Die Seele eines Spukhauses - Helena Gäßler - E-Book

Die Seele eines Spukhauses E-Book

Helena Gäßler

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Beschreibung

Der Schlüssel zu einem Spukhaus ist zu begreifen, dass es eine Seele besitzt. Und lange genug zu überleben, um sie zu heilen. In einer Welt voller Luftschiffe und Dampfmaschinen wirken Geister wie ein lästiges Überbleibsel der Vergangenheit. Als Exorzistin liegt es an Magnolia Feyler, Gebäude von ihrem Spuk zu befreien. Sie versteht die Häuser wie keine andere, erkundet ihre Geschichte und heilt ihre Wunden. Doch alles ändert sich, als sie den größten Auftrag ihrer Karriere annimmt: Shaw Manor, ein Schloss, in dem es seit Jahrzehnten spukt. Magnolia steigt tief hinab in die verwinkelten Gemäuer und die Vergangenheit des Anwesens. Hinab in ein Netz aus Familiengeheimnissen, vergessenem Leid und Maschinen, die ein bedrohliches Eigenleben entwickelt haben. Wird sie den Spuk lüften oder am Ende selbst von den Mauern verschlungen werden?

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Die Seele eines Spukhauses

Helena Gäßler

Copyright © 2021 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

https://www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Nina Bellem

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout: Stephan Bellem

Umschlagdesign: Marie Graßhoff

Bildmaterial: Shutterstock

978-3-95991-774-2

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Triggerwarnung

Grundregeln des Exorzismus

Klassifikation Manifestationen

Prolog

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Epilog

Danksagung

Drachenpost

Triggerwarnung

In dieser Geschichte werden ernste Themen und traumatische Ereignisse aufgegriffen.

Das Buch wird ab 16 Jahren empfohlen.

Folgende Inhalte können belastend sein:

Ausführlich beschrieben: Tod, Leichen, Verletzungen, Gewalt, Panik

Aufgegriffen: sexueller, emotionaler und körperlicher Kindesmissbrauch, Tierquälerei, Suizid, selbstverletzendes Verhalten, Verbrennen, Drogenvergiftung, Halluzinationen, Mobbing

Grundregeln des Exorzismus

1. Der Spuk ist manipulativ. Wende niemals Gewalt gegen dich, deine Kollegen oder Zivilisten an, außer eine eingehende Prüfung hat keinen anderen Ausweg ergeben.

2. Angst ist der größte Risikofaktor beim Bekämpfen des Spukes. Solltest du nach Erreichen einer Basis oder einer anderweitig sicheren Situation länger als einige Minuten Symptome von Angst verspüren, ist der Auftrag sofort abzubrechen und an ein anderes Gildenmitglied zu übergeben.

3. Das Logbuch dient als Anker deines Verstandes und zur Dokumentation der Geisteraustreibung. Verfasse Einträge nur in Ruhe und im Zustand geistiger Klarheit. Notiere sämtliche deiner Beobachtungen und stufe Manifestationen dabei nach dem offiziellen Klassifikationssystem ein.

Klassifikation Manifestationen

Illusionen

Stufe 0 ‒ Nichtvisuelle Illusion

(z.B. Geruch, Geräusch, usw.)

Stufe 1 ‒ Unklare visuelle Illusion

(z.B. Schemen, flackerndes Bild)

Stufe 2 ‒ Klare visuelle Illusion

(z.B. Gegenstand, Person, Tier)

Stufe 3 ‒ Überlagerte Illusionen

(z.B. tickende Standuhr, sprechende Person)

Stufe 4 ‒ Komplexe Illusion

(lebensechte Darstellung, Szene)

Bewegter Gegenstand

Stufe 0 ‒ Windnachahmung

(z.B. flackernde Kerzen, bewegte Vorhänge, fallendes Papier)

Stufe 1 ‒ Natürlich möglich

(z.B. zuschlagende Türen, umfallende Gegenstände,

Defekt einer Dampfmaschine)

Stufe 2 ‒ Einfache Bewegung

(z.B. drehende Schlüssel, blätternde Bücher)

Stufe 3 ‒ Schwebende Gegenstände

Stufe 4 ‒ Komplexe Bewegungen

(z.B. Kochen einer Suppe, Schreiben eines Briefes)

Fremdgesteuerte Lebewesen

Stufe 0 ‒ Niederes Lebewesen

(z.B. Insekten, Würmer, Spinnen)

Stufe 1 ‒ Kleintier

(z.B. Frosch, Kaninchen, Fledermaus)

Stufe 2 ‒ Intelligentes Kleintier

(z.B. Ratte, Rabe, Katze)

Stufe 3 ‒ Bedrohliches/großes Tier

(z.B. Hund, Eber, Pferd)

Stufe 4 ‒ Mensch

Anmerkung: Mehrere gleichzeitig gesteuerte Lebewesen

erhöhen die Stufe entsprechend (ein Insektenschwarm wäre beispielsweise eine Manifestation der Stufe 1)

Echte Manifestation

Stufe 0 ‒ Illusion mit minimaler Haptik

(z.B. Kribbeln bei Berührung)

Stufe 1 ‒ Besessener Gegenstand

(z.B. Spiegel, Puppe)

Stufe 2 ‒ Besessene Person

(z.B. Kind)

Stufe 3 ‒ Eigenständige Manifestation, gebunden

(an Gegenstand/Ort/Zeit)

Stufe 4 ‒ Eigenständige Manifestation, frei

(Geist, der wie Person agiert)

Prolog

Brixton

11. Oktober 1862

Schon den ganzen Tag über prasselte Regen von einem grauen Himmel hinunter auf die schmutzigen Straßen der Kleinstadt. Gaslampen tauchten das Büro in flackerndes Licht, während die Tropfen gegen das Fenster hinter dem Schreibtisch trommelten. Zwischen den Papieren stand eine halb volle Tasse Tee, die längst aufgehört hatte zu dampfen. Ein typischer Herbsttag, wäre da nicht die Sache mit den Geistern gewesen.

Mit einem Seufzen legte Mr Miller die Mahnung zurück auf ihren Stapel und warf einen Blick auf seine Taschenuhr. Viertel nach zwei, die Fähre sollte bald ankommen. Ein Stups mit dem Daumen und der Deckel der Uhr schnappte wieder zu. Gedankenverloren fuhr Mr Miller mit der Fingerkuppe über die eingravierten Initialen, bevor er das Schmuckstück in seine Westentasche gleiten ließ. Er konnte nur hoffen, dass Miss Feyler so gut war, wie man ihm versichert hatte. Den letzten Exorzisten, den sie mit der Angelegenheit betraut hatten, hatten sie vermisst melden müssen.

Er nahm seinen Mantel von der Lehne und streifte ihn ihm Gehen über. Die Rechnungen hatten bis morgen Zeit. Als er die Tür aufstieß, schlug er sie beinahe seiner Sekretärin ins Gesicht. Eigentlich sollte diese am Empfang sitzen, stattdessen lauerte sie auf der Schwelle und bedachte ihn mit dem üblichen vorwurfsvollen Blick. »Herr Bürgermeister, Sie kommen zu spät! Sie können doch eine Dame nicht warten lassen. Der Wagen ist bereits vorgefahren.«

»Vielen Dank, Susan«, murmelte Mr Miller und ließ sich einen Regenschirm in die Hand drücken. Mit großen Schritten ging er die Wendeltreppe hinunter, immer zwei Stufen zugleich nehmend. Im Foyer kamen ihm Männer entgegen, missmutige Anzugträger, deren Namen er sich einfach nicht merken konnte. Um eine Unterhaltung zu vermeiden, tippte er sich gegen die Hutkrempe und nuschelte irgendetwas von miesem Wetter.

Der Wagen stand am Straßenrand neben einer Pfütze. Mr Miller war froh, sich für ein Modell mit geschlossener Kabine entschieden zu haben. Im Inneren des Automobils war es nur feucht, nicht tropfnass wie überall sonst. Er ließ sich auf die Rückbank sinken. »Zum Lufthafen bitte.«

Durch die Regenschlieren auf der Scheibe hindurch beobachtete Mr Miller, wie Brixton an ihnen vorbeizog. Die Fassaden aus rotem Backstein glichen einander wie ein Ei dem anderen. Weißer Rauch kam aus den Schornsteinen der Wohnhäuser und vermischte sich mit den schwarzen Wolken, die die Fabrikschlote in den Himmel spuckten. Ein Pferdegespann wich ihnen auf der schlammigen Straße aus und der Kutscher hob die Hand zum Gruß, als er den Wagen des Bürgermeisters erkannte. Mr Miller machte sich nicht die Mühe, den Gruß zu erwidern. Sie waren sowieso längst vorbei.

Das Automobil kämpfte sich klappernd und hustend den Hang hinauf zum Lufthafen. Die Hafenhalle war eines der modernsten Gebäude der Stadt. Ein lang gezogenes Bauwerk mit gläsernem Kuppeldach, gekrönt von einem Uhrenturm. Mr Miller lotste seinen Chauffeur an der Fassade entlang zur Landeplattform. »Warten Sie hier. Ich werde Miss Feyler empfangen.«

Der Regenschirm bildete ein Zelt gegen die Wassermassen. Mr Miller schlug den Kragen seines Mantels hoch und zog seine Taschenuhr aus der Westentasche. Die Fähre war zu spät. Er ließ den Deckel einige Male auf- und zuspringen, während er den Himmel nach dem Luftschiff absuchte. Es dauerte viereinhalb Minuten, bis der bauchige Körper des Luftschiffs durch die Wolkendecke brach. Mit surrenden Rotoren schwebte der Ballon zu ihm hinab.

Die Tür der Passagierkabine wurde geöffnet und über einen Steg flüchteten die Reisenden vor dem Schauer in die Sicherheit des Hafengebäudes. Hauptsächlich Männer in verschlissenen Anzügen und Frauen, die ihre Kinder an der Hand mit sich zogen. Ein betuchtes Paar drängte sich unter einen Schirm. Das Kleid der Gattin sog die Pfützen, über die sie hinwegstieg, förmlich in sich auf. Mr Miller fragte sich, ob er seinen Gast verpasst hatte, als eine weitere Dame aus dem Luftschiff stieg. Ihr Auftritt war so unerhört, dass er mit Sicherheit sagen konnte, es handelte sich um Miss Feyler. Man hatte ihn gewarnt, sie sei exzentrisch.

Sie trug den Anzug eines Mannes, jedoch auf ihre Statur zurechtgeschneidert. Unter dem tintenblauen Mantel trug sie eine gemusterte Weste und ein Hemd mit Rüschen an Ärmeln und Kragen. Die Hose war aufgebauscht und steckte in hohen Stiefeln. Ihr Haar war trotz ihres jungen Alters schneeweiß und fiel in Strähnen auf ihre Schultern. Das Sonderbarste war jedoch der Zylinder, auf dessen Krempe ein Ungetüm von Fliegerbrille saß.

In der linken Hand hielt sie einen Aktenkoffer, mit der rechten winkte sie dem Piloten. Sie griff nach ihrer Reisetasche, bevor sie den Steg hinunter auf die Landeplattform stolzierte. Sie blieb

im Regen stehen und wartete, bis Mr Miller zu ihr geeilt war.

»Willkommen, Miss Feyler. Mein Name ist Miller, ich bin der Bürgermeister von Brixton.«

Tropfen bildeten sich am Rand ihres Zylinders und fielen zwischen ihnen zu Boden. Er hielt den Schirm über ihren Kopf, wodurch sein Rücken nass wurde. Sie war ein hübsches Mädchen, am Ende ihrer Zwanziger, mit hohen Wangenknochen und grauen Augen. Irgendetwas an ihrer Ausstrahlung war seltsam. Sie betrachtete ihn, als wollte sie auf den Grund seiner Seele blicken. Das Lächeln, das sich auf ihre Lippen stahl, war unheimlich. Für eine Weile standen sie sich gegenüber wie Schachfiguren. Miss Feyler, mit blassem Teint und schneeweißen Strähnen, und er, mit schwarzem Haar und dunkler Haut.

»Die Freude ist ganz meinerseits«, verkündete sie, stellte ihre Tasche in eine Pfütze und reichte ihm die Hand zur Begrüßung.

Nach einem Moment des Zögerns schüttelte er ihren Lederhandschuh. »Wollen wir nicht im Wagen weiterreden?«

Sie nickte. »Natürlich, nach Ihnen.«

»Lassen Sie mich Ihr Gepäck nehmen«, bot er an und hob die Reisetasche aus dem Wasser. Er wollte ihr auch den Aktenkoffer abnehmen, doch Miss Feyler umklammerte ihn, als wäre er ihr Erstgeborenes. Irritiert trat Mr Miller einen Schritt zurück.

»Ich trage ihn lieber selbst, danke.«

»Wie Sie möchten. Ähm, hier entlang.«

Mit federnden Schritten folgte sie ihm zum Automobil. Er hielt ihr die Tür auf, bevor er zur anderen Seite einstieg. Was war er froh, endlich aus diesem Regen heraus zu sein. »Bringen Sie uns zum Eagles.«

Miss Feyler blickte aus dem Fenster auf die immer gleichen Backsteinfronten, während sie die Gassen entlangtuckerten. Mr Miller hingegen starrte auf den Hinterkopf seines Chauffeurs. Susan hätte jetzt bemäkelt, dass Schweigen unhöflich sei und er doch etwas Konversation betreiben solle. Dummerweise konnte er belanglose Schwätzchen nicht ausstehen. Dennoch bemühte er sich. »Wie schade, dass das Wetter heute so schlecht ist. Bei klarer Sicht hätten Sie von der Landeplattform aus bereits einen Blick auf Ihren Auftrag werfen können. Das Gebäude liegt außerhalb der Stadt.«

Sie drehte den Kopf und stählerne Augen funkelten zu ihm auf. »Ich habe gehört, Shaw Manor sei abgrundtief böse.«

»Nun ja.« Mr Miller räusperte sich, um sich Zeit für eine Antwort zu erkaufen. »Ich glaube, Mr Bennet hat es einen Härtefall genannt. Glücklicherweise sagte er auch, dass Sie die beste Exorzistin der Gilde seien.«

Miss Feyler rümpfte die Nase. »Das ist nicht wahr. Außerdem bevorzuge ich den Titel Häuserflüsterin. Das beschreibt meine Tätigkeit besser als der Begriff Exorzismus.«

»Entschuldigen Sie …«, murmelte Mr Miller verblüfft und beschloss, dass das genug Konversation für einen Tag war. Man würde ein Mitglied der Gilde ja wohl noch beim Namen nennen dürfen. Außerdem – was bitte sollte eine Häuserflüsterin sein?

Das Automobil hielt vor dem Eingang des Eagles. Diese Bruchbude war tatsächlich das beste Gasthaus, das Brixton zu bieten hatte. Seit seinen Geschäftsreisen in die Hauptstadt wusste Mr Miller, wie ein Hotel auszusehen hatte. Doch der Kleinstadt fehlte es an Charme für eine Tourismusbranche.

Er geleitete die Frau in den Schankraum und bedeutete ihr, an einem der Tische Platz zu nehmen. »Wir haben Ihnen ein Zimmer auf unbestimmte Zeit reserviert. Mrs Hills wird sich während Ihres Aufenthalts um Ihre Verpflegung kümmern.«

Die Exorzistin ließ sich auf den Stuhl fallen und zog eines ihrer Beine hoch. Den schlammigen Stiefel stützte sie am Rand der Sitzfläche ab und sah sich im Raum um. Mr Miller konnte nur hoffen, dass dieses Fräulein ihrem Ruf gerecht werden und sie ihr Zimmer für mehr als drei Tage benötigen würde. So lange hatte es gedauert, bis ihr Kollege nicht mehr aufgetaucht war.

»Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen? Wasser, Bier, Kaffee?«

»O ja, heißen Wein mit Zimt, Nelken und Sternanis! Bitte keine Zitronenschalen, die vertrage ich nicht.«

Mr Miller runzelte die Stirn. »Ich werde an der Theke fragen. Ich fürchte …«

Miss Feyler seufzte. »Schon gut, bringen Sie mir einen Schwarztee. Einen starken, bitte schön!«

Der Bürgermeister nickte, bevor er sich auf den Weg zur Theke machte. Er war heilfroh, dass er nicht den Aufpasser spielen musste. Seine Aufgabe war damit getan, die Unsummen zu bezahlen, die die Dame für ihre Dienste verlangte. Wenn sie das Geisterproblem lösen konnte, mit dem sich Brixton seit Jahrzehnten herumschlug, war ihm alles recht. Die Stadt musste dieses Anwesen zu einem angemessenen Preis verkaufen können, wenn sie nicht in Schulden ertrinken wollten. Obwohl Mr Miller am liebsten in Ruhe gelassen wurde, lag ihm doch etwas daran, seinen Wählern ein würdiges Leben bieten zu können.

Er stellte das dampfende Getränk vor Miss Feyler ab und setzte sich zu ihr an den Tisch. Für sich selbst hatte er nichts bestellt, in der Hoffnung, bald zu seiner Arbeit zurückkehren zu können. Die Exorzistin nahm die Tasse in beide Hände und nippte daran. »Stark genug. Könnte heißer sein.«

»Wenden Sie sich an Mrs Hills, wenn Sie noch irgendetwas benötigen. Sie wird Ihnen morgen auch eine Kutsche bereitstellen, mit der Sie zum Anwesen gefahren werden. Bei Schwierigkeiten lassen Sie meiner Sekretärin eine Nachricht zukommen, ich kümmere mich dann darum.«

Er beobachtete Miss Feyler dabei, wie sie eine Schnupftabakschatulle aus ihrer Manteltasche zog und eine Prise Pulver in ihren Tee rührte. Er klopfte mit seinen Fingerkuppen auf die Tischplatte. »Ich kann Ihnen heute Abend gern unsere Stadt zeigen, wenn Sie möchten.«

Sie sah nicht von ihrer Tasse auf. »Das wäre nicht sinnvoll. Ich muss erst einen Eindruck davon gewinnen, ob irgendwelche Geschehnisse in der Stadt für das Haus von Bedeutung waren. Eventuell komme ich später auf Ihr Angebot zurück. Ich arbeite am liebsten allein.«

Mr Miller unterdrückte ein erleichtertes Seufzen. »Das kann ich nachvollziehen. Es ist oft effektiver als in einer Gruppe.«

»Das ist ein Aspekt.« Sie starrte auf ihren Löffel, dann wandte sie sich ihm zu. »Ich würde allerdings gern heute Abend schon einen Blick auf das Anwesen werfen. Möglichst vor Sonnenuntergang. Wäre das möglich? Wenn nicht, sollte ich mir doch die Stadt ansehen. Ich brauche nicht den ganzen Tag, um auszupacken.«

»Ich werde Mrs Hills fragen.« Er stützte sich beim Aufstehen auf dem Tisch ab und lief zurück zur Theke. Die Wirtin eilte auf ihn zu.

»Ist der Tee nicht gut?«, fragte sie besorgt. »Ich weiß, in der Hauptstadt haben sie edlere Sorten …«

»Nein, nein, sie ist zufrieden.« Vermutete er. »Sagen Sie, könnten Sie die Kutsche heute schon fertig machen? Die Dame würde sich gern einen Eindruck von ihrem Auftrag machen.«

Mrs Hills verschränkte die Arme. »Ich habe Parker für den Abend freigegeben.«

»Ist er noch hier? Kommen Sie, es ist sinnvoller, als ihr all unsere verstaubten Sehenswürdigkeiten zu zeigen.«

»Kommt nicht infrage.«

»Ich bitte Sie, tun Sie es für mich. Wenn ich Miss Feyler in die Stadt begleiten muss, fehlt mir die Zeit für wichtigere Angelegenheiten. Ich möchte nicht schon wieder Überstunden machen.«

Sie ließ geschlagen ihre Arme sinken. »In Ordnung. Aber nur zwei Stunden!«

»Danke schön.« Er drückte ihre Hände und eilte zurück zur Exorzistin. Sie balancierte den Stuhl jetzt auf den hinteren Beinen. Ihr Fuß wippte in der Luft, während sie ihren Tee schlürfte. Wenn man von den weißen Haaren und dem Herrenanzug absah, wirkte sie wie ein kleines Mädchen.

Definitiv zu jung zum Sterben. Ein Anflug von Schuldgefühlen überkam ihn. Instinktiv tastete er nach der Kette seiner Taschenuhr, das kühle Metall zwischen den Fingern beruhigte ihn. Die Entscheidung war längst getroffen. Doch er hoffte inständig, dass sie sich besser schlagen würde als ihr Vorgänger. Er wollte nicht noch jemanden in den Tod schicken.

»Ihr Wagen wird gleich bereitstehen.«

Erstes Kapitel

Der Garten

Logbuch von Miss Magnolia Feyler; Häuserflüsterin

Brixton, 11. Oktober 1862, Tag 1 der Geisteraustreibung

Ich bin heute gegen drei Uhr nachmittags im Lufthafen Brixton angekommen und wurde vom Bürgermeister Mr Miller empfangen. Das Wetter ist mies. Die Leute sind nett, vielleicht etwas rustikal. Gewürztee ist ihnen unbekannt und einige der Passanten werfen mir sonderbare Blicke zu. Die Unterkunft im Eagles bei Mr und Mrs Hills (Main Street 103) ist komfortabel. Werde heute das vertraglich festgelegte Anwesen Shaw Manor besichtigen. Nach allem, was ich gehört habe, könnte es mir einige Nachtschichten abverlangen. Keine Ahnung, was mich erwartet.

Magnolia Feyler überflog die Worte, um sicherzugehen, dass sie nichts Wichtiges vergessen hatte. Der Bürgermeister hatte einen aufrichtigen Eindruck auf sie gemacht. Mr Miller hatte dunkle Haut und kurze schwarze Haare, über denen er einen Hut trug. Der Anzug, den er getragen hatte, schien schon bessere Zeiten gesehen zu haben, doch die Kette seiner Taschenuhr hatte geglänzt wie neu. Das Ehepaar Hills war freundlich genug gewesen, ihr für den gesamten Auftrag eine Kutsche zur Verfügung zu stellen. Das Schmatzen der Pferdehufe im Schlamm ging im Rauschen des Regens beinahe unter. Das Wetter war in der Tat mies. Zufrieden klappte sie ihr Notizbuch zu und verstaute es in der Lederhalterung an ihrem Gürtel.

Die Arbeit mit Geistern war risikoreich. Neben einem grausamen Tod waren Realitätsverlust, Panikzustände und Wahnsinn die größten Gefahren. Deshalb stand jedes Gildenmitglied in der Pflicht, seine Aktivitäten genau zu protokollieren. Das Logbuch war der Anker des Verstandes, eine Erinnerung an die Dinge, die wirklich passiert waren. Es durfte nur in Momenten der Ruhe fortgesetzt werden.

Zudem erfüllte es den Zweck, andere Gildenmitglieder über die Fortschritte des Exorzisten zu informieren, sollte ihm etwas zustoßen. Ihr erstes Ziel war es deshalb, das Logbuch ihres Kollegen im Haus zu sichern und den derzeitigen Stand der Geisteraustreibung zu ermitteln. Der arme Jeremy … er war immer so ehrgeizig gewesen. Nach nur drei Tagen war er nicht mehr zurückgekehrt. Gewiss war er zu schnell ins Innere vorgedrungen. Sie würde vorsichtiger sein und mehr Zeit auf die Vorbereitungen verwenden. Magnolia schwor sich, sein Buch nicht vor dem vierten Tag aufzutreiben.

Plötzlich wurde die Kutsche langsamer. Das Pferd schnaubte und sein Herr ließ die Peitsche in der Luft knallen, um es zum Weitergehen zu bewegen. Magnolia hob den Kopf und erhaschte einen Blick auf die Silhouette, die auf sie lauerte. Durch die Schleier des Regens konnte sie nichts weiter erkennen als zackige Umrisse vor einem hellgrauen Himmel. Trotzdem lief ihr vor Aufregung ein Schauer über den Rücken. Das Anwesen war gigantisch. Türme, die sich in die Wolken bohrten. Ein Haupthaus, das Besucher mit seinen Dimensionen einzuschüchtern versuchte. Abzweigende Flügel, die sich wie Finger in Richtung der Kleinstadt reckten. Dieser Auftrag könnte ihr Meisterwerk werden.

Es hatte gedauert, sich als junge Frau in der Gilde zu etablieren. Doch sie hatte schon als Mädchen eine Faszination für heimgesuchte Orte gehabt. Sie spürte eine Verbindung zu den schaurigen Gemäuern und den Seelen der Toten. Ihre Methoden waren ausgefallen – jedoch äußerst effektiv. Alles, was sie benötigte, um mit ihrem Ansatz in der Gilde ernst genommen zu werden, war ein großer Fall, der Wellen schlug. Shaw Manor war perfekt.

Je näher sie dem Gebäude kamen, desto mehr Pracht und Verzweiflung strahlte es aus. Es musste einst ein Schloss gewesen sein. Die Wände aus hellem Stein waren in einen Park eingebettet, in dem Bänke zum Verweilen einluden. Dutzende Erker und Türmchen ragten zwischen den Ziegeln des Daches hervor. Der Grundriss bot Platz für Balkone und Dachterrassen, von denen die Hausherren hinab in den Garten blicken konnten. Kunstvolle Verzierungen schmückten die Fenster und Simse.

Doch das alles war längst verfallen. Gestrüpp hatte den Park eingenommen, überwucherte die Wege und Pavillons. Die Fensterscheiben waren staubig oder zerbrochen, die Balkongeländer rostzerfressen. Die Mauern warfen Schatten und die Türme ähnelten Fangzähnen. Magnolia spürte sofort, dass mit diesem Gebäude etwas nicht stimmte. Ihm haftete eine unheilvolle Aura an, ein Hauch von Tod. Leid war hier geschehen.

»Halten Sie!«, befahl sie dem Kutscher in sicherer Entfernung zum Haus. »Den Rest des Weges gehe ich allein. Holen Sie mich bitte genau an dieser Stelle in einer Stunde ab.«

»Ich kann Sie auch noch bis zum Tor bringen, gnädiges Fräulein. Es regnet schließlich in Strömen.«

»Wirklich nicht notwendig«, rief Magnolia, schnappte ihren Koffer und kletterte von der Rückbank hinunter auf die Straße. Schwere Tropfen prasselten auf ihren Zylinder. Im Gegensatz zu dem Kutscher spürte sein Pferd sehr wohl, was für eine Gefahr von dem Gebäude ausging. Es zuckte mit den Ohren und blähte die Nüstern. Magnolia würde keine Zivilisten in Bedrängnis bringen. Sie tippte sich gegen die Hutkrempe und wartete, bis der Herr seinen Wagen gewendet hatte. Dann erst näherte sie sich dem Anwesen.

Die bösartigen Schwingungen, die von den Fensteröffnungen ausgingen, waren so stark, dass Magnolia sie auf ihrer Haut spüren konnte. Ein dumpfes Kribbeln. So einen Fall hatte sie noch nie gehabt. Sie würde ihr Vorgehen überdenken und mehr Zeit einplanen müssen. Die Mauern strahlten Eiseskälte aus, sodass sie zu zittern begann. Sämtliche ihrer Instinkte schrien nach Flucht, doch tief in ihr meldete sich die Sehnsucht, die sie im Herzen trug. Die Faszination der Dunkelheit. Das Verlangen, in den Abgrund zu sehen. Die Bereitschaft, das Leid der Seelen am eigenen Leib zu ertragen, um sie zu heilen …

Habe das vertraglich festgelegte Anwesen erreicht. Alte Villa mit Parkanlage, seit Jahrzehnten verlassen. Ein Haupthaus, zwei Flügel …

Magnolia hielt inne, um einen Blick auf das Gebäude zu werfen.

… zwei Flügel, fünf Türme. Die Aura ist stark, eine sechs von zwölf auf der Feyler-Skala. Das ist ungewöhnlich für den Gartenbereich. Außer das Verbrechen ist im Freien geschehen und wir befinden uns bereits nahe dem primären Wirkradius. Mit einem derartigen Spuk hätte Exorzist Lee allerdings fertigwerden sollen. Gehe also davon aus, dass die Schwingungen bereits im äußeren Teil der Aura überaus stark sind. Besorgniserregend.

Ich empfehle ein langsames Vorgehen unter Einbeziehung aller grundlegenden Schritte. Erste Ziele: Gebäude außerhalb der Grenzen umrunden, Gefühl gewinnen, Ausrüstung besorgen, weitere Pläne schmieden.

Sie hatte sich schützend über das Buch gebeugt, damit es nicht vom Regen durchnässt wurde. Bei diesem Auftrag war Vorsicht angesagt. Tiefe Wunden heilten nicht durch ein Pflaster. Sie würde außen anfangen und sich langsam vortasten müssen. Magnolia stieg den Rest der Straße hinauf, bis sie zu dem schmiedeeisernen Eingangstor kam. Sanft legte sie eine Hand auf den Griff und drückte ihn nach unten.

»Guten Morgen, Shaw Manor. Mein Name ist Miss Magnolia Feyler und ich werde hier verweilen, um mich deiner Vergangenheit anzunehmen. Keine Sorge, für heute möchte ich mir nur ein Bild von dir machen, aber morgen werde ich eintreten. Ich hoffe, das ist in Ordnung für dich.«

Sie erwartete keine Antwort. Die einzigen Formen der Kommunikation, die Spukhäuser beherrschten, waren Einschüchterung, Hinterhalt und Aggression. Eine tödliche Sprache. Zumindest verhielt es sich so zu Beginn der Geisteraustreibung. Mochte ein Gebäude sie, merkte sie das daran, dass es sie in seine Geheimnisse einweihte und sich beruhigte. So weit waren sie beide noch nicht.

Magnolia zog am Gartentor, um zu prüfen, ob es abgeschlossen war. Das Metall klemmte, doch es ließ sich einen Spaltbreit öffnen. Sofort schloss sie es wieder. Es war zu früh, um die Geister loszulassen. Immerhin würde sie sich nicht um einen Schlüssel kümmern müssen.

In einigen Schritten Entfernung umrundete sie die Anlage, folgte dem Zaun. Im vorderen Bereich des Parks führte ein Kiesweg zu einer Treppe, die zur Eingangstür emporstieg. Es gab Bäume und Pavillons, der Großteil des Geländes schien mit Blumenbeeten gefüllt gewesen zu sein. Hinter dem Haus wurde die Vegetation dichter. Dies musste der private Teil des Gartens gewesen sein, ein Rückzugsort für die Familie. Jetzt befand er sich unter der Herrschaft einer Brombeerhecke.

Sie holte ihr Logbuch heraus und kritzelte im Gehen einige Zeilen.

Zwei Drittel des Gartens öffentliche Parkanlage. Besonderes Augenmerk liegt auf dem hinteren Teil, hier könnten schon erste Manifestationen zu finden sein. Ordnung des Areals wird für eine einzelne Person Wochen in Anspruch nehmen. Ich werde deshalb nur die wichtigsten Tätigkeiten selbst durchführen und mich dann dem Inneren zuwenden.

Sie studierte die Architektur des Gebäudes. Soweit der Blick zwischen den Bäumen hindurch es zuließ, prägte sie sich die Position der Balkone und Dachterrassen ein. Sie hatte das Anwesen fast umrundet, als sie von einer neuen Schwingung erfasst wurde.

Magnolia blieb stehen. Das Leid schien in Verbindung mit der Villa zu stehen, hatte allerdings eine andere Quelle. Vor ihr, verschwommen durch den Regen, brach das Gelände abrupt ab. Vorsichtig, um auf dem nassen Gras nicht auszurutschen, näherte sie sich dem Abgrund.

Sandsteinklippen, die hinab ins Meer ragten. Brixton war einstmals ein Fischerdorf gewesen, bevor die Kohleadern im Hinterland entdeckt worden waren. Jetzt wurde der Hafen nur noch von Frachtern angefahren. Wäre das Wetter besser, könnte sie die Kolosse auf hoher See beobachten. Jetzt war sie allein mit den Naturgewalten. Magnolia betrachtete die Wellen, die gegen die Felsen schlugen. Regen und Wind trieben sie in ihrem Jahrhunderte währenden Kampf gegen das Gestein an. Wasser zu Wasser, Staub zu Staub.

Die Schwingungen kamen weiter vorn von den Klippen. Zur Sicherheit machte Magnolia kehrt. Bei Unwetter war es gefährlich genug, sich steilem Gefälle zu nähern. Wenn ein Spuk dazukam, war es lebensmüde.

Ein Vorfall außerhalb des Zaunes, zur Rechten der Villa, bei den Klippen. Möglicherweise Todesfall?

Die restliche Zeit bis zum Sonnenuntergang verbrachte Magnolia damit, auf den Kutscher zu warten. Mit verschränkten Beinen hatte sie es sich im Gras bequem gemacht und beobachtete die Fassade. Nichts rührte sich. Sie saß eine halbe Stunde im Regen, bevor dieser endlich leichter wurde. Ihr Anzug hatte sich mit Wasser vollgesogen und nur die Beschichtung des Leders schützte ihr Logbuch vor dem Aufweichen. Sie würde sich eine Erkältung einfangen, das war ihr die gute Vorbereitung wert.

Geisterhäuser waren im Grunde wie wilde Tiere. Sie bissen zu, wenn sie sich bedroht fühlten, und trauten niemandem, den sie nicht kannten. War es ein geringfügiger Auftrag – ein Kleintier –, konnte ein Exorzist es mit Kraft gefügig machen. Aber den Bestien musste sie eine Chance geben, sich an ihren Geruch zu gewöhnen.

Brixton, 12. Oktober 1862, Tag 2 der Geisteraustreibung

Der Regen hat nachgelassen. Beste Voraussetzungen, um die Arbeit am Garten zu beginnen. Schritt 1: Ordnung schaffen. Erworbenes Inventar: eine Schubkarre, eine Harke, ein Besen, eine Schaufel, zwei Heckenscheren (groß & klein), eine Gießkanne, eine Sense, gepolsterte Handschuhe (ein Paar), Blumensamen. Kosten gesamt: 3 Goldtaler, 5 Silbergroschen und 7 Kupferlinge. Verbleibendes Budget: 21 Goldtaler, 4 Silbergroschen, 3 Kupferlinge.

Magnolia lächelte den Verkäufer über den Rand ihres Logbuchs hinweg an. Ein junger Mann mit mausbraunem Haar. Dieser tat so, als hätte er gerade nicht misstrauisch jeden ihrer Federstriche verfolgt. Hastig legte er einige Utensilien zur Seite, in dem Versuch, beschäftigt zu wirken. »Oh, sind Sie fertig? Darf es sonst noch etwas sein, Miss …?«

»Feyler. Miss Magnolia Feyler.« Sie klappte das Buch zu und reichte ihm ihre Hand. Er drückte sie rasch, als könnte er sich an ihr verbrennen.

»Also wirklich die Exorzistin …«, murmelte er.

»Häuserflüsterin.«

»Bitte?«

»Ach, nichts.« Sie seufzte. »Ich wurde beauftragt, mich um Shaw Manor zu kümmern, falls Sie das fragen wollten.«

»Ich habe mir schon gedacht, dass Sie das sind. Wegen der …« Er gestikulierte vage in Richtung ihres Gesichtes. »Sie wissen schon, wegen der Haare. Sie sind nicht von hier.«

Magnolia zupfte an einer ihrer schlohweißen Strähnen. »O ja. Berufsunfall. Keine schöne Geschichte.«

Der Gärtner betrachtete sie mit einer Mischung aus Angst und Interesse. »Wie kann so etwas passieren?«

Die Häuserflüsterin begann, ihr Werkzeug in die Schubkarre zu legen. »Merken Sie sich, niemals eine besessene Schatulle zu öffnen, ohne ein Reinigungsritual durchzuführen.«

Sie ließ den Verkäufer mit offenem Mund hinter der Theke stehen und bugsierte ihre Karre aus dem Geschäft hinaus auf die Straße. Ein Glöckchen klingelte, als sie die Tür mit der Schulter aufschob, und wieder, als diese hinter ihr ins Schloss fiel. Der Kutscher betrachtete ihre Einkäufe mit gerunzelter Stirn, war aber zu höflich, um etwas zu sagen. Stattdessen half er ihr, die Gerätschaften auf die Rückbank zu verladen. Magnolia nahm neben ihm auf dem Kutschbock Platz.

Die Gassen Brixtons waren schmal und die wenigsten von ihnen gepflastert. Vereinzelt begegnete man Automobilen, jedoch waren diese selbstfahrenden Wagen ein seltenerer Anblick als in London. Hufabdrücke und Pferdeäpfel übersäten die Straßen. Auf den erhöhten Bürgersteigen wichen Männer in Overalls den Bettlern aus. Kinder spielten mit Holzspielzeug oder Zinnsoldaten, anders als in der Hauptstadt waren Aufziehpuppen nicht verbreitet. Die Frauen trugen ausgeblichene Kleider und altmodische Hüte, hinter denen sie ihr Gesicht verbargen, sobald sie die Fremde auf der Kutsche erblickten.

Wäre der Vorfall nicht gewesen, der ihre Haare ausgebleicht hatte, wäre Magnolia wahrscheinlich erst auf den zweiten Blick aufgefallen. Sie trug heute einen schlichten Anzug, wie ihn ein Arbeiter getragen hätte. Ihre Exorzistenuniform hing noch zum Trocknen an der Leine, und für die Gartenarbeit wollte sie diese ohnehin nicht schmutzig machen.

Wie gut das Wetter geworden war, bemerkte Magnolia erst, als sie die Dunstglocke der Kleinstadt verlassen hatten. Die Stahlwerke, die die Bevölkerung knechteten, hielten sie auch in einem Schleier aus Grau gefangen. Hier draußen war der Himmel blau und stand im Kontrast zum orangeroten Herbstlaub. Sie konnte es kaum erwarten, an die Arbeit zu gehen.

Der Kutscher zügelte sein Pferd. Er lernte schnell und hielt den Sicherheitsabstand bereits von allein ein. »Abholung wieder zur selben Zeit?«, fragte er.

»Zur selben Zeit.«

»Lassen Sie mich Ihnen mit den Gerätschaften helfen, junges Fräulein.« Er sprang vom Kutschbock und wuchtete die Schubkarre herunter.

Magnolia trat zum Pferd und strich ihm über den Hals, damit es nicht ohne seinen Herrn davonrannte. »Vielen Dank. Herrliches Wetter heute, was meinen Sie? Grüßen Sie Mr und Mrs Hills von mir und bitten Sie sie um eine große Portion Eintopf zum Abendessen.«

Mr Parker nickte, während er wieder auf seinen Wagen stieg. Dieses Mal machte sich die Häuserflüsterin direkt auf den Weg zum Anwesen, ohne seine Abreise zu beobachten. Sie hatte es schließlich mit einem klugen Mann zu tun.

An ihrem Aktenkoffer war ein Riemen befestigt, den sie sich jetzt über den Kopf und eine Schulter schlang. Sie schob den Koffer auf ihren Rücken, damit er aus dem Weg war. Mit ihren freien Händen schnappte sie sich die Schubkarre und schob sie in Richtung des Zaunes, der Shaw Manor umgab.

»Guten Morgen, ich bin es wieder!«, rief sie dem Anwesen im Näherkommen zu. »Ich werde heute wie abgesprochen reinkommen. Nur in den Garten. Es sieht aus, als bräuchtest du einen Landschaftsbildner.«

Sie fragte nicht um Erlaubnis. Das Gebäude würde die Prozedur eher stumm über sich ergehen lassen, anstatt seine Zustimmung zu geben. Eine Frage zu stellen, ohne die Antwort abzuwarten, wäre respektlos und kein guter Start für ein Vertrauensverhältnis. Wenn es ihm nicht passte, würde es sie schon selbst davonjagen.

Magnolia zog die Pforte mit einem Ruck auf. Ein Quietschen. Ein Windhauch in den Baumkronen. Als es ansonsten ruhig blieb, trat sie ein.

Der Garten war in der Regel sicher, zumindest bei Tageslicht. Die wenigsten Verbrechen geschahen in der Öffentlichkeit. Die Grausamkeiten fanden hinter geschlossenen Türen statt. Ausnahmen bestätigten die Regel. Nach allem, was Magnolia gestern erspürt hatte, ging der Spuk vom Gebäude aus. Und von der Stelle bei den Klippen.

Erster Kontakt erfolgreich. Habe die Parkanlage gegen neun Uhr morgens betreten. Beginne nun mit Schritt 1 (Ordnen des Umfeldes) im vorderen Bereich.

Magnolia packte in aller Seelenruhe ihre Werkzeuge aus, zog die Sense aus dem Stapel und spazierte hinüber zu dem hohen Gras. Es war ein Risiko, einen scharfen Gegenstand mitzubringen, aber ein kalkuliertes. Sie wollte keine Angst zeigen. Meistens bedienten sich die Häuser für ihre Angriffe ohnehin an Dingen, die sich seit längerer Zeit in ihrem Inneren befanden. An ihnen hafteten Erinnerungen, die Energie der gepeinigten Seelen.

Mit ausholenden Bewegungen machte sie sich daran, das Gras zu mähen. Dies war ein aristokratischer Rasen gewesen, deshalb setzte sie die Sense tief an. Jeder wusste, wie wichtig einem Gentleman seine Grünfläche war. Es ging darum, den Anschein von Ordnung zu schaffen.

Der Garten war die Aura eines Hauses. Er umgab es wie ein lebendiger Schutzschild und trug den Charakter der Bewohner nach außen. Waren sie penibel oder mochten sie es wildromantisch? Herrschten Blumenwiesen oder Gemüsegärten vor? Verbarg sich das Gebäude hinter Hecken und Mauern oder war es Teil der Landschaft? War der Garten ein Ort der Ruhe oder der Aktivität?

Die Verwahrlosung des Hauses war nicht die Wurzel des Problems. Es handelte sich um eine Begleiterscheinung des Spuks statt um übernatürliche Phänomene. Geister zogen eine Vernachlässigung des Anwesens mit sich. Beschäftigte man sich mit dem Garten, war das ein Anzeichen für einen Neuanfang und sehnlich vermisster Zuwendung.

Die Aura eines Gebäudes zu ordnen, zu beruhigen und aufzuhellen hatte auch Auswirkungen auf das Innere. Es war vergleichbar mit der Freude, die ein Obdachloser verspürte, wenn man ihm ein Bad, einen Haarschnitt und saubere Kleidung zukommen ließ. Magnolia war über die Jahre zum Schluss gekommen, dass Gartenarbeit der einfachste Weg war, einen positiven ersten Eindruck zu hinterlassen. Besonders empfehlenswert bei schweren Fällen.

Gegen Mittag hatte sie die Fläche vor dem Anwesen gemäht. Sie achtete darauf, nicht in den Schatten der Mauern zu treten. Erschöpft und zufrieden verspeiste sie ihr Sandwich, bevor sie den Nachmittag damit verbrachte, das Gras zusammenzuharken und mit der Schubkarre vom Grundstück zu transportieren.

Deutliche Fortschritte beim Gesamteindruck der Parkanlage gemacht. Keine besonderen Vorkommnisse. Genieße die Ruhe vor dem Sturm.

Brixton, 13. Oktober 1862, Tag 3 der Geisteraustreibung

Bin aufgrund der gestrigen Fortschritte sehr zuversichtlich. Werde mich heute in den hinteren Teil wagen. Hoffe auf eine Erscheinung!

Magnolia legte den Stift beiseite und trank einen Schluck des brühend heißen Tees, der neben ihr auf dem Tisch stand. Genau so, wie sie ihn mochte. Sie hatte ihre eigenen Gewürze mitbringen müssen, eine Mischung aus Zimt und Kardamom, das war sie gewohnt. Sie rührte einen Löffel Honig in ihren Porridge und warf einen Blick auf die Tageszeitung. Nichts besonders Interessantes. Politik, Wirtschaft und irgendetwas über ein Artefakt, das gefunden worden war.

»Ich habe gehört, sie redet mit der Villa«, tuschelte es zwei Tische weiter. Magnolia trank ihren Tee aus. Die beiden Männer sprachen gedämpft. Es war ihr schon immer gelungen, Tratsch über sich aufzuschnappen. Vielleicht hatte sie sich das in ihrer Jugend angewöhnt, vielleicht lag es auch daran, dass Zuhören ihr Beruf war. Sie schielte zu ihnen hinüber. Die Uniformen ließen auf Polizisten schließen, die eine Kaffeepause machten.

»Wirklich? Mir hat Garden-Joe erzählt, dass sie bei ihm jede Menge Werkzeug gekauft hat.«

»Sonderbarer Vogel, und wie sie herumläuft! Wofür bezahlt die Stadt sie überhaupt?«

»Dabei hat der Exorzist vor ihr so kompetent gewirkt. Wie hieß er noch gleich?«

Magnolia kratzte den Rest Porridge aus ihrer Schale. »Jeremy Lee«, beantwortete sie die Frage am Nachbartisch, zählte einige Kupferlinge Trinkgeld ab und ging zur Arbeit. Schweigen begleitete sie aus dem Gasthaus hinaus.

Sie konnte es Mr Parker nicht verdenken, dass er in der Stadt Gerüchte über sie verbreitete. Immerhin stimmte alles von dem, was sie beim Frühstück belauscht hatte. Selbst in der Gilde amüsierte man sich über ihre Methoden. Dennoch würdigte sie ihn auf der Hinfahrt keines Blickes.

»Guten Morgen, altes Haus! Ich bin wieder hier für den Garten.« Magnolia grinste und klapperte mit der Heckenschere. Das Wetter war mild, nur bewölkter und windiger als am Tag zuvor. Frohgemut spazierte sie durch den Park, der wieder an seinen ursprünglichen Zustand erinnerte. Natürlich, die Beete mussten gejätet und bepflanzt, die Bäume geschnitten, die Wege gekehrt und die Pavillons restauriert werden. Dafür sah der Rasen tatsächlich nach Rasen aus statt nach Steppe.

Hinter dem Haus sind die Schwingungen deutlicher zu spüren. Sehe meine Theorie bestätigt, dass dieser Teil in Verbindung mit den Bewohnern steht. Beginne mit dem Entfernen der Dornenranken (Schritt 1).

Es war bereits Nachmittag und ein gutes Stück des Geländes war von Brombeerhecken befreit, als sie einen bemerkenswerten Fund machte. Zwischen den Pflanzen ragte ein marmorner Engel hervor. Die Statue sah traurig aus, ihre Hände waren zum Gebet vor der Brust gefaltet. Magnolia durchtrennte die Ranken mit ihrer Schere und zerrte die Blätter vom Sockel herunter. Eingravierte Namen, Jahreszahlen und eine Marmorplatte auf dem Boden. Ein Familiengrab. Magnolia konnte spüren, wie die Kälte durch ihren gepolsterten Gartenhandschuh kroch. Schaudernd zog sie ihre Hand zurück. Überaus aufschlussreich.

Habe ein Grab mit Engelsstatue gefunden. Die Inschrift lautet: »Ruhe unter Rosen rot, dich schützt Gevatter Tod. Im Andenken an Rosemary Shaw, geboren 1771, verstorben 1788. Lord Edmond Shaw, geboren 1748, verstorben 1794. Lady Ethel Shaw, getaufte Wilson, geboren 1755, verstorben 1799.« Dann ist Platz für einen weiteren Namen, bevor die Inschrift mit den Worten »Mögen Gottes Engel euch segnen« endet. Vermutlich die Familie des letzten Besitzers des Anwesens, Lord Raymond Shaw, der gemeinsam mit seiner Gattin verschollen ist. Seine Schwester Rosemary ist jung dahingeschieden, dies könnte ein Hinweis auf ein Verbrechen sein. Bei Berührung ist der Grabstein außergewöhnlich kalt, die Todesfälle scheinen mit dem Spuk in Verbindung zu stehen.

Viel hatte man ihr nicht über ihren Auftrag erzählen können. Die Villa stand seit achtunddreißig Jahren leer, nachdem das dort lebende Ehepaar spurlos verschwunden war. Vor drei Jahren war der gesetzliche Anspruch von Lord Shaw auf sein Anwesen verfallen und das Gebäude war offiziell in den Besitz der Stadt übergegangen. Jedoch waren sämtliche Versuche, es zu verkaufen, aufgrund des Spuks fehlgeschlagen. Daher der Kontakt zur Gilde.

Die Informationen über die Heimsuchung waren widersprüchlich und banal. Unheimliche Geräusche, erlöschendes Licht, bewegte Gegenstände, mordlustige Gestalten. Manche Zeugen sprachen von leeren Sälen, durch die das Weinen einer Frau hallte. Andere schworen, von einer Armee silberner Männer bedroht und verfolgt worden zu sein. Selbst Wolfsgeheul war angeblich zu hören gewesen. Der einzige Bericht, auf den Magnolia sich verlassen konnte, war Jeremys Logbuch.

Sie machte sich daran, das Denkmal von Unkraut zu befreien. Respekt vor den Toten war einer der höchsten Werte in ihrer Profession. Es wäre ein Affront, die Ruhestätte eines Menschen derart verkommen zu lassen. Sorgsam entfernte sie jeden Zweig und kehrte die Blätter davon. Sie fand zwei weitere Gräber.

Zwei weitere Grabsteine, kleiner, in unmittelbarer Nähe zum Familiengrab. Auf dem ersten steht geschrieben: »Nach langem Kampf ist Dessie Shaw, getaufte Johnson, geboren 1776, im Jahre 1806 in Frieden verstorben.« Ebenfalls unnatürlich kalt. Den zweiten zieren die Worte: »Cecile Shaw, getaufte Ward, geboren 1779, gegangen 1811. Möge Gott ihr gnädig sein.« Ungewöhnliche Inschrift. Der Stein ist kälter als die anderen. Beide Frauen waren etwa im Alter des vermissten Lord Raymond Shaw und in die Familie eingeheiratet. Höchstwahrscheinlich vergangene Ehen von ihm. Damit wäre er verwitwet gewesen, bevor er die verschwundene Lady Shaw geheiratet hat. Werde mich in Brixton erkundigen.

Die Todesfälle erfolgten nah hintereinander. Möglicherweise Manifestationen des Spuks? Was immer in dieser Villa geschehen ist, es scheint die gesamte Familie betroffen zu haben.

Magnolia überlegte gerade, ob ihr Fund noch weitere Schlussfolgerungen oder Mutmaßungen ermöglichte, als eine Krähe über sie hinwegflog. Der Vogel schwebte so dicht an ihr vorbei, dass sie den Windhauch spürte. Er landete auf einem der kleineren Gräber – dem zweiten – und starrte sie an. Seine Augen leuchteten. Verärgert breitete er die Flügel aus und begann zu krächzen. Mit jedem Schrei wurde seine Stimme lauter, eindringlicher, rauer.

Die Häuserflüsterin klappte wie in Zeitlupe ihr Buch zu und bückte sich nach ihren Werkzeugen, ohne den Vogel aus den Augen zu lassen. Die Krähe hüpfte näher. Ihre Federn raschelten. Die Häuserflüsterin richtete sich auf und machte einen Schritt zurück. Das Krächzen ließ nicht ab.

So ruhig sie konnte, entfernte sie sich von den Gräbern. Nach einem Meter drehte sie sich um und tastete mit ihrem Blick die Parkanlage und die Mauern der Villa ab. Sonst schien alles wie gehabt zu sein. Sie zog eine Taschenuhr aus ihrem Kragen und ließ den Deckel aufschnappen. In der Innenseite kam ein Spiegel zum Vorschein. Magnolia sah über ihre Schulter hinweg zu der Krähe. Schwarze Augen starrten sie durch die Reflexion an. Mit langsamen Schritten verließ sie den Garten. Der Vogel folgte ihr nicht.

Erst als das Tor hinter Magnolia ins Schloss fiel, atmete sie auf. Eine Krähe hätte kaum Schaden anrichten können, dennoch war sie ein Warnsignal. Ihre Anwesenheit war bemerkt worden – und nicht erwünscht. Außerdem beunruhigte es sie, wie weit die Macht des Spuks über das Gebäude hinaus wirkte. Der Vogel war echt gewesen, Illusionen besaßen kein Spiegelbild. Beängstigend. Ein lebendiges Wesen zu kontrollieren bedurfte einer Menge an Energie, die nur wenige Geisterhäuser aufbringen konnten.

Sie sammelte sich, verabschiedete sich von dem Gebäude und begab sich dann zu der Stelle, die sie mit dem Kutscher vereinbart hatte. Einige Atemzüge lang saß sie da und betrachtete den Himmel. Erst als sie sich beruhigt hatte, öffnete sie ihr Logbuch.

Ich bin meiner ersten Manifestation begegnet. Ein fremdgesteuertes Lebewesen der Stufe 2 – intelligentes Kleintier. Eine Krähe näherte sich mir bei den Gräbern und drohte mir durch Gesten und Geräusche. Die Manifestation ließ mich das Gelände verlassen. Konkreter Bezug: Ruhestätte von Cecile Shaw. Herstellung des Bezuges: Vogel landete auf ihrem Grabstein.

Die Stärke der Manifestation außerhalb des primären (eventuell auch sekundären) Wirkradius mahnt zur Vorsicht und deckt sich mit den Schwingungen, die – wie wir uns erinnern – sechs Punkte auf der Feyler-Skala erreichten.

Brixton, 14. Oktober 1862, Tag 4 der Geisteraustreibung

Suche heute Mr Miller auf, um mehr über die Verstorbenen zu erfahren.

»Kann ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten? Er ist schon abgekühlt, aber ich trinke ihn auch stark.«

Der Bürgermeister hatte nach der Kanne gegriffen und hielt sie fragend über ein Tässchen. Magnolia lächelte. »Sie haben sich meine Vorlieben gemerkt«, stellte sie fest. »Ja, gern.«

Die Flüssigkeit plätscherte in das Porzellan. Magnolia nahm einen Schluck. Lauwarm, dafür stark. Sie würde sich damit begnügen müssen.

»Ich habe gehört, in der Stadt gibt es Fragen zu Ihrem Vorgehen«, begann Mr Miller zögerlich. »Wir haben schon mehrfach Exorzisten angestellt, zuletzt auch Mr Lee. Die Menschen sind ein gewisses Arbeitsmuster gewohnt und das beinhaltet, nun ja … kein Gartenwerkzeug.«

Sie seufzte.

»Ich bin mir sicher, Sie wissen, was Sie tun«, schob er hinterher. »Die Bürger wünschen sich nur Antworten.«

»Zeigen Sie ihnen meine Erfolgsrate«, entgegnete sie barsch. Sie hatte diese Diskussion schon oft führen müssen. »Wer meint, einen Spuk dieses Kalibers ohne Vorbereitung austreiben zu können, kann es gern versuchen. Werfen Sie mir nicht vor, dass ich nicht als Leiche enden möchte.«

»Ich werfe Ihnen gar nichts vor.« Mr Millers Tonfall war härter geworden. Beiße nie die Hand, die dich füttert …

Der Bürgermeister konnte nichts dafür, dass sie in der Gilde belächelt wurde. Die Menschen hier kannten nur die Bilderbuchversion eines Exorzisten, und sie musste zugeben, dass sie damit kaum Ähnlichkeit hatte. Als Mitglied der Gilde war Exorzistin zwar ihre offizielle Berufsbezeichnung, doch sie hatte über die Jahre ihre eigenen Techniken und Philosophien entwickelt. Deshalb nannte sie sich lieber Häuserflüsterin. Es betonte den Unterschied. Magnolia lächelte versöhnlich. »Natürlich nicht. Ich verstehe Ihre Ungeduld. Keine Sorge, ich verspreche Ihnen, das Gebäude noch heute zu betreten.«

Ihm fiel die Kinnlade herunter. »Sie haben noch gar nicht …? Was haben Sie dann …?«

Ein Klopfen an der Tür ersparte ihr einen weiteren Vortrag über die Notwendigkeit guter Vorbereitung.

»Herein? Ah, Susan, Sie sind es.«

»Guten Morgen, Mr Miller, guten Morgen, Miss Feyler, es ist mir eine Ehre.« Die mollige Frau nickte ihnen beiden zu, bevor sie an den Schreibtisch trat. »Ich bringe die Akten, die Sie angefordert haben.«

Die Sekretärin platzierte fünf Ordner mitten auf das Papierchaos. »Geburts- und Sterbeurkunden von 1770 bis 1820«, verkündete sie. »Soll ich Ihnen noch etwas Gebäck bringen?«

Mr Miller warf Magnolia einen fragenden Blick zu. Als diese nickte, wandte er sich seiner Sekretärin zu. »Vielen Dank, Susan. Kekse wären wunderbar.«

Die Frau strahlte, bevor sie aus dem Büro eilte. Mr Miller verzog das Gesicht. »Manchmal glaube ich, sie fragt das nur, damit sie mehr mitbekommt«, murmelte er mehr zu sich selbst als zu ihr. »Na, dann wollen wir uns Ihre Akten doch einmal ansehen.«

Lord Raymond Giles Shaw wurde 1773 geboren. Seine Schwester Rosemary starb mit siebzehn Jahren an Masern. Sein Vater Edmond Shaw starb bei einem Betriebsunfall in einer seiner Stahlfabriken – sein Tod ist damit wahrscheinlich nicht Ursache des Fluches von Shaw Manor. Anwesen und Titel fielen danach in den Besitz von Raymond Shaw. Seine Mutter Ethel stürzte im Alter von fünfzig Jahren die Treppe hinunter und verstarb anschließend im Spital.

Raymonds erste Ehefrau Dessie verstarb nach elf Jahren Ehe an Keuchhusten. Drei Jahre später heiratete er seine zweite Frau Cecile, die sich nur zwei Jahre nach der Hochzeit das Leben nahm. Man hat ihren Körper aus dem Meer gefischt. Das erklärt eventuell die Verbindung des Grabsteins zur ersten Manifestation. (Selbstmorde ziehen, wie alle gewaltsamen Todesfälle, häufig Manifestationen nach sich, in diesem Punkt stimme ich mit der Schule überein.) Seine dritte Frau Elizabeth ehelichte er elf Jahre nach Ceciles Selbstmord. Zwei Jahre später (1824) verschwand das Paar spurlos. Es wird von ihrem Tod ausgegangen, Ursache unklar.

»Sie können mir nicht mehr zur Familie Shaw erzählen, als hier in den Akten steht?«, fragte Magnolia, nachdem sie sich alle Daten notiert hatte.

Mr Miller schüttelte den Kopf. »Als ich mit meiner Familie nach Brixton gezogen bin, stand Shaw Manor schon leer. Die Eisenminen und einige Fabriken sind ebenfalls im Besitztum der Shaws. Nach allem, was ich hörte, leiteten Raymond und sein Vater die Firma mit harter Hand. Sie sind in der Stadt nie beliebt gewesen. Es gibt Gerüchte …«

Sie horchte auf. »Was für Gerüchte?«

»Ach, nichts Glaubhaftes. Raymond Shaw soll seine Gattinnen umgebracht haben, wenn sie begannen, ihn zu langweilen. Andere bestehen darauf, das Anwesen sei verflucht und jede Frau würde darin wahnsinnig werden und sich den dunklen Künsten zuwenden – oder einen jämmerlichen Tod sterben. Manche behaupten, bei den Shaws handele es sich um einen Vampirclan, der durch die Straßen zieht und Passanten aussaugt.« Mr Miller lachte verhalten.

Es klopfte erneut an die Tür, und nach einem Moment des Zögerns betrat Susan den Raum mit einem Teller Kekse. Magnolia angelte sich einen und knabberte an dem Gebäck. Die Sekretärin blieb im Raum stehen. Als niemand etwas sagte, verzog sie das Gesicht. »Sie können mich ja rufen, wenn Sie noch etwas benötigen«, meinte sie säuerlich und ließ sie allein.

Magnolia leckte sich die Krümel von den Lippen. »Was meinen Sie, ist da etwas dran?«

»An der Vampirgeschichte?« Er grinste. »Nein, böses Gerede gibt es über jeden, der wenig Lohn auszahlt. Ich denke, es ist eine Metapher – Blutsauger, Sie wissen schon. Selbst ich musste schon schlimme Dinge über mich hören. In gehobeneren Kreisen sind die Shaws als höflich und große Philanthropen bekannt gewesen.«

»Das eine schließt das andere nicht aus. Von Vampiren höre ich zum ersten Mal.« Sie nahm sich einen weiteren Keks.

»Selbst die realistischeren Gerüchte sind haltlose Anschuldigungen und Schauergeschichten. Die Shaws gerieten laut meinen Akten nie in Konflikt mit dem Gesetz. Ich vermute, der Spuk hat die Fantasie der Leute beflügelt.«

»Das kommt vor«, meinte die Häuserflüsterin. »Menschen haben gern einen Schuldigen, auch wenn sie ihn erfinden müssen. Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe.«

Auf dem Weg zum Anwesen ließ Magnolia sich das Gespräch durch den Kopf gehen. Sie hatte mehr Informationen und weniger Anschuldigungen erwartet. Zumindest vervollständigten die Todesursachen ihr Bild. Selbstmord war ein Punkt, an dem sie anknüpfen konnte. Der Rest war genauso verwaschen wie die Erzählungen über den Spuk. Nichts, was sie in ihren Ermittlungen weiterbringen würde. Schließlich notierte sie sich doch einige Sätze in ihr Logbuch.

Es gibt Gerüchte über Verbrechen, die die Shaws begangen haben sollen, wobei nichts davon offiziell bestätigt ist. Die Erzählungen überschneiden sich dahingehend, dass besonders die Frauen des Hauses im Visier des Spukes stehen zu scheinen.

Selbst wenn es nur Tratsch war, dieses Detail wollte sie sich merken. Oftmals wurde ein Spuk über Jahre vertuscht oder verkannt. Gerüchte konnten Hinweise sein, besonders wenn sie Worte wie Fluch, Erscheinung, Geist oder Ähnliches beinhalteten. Wer wusste bei all den Todesfällen schon, wann die Heimsuchung begonnen hatte?

Ehrfürchtig stand die Häuserflüsterin vor der Treppe, die hinauf zur Eingangstür führte. Sie hatte bis zum Mittag im vorderen Teil des Gartens Laub gefegt, das der Wind auf die Wege geblasen hatte. Doch ewig würde sie es nicht hinauszögern können, das Haus zu betreten. Um den Löwen zu töten, musste man sich in seine Höhle wagen.

Mit geschlossenen Augen spürte sie den Schwingungen um sich herum nach. Gefahr. Leid. Böses. Magnolia packte ihren Koffer wie eine Waffe und erklomm die Stufen.

»Tut mir leid, falls das unhöflich sein sollte, aber ich werde heute eintreten!«, verkündete sie und bemühte sich, den Anflug von Zittern in ihrer Stimme zu verbergen. Ihre Hand ruhte auf dem Türknauf. Die Flügeltür lief spitz zu und erinnerte an ein Burgtor. »Ich will dir nichts tun. Ich werde mich umsehen und ein bisschen aufräumen.«

Auch die Haustür war nicht abgeschlossen. Sie war schwer und öffnete sich lautlos. Magnolia warf einen Blick in die Eingangshalle des Anwesens.

Ein langer Raum, beinahe ein Saal. Durch die Fenster fiel Licht zu allen Seiten ein, dennoch besaß er eine düstere Ausstrahlung. Staub bedeckte die Teppiche. Vertrocknetes Laub, das durch die zerbrochenen Scheiben hereingeweht worden war, sammelte sich in den Ecken. Hinten führten zwei Treppen zu einer Empore, dazwischen befand sich eine Tür. Die Einrichtung war spärlich, ein Kleiderständer in der Ecke, Polstermöbel an den Wänden. Dafür jede Menge Spinnweben. Die Vorhänge flatterten gespenstisch im Wind.

Magnolia trat ein und schloss das Tor hinter sich. Einen Fluchtweg freizuhalten war ein Anfängerfehler. Es war gut, den Raum um sich herum begrenzt zu halten, damit man ihn unter Kontrolle hatte. Durch geöffnete Türen konnte sich alles Mögliche anschleichen. Außerdem hatten Geisterhäuser die Angewohnheit, sie im letzten Moment wieder zuzuknallen. Eine Flucht wurde durch Wissen und Können leichter, nicht durch das Verhindern eines Handgriffes.

Sie spürte die Veränderung in den Schwingungen, bevor sie die Kreidezeichnungen zu ihren Füßen entdeckte. Ein Halbkreis war um die Schwelle herum gezogen und mit Runen verstärkt worden. Die Salzkörner waren verweht. Einige Zeilen auf dem Rahmen schlossen die Tür in den Schutzzauber mit ein. Jeremys Basis. Er hatte gründliche Arbeit geleistet und sie auf das zweite Sicherheitslevel aufgewertet. Trotz seines Ablebens wirkte die Magie nach. Die bösartigen Energien Shaw Manors konnten sie hier kaum erreichen. Die Häuserflüsterin beugte sich hinab und verwischte die weißen Linien. Es brachte Unglück, die Basen verstorbener Gildenmitglieder zu verwenden.

Eine der Dielen knarzte unter ihrem Fuß, als sie sich weiter in den Raum vorwagte. Magnolia schenkte dem keine Beachtung, sondern sah sich nach einem Platz für ihre eigene Basis um. Die Eingangshalle war der perfekte Ort dafür. Dieser Raum war Gästen als erstes zugänglich. Er war unpersönlich und nahe am Ausgang gelegen. Die Gilde empfahl, die Basis um die Eingangstür herum anzulegen, doch Magnolia bevorzugte eine Stelle mit guten Schwingungen. Nur weil man das Haus verlassen konnte, war man nicht sicher. Besonders wenn sie das Level der Manifestation im Garten bedachte.

Sie ging den Raum ab, lauschte und spürte. Die Schwingungen waren schwächer als im Garten, drei Punkte auf ihrer Skala. Das musste Jeremys Werk sein. Die Protokolle der Gilde sahen vor, jedes Zimmer mit einem Reinigungsritual abzusichern, bevor man weiterzog. In Anbetracht dessen war es besorgniserregend, dass die Energie überhaupt über null war. Der Tod des Durchführenden schwächte ein Ritual nicht ab. Die dunklen Schwingungen mussten von den angrenzenden Räumen zurückgesickert sein. Wie Schlamm, der sich einen Weg durch die Lücken im Damm suchte. Jeremy konnte mit seiner Geisteraustreibung nicht weit gekommen sein.

Magnolia schluckte und versuchte nicht daran zu denken, was das für sie bedeutete. Sie gab ihre Suche auf. Das Reinigungsritual hatte die Signaturen zu sehr verwischt, als dass sie Schlussfolgerungen daraus ziehen konnte. Am Ende wählte sie die Ecke mit den meisten Spinnweben. Von hier aus waren es nur wenige Meter bis zur Tür, falls all ihre Schilde versagten und ihre letzte Hoffnung darin bestand, schneller zu rennen als das Grauen. Außerdem waren die Spinnen ein gutes Zeichen. Natürlich, gedankenkontrollierte Krabbler konnten unangenehm werden, waren aber in diesen Breitengraden selten tödlich. Der Vorteil bestand darin, dass Tiere Geister mieden. Je mehr Spinnen, desto weniger Spuk.

Sie versicherte sich, dass alles ruhig war, dann legte sie ihren Koffer auf den Boden und öffnete ihn. Das Behältnis war bis zum Rand mit Werkzeugen der Geisterjäger gefüllt. Fläschchen mit Tränken, Silberdolche, ein Ersatzlogbuch samt Feder, das Gildenlexikon, eine Laterne, jede Menge Streichhölzer, eine Signalfackel, Kreide, ein Pendel, Tarotkarten, Kristalle, ein Revolver, Behälter mit Knochen und Kräutern, Notfallrationen, eine Decke und noch einiges mehr. Alles, was ein Exorzist benötigen würde, plus Gerätschaften, die die Häuserflüsterin hinzugefügt hatte.

Sie nahm die Kreide hervor und zog einen Kreis. Es war nicht wichtig, dass es ein Kreis war – ihre Zeichnung ähnelte mehr einem Fächer –, sondern dass die Linie geschlossen und ungebrochen war. Sie zeichnete die Schutzrunen ins Innere und die Abwehrrunen außerhalb des Kreises. Dann holte sie einen Beutel hervor und verstärkte die Linie mit Salz. Das Mineral hatte eine reinigende Wirkung, die dem Bösen den Durchbruch erschwerte. Nachdem der Abwehrring aufgebaut war, reinigte sie das Innere mit einigen Tropfen Wasser und einem Zauberspruch. Es war das schwächste Reinigungsritual, das ihr zur Verfügung stand, und das schnellste. Jeremys Vorarbeit machte größeren Aufwand unnötig.

Zuletzt lagerte sie die Decke, einige Rationen, die Laterne sowie eine Packung Streichhölzer in ihrer Basis. Im Notfall sollte sie damit eine Nacht überstehen können. Sie sah sich in ihrer Oase um und dankte dem Haus laut dafür, sie bei ihrer Arbeit nicht behindert zu haben. Dann verließ sie die Eingangshalle und verbrachte den Rest des Tages mit Gartenarbeit.

Habe eine Basis des Level 1 in der Eingangshalle errichtet (Schritt 2, Rückzugsorte schaffen). Ansonsten habe ich weiter für Ordnung im Garten gesorgt. Keine besonderen Vorkommnisse. Werde morgen mit der Geisteraustreibung beginnen.