Gedanken zu wecken.

«Gerne», antwortete Chandra mit einem scheuen Lächeln.

Aleya ging vor und bahnte sich ihren Weg durch eine dichte Wiese auf die Anhöhe zu. Spielerisch liess sie ihre Finger um die hohen Gräser tanzen, die sanft im Wind schaukelten. Sie genoss die leichte Berührung an ihren Händen; das Gefühl, durch einen See aus Pflanzenhalmen zu waten und dabei verträumt über die wehende Oberfläche zu streicheln. Sie konnte die Fruchtbarkeit der Natur anfassen, spürte die Kraft dieser stummen Wesen, die sich unermüdlich versamten und sich gen Himmel kämpften, nur um sogleich wieder von weidenden Schafen dem Boden gleichgemacht zu werden. Wozu diese unbelohnte Bemühung? Für sich selber? Für die Schafe? Für etwas, das Aleya verborgen blieb? Hatten sie überhaupt einen Grund? Brauchten sie einen Grund? Wussten sie selber diesen Grund? Brauchten sie ihn zu wissen? Bedeutete es sogar Freiheit, ihn nicht zu wissen?

Ein nicht endender Gedankenstrang.

Aleya blickte zu Chandra hinüber, welcher sie nachgeahmt hatte und ebenfalls friedlich verträumt in das sanft wogende Meer aus Gras eingetaucht war. «Denkst du, Pflanzen sind Lebewesen?», rief sie ihm zu.

Chandra schrak bei dem Klang ihrer Stimme zusammen. Offensichtlich hatte er ihre Anwesenheit komplett vergessen. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen drehte er sich zu ihr um, erwog für einen kurzen Augenblick ihre absurde Idee und antwortete dann mit einem unbeschwerten Schulterzucken: «Wieso nicht? Wenn sie es sind, können wir sie ja fragen.»

Aleya war sich nicht sicher, ob Chandra sich über sie lustig machte. Doch schon im nächsten Moment nahm er tatsächlich eine Knospe in seine Hand und flüsterte ihr in besänftigendem Tonfall zu: «Hallo, liebes Pflanzenkind. Wie ist das Leben als Gras so?»

Erwartungsvoll schaute er auf den schweigenden Samen und lächelte ihn aufmunternd an. Aleya, fasziniert von Chandras unbefangener Begeisterung, trat näher und horchte gemeinsam mit ihm auf eine Antwort. Eine Weile passierte absolut gar nichts, dann liess Chandra den schweigsamen Pflanzenkeim plötzlich fallen und wandte sich wieder gelassen Aleya zu: «Naja, wohl doch nicht. Aber lass uns zur Sicherheit noch die Eichen fragen.»

«Und was willst du von ihnen wissen?»

«Ob sie auch wegen der tollen Aussicht auf den Hügel gekommen sind.»

Aleya musste lachen. Chandra besass eine unglaublich erfrischende Sicht auf seine Umwelt. Was sie zuerst als unreife Kindlichkeit abgetan hatte, war weit mehr als das: Es war die wunderbare Fähigkeit, sich seine unbescholtene Neugierde erhalten zu haben und Freude an den einfachsten Dingen des Lebens zu erleben. Trotzdem wurde sie das bedrückende Gefühl nicht los, dass es sich in Chandras Fall nicht bloss um das Aufbäumen gegen die abgestumpfte Langeweile geistiger Reife handelte. Vielmehr, so fürchtete sie, war es die verzweifelte Flucht vor einer Trauer, die in seinem Innersten lauerte und ihn jederzeit zu übermannen drohte. Seine Heiterkeit als ein fortwährender Kampf um seinen Lebenswillen.

Nachdenklich beobachtete Aleya, wie Chandra vergnügt durch das dichte Gras auf den Hügel zurannte. Sie wunderte sich, was diesen fröhlichen Jungen so tief verletzt haben konnte. Hasste, wer auch immer dafür verantwortlich war. Aber sie konnte seine Vergangenheit nicht ändern. Tatsächlich wäre es gar selbstsüchtig von ihr, sie ändern zu wollen. Auf seine Trübsal zu bestehen und ihn an vergangene Erlebnisse zu erinnern, um ihr eigenes Mitleid zu stillen. Wenn sie ihm wirklich helfen wollte, musste sie gemeinsam mit ihm diesen wundervollen Moment des Jetzt geniessen und ihn so lange wie möglich währen lassen. Um Chandras willen wischte sie ihre Sorgen aus dem Kopf, liess sich abermals anstecken von seiner Ausgelassenheit und setzte ihm lachend nach.

Als sie keuchend und schwitzend auf der Anhöhe ankamen, setzten sie sich in den Schatten der erhabenen Bäume und betrachteten von Weitem das geschäftige Treiben auf dem Marktplatz, auf welchem die Bauern und Händler lautstark ihre überteuerten Waren anboten, die Käufer theatralisch um jeden noch so geringen Preiserlass feilschten und streunende Hunde mit scharfem Gekläffe um heruntergefallene Leckerbissen kämpften. Chandra und Aleya nahmen das Gezeter der Fuhrleute und das Gebrüll ihrer Zugtiere jedoch als kaum mehr als eine ferne Hektik wahr. So lauschten sie in friedlicher Idylle dem kühlen Rascheln der mächtigen Baumkronen und beobachteten zufrieden, wie sich einzelne Blätter mit freudigem Knacken lösten, um die sanften Wogen des Windes in freudigem Tanz zu begleiten.

Chandra wandte sich plötzlich zu ihr um: «Weshalb willst du den Weissmagiern beitreten?»

Anscheinend wollte er ihr zeigen, dass es vorhin trotz seiner knappen Antwort in Ordnung gewesen war von ihr, dies zu fragen. Sie lehnte sich zurück und antwortete mit einem sehnsüchtigen Funkeln in den Augen: «Ich träume davon, seit ich denken kann. Mein Vater hat mir am Abend immer wunderschöne Geschichten erzählt von den wilden Abenteuern des Weissmagiers Gerdan. Sie waren alle erfunden, genauso wie Gerdan selber. Doch ich liebte es, mir vorzustellen, was alles möglich wäre, wenn man diese mächtige Magie beherrschte. Wie viel man in dieser Welt verändern könnte! Manchmal hat mein Vater aus der Schmiede zwei alte Schwerter mitgebracht, mit welchen er den Kampf gegen die niederträchtigen Schwarzmagier nachspielte und dabei aus voller Kehle erfundene Zaubersprüche schrie, während er im ganzen Haus herumsprang und die feindlichen Horden abwehrte, die es gewagt hatten, unser Wohnzimmer einzunehmen. So wurde auch meine Faszination für die Weissmagie geweckt. Mit vier Jahren habe ich dann endlich mein erstes Holzschwert erhalten und er hat begonnen, mir die Grundlagen des Schwertkampfes beizubringen. Er hat mir sogar zwei den Sigkanas der Weissmagier ähnliche Schwerter geschmiedet. Wir konnten diese aber leider nicht zusammenfügen zu einem Doppelschwert, wie es die Weissmagier können. Deshalb freue ich mich ungemein auf unsere eigenen Sigkanas! Ich habe vor, die beste und schnellste Schwertkämpferin zu werden, die die Weisse Akademie je gesehen hat! Ich will flinker werden als der Kommandant der Weissen Garde!»

«Ich denke, das wirst du», bestärkte Chandra sie bestimmt.

Aleya bewunderte seinen Optimismus und sein vorbehaltloses Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Sein zuversichtlicher Blick, mit dem er ihr direkt in die Augen schaute, verriet ihr, dass er es nicht einfach so dahingesagt hatte. Nein, er glaubte tatsächlich an sie. Und es störte ihn anscheinend nicht einmal, dass sie somit auch besser sein wollte als er. Er schien der seltene Typ Mensch zu sein, der sich aufrichtig am Wohle anderer freuen konnte. Selbst wenn das hiess, dass er ihr unterliegen musste. Aleya nahm sein Lob dankend an. Chandra erwiderte ihren Blick, als hätte er bloss das Offensichtliche ausgesprochen, bevor er wieder verträumt das mit anbrechender Abenddämmerung ruhiger werdende Treiben unter ihnen betrachtete.

«Wann wirst du von Akimenon wieder zurückerwartet?»

Chandra zog ein ratloses Gesicht. Er hatte wohl nicht daran gedacht, dass er überhaupt vermisst werden könnte. «Denkst du etwa über meine Entführung nach?», erkundigte er sich bei ihr.

Aleya musste schmunzeln. «Würdest du dich denn wehren?»

«Ich würde bis zu meinem Tod kämpfen», antwortete er mit einer plötzlichen Kompromisslosigkeit, welche deutlich hervorbrachte, wie er den Wettkampf hatte gewinnen können. Er wechselte jedoch sogleich wieder zurück in einen leichteren Tonfall und ergänzte fröhlich: «Zum Glück haben wir aber bereits beschlossen, dass du morgen gewinnen wirst. Somit können wir unser Duell vorerst mal als Notlösung im Hinterkopf behalten.»

Aleya neigte in aufrichtigem Respekt ihr Haupt vor Chandra. «Ich würde es nicht wagen, gegen dich anzutreten.» – ein überraschtes Lächeln huschte über Chandras Gesicht – «Aber auch ich bin bereit, am morgigen Wettkampf alles dafür zu tun, vor den Toren des Weissen Palastes zu stehen», ergänzte Aleya bestimmt.

––––––––

Es war bereits dunkel geworden, als sie schwatzend und lachend zum Wagen des Lehrmeisters zurückkamen. Doch Akimenon war nirgendwo zu sehen. Auf dem beinahe verlassenen Marktplatz packten die letzten Bauern ihre Waren zusammen, warfen den bettelnden Hunden ein paar übriggebliebene Fetzen Fleisch zu und kehrten zurück in ihr trautes Heim. Aleya fragte Chandra, der ratlos um sich blickte, ob er heute Abend mit ihrer Familie essen wolle. Erleichtert über diesen Vorschlag schloss er sich ihr an.

Aleyas Eltern schienen nicht übermässig überrascht von dem spontanen Besuch. Ihre Mutter hatte bereits erfahren, dass Aleya sich mit dem Auserwählten angefreundet hatte. Trotzdem warf sie ihrer Tochter einen tadelnden Blick für die mangelnde Vorwarnung zu. Aleya wusste genau, wie peinlich es ihrer Mutter war, dem hohen Gast nur einen gewöhnlichen Suppeneintopf auftischen zu können. Doch Chandra versicherte ihr, dies sei der beste Eintopf, den er je gekostet hätte. Tatsächlich hätte er in seinem Leben noch nie so gut gespiesen. Aleya meinte, wieder einen leicht bedrückten Unterton herauszuhören. Chandra erzählte, sie hätten auf der Reise zwar immer genug zu essen, aber weder er noch der Lehrmeister seien besonders begabte Köche.

Aleya musste zugeben: «Da kann ich leider auch nicht aushelfen, ich werde aber ein paar kleine Sandsäckchen mitnehmen und kann euch wenigstens mit meinen Jonglierkünsten vom schlechten Essen ablenken.»

Chandra klatschte begeistert in die Hände und fragte interessiert nach: «Du jonglierst? Wie lange schon?»

Aleya erklärte stolz: «Seit mehreren Jahren. Es hilft für den Schwertkampf, sich auf mehrere Sachen gleichzeitig konzentrieren und die Hände unabhängig voneinander bewegen zu müssen.»

Ihr Vater erklärte mit unverhohlenem Stolz: «Sie denkt an fast nichts anderes mehr als an die Akademie und trainiert seit Jahren für dieses Ziel.» Mit einem liebevollen Blick auf seine Tochter ergänzte er: «Unsere kleine Alleskönnerin wird morgen bestimmt gewinnen.»

Aleya spürte, wie sie rot anlief vor Scham. Sie wechselte schnell das Thema: «Vater, erzähl Chandra doch eine von Gerdans Geschichten!»

Den Rest des Abends verbrachten sie in fröhlichem Beisammensein und hörten sich die sagenhaften Heldengeschichten des legendären Weissmagiers Gerdan an, wie er sich unbemerkt unter die Schwarzmagier schlich, eigenhändig ihr gesamtes Versteck säuberte und sich durch Horden ihrer Chimären wieder nach Izzara zurückkämpfte. Schliesslich erhob sich Chandra mit unterdrücktem Gähnen und entschuldigte sich, er müsse doch bald einmal zurück und nach dem Wagen sehen. Er wünschte ihnen allen eine gute Nacht und versprach Aleya, er werde sie am nächsten Tag anfeuern, bevor er ins Dunkel der Nacht davonschritt.

Aleya unterhielt sich noch eine Weile mit ihren Eltern über den herzlichen Jungen, der so gar nicht dem Bild eines Wettkampfsiegers entsprach, bis auch sie sich in ihr Zimmer begab und sich in ihre warme Wolldecke einwickelte. Sie war jedoch viel zu aufgeregt, um auch nur an Schlaf denken zu können. Würde sie wirklich gewinnen? War sie tatsächlich auserwählt, eine Weissmagierin zu werden? Sicher, sie bereitete sich schon ihr ganzes Leben darauf vor: ging jeden Tag laufen, machte Kraftübungen, trainierte den Schwertkampf. Doch war das genug? War es das, was einen Weissmagier ausmachte? Böse Zungen behaupteten stets, es komme nicht darauf an, wie sehr man sich vorbereite, entweder man habe die Gabe in sich oder nicht.

Aber daran wollte Aleya nicht glauben. Sie wollte ihr Leben selber formen. Ihre Erfolge sollten eine Konsequenz ihres Trainings sein, nicht einer unverdienten Vorbestimmung. Genauso ihre Misserfolge. Denn nur wenn sie selber verantwortlich war für ihr Glück, setzte sie alles daran, gut zu sein. Nur wenn sie sich selber die Schuld gab für ihr Pech, hatte sie überhaupt die Möglichkeit, sich zu verbessern. Sie besass die absolute Kontrolle über sich und ihr Schicksal. Eine Überzeugung, die ihr unglaubliche Kraft verlieh.

Sollte sich je herausstellen, dass nicht jeder Erfolg mit genügend Training zu erzwingen war, dann bitte nicht morgen. Sie hoffte inständig, sie hatte sich heute nicht übernommen, als sie sich vor versammelter Menge als die neue Gefährtin von Chandra und Akimenon vorgestellt hatte. Doch das war leider Teil ihres Spiels mit sich selber. Sie nutzte jede Gelegenheit, um sich unter Druck zu setzen. Denn genau dieser Druck zwang sie, ihren eigenen Erwartungen gerecht zu werden. Je mehr Druck sie verspürte, desto mehr Leistung konnte sie erbringen. Sie hatte ihn noch immer aushalten können. Sie wünschte sich nur, sie könnte selber genauso fest an ihren Erfolg glauben wie Chandra.

Die Akademie war in den letzten Jahren zu ihrem einzigen Sinn des Lebens geworden. Hatte sie sich damit zu sehr festgefahren auf diese eine Idee? Was würde mit ihr geschehen, wenn sie nicht siegte? Sie besass keine Alternativen. Hatte sich nie welche überlegt. Sie hatte ihre Zukunft immer klar vor sich gesehen: Sie würde an die Akademie aufgenommen, die Beste ihres Jahrgangs werden und der Weissen Garde beitreten – im besten Fall als Anführerin der Garde. Sie mochte sich die Schande nicht vorstellen, wenn sie morgen die Aufnahmeprüfung nicht bestehen würde. Die anderen würden sie noch jahrelang auslachen und bestrafen dafür, dass sie sich eingebildet hatte, zu etwas Höherem bestimmt zu sein. Doch am tiefsten würde es sie treffen, ihre Eltern enttäuscht zu haben. Sich selber enttäuscht zu haben.

Was hatte Akimenon in seiner Rede gesagt? «... ein Wettkampf, der nicht nur die Kraft, sondern auch einen unzerbrechlichen Willen und ein eisernes Durchhaltevermögen fordert. Es haben alle die gleichen Voraussetzungen, denn der entscheidende Faktor ist nicht die Konstitution der Anwärter, sondern der Wunsch und die Bereitschaft, sein Leben der Weissen Magie und dem Wohle des Volkes zu widmen, um so den Frieden und die Fruchtbarkeit unseres Landes zu wahren. Denn das ist das ehrenwerte Ziel jedes Weissmagiers. Ich wünsche euch allen für morgen viel Erfolg! Möge diejenige oder derjenige mit dem reinsten Herzen und der grössten Entschlossenheit obsiegen!»

Aleya ballte ihre Hand zur Faust. Fühlte die Entschlossenheit, die sie von dieser kleinen Geste durchströmte. Sie würde diejenige sein. Akimenon hatte es bestätigt: Alle hatten die gleichen Chancen, es kam nur auf das Training und die Willensstärke an. Und in beiden Bereichen war sie ihren Mitstreitern weit überlegen. Sie würde gewinnen. Eine Alternative musste es nicht geben.

III

Der Anblick des einsamen Wagens auf dem verlassenen Marktplatz war schlichtweg atemberaubend. Die silbernen Strahlen des Mondes, die hell leuchtend durch die schwarze Wolkendecke brachen, wurden knapp über dem Boden aufgenommen von feinen Nebelschwaden, die sanft über den kühlen Sand glitten. Die Schatten, die aus dieser zärtlichen Vereinigung hervorgingen, wanderten über die Erde, umstreichelten die umliegenden Häuser und erweckten die gesamte Umgebung zu gespenstischem Leben. Der Planwagen selber bildete das Zentrum dieses nächtlichen Liebestanzes. Der weisse Stoff, der sich über das Holzgerüst spannte, fing die mystische Schönheit des Mondscheins in sich ein und liess das bescheidene Gefährt zu einem prächtigen Monument erstrahlen, das stolz aus dem Nebel ragte.

Als er nähertrat, konnte Chandra eine dunkle Silhouette am Boden vor dem Wagen ausmachen. Sie schien zu atmen. Neugierig betrachtete er ihren nächtlichen Gast. Doch als er nur noch wenige Schritte von dem schlummernden Wesen entfernt stand, stellte sich das Geschöpf plötzlich auf vier Beinen auf und knurrte ihn drohend an. Seine böse funkelnden Augen waren zu dünnen Schlitzen verengt. Chandra wich unwillkürlich einen zitternden Schritt zurück. Von einem Moment auf den nächsten erschien ihm der Nebel nicht mehr idyllisch und zauberhaft, sondern drohend und voller Gefahren, die sich lauernd darin verbargen.

Hunde hatten ihm noch nie Angst eingejagt. Sie waren schliesslich lange Zeit die einzigen Geschöpfe gewesen, die seine Anwesenheit nicht gemieden hatten. Doch dieses Exemplar war anders. Sicher, es war grösser als die Hunde, die er kannte – das Biest reichte ihm bis zur Brust – doch das allein war nicht der Grund, weshalb Chandra um sein Leben fürchtete. Chandra kannte die Haltung eines Tieres, welches sich bedroht fühlte und nervös auf den Angriff von ihm, der unbekannten Bedrohung, wartete. Doch das war sie nicht. Das hier war die Haltung eines blutdürstenden Jägers, vor dessen geifernder Schnauze gerade eine ahnungslose Beute erschienen war. Mit bebenden Nasenflügeln sog das Raubtier Chandras Angstgeruch ein, den dieser verzweifelt zu vertuschen suchte. Er hatte Witterung aufgenommen.

Das Knurren wurde lauter. Der riesige Hund stellte drohend die Haare auf seinen bulligen Schultern auf, hob seinen Kopf hoch in die kalte Luft und heulte. Chandra erschauderte bis ins Knochenmark. Endlich dämmerte es ihm, dass dies kein Hund war. Er sah sich einem Wolf gegenüber! Und nicht nur irgendeinem Wolf, sondern einem ausgewachsenen Bergwolf, dem grössten, stärksten und vor allem aggressivsten seiner Gattung. Was hatte solch eine gewalttätige Bestie hier zu suchen? Hatte er seine kargen Jagdgründe ausgezehrt und räumte nun durch die nahrungsreicheren Wälder Juwithas auf der Suche nach neuer Beute? Der Wolf wirkte aber weder ausgezehrt, noch schien er darauf aus zu sein, Chandra zu verspeisen. Dafür fehlte der Hunger in seinem boshaften Blick. Nein, der Wolf schien sich schlichtweg danach zu sehnen, ein anderes Wesen zu töten und zuzusehen, wie es schreiend zugrunde ging.

Chandra versuchte, seine bebenden Glieder zu beruhigen. Er hatte schon oft Hunde abgewimmelt. Er wusste, welche Bewegungen sie zum Angriff provozierten und wie er sie dazu bringen konnte, ihn in Ruhe zu lassen. Das hier war nichts anderes als eine leicht wütendere Version der kläffenden Dorfköter von Asberan. Chandra grub seine Füsse in den dunklen Sand, richtete sich mit leicht abgespreizten Armen auf und blickte dem Bergwolf auffordernd in dessen gierige Augen. Er durfte auf keinen Fall zurückweichen, wollte aber den Wolf mit einem Schritt nach vorne auch nicht zum Kampf herausfordern.

Was konnte er also tun? Er wusste nicht, wie er reagieren sollte, wenn der riesige Wolf auf ihn lossprang. Zur Seite hechten? Er würde so sicher ausweichen können, lag dann jedoch am Boden und würde einem zweiten Angriff nicht mehr ausweichen können. Sich auf den Boden fallen lassen und dem Wolf von unten einen Tritt versetzen? Besser, aber er konnte ihn auf diese Weise viel zu wenig verletzen, als dass es ihm einen Vorteil verschaffte. Aufzuspringen machte sowieso keinen Sinn, er hatte keine Chance, höher als – es wurde totenstill. Chandra spürte, wie heisse Wellen von Adrenalin durch seinen Körper schossen, als der Bergwolf zu knurren aufhörte.

Bevor sich Chandras Muskeln in schmerzhafter Starre verkrampften, dröhnte er mit möglichst tiefer Stimme: «Du jagst mir keine Angst ein! Du bist nur ein zu gross geratener Hund. Ich bin dir weit überlegen.»

Seinen Worten folgte eine zähe Stille. Reglos standen sie sich gegenüber und starrten sich durch die fahle Dunkelheit an. Auf der einen Seite das kräftige Raubtier, die Muskeln gespannt und bereit, jederzeit zuzuschlagen; auf der anderen Seite der schmächtige Jüngling, bereit für was auch immer ihm noch einfallen möge.

Chandra wagte einen zweiten Versuch und befahl dem Biest in ruhigem, aber bestimmtem Tonfall: «Das ist mein Wagen. Geh mir sofort aus dem –» Der Wolf sprang! Sein weit aufgerissener Mund, besetzt mit messerscharfen Zähnen, raste direkt auf Chandras Kehle zu. Instinktiv schnellte Chandra zur Seite, griff mit seinen Händen in das vorbeirasende Fell, nutzte die Masse seines schwereren Gegners und schleuderte das Vieh mit dessen eigenem Schwung zu Boden. Der Wolf fing sich noch in der Luft auf und landete mit wilder Eleganz auf allen Vieren.

Chandra bereute seine Gegenwehr sofort, als er das wütende Blitzen in den Augen des Raubtieres sah. Chandra hatte ihn herausgefordert. Er war weder weggerannt, noch hatte er geschrien oder um Hilfe gerufen. Er hatte gekämpft. Jetzt wollte sein Widersacher wissen, ob er tatsächlich gegen ihn, einen weit überlegenen Gegner, bestehen konnte.

Chandra machte sich bereit für den nächsten Angriff. Er wusste, dass er nicht gewinnen konnte. Doch genauso wenig war er bereit, sich seinem Schicksal zu ergeben. Er war so nahe daran, endlich ein neues Leben zu beginnen, und jetzt stellte sich ihm dieser verdammte Wolf in den Weg!

Eine unbändige Wut stieg in Chandra auf.

Wie konnte dieser elende Köter es wagen, ihm seinen Traum zu stehlen! Er war Weissmagier. Hatte seine erste Freundschaft gewonnen. Würde in wenigen Wochen Andruin wiedersehen. Für diesen Augenblick hatte er drei lange Jahre in Elend und Armut ertragen. Hatte die Aufnahmeprüfung unter dem Spott und Hohn der gesamten Dorfjugend bestanden. Er würde sich sein Leben nicht von diesem Flohhaufen wegnehmen lassen! Nicht nach allem, was er dafür durchgestanden hatte. Blindwütig stürmte er auf den Bergwolf zu, während er seinen Zorn in die schweigende Nacht hinausschrie.

Freudig ging auch der Bergwolf zum Angriff über. Brüllend und knurrend prallten sie zusammen – Chandra wurde wuchtig zu Boden geschleudert und prallte keuchend auf den harten Sand. Der unversehrte Bergwolf thronte drohend auf seiner Brust, neigte sein Haupt hinunter bis dicht vor Chandras Gesicht und schnupperte gierig an seiner zu Fall gebrachten Beute. Chandra konnte seinen warmen, fauligen Atem spüren. Der verzweifelte Versuch, sich aufzurichten, scheiterte kläglich. Der Wolf presste ihn mit seinem ganzen Gewicht auf die Erde. Langsam öffnete er sein geiferndes Maul.

Ein scharfes Pfeifen durchschnitt die Luft. Chandra sah mit Erleichterung, wie Akimenon aus dem Wagen stieg. Der Lehrmeister schien weder übermässig besorgt noch erstaunt, seinen Studenten unter einem ausgewachsenen Bergwolf vorzufinden. Der Wolf liess sofort von Chandra ab, drehte sich um und schoss auf Akimenon zu. Chandra richtete sich hastig auf, um seinem Meister zu Hilfe zu eilen, und setzte dem Wolf nach. Dieser hatte sein nächstes Opfer jedoch bereits erreicht. Er nahm einen grossen Satz und landete neben Akimenon, wo er sich folgsam hinsetzte. Perplex hielt Chandra inne und blickte das ungleiche Paar an, das sich ihm präsentierte: der wilde Bergwolf, der reglos auf dem Boden sass, seinen Blick unverwandt auf Chandra fixiert; daneben Akimenon, der verschlafen gähnte, während er ruhig seine Hand auf den Kopf des Wolfes legte und diesen gedankenverloren streichelte.

Sein Lehrmeister erklärte trocken: «Chandra, der Bergwolf ist ein Geschenk des Stadtammanns. Er untersteht meinem Befehl und wird uns als unser neuer Gefährte auf der Reise nach Izzara beschützen. Versucht miteinander auszukommen, Ihr werdet die nächsten Wochen miteinander verbringen.»

Chandra hätte nicht überraschter sein können. Er öffnete seinen Mund, als wollte er widersprechen – was er ja sowieso nicht gewagt hätte –, aber Akimenon hatte sich bereits wieder abgewandt und verschwand im Wagen, um seinen gestörten Schlaf wieder aufzunehmen.