Die Siedlung der Toten - Max Landorff - E-Book

Die Siedlung der Toten E-Book

Max Landorff

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sie liegt idyllisch, doch sie atmet das Böse: die Siedlung. Mit einem Kopfschuss hingerichtet sitzt die Frau in ihrem Rollstuhl, aufrecht wie eine Mumie in ihrem Chanel-Kostüm – die letzte Bewohnerin der Siedlung. Idyllisch war es hier einst in den Bungalows an der Isar. Bis man die Leichen fand: 18 Tote, im Kreis angeordnet um eine Feuerstelle. Alle waren sie Bewohner der ersten Stunde. Welches Grauen verbirgt sich bis heute in der Siedlung? ›Die Siedlung der Toten‹: der beklemmende neue Thriller des Bestseller-Autors Max Landorff – hochatmosphärische deutsche Spannung mit raffinierten Wendungen und verstörendem Blick in menschliche Abgründe. »Ich trage die Siedlung in mir wie einen Nagel aus Titan, der in einen gebrochenen Knochen getrieben wurde. Ein Fremdkörper, der sich nur durch Schmerz bemerkbar macht. Doch nun ist die Zeit gekommen für die Operation. Jetzt muss der Nagel aus dem Knochen entfernt werden.«

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 362

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Max Landorff

Die Siedlung der Toten

Thriller

FISCHER E-Books

Inhalt

Teil 1 Die MordeHeuteTagebucheintrag 03. SeptemberSie steuerte den Wagen [...]Wasserdampf. Das Geheimnis hieß [...]Tagebucheintrag 04. SeptemberTag 1 der Ermittlungen: Donnerstag, 10. SeptemberTagebucheintrag 10. SeptemberZuerst dachte Eva Schnee, [...]Vor zwanzig JahrenDie englische Bulldogge Lenny [...]Sie starrte auf die [...]Kommissar August Maler war [...]HeuteTag 2 der Ermittlungen: Freitag, 11. SeptemberTagebucheintrag 11. SeptemberTag 2 der Ermittlungen: Freitag, 11. SeptemberTag 3 der Ermittlungen: Samstag, 12. SeptemberTagebucheintrag 13. SeptemberTag 4 der Ermittlungen: Sonntag, 13. SeptemberVor fünfzig JahrenEr war bestimmt der [...]Schon als Iris Jantschek [...]Lukas hatte ein Geschenk [...]Wo war eigentlich seine [...]HeuteTagebucheintrag 13. SeptemberTeil 2 Die KinderHeuteTag 5 der Ermittlungen: Montag, 14. SeptemberTagebucheintrag 15. SeptemberVor fünfzig JahrenDas Feuer krachte, Funken [...]HeuteTag 7 der Ermittlungen: Mittwoch, 16. SeptemberTag 8 der Ermittlungen: Donnerstag, 17. SeptemberTagebucheintrag 17. SeptemberTag 9 der Ermittlungen: Freitag, 18. SeptemberTagebucheintrag 19. SeptemberTag 11 der Ermittlungen: Sonntag, 20. SeptemberTag 12 der Ermittlungen: Montag, 21. SeptemberTag 13 der Ermittlungen: Dienstag, 22. SeptemberTeil 3 Die SiedlungHeuteTag 13 der Ermittlungen: Dienstag, 22. SeptemberTagebucheintrag 23. SeptemberTag 14 der Ermittlungen: Mittwoch, 23. SeptemberDie EichbergkurveTag 15 der Ermittlungen: Donnerstag, 24. SeptemberTagebucheintrag 24. SeptemberTag 16 der Ermittlungen: Freitag, 25. SeptemberTagebucheintrag 26. SeptemberTag 17 der Ermittlungen: Samstag, 26. SeptemberTag 19 der Ermittlungen: Montag, 28. SeptemberTag 20 der Ermittlungen: Dienstag, 29. SeptemberTag 21 der Ermittlungen: Mittwoch, 30. SeptemberVor sechzig JahrenWalter Konitzka sperrte die [...]HeuteTag 21 der Ermittlungen: Mittwoch, 30. SeptemberTagebucheintrag 30. OktoberEpilog

Teil 1Die Morde

Heute

03. September

Manchmal träume ich, dass ich in die Siedlung zurückkehre. Zurück zu den weißen Bungalows, zu den Kieswegen, den gebeizten Garagentoren. Und den Bäumen, die dort herumstanden wie alte Männer, gekrümmt und dürr.

Ich trage diesen Ort in mir, aber nicht so wie andere Menschen ihre Heimat in sich tragen, wie eine Flüssigkeit, die sich ins Blut gemischt hat und plötzlich warm werden kann – beim Anblick eines Handrasenmähers zum Beispiel oder beim Duft der Nadeln einer Latschenkiefer. Ich wünschte, es wäre so, und ich denke oft daran, dass die Siedlung so ein Gefühl hätte sein können. Wenn nicht … ja, wenn nicht …

Handrasenmäher hat es genug gegeben, mit gusseisernen Scherenwalzen, die in allen Gärten rasselten. Und die Kiefern ließen ihr Harz aus der Rinde fließen wie Honig. Es roch scharf und verklebte die Hände beim Klettern in den Ästen und beim Annageln gestohlener Bretter für ein Baumhaus. Das Zeug zu einer großartigen Heimat hätte sie gehabt, diese Siedlung. Der wilde Fluss, der wilde Wald, die sorglosen Eltern, die sagten: Komm nach Hause, wenn es dunkel wird.

Es sind nicht die Gedanken oder Gefühle, die unsere Biographie formen. Es sind die Ereignisse. Das, was geschehen ist. Auch wenn wir manchmal ein Leben lang nicht verstehen, was genau geschehen ist.

Ich trage diesen Ort wie ein Stück Metall in mir: wie einen Nagel aus Titan, der in einen gebrochenen Knochen getrieben wurde. Ein Fremdkörper, der sich nur durch Schmerz bemerkbar macht – bei bestimmten Bewegungen und bei manchen Wetterlagen.

 

Meine Träume von der Rückkehr in die Siedlung sind nie gleich. Aber es gibt nur zwei Varianten für den Ausgangspunkt der Handlung. In der einen überwinde ich im Traum die Zeit, und ich bin wieder der sechsjährige Junge, der ich damals war, als ich mit meinen Eltern und meinem noch ganz kleinen Bruder in die neue Bungalowsiedlung einzog: »Unter den Kiefern«, Hausnummer 3. Ich hatte mit den Möbelpackern vorn im Lastwagen mitfahren dürfen, die ganze Strecke von München an der Isar entlang hinaus aufs Land. Die Bundesstraße war damals noch eine Schotterstraße, geteert sollte sie erst Jahre später werden. Sicherheitsgurte gab es noch nicht.

Die Männer, die sagten: Komm, setz dich zwischen uns. Die Eltern, die sagten: Halt dich gut fest, wenn die bremsen müssen.

In diesen Träumen ist alles genauso, wie es damals wirklich gewesen ist, es gibt nur einen Unterschied in meinem Kopf: Ich kenne die Geschichte schon, nichts ist neu für mich. In diesen Träumen bin ich ein weiser Junge, der schon weiß, dass Herr Müller böse zu Kindern ist – lange bevor er es erleben soll. Der Herr Müller, der das Nachbarhaus bewohnte und seine weißen Haare mit Frisiercreme der Marke »Brisk« auf den Kopf klebte.

In der anderen Variante meiner Träume komme ich als alter Mann, sehr alt. Ich habe Gicht in Händen und Füßen, ich atme schwer und muss langsam gehen. Ich komme, um eine Antwort zu suchen, das stellt mein Gehirn im Schlaf klar. Und im Schlaf ist es ganz selbstverständlich, dass ich die zugehörige Frage noch nicht kenne, nur spüre, dass sie sehr wichtig ist. Die Siedlung in diesen Träumen ist verlassen. Die Häuser sind leere Hüllen, die Fenster ohne Scheiben. Immer schlägt eine Haustür im Wind und liefert den Rhythmus zu den Bildern. Das Gras ist hüfthoch und überwuchert die Gärten, verschmilzt die einst akribisch voneinander getrennten Reiche der Öhlers, Börnes, Rügemers und wie die Leute alle hießen. Die Kiefern senken ihre Äste tief auf die Dächer, viele Ziegel sind gebrochen. Die Steinplatten der Terrassen versinken im Boden.

Meine Träume von der Siedlung beginnen immer mit einem melancholischen Gefühl, nicht unangenehm, nicht beunruhigend. Doch sie enden stets damit, dass ich hochschrecke in meinem Bett. Ich weiß dann, dass ich geschrien habe. Der Schrei, der mich geweckt hat, hängt noch in der Dunkelheit des Zimmers, klirrt in meinem Kopf. Dann höre ich die Stimme meiner Frau: »Du hast schlecht geträumt, schlaf weiter, alles ist gut.« Sie weiß nichts von der Siedlung. Ein einziges Mal sind wir dort spazieren gegangen. Schau mal, hier habe ich als Junge Fußball gespielt. Solch ein Spaziergang ist das gewesen. Nichts weiß sie.

 

Heute Morgen konnte ich mich nicht erinnern, etwas geträumt zu haben. Ich stand in der Küche, drückte einen Kaffee aus meiner neuen, chromglänzenden Giulia-Espressomaschine, und mein iPad lud die neue Ausgabe der Süddeutschen Zeitung. Als ich vor zwei Jahren das Abonnement abgeschlossen habe, hat man mich gefragt, welche der Regionalausgaben ich mir wünschte. Und kurz bevor ich »keine« anklicken wollte, sah ich die Option »Landkreis Rupertshausen« und entschied mich anders. Forstham, das Dorf, an dessen Rand die Siedlung liegt, befindet sich in diesem Landkreis. Seither überfliege ich täglich diese Seiten, finde gelegentlich einen Namen unter den Todesanzeigen, der mir bekannt vorkommt, lese von der Eröffnung einer Turnhalle, der Abstimmung über eine Umgehungsstraße oder von einem Badeunfall in der Isar, die in dieser Gegend noch reißend ist und laut rauscht.

Es hat zum ersten Mal nach Herbst gerochen heute Morgen, das ist mir gleich nach dem Aufstehen aufgefallen, als ich das Küchenfenster geöffnet habe. Eigentlich noch ein Sommertag, der 3. September, und die Sonne hat tatsächlich den ganzen Tag geschienen, aber dieser Geruch hat dem Sommer seinen ersten Schlag versetzt. So einfach geht das: Die Nase nimmt ein paar Luftmoleküle auf, das Gehirn verknüpft die Information mit ein paar Erinnerungen … und schon ist der Sommer am Ende.

Ich habe auf den Regionalseiten heute Morgen die Überschrift gelesen: »Ein Hai nähert sich der Isar.« Und die Unterzeile: »Unbekannter Investor kauft berüchtigte Bungalowsiedlung ›Unter den Kiefern‹.«

 

Ich saß am Küchentisch mit meinem Espresso, und ich wusste sofort: Jetzt ist die Zeit gekommen für die Operation. Jetzt muss der Nagel aus dem Knochen entfernt werden.

 

 

Sie steuerte den Wagen schnell und sicher durch die Nacht. In den Lautsprechern entfaltete sich Schuberts Fantasie für Violine und Piano. Eva Schnee verstand nichts von klassischer Musik, aber beim Autofahren stellte sie meistens Klassik Radio ein. Es war kurz nach Mitternacht. Die Straße war trocken und leer, nur selten musste sie abblenden, weil ein Wagen entgegenkam. Sie war auf dem Weg nach Hause, zu ihrer Wohnung im Münchener Stadtteil Lehel. Sie hatte eine alte Schulfreundin besucht, die immer noch da draußen im Süden lebte, in dem Städtchen Rupertshausen, und die sich wahrscheinlich nie von dort wegbewegen würde. Sie hatte inzwischen zwei langweilige kleine Kinder, einen langweiligen Mann, und sie selbst war eigentlich auch schon immer langweilig gewesen. Aber sie hatte den größten Busen der Schule gehabt – und einen sich träge vorwärtsschiebenden Arsch, der früher die Jungs und später die Männer um sich scharte, als hätte er etwas zu verschenken. Über Männer mit ihr zu reden war immer noch sehr amüsant. Auch bei Mineralwasser und Tee.

Eva Schnee war Kriminalkommissarin, und sie hatte sich geschworen, nichts mehr zu trinken, wenn sie fahren musste. Gar nichts mehr, wirklich nichts. Vor drei Wochen war sie in eine nächtliche Kontrolle geraten, und der Streifenpolizist, dem sie ihren Dienstausweis gezeigt hatte, hatte verdammt lang gezögert und sehr genau ihr Sommerkleidchen und ihr Gesicht studiert, ehe er sie mit steinerner Miene durchgewinkt hatte.

Der viele Tee heute Abend zeigte seine Wirkung: Sie war hellwach, und sie überlegte, ob sie noch in einer Kneipe ein Glas Rotwein trinken sollte, wenn sie angekommen war. Sie kannte die Bundesstraße 11 nach München sehr gut, sie musste an nichts denken. Das Fernlicht fraß die weißen Mittelstreifen, die angeflogen kamen. Der Motor des BMW kratzte angenehm an der Geigenmelodie. Der schwarze Wald rechts und links hielt den Rest der Welt davon ab, näher zu kommen.

Als das Gesicht im Rückspiegel auftauchte, erschrak sie zuerst nicht. Es war ja ein sehr vertrautes Gesicht, und es war ein lächelndes Gesicht. Sie sah im Spiegel plötzlich die Augen ihres Vaters, und sein Gesicht war sehr nah, nahm die Fläche des Spiegels ganz ein. Genauso hatte er sie angesehen, bevor er starb. Genau dieses Gesicht hatte sie gespeichert. Neun Jahre alt war sie damals gewesen.

Eva Schnee wandte den Blick vom Rückspiegel ab, schaute auf die leuchtenden Instrumente am Armaturenbrett, sah ein Verkehrsschild vorbeiflitzen, 80 bei Nässe, drehte das Radio etwas lauter. Aber als sie den Blick wieder anhob, war das Gesicht ihres Vaters immer noch da, und es war kein eingefrorenes Bild – sie sah, wie seine Augenlider blinzelten, die Grübchen um seinen Mund sich bewegten, die Lippen sich öffneten.

»Du musst vorsichtig sein, mein Hündchen«, sagte ihr Vater.

Und jetzt gab es keine anderen Geräusche mehr, keine Musik, keinen Motor, nur noch diese Stimme, die sie so furchtbar vermisst hatte. Mein Hündchen, so hatte er sie immer genannt.

»Nichts ist so, wie es scheint«, sagte ihr Vater.

Dann fiel plötzlich ein Schatten auf sein Gesicht, die Gesichtszüge lösten sich auf im Dunkeln, bis nur noch die Augen blieben. Sie bohrten sich förmlich ins Glas des Spiegels. Und jetzt erschrak Eva Schnee, so sehr, dass sie auf die Bremse trat, den Wagen auf dem schmalen Wiesenstreifen zum Stehen brachte und heraussprang. Ihr Herz raste, ihre Kehle war zugeschnürt, sie kämpfte um Luft.

Was war das gewesen? War sie in eine Art Trance gefallen? Vielleicht sogar kurz eingeschlafen? Der berüchtigte Sekundenschlaf? War sie gar nicht so wach, wie sie dachte?

Sie öffnete die hintere Wagentür. Natürlich war da nichts auf der Sitzbank. Sie lehnte sich an den Wagen, versuchte, gleichmäßig zu atmen. Die Scheinwerfer eines Autos tauchten auf. Halt bloß nicht an, dachte sie, aber da war der Wagen schon vorbei, der Luftzug zerrte an ihrer Jacke und der offenen Autotür. Schuberts Fantasie fand wieder den Eingang in ihren Kopf.

 

Definitiv würde sie noch die Bar in ihrer Straße aufsuchen, und sie würde nicht nur ein einziges Glas Rotwein trinken. Denn das letzte Bild im Rückspiegel musste schnell den Ausgang aus ihrem Kopf finden. Das Bild, bei dem sie so erschrocken war.

Ehe sie verschwanden, hatten sich die Augen im Spiegel plötzlich verändert. Farbe, Form, Ausdruck. Was sie da aus der Dunkelheit ihres Wagens oder ihres Gehirns angeblitzt hatte – das waren nicht die Augen ihres Vaters.

 

 

Wasserdampf. Das Geheimnis hieß Wasserdampf.

Kostüme, Mäntel, Pullover, Kleider, Blazer, Blusen, das alles sah auch nach 30 Jahren noch wie neu aus, wenn man es von Zeit zu Zeit in Wasserdampf hängte. Dusche aufdrehen, ganz heiß, das Kleidungsstück am Bügel danebenhängen, Badezimmertür zumachen. Zehn Minuten warten. Dann rausholen und auf der Terrasse in der frischen Luft trocknen lassen. Das war alles. Angela Börne hatte nie verstanden, warum das nicht alle Leute so machten. Jetzt war es natürlich schwierig für sie. Der Heizöltank im Keller war leer, und sie hatte kein Geld, ihn auffüllen zu lassen. Also hatte sie kein warmes Wasser. Aber jetzt war das nicht mehr so schlimm. Die paar Jahre noch. Was brauchte sie schon warmes Wasser? Sie hatte noch vier Schränke voller Kleidung aus den guten Zeiten mit Johannes, jedes Stück gepflegter als das andere. Und ihr Körper hatte sich ihr ganzes langes Leben so angefühlt, als stünde er in einem kalten Wasserstrahl, schon als sie ein junges Mädchen war.

»Gott bist du steif«, hatte Johannes gesagt, als er sein hartes Ding in sie gebohrt hatte – und sie darauf wartete, dass sich ein schönes Gefühl einstellte oder wenigstens ein erträgliches. Sie hatte sofort bei ihrer Entjungferung verstanden: Ihre Sache war Sex nicht. Und würde es auch nie werden. Sie lächelte ihr dünnes Lächeln, als sie daran dachte. Das Lächeln, das Johannes so aggressiv gemacht hatte. Er hatte nie verstanden, dass es das einzige Lächeln war, das sie hatte.

Angela Börne saß am Fenster des Bungalows, hing ihren Gedanken nach und blickte in den Garten. Sie saß mit geradem Rücken, die Hände lagen nebeneinander im Schoß. Schon ein paar Stunden saß sie so da, wie sie es jeden Tag tat. Heute war ihr einundachtzigster Geburtstag, aber sie würde am Tagesablauf deshalb nichts ändern. Wozu? Allerdings trug sie ihr Chanel-Kostüm von 1967. Sollte keiner sagen, sie hätte ihre Figur nicht gehalten.

Was da inzwischen so alles wuchs im Garten. War das Schilf, dieses mannshohe Gewächs? Der Zaun war längst verrostet und zerrissen, Moos bedeckte die Terrasse, aus dem Beet links an der Mauer schoss ein Schierlingsgewächs, das aber schon am Umknicken war, weil es den Saft verlor. Beim Anblick der vielen Oleandertöpfe, aus denen heute nur noch ein paar verholzte tote Stümpfe ragten, musste sie an ein paar glückliche Momente denken. Bald würde der Herbst alles zur Ruhe bringen, das Laub alles zudecken. Gartenarbeit, fand sie, musste man entweder richtig machen, also jeden Tag, jahrein, jahraus, jeden Tag – oder es aufgeben. Sie hatte schon lange keine Nerven mehr dafür, keine Kraft und kein Geld. Sie wusste, dass alle im Ort Forstham sie für eine alte Hexe hielten. Die letzte Bewohnerin der Siedlung. Kinder strichen manchmal durch die verlassenen Wege, obwohl es ihnen sicher von den Eltern verboten worden war. Sie näherten sich ihrem Bungalow, spähten in den Garten zu den Fenstern herüber – und erschraken, wenn sie die Frau hinter der Scheibe erblickten: bewegungslos, lautlos. Dann liefen sie weg. Sie hatten Angst vor ihr. Gut so.

Wann war ihr Sohn zum letzten Mal hier gewesen? Vor fünf Jahren? Vor acht Jahren? Ihr Gedächtnis … Wenn er kam, lieferte er nur ein Paket Hass ab. Das letzte Mal hatte er gesagt: »Dann verrecke doch in deiner Sturheit, du vertrocknetes Stück Holz.« Er hatte es ganz leise gesagt, aus einem versteinerten Mund. Und dann hatte er die Haustür so fest zugeworfen, dass ein Stück Putz herabgefallen war. Es lag immer noch dort in der Diele. Mit Putzen war es fast wie mit Gartenarbeit.

Sie sah ein schwarzes, schweres Motorrad anhalten, sah, wie sich ein schwarzer Helm in ihre Richtung drehte. Ein Mann klappte mit dem Fuß den Ständer aus und stieg ab.

Franz? Ihr Sohn?

Sie bekam Angst. Dann sah sie, wie er sich bewegte. Nein, nicht Franz, Gott sei Dank. Der Mann stieg über das aus den Angeln gefallene Gartentor, das quer über dem Weg zum Haus lag. Wie ein schwarzer Astronaut. Jetzt hörte sie die Klingel. Wie lang war es her, dass sie diesen Ton zuletzt gehört hatte? Zwanzig Jahre? Damals hatte es oft geklingelt, und fast immer war es der Kommissar gewesen, der blasse, junge Kommissar. August Maler hatte er geheißen. Seine Visitenkarte lag immer noch auf der Anrichte im Wohnzimmer. »Wenn Ihnen doch noch etwas einfällt …« Er war sehr überrascht gewesen, als sie ihn gestern angerufen hatte, aber er hatte sofort gewusst, wer sie war.

Franz klingelte nie, er hatte einen Schlüssel. Erstaunlich, dachte sie wieder einmal, dass sie ihr den Strom noch nicht abgestellt hatten. Sie zahlte schon ein paar Monate nicht mehr. Oder noch länger? Ihr Gedächtnis … Sie lenkte den Rollstuhl zur Eingangstür, strich dabei das Chanel-Kostüm an den Armen und um die Hüften glatt. Für Johannes war das immer sehr wichtig gewesen, dass sie ihre Figur behielt. Trotzdem hatte er sein Ding in andere Frauen gebohrt. Weil sie so steif gewesen war.

Sie öffnete die Tür und sah am Zurückweichen des Mannes, dass er den Geruch nicht mochte, der ihm aus dem Haus entgegenschlug. Tja. Nur kaltes Wasser, kein Parfum mehr, keine Putzmittel, keine Haushaltshilfe wie früher. Sollte sich mal nicht so anstellen, der junge Mann.

»Ja?«, sagte sie.

»Du weißt, warum ich da bin?«, sagte der Mann. Sie konnte die Augen hinter dem Visier sehen, freundliche, neugierige Augen.

»Nein«, sagte sie. Und wusste, dass sie dabei keine Miene im Gesicht verzog. Steif, steif, steif.

»Ich habe etwas für dich«, sagte der Mann und lächelte. Sie sah, wie er in die Innentasche seiner Lederjacke griff. Was er hervorholte war eine Pistole. Er lächelte noch einmal und holte aus der anderen Tasche ein längliches, rundes Rohr heraus, das er ohne Eile auf den Lauf der Pistole schraubte. Sie wusste, was das war, sie war ja nicht dumm. Es war ein Schalldämpfer. Und jetzt glaubte sie in dem Gesicht hinter dem Visier etwas wiederzuerkennen. Etwas aus der Steinzeit ihres Lebens. Man hätte es erst ausgraben müssen, um es genauer zu sehen. Und dafür fehlte jetzt die Zeit. Sie war ja nicht dumm. Als der Mann die Pistole auf sie richtete, lachte sie. Sie war überrascht von dem lauten Ton. Wann hatte sie zuletzt gelacht? Vor 50 Jahren?

 

Sie war doch nicht dumm, dachte sie, und sie lachte, als der Mann abdrückte.

04. September

Ich arbeite mit Sprache, das ist mein Beruf. Deshalb liegt mir viel daran, dass diese Einträge genau sind – und verständlich. Sprache kann alles zugrunde richten. Ob man jemandem vertraut oder nicht, jemanden liebt oder hasst, ob ein Projekt erfolgreich ist oder nicht, letztlich hängt alles an den richtigen – oder falschen – Worten. Ich will die richtigen Worte finden. Ich will sie nicht benutzen, um einen guten Eindruck zu machen. Dieses eine Mal in meinem Leben will ich das nicht tun: einen guten Eindruck machen. Wenn diese Geschichte abgeschlossen ist, spielt es keine Rolle mehr, was Menschen über mich denken. Ich werde genau aufschreiben, was ich weiß. Und was ich nicht weiß.

 

Vor 49 Jahren und 146 Tagen habe ich gesehen, wie mein Freund Martin ums Leben kam. Vielleicht war er auch noch gar nicht mein Freund, vielleicht waren wir erst am Anfang einer Freundschaft. Sieben Jahre alt waren wir beide, es war unser erstes Schuljahr, die Lostrommel des Lebens hatte uns am ersten Tag in die Schulbank nebeneinandergesetzt, seine Schultüte war kleiner als meine, das weiß ich noch.

Ich sah den grünen Porsche, der in der Eichbergkurve heranschoss, ich sah sogar die Augen des Fahrers, sie waren – weiß. Weiße Augen gibt es nicht? Doch, es gibt sie, ich schwöre. Vielleicht werden Augen weiß, wenn sie sehen, dass sie töten? Es gab kein Bremsgeräusch, keine quietschenden Reifen. Das Ganze ging in unheimlicher Stille vor sich, jedenfalls in meinem Kopf. Der grüne Wagen, die weißen Augen. Dann der Schlag Mensch gegen Blech. Kleiner Mensch gegen großes Blech. Und das Geräusch der Fontäne. Eine Fontäne aus hellrotem Blut schoss von der Straße in die Luft und fiel wieder zurück. Schwapp, schwapp, zweimal. Martins Blut.

Ich beobachtete das aus dem Gebüsch, den Körper fest auf den feuchten Waldboden gepresst. So fest, dass die nassen Tannennadeln die Beine hochkrochen, sogar unter die neue Lederhose, die noch ganz hellgrau war und so gut roch. Ich weiß noch, dass mir der Gedanke durch den Kopf schoss, meine Mutter würde schimpfen, weil die Hose schon nach einem Tag voller Schlamm und Grasflecken war. Das alles weiß ich ganz genau. Nach 50 Jahren.

Was ich nicht weiß: WARUM lag ich auf dem Boden, dort in dem Waldstreifen bei der Bundesstraße? Warum hob ich nur ein wenig den Kopf und wagte nicht zu atmen? Und was war das für ein Geräusch, das ich vor dem Unfall gehört hatte? Es geistert bis heute durch meine Seele. Ein helles Geräusch war das, ein alarmierendes: das Wimmern eines Tieres? Vier gleich lange Töne, jeder höher als der vorige.

Und die schlimmste aller Fragen: Warum bin ich nicht aufgesprungen und hingelaufen?

Mein Gehirn hat den Zugang zu den Antworten gesperrt. Und seit all den Jahren ahne ich: aus gutem Grund.

 

Ich schreibe diese Zeilen im Zimmer des Hotels Klostermaier, etwa zwanzig Kilometer südlich von München, es ist abends, schon nach elf Uhr. Meine Reisetasche steht noch unausgepackt auf dem Ständer neben der Tür. Das Zimmer liegt im zweiten Stock, es hat einen Holzbalkon, von dem aus man die Alpenkette sehen kann. Das Bett ist breit und bequem, der Raum ist in sandfarbenen Tönen eingerichtet. Auf dem Schreibtisch steht eine Flasche Adelholzener Mineralwasser und ein Glas hausgemachte Aprikosenmarmelade zur Begrüßung. Nach Forstham zur Siedlung »Unter den Kiefern« fährt man von hier aus nur zehn Minuten.

Tag 1 der Ermittlungen Donnerstag, 10. September

Nichts lockt mich aus der Reserve, nichts lässt mich die Kontrolle verlieren, nicht mal der Verwesungsprozess meiner Leiche, dachte Eva Schnee. Nach allem, was die Ermittlungsakten hergaben – und da hatte sich einiges angesammelt in zwanzig Jahren – war klar: Die Sätze des Gerichtsmediziners nach der ersten Inspektion ihrer Leiche hätten Angela Börne gefallen. Er klappte seine Tasche zu und sagte: »Diese Frau ist wie eine Mumie. Ich kann den Todeszeitpunkt jetzt nicht annähernd schätzen, vor drei Tagen? Vor zehn Tagen? Immer heißt es ja, wir sollen viel trinken, das ist gesund. Ich bin da nicht so sicher. Ich habe schon ein paarmal solche Leichen gesehen, die der Tod irgendwie nicht verändert hat, selbst die Würmer bleiben weg. Zu trocken.« Der Mann streifte die Gummihandschuhe ab und redete mehr zu sich selbst. »Vielleicht werden wir viel älter, wenn wir nicht so viel trinken und dauernd unsere Zellen gießen, die Zellen und das Leben. Vielleicht ist es besser, auszutrocknen. Diese Frau wäre vielleicht nie gestorben – wenn nicht jemand auf sie geschossen hätte.« Mit diesen Worten und einem gnädigen Kopfnicken ging er an der Kommissarin vorbei. Sie sah ihm nach, wie er über das umgefallene Gartentor stieg, das Grundstück verließ und aus ihrem Blickfeld verschwand.

Dann schaute sie wieder die Leiche an.

Angela Börne saß im Eingangsbereich ihres Bungalows im Rollstuhl, die Augen offen, geradeaus zur Tür gerichtet. Die Ellenbogen waren auf die Armlehnen des Rollstuhles gestützt, die Hände vor dem Bauch gefaltet. Ihr Rücken war gerade, der Kopf war weder zur Seite noch nach vorn gekippt. Auf der Stirn war ein Einschussloch, aus dem ein lächerlich kleiner Tropfen Blut ausgetreten war und sich auf den Weg Richtung Nasenwurzel gemacht hatte, ehe er geronnen war. Ihre Füße, die in goldfarbenen Pumps steckten, ruhten vollkommen symmetrisch nebeneinander auf den ausgeklappten, dafür vorgesehenen Trittbrettern.

Kommissarin Eva Schnee dachte beim Anblick der Toten an etwas ganz anderes: Sie hatte heute Abend ein Date mit einem Typen, der ihr richtig gut gefiel, jedenfalls im Chat und auf den Fotos. Was sie wohl als ersten Satz sagen sollte? Sie waren zum Sushi-Essen verabredet, das Lokal hatte sie vorgeschlagen, ein kleines, helles Restaurant mit sehr netten Japanern, die den Fisch schnitten und bedienten.

Eva Schnee dachte fast immer an etwas anderes als an das, was sich unmittelbar anbot. Das war schon so gewesen, als sie noch ein kleines Mädchen war. Wahrscheinlich würde sie dann heute Abend im Lokal an die tote Angela Börne denken, an die Ermittlungsakten, an diese unheimliche Siedlung hier draußen in Forstham. Es war ein Defekt, dass ihr Gehirn so arbeitete, jedenfalls dachte sie das. Sie war deshalb schon bei Ärzten gewesen, bei Psychologen, sogar bei Psychiatern. ADHS hatte einer diagnostiziert und ihr Ritalin empfohlen. So ein Blödsinn. Der Mann hatte gar nichts kapiert.

Es war kurz nach 15 Uhr jetzt, der 10. September. Ein grauer Tag, leichter Nieselregen sorgte für nasse Straßen und regnerische Gesichter. Die Experten der Spurensicherung hatten sich inzwischen des Bungalows bemächtigt. Eva Schnee würde gleich mit dem Sohn der Toten sprechen, der sie gefunden hatte. Er saß auf einem alten Gartenstuhl, den er sich unter die Kiefer gezogen hatte, die mitten auf dem Grundstück stand. Ein großer, schlanker Mann mit grauen Haaren. Er saß mit dem Rücken zum Haus. Wirkte sogar von hier aus abweisend und verschlossen.

Eva Schnee hatte sich heute Morgen für schwarze Jeans und ein anthrazitfarbenes Sweatshirt entschieden, auf dessen Vorderseite ein silberner Adler die Flügel ausbreitete. In Verbindung mit den Stiefeletten und der schwarzen Nylonjacke mit der Kapuze sah sie ein bisschen rockig aus. Aber am Morgen hatte sie noch nichts gewusst von der toten Angela Börne und von dem ironischen Lächeln ihres Chefs, das er zeigte, als er ihr diesen Fall übertrug. Vielleicht hätte sie sonst etwas anderes angezogen. Mit Mitte dreißig hatte sie immer noch nicht zu einem eigenen Stil gefunden, das ärgerte sie. Mal sah sie aus wie eine Dame, mal wie eine Schülerin, fand sie.

In einer Augenbraue ihres Chefs befanden sich zwei einzelne viel zu lange Haare, das war ihr gleich aufgefallen, als er vorhin zu sprechen angefangen hatte. Wie zwei Drahtantennen ragten sie heraus. Und während er sprach, dachte sie an ihren Lateinlehrer, bei dem das auch so gewesen war. Ein paar Haare seiner Brauen wollten mehr vom Leben als die anderen, wollten höher hinaus.

So war ihre Welt. Sie hörte ihren Chef sagen, »Das ist Ihr Fall, Frau Schnee, das ist genau Ihr Fall«, und dachte dabei an ihren Lateinlehrer, wie er dozierte: »Das Wort ›Pietas‹ wird immer mit ›Frömmigkeit‹ übersetzt, das ist Quatsch. Ich sage euch, was Pietas bedeutet: Als Äneas seinen sterbenden Vater auf den Schultern aus dem brennenden Troja trug – das ist Pietas.«

Eva Schnees Chef hatte ihr heute Morgen die fünf Ordner der Ermittlungsakte gegeben, auf deren Rücken das Zeichen M8/94 geschrieben stand und: »Unter den Kiefern.« Er hatte ihr gesagt, sie solle unbedingt seinen pensionierten Vorgänger aufsuchen und mit ihm reden. »August Maler heißt er, er wurde schon früh pensioniert. Das Herz … Der weiß alles über den damaligen Fall, hat ihn bearbeitet. Da war er noch jung.« Ihr Chef hatte eine Pause gemacht, auf die Tischplatte gestarrt. »Was heißt bearbeitet … der hat sich reingebohrt in diesen Fall. War ja auch spektakulär, achtzehn Tote, Sonderkommission … Am Ende nur noch Maler, der nie aufgeben wollte. Gehen Sie zu ihm.«

 

Jetzt blickte Eva Schnee in die Augen von Angela Börne und dachte: Was würdest du heute Abend beim Date als ersten Satz sagen? Und sie dachte außerdem: Als ich ziemlich klein war, hab ich mal mit dir geredet, Frau Börne. Und du warst ganz unmöglich zu mir, richtig ätzend. Weißt du das noch? Nein, du weißt es nicht mehr. Ich sehe es an deinem Blick.

10. September

Heute wurde die Leiche von Angela Börne gefunden. Als ich zur Siedlung kam, war die dritte Zufahrtsstraße gesperrt, zwei Polizisten in Uniform standen davor. Die Siedlung liegt am äußersten Rand des Ortes Forstham, dahinter kommen nur noch der Wald und der Fluss. Sie ist wie ein Rechteck angelegt. Die Längsseiten sind etwas breitere Straßen, die Verbindungen dazwischen sind schmaler und führen zu den Eingängen der Grundstücke. Es gibt vier solche Zufahrten. Rechts und links davon stehen jeweils drei Bungalows. Börnes wohnten in der dritten Straße. Mit dem Sohn, dem Franz, habe ich mal einen kleinen Hecht gefangen, Mann waren wir stolz, meine Mutter hat ihn uns gebraten. Unser Haus war in der zweiten Straße.

Ich habe mich mit den Polizisten unterhalten. Am Anfang waren sie sehr abweisend. Aber in solchen Sachen bin ich Profi. Leute zu etwas überreden, was sie nicht wollen – das kann ich. Etwas tun, was sie nicht tun wollen, etwas preisgeben, was sie eigentlich für sich behalten sollen, etwas denken, was ihnen bislang nicht in den Sinn gekommen wäre.

»Jetzt hat’s also die Letzte auch noch erwischt«, sagte der eine Polizist nach einer Weile, der ältere, dicke. Ein richtiger Bayer. »Zwanzig Jahre später … O mei … Und immer noch weiß niemand, was da los war.«

»Wieso die Letzte? Das verstehe ich nicht«, habe ich gesagt.

»Sie sind nicht aus der Gegend, oder?«, hat er gesagt.

»Nein«, hab ich gesagt.

Und dann hat er es eben noch mal erzählt, was damals los war. Und ich hab ungläubige Augen gemacht. Achtzehn Tote?

»Der Kommissar aus München, der das übernommen hat damals … der ist darüber herzkrank geworden«, sagte der Polizist schließlich. »Nix hat er rausgefunden. Nix. Aber jeden Tag war er hier. Jahrelang.«

Der Mann sprach von August Maler. Ich denke oft an diesen Kommissar. Er hatte mich damals dreimal vernommen, war extra dazu nach Hamburg gekommen, wo ich wohnte. Und er rief immer wieder an, auch noch Jahre später, sogar in Amerika, als ich mal für zwei Jahre in New York war. Ob mir nicht doch noch irgendetwas eingefallen sei, wollte er immer wissen. Irgendetwas aus meiner Kindheit, eine Kleinigkeit nur, etwas Nebensächliches. Irgendetwas, was in diesem furchtbaren Verbrechen eine Rolle gespielt haben könnte. Sogar nach seiner Herztransplantation hat August Maler noch mal angerufen. Aber das war dann das letzte Mal. Ich weiß gar nicht, ob er noch lebt, und ich wollte die Polizisten heute natürlich nicht danach fragen.

 

Ich ließ die beiden dann stehen und ging zur Isar. Durch den Wald, die alten Wege, die schon damals von den fetten Wurzeln der Kiefern durchquert waren. Wie braune Schlangen kamen sie aus dem Boden und verschwanden wieder darin. Mit dem Fahrrad musste man da aufpassen, dass es einen nicht geschmissen hat, wenn man im Affentempo durch den Wald heizte – besonders wenn der Boden feucht war wie heute. Man kannte deshalb jede einzelne dieser Wurzeln. Vielleicht war es nur Einbildung, aber ich meinte, einige davon heute Nachmittag wiedererkannt zu haben. Plötzlich hört der Wald dann auf, und man steht vor dem Fluss, das ist immer noch genauso. Die Isar hat hier grünes Wasser, ganz klar, mit weißen Schaumkronen auf den Wellen. An manchen Stellen ist sie tief, da ist ihr Wasser dunkelgrün, an den seichten Stellen ist es hell, und man sieht den Grund. Ihr Lauf ändert sich ständig. Wie eine Peitsche schwingt er hin und her, in dem breiten Bett aus Lehm und Kies und Felsbrocken. Jedes Frühjahr, wenn die Schneeschmelze in den Bergen das Hochwasser bringt, nimmt die Isar hier andere Kurven. Und an den früheren entstehen Altwasser, tote Arme des Flusses, in denen wir damals versuchten, Fische zu fangen, und uns auf selbstzusammengenagelten Flößen vorkamen wie Tom Sawyer und Huck Finn. Das waren zwei Jungs aus einem Roman von Mark Twain, der am Mississippi spielte. Kennt heute bestimmt keiner mehr. Damals wollten alle Jungs auf der ganzen Welt so sein wie diese zwei, jede Wette. Das beste Floß, das wir je gebaut hatten, bestand aus drei leeren Teerfässern aus Blech, die wir auf einer Baustelle gestohlen hatten. Wir legten Bretter drauf und banden das Ganze mit einem Strick zusammen. Das schwamm erstklassig. Man konnte sogar darauf stehen. Immer, bevor wir nach der Schule loszogen, sagte meine Mutter: »Denk daran, dass du noch nicht schwimmen kannst, pass auf, dass du nicht ins Wasser fällst, sonst bist du tot.«

Aber meine Mutter hatte keine Ahnung von den wirklichen Gefahren.

Sie wusste nicht, dass wir nur bewaffnet in den Wald gingen, wie Soldaten im Krieg, dass wir uns tarnten, dass wir Beobachtungsposten einnahmen, Stellungen verteidigten, dass wir eigentlich immer Angst hatten. Der Wald und der Fluss war Feindesgebiet, davon hatten die Erwachsenen keinen Schimmer. Und die Feinde, das waren die Kessler-Brüder, die Grabowski-Sippe und der Schenkel Ernsti, der eine gespaltene Oberlippe hatte. Sie wohnten in Holzhütten im dunkelsten Teil des Waldes. »Krattlerbaracken« sagten die Leute im Ort zu den grobgezimmerten Festungen, um die herum sich Gegenstände anhäuften, die genauso ausgestoßen und verloren wirkten wie die Bewohner: Autoreifen, verrostete Fahrradrahmen, Bretter, Planen, Sessel, aus denen Stahlfedern ragten, Ofenrohre, ein großes Bett, das weiß ich noch genau, mit einer alten Matratze. Zwei Beine waren abgebrochen, also hing es schief über dem Waldboden. »Krattler« nannten die Leute in Forstham die Kesslers und Grabowskis. Wir hatten uns den Baracken nie auf mehr als fünfzig Meter genähert und das nur durchs Gebüsch robbend mit so starkem Herzklopfen, dass einem danach das Brustbein weh tat.

Am meisten fürchteten wir die Kesslers. Sie wohnten in der größten Baracke, die ganz hinten lag, nah am Fluss. Der Vater war im Gefängnis, die Mutter wurde der dreizehn Kinder, die sie geboren hatte, nicht Herr. Zwölf Jungs und ein Mädchen. Das waren die Kesslers. Das Mädchen war die Älteste. Manchmal sah man sie mit auftoupierten Haaren und roten Lippen durch Forstham zur Bushaltestelle an der Bundesstraße gehen. Sie schaute niemanden an und lächelte nie. Aber in der Schule sagten alle, dass sie für Geld ihren Arsch zeigt. Die war bestimmt schon sechzehn. Alle Kesslers hatten weit auseinanderstehende Augen, sogar die ganz kleinen hatten das schon. Der älteste Kessler hatte immer eine schwarze Lederjacke an, von der alle in Forstham sagten, sie sei bestimmt gestohlen, weil die Kesslers doch eine einzige Diebesbande seien. Und immer hatte er einen Helm auf, einen olivgrünen Soldatenhelm. Die Leute in Forstham sagten, dass es ein Ami-Helm sei, kein deutscher Helm. Sie sagten es hinter vorgehaltener Hand und mit vielsagenden Blicken. Der zweitälteste Kessler-Bruder steckte meistens in einer grauen Stoffjacke, die eher wie ein Mantel aussah.

Ich besaß damals mehrere selbstgebaute Pfeile und Bogen. Die Pfeile hatten scharfe Blechspitzen, die wir aus alten Dosen geschnitten hatten. Ich hatte Knüppel und eine Steinschleuder, sogar ein richtiges Tomahawk mit einem Stein als Keil. Der Fluss hatte viele Steine flachgeschliffen, man fand leicht einen in Beilform. Er wurde in einen – am oberen Ende gespaltenen – Weidenstock gesteckt und mit einer Schnur kreuzweise festgezurrt. Wenn wir in den Wald gingen, schmiedeten wir Pläne und bauten Baumhäuser, machten Feuer und überlegten, wie wir den Kesslers eins auswischen konnten. Wir mussten uns verteidigen und wegrennen und uns verstecken und anschleichen, wir hatten von Dornen eingerissene Haut und aufgeschlagene Knie und verstauchte Knöchel. Es war ein Leben in der Wildnis, so fühlte es sich an, und es war kein Spiel.

Das Spiel war zu Hause. Mit dem Vater auf dem Fußboden liegen und kleine Matchbox-Autos umparken, auf der Terrasse Tischtennisturniere veranstalten, mit der Mutter Strohsterne für Weihnachten basteln, mit den Eltern nach München zum Oktoberfest fahren und in die Geisterbahn einsteigen. Gespielt haben wir mit den Erwachsenen. Das wirkliche Leben war dort, wo die Brennnesseln wuchsen, wo die Kreuzottern krochen, der Schenkel Ernsti herumgeisterte und die Kesslers uns auflauerten.

 

Ich war heute noch einmal auf dem Friedhof, habe Namen gelesen und versucht, mich zu erinnern.

Die Siedlung wurde Anfang der sechziger Jahre gebaut. Entworfen hatte sie ein junger Architekt, ehrgeizig und überheblich, dem es nicht darum ging, die Architektur zu revolutionieren. Die Menschen wollte er ändern, wollte sie aus ihrer Spießigkeit holen, die Kleinbürgerlichkeit auslüften. Die Bungalows standen auf einer durchgängigen Rasenfläche, ohne Zäune, ohne Hecken. Sie standen so geschickt seitenversetzt Rücken an Rücken, dass abgeschirmte Bereiche entstanden und auch großzügige Flächen für alle gemeinsam. Der Architekt sah die Menschen beieinandersitzen, miteinander Fußball spielen, Feste feiern. Junge Familien sollten hier einen modernen Lebensstil anfangen, frei und unbeschwert von gesellschaftlichen Normen.

Die jungen Familien kamen auch. Aber so schnell hätte man das architektonische Konzept nicht in Worte fassen können, ehe es von den Bewohnern der neuen Bungalows unterlaufen wurde. Zäune wurden gezogen, Erker wurden angebaut, Hügel mit Gartenzwergen angelegt, Veranden gezimmert, Baldachine gespannt, Hauswände bemalt, Springbrunnen aufgedreht. Die Börnes bekamen eines Tages eine gelbe Hollywoodschaukel geliefert. Ich habe nie einen von ihnen drin sitzen sehen.

Beim Grab von Johannes Börne bin ich kurz stehen geblieben. Ziemlich jung war der, als er gestorben ist, viel jünger, als ich heute bin. Er war ein ziemlicher Lackaffe – mit graumelierten, dichten Haaren, die in einer geradegeschnittenen Linie endeten. Er trug nur weiße Hemden, fuhr einen Ford Capri, so eine Art Sportwagen, in Metallicblau. Er hatte immer halbgeschlossene Augen, nahm Kinder nicht wahr, von Beruf war er Vertreter, keine Ahnung, für was. Einmal hat er im Vorbeifahren gesehen, dass ich ein echtes Messer im Gürtel hatte. Es war ein Jagdmesser von meinem Großvater, ich hatte es im Wohnzimmerschrank gefunden. Der Börne bremste, stieg aus und nahm mir das Messer ab. Am Abend klingelte er bei meinen Eltern, brachte es zurück und sagte, so etwas sollten sie nicht zulassen.

Es gab natürlich Ärger, aber nicht so schlimmen, wie es sich der Börne erhofft hatte. Mein Vater mochte ihn auch nicht. »Ein seltener Holzkopf«, sagte er. Niemand weiß genau, woran er dann später so schnell gestorben ist. Wir waren schon weggezogen und haben es am Telefon erfahren. Plötzlich schwer krank, hat es geheißen. Ein einziges Mal war ich bei denen zu Hause, bin im Esszimmer gesessen bei einer Tasse Kakao. Es war am Geburtstag vom Franz. Wahrscheinlich war es sein siebter. Es war keine Party, nein, nein, da saßen nur der Franz Börne, seine Eltern und ich. Der Vater hat gar nichts gesagt, und die Frau Börne hat ihn die ganze Zeit angeschaut mit so einer Mischung aus Angst und Ekel im Blick. Ich war sehr froh, als der Kakao alle war und wir endlich rausdurften, in den Wald zum Fluss.

 

Den Namen Kessler findet man auf dem Friedhof übrigens nicht. Die Baracken sind längst abgerissen, wo sie standen, wachsen heute Weiden und wilde Himbeersträucher. Vielleicht bin ich der Einzige, der weiß, was aus den Kesslers wurde. Den Weg jedes Einzelnen von ihnen habe ich über die Jahrzehnte verfolgt und dokumentiert. Einer von uns musste das doch tun.

 

 

Zuerst dachte Eva Schnee, der Mann hätte einen Hüftschaden, bisschen früh für Ende dreißig. Aber dann erklärte er seinen merkwürdigen Gang damit, dass sein rechtes Bein schon bei seiner Geburt etwas kürzer gewesen sei als das linke. Er sagte es, als sie nebeneinander hergingen, die Münchener Prinzregentenstraße entlang Richtung Friedensengel. Die Sushi waren längst gegessen, die ersten Sätze ihres Dates lagen Stunden hinter ihnen. Sie hatten zwei Wodka Martini aus der Marine-Bar im Blut, und der Himmel spannte sich inzwischen sternklar über die Stadt.

Sie fand es attraktiv, dass er sich bewegte wie auf schwankendem Boden. Sie mochte seinen breiten Oberkörper, und sie mochte auch, dass sie fast den ganzen Abend über Bücher geredet hatten, Lieblingsautoren, Lieblingsstellen – und noch nicht ein einziges Mal über seinen Job als Kunstsachverständiger in der Pinakothek oder ihren bei der Mordkommission. Es war jetzt schon nach Mitternacht, und er schlug vor, sich einen Moment auf die Bank unterhalb der Säule des Friedensengels zu setzen. Die Luft war warm genug, und sie hatten beide leichte Mäntel übergeworfen. So saßen sie da, zu ihren Füßen das Lichterband der Prinzregentenstraße, die Brücke über die Isar, die schwarz glitzerte. Sollte er versuchen, sie zu küssen, würde sie es geschehen lassen, dachte sie. Und sollte er vorschlagen, noch zu ihm nach Hause zu gehen, würde sie mitgehen. Sie war ein bisschen beschwipst und noch ein bisschen mehr verliebt. Milan hieß er. Er hatte dicke, schwarze Haare, die aber ganz kurz geschnitten waren. Er war glattrasiert, und er hatte einen schön geschwungenen, breiten Mund.

»Wenn wir aus dem Fluss einen Fingerhut voll Wasser schöpfen würden«, sagte er, den Blick geradeaus gewandt. »Wenn wir jedes einzelne Wassermolekül rot einfärben und dann zurück in den Fluss schütten würden …« Er drehte sein Gesicht zu ihrem. Sie roch sein Aftershave und seinen Atem. »Dann würden sich diese Moleküle im Laufe der Jahre in das Wasser auf der ganzen Welt mischen. Und egal, wo wir dann später einen Fingerhut voll abschöpfen würden, zum Beispiel am Strand in Neuseeland – es wären immer noch tausend der roten Moleküle drin.«

In dieser Sekunde brummte und fiepte ihr Handy in der Tasche des Blazers. Eva Schnee ignorierte es, beugte sich vor und küsste den schönen Mund.

 

Erst als sie im Morgengrauen vor Milans Wohnung im Westend in ein Taxi stieg, um nach Hause zu fahren, kontrollierte sie das Display ihres Telefons. Es waren zwei Nachrichten. Die Nummer des ersten Absenders war ihr unbekannt.

»Liebe Frau Schnee, bitte rufen Sie mich an, vielleicht kann ich Ihnen beim Mordfall Börne in Forstham helfen. August Maler.«

Die zweite Nachricht war offenbar von einem Rechner verschickt worden, sie zeigte als Absender nur ein Kürzel an. Es bestand aus drei Buchstaben: EEE. Die Nachricht war kurz. Sie lautete: »Such in der Vergangenheit. Frag nach den Kindern.«

Vor zwanzig Jahren

Die englische Bulldogge Lenny hatte schon bessere Zeiten erlebt als diese. Iris Jantschek erinnerte sich etwas wehmütig daran, wie Lenny als junger Hund die Wege im Wald entlanggeschossen war, wie er sich entschlossen ins Wasser der Isar gestürzt hatte, um ein Stück Holz herauszuholen. Jetzt war sie es, die vorausging, und hinter ihr, stets noch weiter zurückfallend, schleppte sich die alte Bulldogge dahin. Dr. Söcken, der Tierarzt, hatte gesagt, dass sie nicht aufhören durfte mit den Spaziergängen, nur weil Lenny schon ziemlich alt, faul und zu dick war.

Es war sieben Uhr morgens, und es war Gott sei Dank schon hell. Die Wintermonate, in denen sie den Weg im Dunkeln gehen musste, waren lang vorbei. Iris Jantschek konnte nur morgens um sieben mit dem Hund spazieren gehen. Ab acht Uhr war sie am Arbeiten, jeden Tag außer Sonntag. Sechs verschiedene Putzstellen hatte sie inzwischen an Land gezogen, und sie hatte auch vor, sie zu behalten, deshalb war sie so zuverlässig wie ein D-Zug. Das war ein Ausdruck, den ihre Mutter immer benutzt hatte: pünktlich wie ein D-Zug. Seit ihre Mutter letztes Jahr gestorben war, verwendete Iris Jantschek immer häufiger Redewendungen, die sie von ihr kannte. Ihre Mutter war nur 66 Jahre alt geworden. Im Herbst hatte sie angefangen zu husten, kurz vor Weihnachten war der Lungenkrebs im Kernspin diagnostiziert worden, an Ostern hatte es sie schon nicht mehr gegeben. Ja, ja, die Zigaretten, murmelten Leute oft, wenn sie davon hörten. Das machte Iris wütend: Nicht eine einzige Zigarette hatte ihre Mutter in ihrem ganzen Leben geraucht, auch keine einzige Zigarre oder Pfeife. »Was daran schön sein soll, Rauch einzuatmen, kann ich nicht verstehen.« Das hatte sie immer gesagt.