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Max Landorff

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Beschreibung

Es ist eine Lüge, dass die Zeit alle Wunden heilt

Es ist nicht wahr, dass die Liebe Brücken baut.

Es ist nicht wahr, dass man alles hinter sich lassen kann.

Gabriel Tretjak scheint alles verloren zu haben – seine Frau, seine Lebensziele, seine Profession, Dinge zu regeln. Doch dann muss er handeln. Jemand ist auf der Suche nach ihm und schreckt vor Morden nicht zurück. Aber warum das Ganze? Wer ist da auf einem Rachefeldzug – und was hat das alles mit Tretjaks kleinem, sehr besonderen Sohn zu tun?

Ein Thriller der Sonderklasse – mit dem ungewöhnlichsten Helden des Genres

Die Rückkehr des Reglers – der neue Bestseller von Max Landorff.
Niemand löst Probleme so elegant, spurlos und zuweilen tödlich wie er – ein neuer Auftrag für den Regler par excellence.
Wer sich noch an ihn erinnert, wird dieses Buch lieben – wer ihn noch nicht kennt, kann ihn nach diesem Thriller nicht mehr vergessen.

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Seitenzahl: 309

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Über das Buch

Gabriel Tretjak führte die letzten Jahre ein bürgerliches Leben mit seiner Frau und ihrem gemeinsamen Sohn. Sogar seinen Namen hatte er geändert. Aber dann verlässt ihn plötzlich seine Frau, verschwindet von einem Tag auf den anderen aus seinem Leben. Und Tretjak verliert beinahe den Boden unter den Füßen. Er versucht, die Trauer mit seinem alten Prinzip zu bekämpfen: Die Vergangenheit kann man abschneiden, das Schicksal kann man ändern, Dinge lassen sich regeln.

Als ihn die Medizin-Nobelpreisträgerin Catherine Bernard um Hilfe bittet, scheint das zunächst eine willkommene neue Aufgabe für den Regler. Es geht um revolutionäre Methoden der Gehirnchirurgie, um wissenschaftliche Konkurrenz und Konzernpolitik, so wird es dargestellt. Tretjak ahnt nicht, was wirklich dahintersteckt, was für ein unheimliches Geschehen sich bereits zusammenbraut. Menschen werden bedroht und gequält, Morde geschehen. Hat der Regler seine Instinkte verloren?

Tretjak stellt zunächst die falschen Fragen. Und er begreift erst spät, dass er eingreifen muss, und zwar ganz anders als er dachte. Jemand sucht ihn, jagt ihn. Tretjak muss sein eigenes Leben beschützen – und das Leben seines Sohnes. 

Niemand löst Probleme so elegant, spurlos und zuweilen tödlich wie er – ein neuer Fall für den Regler

Über Max Landorff

Max Landorff ist das Thriller-Pseudonym der Brüder Andreas und Stephan Lebert. Ihre bisherigen Romane über den Regler waren Bestseller und wurden in mehrere Sprachen übersetzt.

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Max Landorff

Ohne Reue

Die Rückkehr des Reglers

Thriller

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Prolog

Teil 1 — Heute

Erster Tag: Pfarrkirche Oberronnberg, Niederbayern

Zweiter Tag: Ludwig-Maximilian-Universität, München

Dritter Tag: Polizeipräsidium München

Intensivstation, Kreiskrankenhaus Straubing

Stadtteil Germering, München

Vierter Tag: Stadtteil Germering, München

Polizeipräsidium, München

Fünfter Tag: Via Monte Napoleone, Mailand

Ostfriedhof, München

Highland Hill Hospital, London

Stadtteil Germering, München

Sechster Tag: Kommissariat der Kriminalpolizei, Mailand

Polizeipräsidium, München

Teil 2 — Zwei Monate zuvor

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Teil 3 — Heute

Siebter Tag: Stadtteil Germering, München

Tierpark Hellabrunn, München

Polizeipräsidium, München

Stadtteil Germering, München

Teil 4 — Vier Wochen vorher

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Teil 5 — Heute

Achter Tag: Klenzestraße, München

Bernauerstraße, München

Teil 6 — Eine Woche zuvor

Kapitel 1

Kapitel 2

Teil 7 — Heute

Achter Tag: Rechtsmedizin, München

Bernauerstraße, München

Mittlerer Ring West, München

Neunter Tag: Polizeipräsidium, München

Teil 8 — Zwei Tage zuvor

Kapitel 1

Teil 9 — Heute

Neunter Tag: Polizeipräsidium, München

Kommissariat der Kriminalpolizei, Mailand

Durdle Door, Grafschaft Dorset, England

Castle Winwood, England

Zehnter Tag : Castle Winwood, England

Elfter Tag: Castle Winwood, England

Epilog

Impressum

Wer von diesem Thriller begeistert ist, liest auch ...

Prolog

Jonathan Healy, den alle nur BB nennen, die Abkürzung für »Big Black«, weil er 203 Zentimeter groß ist, 250 Pfund schwer und seine Haut die Farbe seiner Vorfahren aus Ghana hat, schreckt aus dem Schlaf hoch und braucht ein paar Sekunden, um zu begreifen, was los ist. Vor ihm wird gerade jemand erschossen. Der Mann bricht zusammen, röchelt noch das Wort »Verräter«. Dann wird der riesige Panasonic-Flachbildschirm schwarz, und in weißer Schrift erscheint zuerst der Name des Regisseurs, dann rechts unten im Bild das Feld »Nächste Folge«. Den Fernseher hat er sich vergangenes Jahr geleistet. Und gleich zusätzlich den Mitronic-Massagesessel, der vier verschiedene Entspannungsprogramme hat. BB sucht auf seinem Schoß nach der Fernbedienung und schaltet den Fernseher aus.

Jemand pocht an seiner Tür, und zwar so laut, dass es auch einen Bären aus seinem Winterschlaf geweckt hätte. BB blickt auf seine Armbanduhr und stellt fest, dass es schon nach Mitternacht ist. Er wird die Folge der Serie morgen noch einmal anschauen, offenbar ist er gleich zu Beginn eingeschlafen.

»Ja«, ruft er laut und gleitet etwas steif aus dem Sessel, »komme ja schon!«

Wer zum Teufel will denn um diese Uhrzeit etwas von ihm?

Sein kleines Steincottage liegt am Ortsende von Marlsworth Grove, direkt zwischen Ortsschild und dem Feuerwehrhaus. Es besteht im Grunde nur aus einem größeren Raum mit Kochnische, einem dahinter liegenden Schlafzimmer und einem kleinen Bad. Aber es hat einen Speicher für allerhand Krempel und einen erstaunlich großen Garten, in dem BB seine Tomaten, Kohlrabi und Gurken anbaut. Die Kohlrabi sind dieses Jahr richtige Prachtexemplare.

BB dreht den Schlüssel um und öffnet die schwere alte Holztür.

Der Mann, der jetzt im Lichtschein vor ihm steht, sieht ihn wortlos an.

»Sie?«, fragt BB erstaunt.

Die Nacht hinter dem Mann ist schwarz und still.

»Bringen Sie mich zu ihm, bitte«, sagt der Mann.

»Jetzt? Mitten in der Nacht? Warum?«

»Bitte«, sagt der Mann.

BBs lange stumme Blicke sind bei seinen Freunden und Kollegen berühmt. Dieser jetzt ist so lang wie die englische Küste. Schließlich greift er sich seine Jacke, die innen neben dem Eingang hängt, zieht die Schlüssel ab und wirft die Haustür hinter sich zu. Er geht an dem Mann vorbei zur Straße. Den silbernen Audi SUV, der dort parkt, ignoriert er.

»Wir nehmen meinen Wagen.«

Es ist eine milde Oktobernacht. Der Himmel ist klar, aber ohne Mond. Das Scheinwerferlicht des Wagens beleuchtet eine schmale Teerstraße, tastet sich an Hecken entlang. Ab und zu taucht eine Einfahrt zu einem Grundstück auf. BB fährt einen alten Mazda, bei dem die Schienen des Fahrersitzes nach hinten versetzt worden sind, damit er Platz hat.

»Wie geht es Daniel?«, fragt der Mann auf dem Beifahrersitz nach einer Weile.

BB zuckt die Achseln.

»Wir hören viel Musik in letzter Zeit«, sagt er. Dann lächelt er. Und beginnt leise zu singen. »Yummy Yummy Yummy, I got love in my tummy … Kennen Sie das?«

Vom Beifahrersitz kommt keine Reaktion.

»Ohio Express heißt die Gruppe. Bubblegum-Musik aus den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Die liebt er. Sugar, Sugar … Mercy, Mercy … solche Songs.«

BB setzt den Blinker, der laut klackt. Sie biegen in eine Einfahrt ein, auf einen leicht ansteigenden Kiesweg. Rhododendronbüsche, ein steinerner Brunnen.

»Sie wissen, dass Daniel jetzt schläft«, sagt BB und denkt an das Röhrchen mit der Aufschrift »Slenyko«. »Und Sie wissen auch, wie tief er jetzt schläft.«

Ein Gebäude taucht auf. Türme, Erker, Torbögen. Grauer Stein, alle Fenster dunkel. BB hält den Wagen vor der Treppe zum Eingang an, macht den Motor aus. Sie steigen aus und gehen auf eine schwach beleuchtete breite Glastür zu. Daneben ist eine große Granitplatte an der Mauer angebracht mit eingravierten Buchstaben: »Castle Winwood«.

BB hält eine Plastikkarte an ein Lesefeld, die Flügel der Glastür gleiten zur Seite. Die Lichter im Eingangsbereich gehen automatisch an. Hinter einem Empfangstresen auf der rechten Seite ertönt ein Seufzer. Eine junge Frau richtet sich in ihrem Stuhl auf und blinzelt. Ihre blonden Haare sind ein bisschen verstrubbelt.

»Schon gut, Jenny, schlaf weiter«, sagt BB. »Alles in Ordnung.«

Die Frau blickt BB und den anderen Mann an, nickt und sieht den beiden Männern hinterher, wie sie die gewundene Steintreppe in den ersten Stock nehmen. Die Glastüren im Eingang gleiten wieder zu.

Das Zimmer 21 ist am Ende eines langen Ganges. BB öffnet die Tür leise, knipst die Beleuchtung an, dimmt sie aber gleich mit geübtem Griff ab. Er schließt die Tür wieder, tritt zur Seite und mustert den Mann, den er mitgebracht hat. Er sieht verändert aus seit ihrer letzten Begegnung. Ungepflegt, unrasiert, ziemlich fertig. Wie jemand, der drei Nächte durchgemacht hat. Seine Augen schweifen unruhig durch das Zimmer. Immer noch dieselbe Holzkiste mit Spielsachen steht da in einer Ecke, immer noch dieselben Bilderbücher stehen aufgereiht und unbenutzt im Regal. Nur das große Foto vom Meer an der Wand, das ist neu, und die Bluetooth- Lautsprecherbox neben dem Bett auch. Auf dem Kissen unter der Decke mit den blauen Sternen spitzt ein dunkler Haarschopf hervor.

Der Mann tritt an das Bett, zieht die Decke ein wenig zur Seite, betrachtet das Gesicht des Kindes. Dann setzt er sich an den Bettrand, zieht die Schuhe aus und legt sich daneben. Er zieht die Decke über sich und schließt den Jungen fest in seine Arme.

»Können Sie mich morgen früh wecken, bevor alles losgeht, hier?«, flüstert er in Richtung BB. »Dann verschwinde ich wieder.«

BB sieht, dass der Mann die Augen schließt. Er bleibt noch eine Weile stehen, dann hört er gleichmäßige Atemzüge und verlässt das Zimmer.

Als er unten im Empfangsbereich ankommt, gehen wieder automatisch die Lichter an. Zu BBs Überraschung sitzt Jenny zwar auf ihrem Drehstuhl hinterm Tresen, allerdings mit dem Rücken zu ihm.

»Jenny? Alles okay? Sorry, dass wir dich gestört haben«, sagt BB.

Jenny antwortet nicht. Liest sie etwas? Ist sie doch eingenickt? Irgendwie scheint ihm ihre Haltung plötzlich merkwürdig.

»Jenny?«

Er tritt an den Tresen, beugt sich darüber und stupst sie an der Schulter. Der Sessel dreht sich in seine Richtung. Jetzt sieht BB mehrere Dinge gleichzeitig. Er sieht, wie Jenny ihn anstarrt, erschrocken und ungläubig. Er sieht, dass ihre weiße Bluse ganz nass und dunkelrot ist. Und er sieht, dass aus ihrer Brust der Griff eines Messers ragt.

In diesem Moment hört er hinter sich eine Stimme. Sie klingt ruhig und angenehm. Wie ein Arzt, der zu einem Patienten spricht.

»So, Herr Healy«, sagt diese Stimme. »Und nun gehen wir beide noch einmal in den ersten Stock.«

Teil 1

Heute

»Du sollst nicht töten.«

(Bibel)

Erster Tag

Pfarrkirche Oberronnberg, Niederbayern

Die Stimme am Telefon klang nach Angst. Der Pfarrer Joseph Lichtinger konnte im ersten Moment gar nicht einschätzen, ob es eine männliche oder eine weibliche Stimme war. Jung klang sie und sorgenvoll. »Herr Pfarrer, ich muss Sie unbedingt sprechen. Nicht am Telefon, darf ich vorbeikommen? Ich brauche Ihren Rat. Es ist dringend.«

Der Pfarrer dachte an seinen Rehrücken, den er jetzt gleich in den Ofen schieben wollte. »Gut, dann kommen Sie doch sofort«, sagte Lichtinger. »Wissen Sie, wo das Pfarrhaus ist?«

»Ja, ich kenne mich aus. Ich würde aber lieber in die Kirche in Oberronnberg kommen. Können wir auch in der Kirche reden?«

»Das geht auch«, sagte Lichtinger.

In der kleinen Kirche in Oberronnberg wurden schon lange keine regelmäßigen Messen mehr gehalten. Sie wurde nur noch zu besonderen Gelegenheiten geöffnet, Taufen, Gedenkgottesdienste, hin und wieder eine intime Trauung. Sie lag einsam auf einem Hügel, große Maisfelder davor, kahl jetzt im Herbst, dahinter Wald. Joseph Lichtinger lenkte seinen VW Golf über einen schmalen Teerweg, der eigentlich nur für land- und forstwirtschaftlichen Verkehr freigegeben war. Aber da zählte sich der Pfarrer großzügig dazu. Er textete seiner Haushälterin, dass es etwas später würde mit dem Abendessen. Er hatte sie zu seinem Rehrücken eingeladen. Es dämmerte bereits, und über den Feldern bildete sich Nebel. Er wunderte sich, dass er kein anderes Auto vor der Kirche sah, aber als er näher darauf zu fuhr, entdeckte er beim Eingang eines dieser modernen E-Bikes, die wie kleine Motorräder aussahen und auch fast so schnell waren. Eine Gestalt löste sich aus dem Schatten der Hauswand, während Lichtinger parkte und ausstieg.

Es war ein junger Mann. Ein wenig mehr als zwanzig Jahre alt, schätzte Lichtinger. Sehr blass. Jeans, schwarzer Anorak. Er nahm die Mütze ab. Lange, weiche blonde Haare fielen auf seine Schulter.

»Hallo«, sagte er nur. Und: »Danke.«

Lichtinger sperrte die Kirche auf, und sie setzten sich in die erste Reihe der schlichten Holzbänke.

»Herr Pfarrer, meine Wut …« So begann der junge Mann. »Diese Wut … Wenn einem was ganz Schlimmes angetan worden ist, richtig schlimm … Da hab ich die Frage an Sie: Wo kann ich mit meiner Wut hin, wie kann ich den Wunsch nach Rache und Vergeltung loswerden?«

Oberronnberg war keine helle Kirche, die Fenster waren eher klein und die Scheiben bunt bemalt mit Motiven aus dem Neuen Testament. Sie ließen selbst an einem Sommertag nicht viel Licht herein. Lichtinger stand auf und knipste die indirekte Beleuchtung hinter dem Altar an. Der junge Mann schien ihm sehr aufgeregt, und der Pfarrer sah es als seine Aufgabe an, ihn erst einmal zu beruhigen. Deshalb zündete er noch drei Kerzen auf einem Ständer neben der Bank an, ehe er sich wieder setzte und fragte:

»Was hat man Ihnen angetan? Was ist da passiert?«

Aber es kam kein Gespräch zustande. Der junge Mann wirkte abwesend. Als würde er nicht zuhören, als erwartete er auch nicht wirklich eine Antwort auf seine Frage.

Lichtinger überlegte, mit welchen Worten er den jungen Mann doch erreichen könnte.

Aber da stand sein Gegenüber schon auf. In der Hand plötzlich einen Revolver. Er richtete ihn auf das Gesicht des Pfarrers.

»Wo ist Gabriel Tretjak?«, fragte er. Und seine Stimme klang jetzt sehr anwesend.

Lichtinger starrte in die Mündung der Waffe. Er wunderte sich, dass er nichts fühlte. Vielleicht der Schock.

»Ich weiß es nicht«, sagte er. Es war lange her, dass er von Gabriel gehört hatte. Aber es passte zu ihm, dass er sich auf eine so sonderbare Weise zurückmeldete. Wenn es um seinen Freund Gabriel ging, wurde es immer gefährlich. »Was wollen Sie von ihm?«

Die Frage schien im Zwielicht der Kirche zu verharren. Und der blonde junge Mann machte einen Schritt nach vorne.

»Sie wissen es nicht?«, fragte er. Und er setzte dem Pfarrer den Lauf der Waffe auf die Stirn. »Das glaube ich Ihnen nicht, Herr Lichtinger. Nach meinen Informationen sind Sie der einzige Mensch, der immer genau weiß, wo Gabriel Tretjak ist. Also noch mal: Wo ist er?«

Lichtinger suchte fieberhaft nach einem Gedanken, der ihn befreien konnte, einem Satz, den er sagen konnte, um diesen Mann abzulenken oder wenigstens davon zu überzeugen, dass er die Wahrheit sprach.

»Ich weiß es wirklich nicht«, sagte er. »Ihre Information stimmt schon lange nicht mehr.«

Er sah, wie der Mann wieder zurücktrat, aber ohne den Revolver zu senken. Er holte aus seiner Anoraktasche ein kleines schwarzes Etui hervor, bückte sich, legte es vor sich auf den Boden und öffnete es. Lichtinger erkannte kleine Werkzeuge, Messer, Feilen, eine Säge, eine Zange, eine Pinzette.

»Wie Sie wollen«, sagte der Mann. »Dann werde ich die Antwort anders aus Ihnen herausziehen müssen.«

Lichtinger war in seiner Jugend Leistungsturner gewesen, hatte damals sogar eine Zeit lang im Ringverein mittrainiert. Aber das war Jahre her, Jahrzehnte. Er war noch fit, aber nicht fit genug, um es mit einem Revolver aufzunehmen. Er beobachtete den Mann, wie er ein Messer aus dem Etui nahm. Und als er den Blick sah, mit dem der Mann sich ihm jetzt näherte, wusste Pfarrer Josef Lichtinger: Das hier würde nicht gut ausgehen.

Zweiter Tag

Ludwig-Maximilian-Universität, München

August Maler war überrascht gewesen, dass der Hörsaal so voll war. Einige der Menschen hatten nicht mal einen Sitzplatz gefunden, sondern lehnten an den Wänden. Der Dekan der medizinischen Fakultät hatte gelächelt. »Ich wette, manche sind gar keine Medizinstudenten«, hatte er gesagt. »Wir sind eben auch besser geworden im Marketing. ›Der Kommissar mit den drei Herzen‹ war anscheinend eine zugkräftige Überschrift.«

Nun stand er also vor diesen jungen Leuten und fragte sich, wie er auf sie wirkte. Ein schmaler grauhaariger Mann in grauer Kleidung, den niemand aus dem Publikum in der U-Bahn bemerkt hätte. Das Interessanteste an ihm konnte man nicht sehen, dazu hätte er sich ausziehen müssen. Es waren zwei Narben. Eine war auf seiner Wade. Sie war klein und rund und niedlich. Sie rührte von einer Schusswunde her, die er sich bei der Verfolgung eines flüchtigen Verdächtigen zugezogen hatte. Lange her. Die andere war dreißig Zentimeter lang, rosa und hässlich, und sie verlief senkrecht von oben nach unten auf seinem Brustbein. Nicht so lange her. Kriminalkommissar August Maler sollte hier erzählen, wie das so war, wenn man herzkrank wurde, wenn einem schließlich dieses Herz aus der Brust geschnitten und durch ein fremdes ersetzt wurde. Und wenn dann das fremde Herz auch wieder krank wurde und noch mal ersetzt wurde.

Der Dekan stellte die meisten Fragen, aber die Studierenden durften sich auch in das Gespräch einschalten. Maler hatte sich nicht zum ersten Mal für so eine Veranstaltung zur Verfügung gestellt. Pflichtbewusstsein? Ja, er fand es schon wichtig, dass die Patientensicht in der immer komplexer werdenden Apparatemedizin gehört wurde. Aber nicht nur: Irgendwie fühlte er sich dabei auch selbst gut. Inge behauptete, es läge daran, dass ihm wieder bewusst wurde, wie wertvoll sein Leben war.

Inge.

Welche Rolle spielen Partner und Angehörige? Hatte eine Studentin mit einer blauen Brille eben gefragt.

Maler erinnerte sich an seine Nächte auf dem Balkon ihrer Wohnung, als es ihm so schlecht ging, als er nur noch im Sitzen atmen konnte und an Schlaf nicht zu denken war. Die Nächte, in denen die Entscheidung anstand. Er wollte zuerst keine zweite Transplantation, auch deshalb, weil er Inge und den Kindern das Ganze nicht noch einmal zumuten wollte. Das Warten auf das geeignete Herz, die Angst, die Operation, die Sorgen bei den Besuchen in der Intensivstation … Diese langen schweren Monate. Aber fast jede Nacht gab es den Moment, in dem Inge sich plötzlich zu ihm gesellte auf dem Balkon. Oft redeten sie gar nichts, saßen nur still nebeneinander. Nach einer Weile stand Inge auf, legte ihm ihre Hand auf die Schulter und ging wieder ins Bett.

»Ich weiß nicht, ob das für alle gilt«, sagte Maler, »aber für mich kann ich sagen: Ohne meine Frau und meine Familie hätte ich es nicht geschafft.«

Es folgten Fragen zur Medikamentierung, zur Reha, zum Dialog mit den Ärzten, zu seiner körperlichen Verfassung. Die letzte Frage lautete: Wie das denn jetzt in seinem Job sei als Kriminalbeamter in der Mordkommission? Da lächelte er und gab seine Standardantwort. »Ich arbeite inzwischen genauso wie die Verbrecher – in Teilzeit mit sehr flexiblen Zeiten.«

Es war jetzt kurz nach fünfzehn Uhr. Maler stand im Gang vor dem Hörsaal, wechselte noch ein paar Worte mit dem Dekan und verabschiedete sich. In diesem Moment baute sich eine Frau vor ihm auf, die er schon vorher aus den Augenwinkeln wahrgenommen hatte.

»Grüaß Gott, Herr Kommissar,« sagte sie. »Freisinger ist mein Name.«

»Grüß Gott, Frau Freisinger.« sagte Maler, »was kann ich für Sie tun?«

»Nix. Für mich können’s gar nix tun, aber ich, ich wollt Ihnen was sagen. Ich bin ja von Beruf Sanitäterin …«

»Das sehe ich.«

Frau Freisinger trug eine weiß-rote Uniform, mit dem sichtbaren Roten Kreuz darauf. Die Uniform kaschierte weitgehend, wie korpulent sie war. Der runde, feuerrote Kopf ließ darauf schließen, dass da einiges kaschiert werden musste.

»In Straubing«, sagte sie, »hab heut wieder die späte Schicht wie gestern.«

Sie erzählte, dass sie gestern Abend zu einer kleinen Kirche gerufen wurden, wo ein Pfarrer lebensgefährlich verletzt in seinem Blut lag.

»Die Haushälterin hat sich gewundert, wo der bleibt und ist zur Kirche gefahren. Da hat sie ihn gefunden. Der hat schlimm ausgeschaut, der Pfarrer. Messerstiche im Gesicht und überall. Und immer wollt er noch was sagen, ich bin ganz nah an seinen Mund. War echt schlecht zum Verstehen. Der hatte ganz schlimme Schmerzen. Maler hab ich dann verstanden, Kommissar Maler. Und dann hat er noch was gesagt, da war ich erst nicht sicher, ob ich’s überhaupt richtig verstanden hab.«

»Was hat er gesagt?«, fragte Maler.

»Also, der hat gesagt: Es geht um den Regler. So hat er des gesagt. Grad noch hat er’s rausgebracht. Und dann war er schon bewusstlos. Ich hab erst gedacht, der meint ein Gerät. Den Polizisten, die inzwischen auch schon da waren, hab ich das auch gesagt. Das hat die aber nicht interessiert.«

Maler sah die Sanitäterin an. Er spürte, wie ihm kalt wurde.

»Wie hieß der Pfarrer?«, fragte er.

»Lichtinger – Joseph Lichtinger. Sagt Ihnen der Name was?«

»Was ist mit dem Pfarrer passiert?«

»Ich mag das nicht beurteilen, aber das war ein Angriff. Überall Wunden. Ein Finger hat ihm auch gefehlt. Jetzt liegt er im Koma in der Klinik in Straubing. Glaub nicht, dass der durchkommt.«

Maler merkte, dass er die Sanitäterin abwesend anstarrte.

»Es gibt übrigens noch einen anderen Kommissar Mahler. In Essen, der schreibt sich aber mit h«, sagte Freisinger. »Ich hab Sie heut Nacht ja gegoogelt. Die Veranstaltung hier war gleich das Erste, was gekommen ist. Und dann auch alte Schlagzeilen von Ihren Fällen. Da war’s dann: der Regler. Hat doch einen Sinn ergeben, was der Pfarrer gesagt hat. Das wollt ich Ihnen sagen.«

»Danke, Frau Freisinger«, sagte Maler. Er sah der Sanitäterin nach, wie sie ihren schweren Körper durch den Gang der Uni schob.

Maler suchte die Toilette auf, spritzte sich Wasser ins Gesicht und ging langsam zum Ausgang. Wo stand noch mal sein Wagen?

Schellingstraße? Georgenstraße? Wie in Trance lief er umher. Als er ihn schließlich gefunden hatte, blieb er ein paar Momente hinter dem Steuer sitzen.

Joseph Lichtinger. Der Pfarrer.

Und Gabriel Tretjak. Der Regler. So hatte er sich selbst bezeichnet. Der Mann, der anderer Leute Leben regelte. Mit allen Mitteln.

Das war die Selbstbeschreibung seines Berufs.

Maler startete seinen Wagen und lenkte ihn durch den einsetzenden Feierabendverkehr Richtung Autobahn Lindau. Immer noch wohnten die Malers in derselben Wohnung im Stadtteil Germering. Mit dem Balkon, auf dem er so viele elende Stunden verbracht hatte. Mit dem Treppenhaus, wo es zu einem Schusswechsel gekommen war, bei dem dieser Gabriel Tretjak ihnen das Leben gerettet hatte.

Inge hatte dennoch damals gemeint, dass sie diesen Mann nie mehr in ihrem Leben haben wollte.

Maler hatte in seiner Ehe gelernt, dass es gar nichts brachte, Sachen zu verschweigen, weil man den anderen schonen wollte. Trotzdem war er sich jetzt sicher, dass er Inge nichts von dem Besuch der Sanitäterin erzählen würde, auf keinen Fall.

Stattdessen beschrieb er am Abend in der Küche bei mit Auberginen und Hackfleisch gefüllten Pfannkuchen den überfüllten Hörsaal.

»Ich bin mit einem Star verheiratet«, sagte Inge.

»Ja, das bist du«, sagte Maler.

Ihr jüngerer Sohn Max verdrehte die Augen und ging in sein Zimmer. Ihr älterer Sohn Paul war unterwegs mit seiner Freundin Paula, angeblich bei einem Vortrag, und wollte auch bei ihr übernachten.

»Waren auch Groupies da?«, fragte Inge.

»Jede Menge«, erwiderte August Maler.

Dritter Tag

Polizeipräsidium München

Die Kreuzung Arnulfstraße Landshuter Allee war ein Gewirr von Ampeln, Abbiegespuren, Auffahrten zum mittleren Ring und Fußgängerübergängen. Wer sich an dieser Kreuzung verabredete, um ins Auto zu springen, musste auf die Minute pünktlich sein. An ein längeres Stehenbleiben war nicht zu denken. Qualle war immer pünktlich. Maler hielt an, Qualle riss die Tür auf, warf sich auf den Beifahrersitz, Maler fuhr weiter.

»Chef, ich habe eine Idee«, sagte Qualle. Das war meistens der erste Satz, den Maler von ihm jeden Morgen zu hören bekam. Maler hatte sich darauf eingestellt, dass man nicht sofort alles verstand, was er sagen wollte. Aber meistens wurde dann doch irgendwann klar, dass es nie blöd war, was Qualle sagte.

»Ich muss da rein«, sagte Qualle.

Maler schwieg.

»Ich glaube, es geht nicht anders. Ich will wissen, was das für Leute sind. Wie die ticken. Wer da mit wem fickt.«

»Hilf mir kurz«, sagte Maler, »ich war mit meinem Kopf gerade ganz woanders. Von was sprichst du?«

»Na, vom Obdachlosenasyl. Von dem Mord an dem Mann, der den Papagei im Zimmer hatte.«

»Ach ja«, sagte Maler, »klar.«

»Ich habe schon einen Weg gefunden. Ich könnte da inkognito eine Woche in dem Café unten arbeiten, so eine Art Kantine ist das, die suchen dringend Leute. Sag ja, Chef, bitte.«

August Maler hatte gelernt, was alle Polizisten gelernt haben. Polizisten machen keine Rollenspiele. Polizisten ermitteln mit offenem Visier. Polizisten sind keine verdeckten Ermittler, und wenn sie es eines Tages werden, dann ist das eine andere Baustelle.

Maler sagte: »Okay, mach.«

»Danke, Chef.«

August Maler mochte seinen Assistenten inzwischen, er mochte dessen Energie. Wie lange arbeiteten sie jetzt zusammen? Zwei Monate? Zwei Dinge waren an Qualles erstem Arbeitstag auffallend gewesen. Die Haare, beziehungsweise was von ihnen noch übrig war, ein hoher Kamm, Farbe Lila. Mein Name ist, sagte er: Qualle.

Jeder wie er mag, dachte Maler. Und er sagte es auch, als einmal von oberer Stelle Fragen kamen. Qualle? Sein eigentlicher Name war Thomas Quadel. Quadel konnte er aber nicht leiden, daher machte er den Spitznamen zu seinem Namen. Außerdem war er sehr schlank, fast dürr. All seine Prüfungen an der Polizeischule hatte er mit der Bestnote abgeschlossen.

»Hast du eigentlich gerade ein Problem im Leben?«, fragte ihn Maler, während sie sich im Schritttempo durch den Stau zur Innenstadt quälten.

Qualle sah ihn verdutzt an.

»Wie meinst du das?«

»Na, irgendein Problem, das du gern gelöst hättest. Kannst auch eins erfinden.«

»Erfinden? Da brauch ich keins erfinden«, sagte Qualle. »Mein Problem ist meine Schwester. Sie ist ein Messi und wohnt in dem riesigen Haus meiner Mutter in Memmingen, seit die gestorben ist. Sie müllt es von oben bis unten zu. Wir könnten es verkaufen oder vermieten, aber nein, no way. Sie sagt, ich kann ja auch dort wohnen. Fuck you very much. Und weil sie arbeitslos ist, pumpt sie mich ständig an oder klaut in Supermärkten.«

Qualle machte eine Pause.

»Gutes Problem?«

Maler lächelte.

»Gutes Problem«, sagte er. »Was würdest du sagen, wenn einer käme, der das für dich regelt. Er schickt dich in Urlaub, sagen wir zwei Wochen Mallorca. Und wenn du zurückkommst, ist das Haus leer und aufgeräumt, ein Makler ist schon im Gespräch mit möglichen Käufern, deine Schwester wohnt in einer kleinen Wohnung, hat einen Job und macht eine Therapie.«

Qualle schnellte nach vorne, schlug mit der flachen Hand aufs Armaturenbrett.

»Hast du die Telefonnummer von dem Mann?«, sagte er lachend.

»Hatte ich mal«, erwiderte Maler.

Qualle sah ihn fragend an.

»Hör zu«, sagte Maler. »Du musst mir auch einen Gefallen tun. Sieh dir mal die Akte eines Mannes namens Gabriel Tretjak an. Weiß nicht, ob sie schon digitalisiert ist, sonst musst du ins Archiv. Ist umfangreich, du wirst sehen. Verschaff dir einen groben Überblick, das reicht.«

Qualle nickte. Fragte nichts nach.

Falscher Zeitpunkt, dafür hatte er ein Gespür. Gut so, dachte Maler.

Er hatte jetzt die Parkplätze vor dem Polizeipräsidium erreicht und hielt an.

»Fährst du nicht in die Tiefgarage?«, fragte Qualle.

»Nein«, sagte Maler. »Ich muss noch was erledigen, ich komme erst Mittag.«

Qualle stieg aus. Bevor er die Tür zuschlug, beugte er sich noch mal ins Wageninnere.

»Ach, Chef«, sagte er und grinste. »Bitte nicht Mallorca. Ich fahr überallhin, aber nicht nach Mallorca, sagen Sie das dem Mann.«

Intensivstation, Kreiskrankenhaus Straubing

Eigentlich hätten Intensivstationen für August Maler nichts Besonderes mehr sein dürfen. Zu oft war er in einer gewesen, als Kriminalkommissar und als Patient. Er wusste genau, welches Gerät welche Bedeutung hatte, kannte die Bilder der Kontrollmonitore, das leise Seufzen der Beatmungsapparate, das gelegentliche Piepen, wenn die Flasche an einem Tropf leer war, das Klingeln, das den Blutdruckabfall eines Patienten vermeldete. Trotzdem hatte er immer das Gefühl, dass seine Seele sich auf Zehenspitzen stellte, wenn er so einen Raum betrat. Die Grenze zwischen Leben und Tod war für ihn hier körperlich spürbar. Und die professionelle Ruhe, mit der das Personal seinen Dienst tat, schien ihm immer ein Zeichen, dass es den Ärzten und Pflegern ähnlich ging.

Die Intensivstation im Kreiskrankenhaus Straubing war nicht groß, aber sehr modern. Glaswände mit Jalousien, niedrige Tresen, große Fenster, angenehm abgedunkelt durch Streifen von Milchglas.

Um das Bett von Joseph Lichtinger war ein ganzer Wald von Halterungen errichtet worden, die Medikamentenspender und Kontrollgeräte trugen. Von dem Pfarrer selbst war nicht viel zu sehen. Nur sein dunkelblonder Haarschopf und seine geschlossenen Augen, die mit einer weißen Salbe eingecremt waren. Darunter ragte schon der Tubus des Beatmungsgerätes aus seinem Gesicht. Sein Körper war abgedeckt, nur die zwei Hände lagen ruhig auf dem Laken. Die eine war verbunden. Im Handrücken der anderen steckte eine Nadel mit einem Schlauch. Und an zwei Fingern klemmten Messfühler.

Die Kollegen von der Kriminalpolizei in Straubing hatten ihm schon das Wichtigste gesagt. Maler hatte den alten Fall nur am Rand erwähnt, nur kurz über die Sanitäterin gesprochen. In Straubing gingen die Ermittlungen in eine andere Richtung. Der Pfarrer war in einen Missbrauchsfall verwickelt, als Aufklärer. Vielleicht wollte ihn jemand stoppen oder sich an ihm rächen.

So dachten die Kollegen dort gerade.

Lichtinger war offenbar grausam gefoltert worden und schließlich mit lebensgefährlichen Wunden von mehreren Stichen im Bauchraum zurückgelassen worden. Der Pfarrer habe sehr viel Blut verloren, hatte Maler erfahren, und innere Organe seien schwer verletzt worden. Die Prognose der Ärzte sei alles andere als gut.

Es geht um den Regler. Das waren seine letzten Worte gewesen. Joseph Lichtinger war Maler damals sympathisch gewesen, irgendwie ein guter Typ. Dubios eigentlich nur in seiner Beziehung zu Tretjak, die Maler nie ganz durchschaut hatte. Musste der Pfarrer jetzt den Preis für diese Beziehung zahlen? Wer hatte ihm die Rechnung aufgetischt?

Maler hatte einen sterilen Kittel an, Überschuhe und eine Haube, alles in Hellblau. Und er trug eine OP-Maske.

Es geht um den Regler.

Ja, das war damals auch so, Herr Lichtinger, nicht wahr? Maler dachte daran, dass er damals selbst in der Klinik gewesen war. Seine Fieberanfälle, als sein Körper das neue Herz abstoßen wollte und das Fieber stieg und stieg – und er doch noch den Fall lösen musste, den nur er lösen konnte.

Maler brach der Schweiß aus. Nur durch die Erinnerungen. Oder nein, da war noch etwas, schlimmer als die Erinnerungen. Gabriel Tretjak war der Mann, der Maler mehrmals an den Rand seiner Existenz gebracht hatte. Es ging um Leben und Tod. Wirklich um Leben und Tod.

Er spürte, wie sein Telefon in der Hosentasche vibrierte, das hatte es vorhin schon mal getan. Er hatte vergessen, es beim Betreten der Intensivstation auszuschalten. Aus einem merkwürdigen Reflex heraus berührte Maler die verbundene Hand des Pfarrers und sagte leise: »Alles Gute.«

Dann wandte er sich ab, warf am Ausgang die Überziehklamotten in den bereitgestellten Korb, bedankte sich beim Arzt, der unkompliziert gewesen war, und verließ das Krankenhaus. Draußen atmete er tief die frische Herbstluft ein. Tatsächlich hatte sich die Sonne den Weg durch die Wolkendecke frei gekämpft. Maler beschloss, einen Spaziergang zu machen. Aber aus diesem Vorhaben wurde nichts. Als er das Handy aus der Hosentasche holte, sah er, dass Inge schon dreimal angerufen hatte.

»Warum gehst du nicht ans Telefon?«, fragte sie, ihre Stimme klang blechern.

»Ich war in der Intensivstation«, sagte er und fügte gleich hinzu: »Nein, nein, nicht meinetwegen.«

»Hör zu«, sagte sie, und er merkte jetzt, dass sie völlig verstört war. »Paul hat heute Nacht gar nicht bei Paula übernachtet! Und deren Eltern dachten, die beiden sind bei uns. Und beide sind heute Vormittag nicht in der Schule erschienen. Die Handys sind tot. August, die sind verschwunden, einfach weg, um Gottes willen …«

»Ich komme«, sagte August Maler.

Er ging zu seinem Wagen, startete den Motor und verbat sich irgendeinen anderen Gedanken als den: Paul vierzehn, Paula auch vierzehn, erste Liebe, verrücktspielende Hormone. Da macht man so was. Durchbrennen, abhauen, Fesseln sprengen, Gefühlen folgen …

Genau das würde Inge in jeder Polizeidienststelle zu hören bekommen, wenn sie zum jetzigen Zeitpunkt eine Vermisstenanzeige aufgeben wollen würde. Das wusste sie auch.

Malers Verbot für andere Gedanken hielt bis zum mittleren Ring in München, wo er sich Richtung Autobahn Lindau einfädelte. Dann wählte er die Nummer eines Kollegen bei der Kripo, der ein Spezialist für verschwundene Menschen war. Vermisste Menschen, entführte Menschen, depressive Menschen. Er schilderte ihm die Situation und bat ihn, am Abend vorbeizukommen. Maler würde dafür sorgen, dass auch Paulas Eltern anwesend waren.

»Mach ich, August«, sagte Kollege Norbert Krug, »ist doch klar.«

Dann wählte Maler noch eine Nummer.

»Bist du schon in dieser Kantine bei den Obdachlosen?«

»Nein«, antwortete Qualle. »Aber ich wurde schon eingewiesen, heute Abend erster Einsatz, zwei Stunden.«

»Du wirst die Akte Tretjak noch nicht gelesen haben«, sagte Maler.

»Aber reingeschaut hab ich, fünf Ordner sind das, nix digital.«

»Du musst ihn finden, Qualle. Melderegister, Visaanträge, Handelsregister … einfach alles, überall. Was ich noch weiß, ist, dass er nach Hongkong gegangen ist, mit seiner Frau, Name vielleicht Carola, weiß nicht mehr genau.«

»Ist was passiert?«, fragte Qualle.

»Ich sag es dir morgen, bitte leg los.«

Gabriel Tretjak meldete sich in Malers Leben zurück. Und am selben Tag verschwand Malers Sohn.

Zufall?

Wahrscheinlich. Hoffentlich. Lieber Gott.

Aber Tretjak und Zufall?

Stadtteil Germering, München

Sie hatten es ein paar Mal verschoben, das erste Treffen. Es gab anscheinend auf beiden Seiten ein ähnliches Grundgefühl: Ja, unbedingt, wir Eltern müssen uns kennenlernen, bald. Ja, aber eben: bald.

Aus bald war jetzt geworden. Ein vielleicht etwas verkrampfter, jedoch freundlicher Abend war der Düsternis des Augenblicks gewichen. Die Eltern von Paula Zimmermann saßen in der kleinen Küche der Eltern von Paul Maler. Frank Zimmermann macht beruflich irgendwas mit Kunst und ist nett, hatte Paul gesagt. Und über Marie Zimmermann, dass sie irgendwas bei Facebook arbeite und auch nett sei. Das war der Informationsstand, bevor Paula und Paul gestern verschwanden.

Marie Zimmermann war eine zierliche, bunte Erscheinung. Alles, was sie auf dem Körper trug, hatte eine andere auffällige Farbe. Die Schuhe, die Hose, das T-Shirt, die Strickjacke, die Ohrringe, die Haarspange, sogar die Armbanduhr, sie war hellblau. Das Gesicht aber war sehr blass an diesem Abend, klar, es wirkte spitzig wie von einem Vogel. Dunkle Augen, groß, mit intensivem, flackerndem Blick. Inge und sie hatten sich heute Nachmittag schon getroffen, hatten die Freunde und Freundinnen der beiden angerufen, waren sogar umhergefahren, zu Cafés, zu Paulas Volleyballclub, zu einem Vinylschallplattenladen, wo sich die Clique manchmal traf – ohne Ergebnis.

Frank Zimmermann war ein großer Mann, er trug einen anthrazitfarbenen Anzug und eine schwarze Hornbrille, seine Haare waren raspelkurz geschnitten. Ausstrahlung: ruhig, besonnen. Die Rolle der Väter, so wirkte es an diesem Abend: Sie sorgten sich eher im Hintergrund, versuchten, der Sorge eine Struktur zu geben. Maler fand, dass das Zimmermann nur bedingt gelang. Sein Knie federte ununterbrochen auf und ab, so dass sogar der Tisch zitterte.

Maler hatte ein paar Brote geschmiert, die unberührt auf dem Tisch standen. Daneben zwei Flaschen Mineralwasser. Max, der Bruder von Paul, war nur kurz aufgetaucht, hatte die Zimmermanns artig begrüßt und dann gesagt: »Darf ich auf mein Zimmer gehen?«

»Ich versuche jetzt mal ein paar Sätze zu formulieren«, sagte August Maler, »was passieren wird, wenn gleich der Norbert Krug kommt. Er ist ein guter Mann, sonst hätte ich ihn nicht gebeten herzukommen.«

»Kennt er den Fall?«, fragte Marie.

»Ich habe ihm erzählt«, sagte Maler, »was ich erzählen konnte.«

»Hast du ihm erzählt, dass wir davon überzeugt sind, dass ein Verbrechen passiert ist.« Maries Stimme vibrierte.

»Ich habe ihm gesagt, dass wir das befürchten.«

»Ich befürchte es nicht, ich weiß es«, zischte Marie. »Das Letzte, was ich hier brauche, wenn wieder einer sagt, die sind doch ein Liebespaar, vielleicht machen sie sich einfach nur eine heiße Zeit.«

»Marie«, sagte Frank Zimmermann, »lass das doch. Das hat keinen Sinn. Der Mann ist noch gar nicht da. Ist doch gut, dass er kommt.«

»Marie«, sagte Inge, »uns geht es doch allen genauso, aber es bringt überhaupt nichts, wenn wir die Nerven verlieren.«

»Ja«, sagte Marie, »entschuldigt bitte.«

»Krug wird Fragen stellen«, sagte Maler, »dafür ist er da. Und es werden möglicherweise Fragen sein, die uns weh tun oder uns ärgern. Darauf müssen wir uns einstellen.«

Es läutete an der Haustür. »Das wird er sein.« Maler stand auf.

Maler kannte Krug seit vielen Jahren. Persönlich nahegekommen waren sie sich nie. Manchmal mussten sie zusammenarbeiten, wenn aus Vermisstenfällen Mordfälle wurden. Krug war bekannt für seine Gelassenheit, seine Nervenstärke und seine völlige Humorlosigkeit. Und er war immer in Schwarz gekleidet. Schwarze Jeans, schwarzes Hemd. Auch an diesem Abend.

Er setzte sich an den Küchentisch und übernahm sofort die Gesprächsführung. Er stellte sich kurz vor und trank einen Schluck Wasser. »Paul ist vierzehn, Paula auch. Sie sind seit etwa sechs Monaten ein Paar und verbringen seither sehr viel Zeit miteinander. Und seit gestern Abend sind sie verschwunden. Ohne jeden Kontaktversuch seither. Ist das so weit richtig?«

»Ja«, sagte Maler.

»Erzählen Sie mir bitte, wie und wann Sie das Verschwinden der beiden bemerkt haben. Wer möchte anfangen?«

»Ich kann anfangen«, sagte Marie. »Ich hatte Paula gebeten, mir heute mein Kleid aus der Reinigung zu holen. Ich hätte heute Abend eine Veranstaltung gehabt, da wollte ich das Kleid anziehen. Die Reinigung liegt auf dem Schulweg, sie wollte es gleich nach der Schule abholen. Ich dachte ja, dass sie hier bei den Malers übernachtet hat. Ich hatte einen anstrengenden Tag, ein Meeting nach dem anderen, zuhause im Homeoffice. Um halb zwei wunderte ich mich, dass Paula noch nicht da war. Ich versuchte sie anzurufen, doch das Handy war ausgeschaltet. Dann habe ich Inge angerufen. Und dann die Schule.«