Die Skrupellose - Schweden-Krimi - Inger Frimansson - E-Book

Die Skrupellose - Schweden-Krimi E-Book

Inger Frimansson

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Beschreibung

Spannung pur aus Schweden! Im nördlichen Schweden gründet Janna eine feministische Wohngemeinschaft. Um weibliche Nachkommen zu sichern, beschließt Jannas Freund, ein kleines Mädchen zu entführen. Schnell bereut er seine Tat und will das Mädchen zurückbringen, doch Janna stellt sich ihm in den Weg. Für den Erhalt ihrer Gemeinschaft ist sie bereit, alles zu tun - auch wenn sie dafür töten muss...-

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Inger Frimansson

Die Skrupellose - Schweden-Krimi

Aus dem Schwedischen von Paul Berf

Saga

Die Skrupellose - Schweden-Krimi

ÜbersetzerPaul Berf Coverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 2006, 2020 Inger Frimansson und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726445015

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

I

1. Magda

Das Mädchen trug ein hellgelbes Kleid, das aus mehreren Lagen dünnen Stoffs genäht war. Seine Haare waren aus dem Gesicht gekämmt und wurden von einem Perlendiadem zusammengehalten, was einigermaßen grotesk aussah, da ein so wertvolles Schmuckstück nicht für ein Kind, sondern für eine erwachsene Frau bestimmt war.

Das ist von ihm, dachte Magda. Das hat sie von Florian bekommen. Das sähe ihm ähnlich.

Die Mutter des Mädchens hatte es wie üblich eilig. Als sie Angelicas Tasche an den Haken hängen wollte, stolperte sie und wäre beinahe hingefallen. Das Mädchen hatte die Arme halb erhoben. Seine Mutter gab ihm einen flüchtigen Kuss.

»Mama muss sich beeilen, Mama muss zur Arbeit, tschüss, Kleines, tschüss.«

»Wir sehen uns dann heute Nachmittag«, sagte Magda. »Herzlich willkommen zu unserem Fest.«

Angelicas Mutter nickte, rückte ihre Handtasche zurecht und eilte davon.

Das Kind stand mit dem Gesicht zur Wand und weinte, aber nicht laut.

Magda nahm den Kleidersaum zwischen die Finger.

»Du bist aber schön«, sagte sie.

Das Mädchen rührte sich nicht.

»Hast du dich so fein gemacht, weil wir heute ein Fest feiern?«

Ein Zittern lief durch den Körper des Kindes, dann nickte es langsam.

»Und dann dieses tolle Diadem«, fuhr Magda fort. »Das hast du bestimmt von deinem Papa bekommen, nicht wahr?«

Das Mädchen fuhr herum.

»Papa ist lieb«, sagte es schnell.

»Ja, klar. Er ist lieb. Jetzt gehen wir hinein und frühstücken.«

Als sie das Kind an die Hand nahm, spürte sie, wie warm das Mädchen war, richtig heiß. Angelica musste Fieber haben. Das machte ihre Mutter nicht zum ersten Mal. Sie brachte ihre Tochter, winkte und hastete davon, um die U-Bahn nicht zu verpassen. Angelica weinte in der Regel ein bisschen, beruhigte sich jedoch rasch wieder und begann zu spielen. Sie war ein geduldiges Kind. Und es war nicht ungewöhnlich, dass Kinder ein paar Tränen vergossen, wenn ihre Mütter oder Väter sie in den Kindergarten brachten. Im Übrigen war Angelicas Mutter nicht die Einzige, die ihnen ein krankes Kind brachte. Am Vortag war es Axel gewesen. Grüngelber Rotz war ihm aus der Nase gelaufen, und er hatte mit Sicherheit schon die halbe Gruppe angesteckt, bis sie seine Mutter erreichen konnten.

Carita, die Leiterin des Kindergartens, hatte daraufhin ein ernstes Wort mit ihr geredet.

»Das ist sowohl dem Personal als auch den anderen Kindern gegenüber unfair. Ganz zu schweigen von den anderen Eltern, die immerhin auch arbeiten gehen müssen.«

Carita konnte ganz schön bissig werden. Ein richtiger Besen.

Axels Mutter hatte versucht, sich herauszureden.

»Das ist kein normaler Schnupfen, er ist nur allergisch, Auf unserer Treppe saß heute Morgen eine Katze, und ehe ich Axel daran hindern konnte, war er auch schon zu ihr gelaufen. Er hat sofort angefangen zu niesen. Und Allergien sind ja wohl nicht ansteckend.«

Als sie gegangen war, hing in der ganzen Einrichtung eine Parfümwolke. Magda dachte, wenn Axel wirklich Allergiker ist, sind derart starke Gerüche in seiner unmittelbaren Nähe sicher nicht gut. Aber streng genommen ging sie das natürlich nichts an, und deshalb hatte sie auch nichts gesagt.

Es war sinnlos zu versuchen, Eva, Angelicas Mutter, noch zu erreichen. Sie saß mit Sicherheit schon in der U-Bahn. Außerdem war heute Donnerstag. Freitags hatte Eva immer frei, sodass ihre Tochter ein paar Tage Zeit haben würde, wieder gesund zu werden. Vielleicht war das Fieber ja auch gar nicht so schlimm, vielleicht lag es eher am Wetter. Der Frühling war ungewöhnlich früh und mit fast schon extremer Wärme gekommen. Ein Hochdruckgebiet löste das andere ab, und es spielte keine Rolle, dass die Wetterfrösche im Fernsehen regelmäßig verschüchterte, kleine Tiefdruckgebiete in die Wetterkarten einzeichneten. Die sommerlichen Temperaturen hielten an.

Es war ein guter Tag für ein Fest. Der Kindergarten Buschwindröschen, an der Grenze zwischen Hässelby strand und Hässelby gård, feierte zwanzigjähriges Bestehen. Bereits im Februar hatte das Personal begonnen, alles zu planen, und unter anderem beschlossen, jede Menge Buschwindröschen zu pflücken und auf dem Hof in große Vasen zu stellen. Doch in dem Punkt hatte man die Rechnung ohne das Wetter gemacht. Obwohl es erst Anfang Mai war, waren die Buschwindröschen längst verblüht. Maiglöckchen hatten ihre grünen Speere in die Höhe gestreckt, und dicker, gelber Löwenzahn bedeckte die Wiese hinter dem Zaun.

»Ihr werdet zum Wald gehen müssen«, entschied Carita. »An schattigen Stellen gibt es bestimmt noch Buschwindröschen. Wir werden sicher anders schmücken müssen als geplant, aber einen kleinen Strauß brauchen wir trotzdem. Die Blumen haben immerhin symbolischen Wert für uns.«

Die Kinder waren lebhaft und aufgekratzt. Am Nachmittag würden ihre Eltern kommen, man würde Luftballons aufblasen und es sollte Kuchen und Würstchen geben. Sie hatten Blumen auf weiße Blätter gemalt, die mit Wäscheklammern an einer Schnur entlang der Hauswand aufgehängt werden sollten. Einige Kinder durften dabei helfen. Die anderen gingen mit in den Wald.

Magda bereitete für Angelica einen Kinderwagen vor. Darin konnte sie sich ausruhen und würde es ruhiger haben als im turbulenten Kindergarten. Die Augen des Mädchens waren glasig. Es lutschte am Daumen und wirkte auf einmal jünger als vier Jahre. Magda kippte die Rückenlehne nach hinten und schob dem Mädchen ein Kissen in den Nacken. Es war etwas windig, aber der Wind war nicht erfrischend, sondern warm.

Als sie den Wald erreichten, war Angelica schon eingeschlafen. Die Haare hingen ihr in feuchten Locken in die Stirn. Das Diadem war verrutscht und schien zu drücken, weshalb Magda es ihr vorsichtig aus den Haaren zog und unter das Kissen legte. Es war schwer, so als wäre es tatsächlich aus massivem Gold. Sie stellte den Wagen an einer der mächtigen Eichen ab. Das Mädchen konnte ruhig eine Weile schlafen, dann würde es ihm anschließend vielleicht schon besser gehen und es würde das Fest eher durchstehen. Magda blieb in der Nähe des Kinderwagens und ließ die Kinder in der unmittelbaren Umgebung Blumen suchen. Man musste sie im Auge behalten, denn etwas unterhalb war gleich die Straße. Man durfte hier zwar nur dreißig fahren, aber die Schilder brachten nicht viel, die Leute fuhren trotzdem wie die Irren.

Etwas weiter weg sah sie Kattis, die mit ein paar Kindern tiefer in den Wald hineinging. Kattis war neu. Sie hatte erst vor einer Woche angefangen. Die Kinder schienen sie zu mögen, manche Menschen waren eben wie geschaffen für diesen Job. Magda würde ihn nur für kurze Zeit machen, höchstens noch ein Jahr oder so. Bis ihr klar wurde, was sie auf Dauer beruflich machen wollte.

Sie drehte sich um und sah, dass der Kinderwagen noch im Schatten stand. Ein Nesselfalter tanzte über dem Gras, stieg auf und sank herab und landete schließlich auf Angelicas Sandale.

»Kommt her!«, rief Kattis. »Kommt, Kinder! Hier gibt es ganz tolle Blumen!«

Sie sah die Kinder losrennen, kleine Menschenminiaturen in hellen Baumwollkleidern, kleine Puppen mit einem Eigenleben. Eines Tages würden sie Erwachsene, Bankdirektoren, Bibliothekare, Kosmetikerinnen sein, die mit hängender Zunge ihre Kinder in den Kindergarten brachten. Und sie selbst würde eines Tages wohl auch Mutter werden. Aber das hatte noch Zeit, sie war erst 23. Früher hatte sie davon geträumt, Journalistin zu werden, aber nicht ganz verstanden, dass man sich mächtig ins Zeug legen musste, um einen Studienplatz zu bekommen. Sie hätte einfach mehr lernen und den Lehrern um den Bart gehen müssen, hätte versuchen müssen, bessere Noten zu bekommen. Nein, sie war die Schule jahrelang leid gewesen und hatte gejobbt, statt sich weiterzubilden. Außerdem hatte sie das Geld gebraucht.

Im Unterholz, zwischen den Wurzeln, konnte man etwas Weißes sehen, ein paar dünne, blasse Buschwindröschenstiele. Sie ließ sich auf die Knie sinken, und der Boden piekste, denn er war mit Tannennadeln und Resten alter Tannenzapfen übersät. Als sie die Blume pflückte, fielen die Blütenblätter ab und lagen wie Schuppen im Gras.

»Shit«, murmelte sie.

Sie wollte gerade wieder aufstehen, als sie den Schrei hörte, den schrillen Schrei eines zu Tode erschreckten Kindes. Er kam aus der Gruppe weiter unten. Sie rührte sich nicht und lauschte.

»Magda«, rief Kattis und ihre Stimme klang angespannt. »Wo bist du? Komm bitte schnell her!«

Sie sprang auf die Füße und rannte los, die Haare wurden ihr aus der Stirn geweht. Dann war sie bei den anderen, die Kleinen klammerten sich mit feuchten, erdigen Fingern an sie. Auf dem Waldboden lag Jens. Sein Fuß war verdreht, und er schrie so, dass ihm die Luft wegblieb.

»Was ist los?«, keuchte sie. »Mein Gott, was ist denn passiert?«

Kattis starrte Magda an.

»Er sagt, da war eine Schlange«, flüsterte sie.

Magda ging neben dem brüllenden Kind in die Hocke, zog den Jungen an sich, wiegte ihn. Seine Kopfhaut roch nach Schweiß. Nach süßem, klebrigem Kinderschweiß.

»Wir wollen mal schauen, Jens, ist ja gut, ist ja gut, beruhige dich, dann gucken wir mal nach.«

Sie zogen ihm Schuhe und Strümpfe aus. Seine Knöchel waren glatt, es gab keine Wunden oder Abdrücke.

»Mein Gott, im ersten Moment habe ich gedacht, er hätte sich was gebrochen«, sagte Magda. Ihr T-Shirt war am Rücken ganz feucht. Kattis nickte.

»Ich auch.«

»Hast du eine Schlange gesehen, Jens?«, fragte sie dann und hielt den Kopf des Jungen, der sich ein wenig beruhigt hatte und kaum noch schluchzte. »Meinst du wirklich, es war eine Schlange?«

Magda blickte auf, die Kinder hatten sich um sie versammelt, ihre Gesichter waren ausdruckslos und wachsam. Bis auf das von Johan. Er hielt etwas hinter seinem Rücken versteckt, und sein kleines Gummigesicht war vor unterdrücktem Lachen ganz verzerrt.

»Johan!«, sagte Magda. »Was hast du da in der Hand?«

Daraufhin öffnete sich sein Mund zu einem Lachanfall, der den Jungen geradezu wimmern ließ. Er holte den Arm mit einem Ruck nach vorn: Seine Hand umklammerte ein Stück von einem alten Fahrradschlauch, das hin und her pendelte. Der Junge prustete los.

»Hier ist meine Schlange! Und die kann richtig beißen.«

Vor Erleichterung fühlte sie sich ganz matt.

»Also gut. Jetzt müssen wir aber voran machen!« Sie sprach schnell und entschlossen, musste es ihren kleinen Gehirnen eintrichtern: »Wir sind hergekommen, um Blumen für euren Kindergarten zu pflücken, der heute Geburtstag hat. Genau wie ihr manchmal. Und heute Nachmittag feiern wir dann, wenn alle Mamas und Papas kommen.«

Sie gab ihrer Stimme einen anspornenden Tonfall, und es klappte. Sie kamen wieder in Bewegung, schossen los wie bunte Bälle.

Unvermittelt dachte sie: Angelica!

Ja, genau.

Angelica.

Sie musste zurückgehen, um den Wagen zu holen, und sie musste sich beeilen. Das Mädchen war vielleicht aufgewacht, hatte Durst und musste etwas trinken, in dem Korb unter dem Wagen war Saft.

»Ich geh nur schnell Angelica holen«, rief sie Kattis hinterher.

Der Wagen stand noch genauso da, wie sie ihn verlassen hatte. Jedenfalls kam es ihr so vor. Im Schatten, das Verdeck halb hochgeklappt. Ja. Der Wagen stand noch so da, wie sie ihn zurückgelassen hatte.

Aber nicht ganz.

Das Mädchen, das in ihm gelegen hatte, war nicht mehr da.

Es war verschwunden.

2. Daniel

Zur Not konnte man immer noch unter den Brücken schlafen. So lange es Sommer war, würde das hervorragend gehen. Daniel hatte Spuren von Leuten gesehen, die das taten. Aufgeschlagene, etwas zerrissene Zeitungen, ein paar Stofffetzen. Einen Pappkarton, in den man den Kopf stecken konnte, wenn es einem zu hell wurde. Wie das Verdeck eines Kinderwagens. So würde sich die Wohnungsfrage lösen lassen.

Allerdings natürlich nur, wenn nicht schon alle Plätze besetzt waren. Er hatte keine Lust auf Handgreiflichkeiten. Es gab sicher auch solche und solche Brücken, einige waren bestimmt weniger beliebt als andere. Die Brücke, die nach Solna hinüberführte, war doch zum Beispiel fast schon eine Vorortbrücke. Dort würde man bestimmt kampieren können. Zumindest jetzt, im Sommer.

Aber was war im Winter?

Er nahm die Rolltreppe am Fridhemsplan und lief durch die U-Bahn-Station. Er ging mit langen Schritten, so als könnte er jeden Moment gezwungen sein zu laufen. Intensiver Uringeruch schlug ihm entgegen. Es gab Leute, die hier unten übernachteten, das war natürlich auch ein Ausweg. Er wusste, wer sie waren, er erkannte sie. Aber er konnte nicht behaupten, dass er sich nach ihrer Gesellschaft sehnte.

Ach was. So weit brauchte es ja nicht zu kommen. Vielleicht überlegte Ulrika es sich noch einmal anders und ließ ihn weiter bei sich wohnen. Sie hatte auch früher schon versucht, ihn hinauszuwerfen, ihn dann aber immer wieder bei sich aufgenommen. Sie brauchte ihn. Er würde es ihr zeigen: Du brauchst mich, wir sind füreinander bestimmt.

Er kam zu einem der großen Mietshäuser in der Industrigatan, in dem er das Treppenhaus und die Aufzüge putzte. Man verdiente nicht viel damit, aber immerhin etwas. Außerdem war es relativ leicht verdientes Geld. Im Sommer war es nicht besonders dreckig, schlimmer war es da schon im Frühling, wenn die Leute Lehm und Hundekot ins Haus trugen.

Tragen, trug, getragen, dachte er auf Deutsch.

Er gab den Türcode ein und betrat das Haus. Er nahm die Hintertür. Hier unten lagen der Fahrradkeller, die Waschküche und eine eigene Tür für die Müllabfuhr, damit die Männer nicht um das ganze Haus herumgehen mussten. Jetzt hatten sie schon eine Weile nicht mehr geleert, und der ganze Flur stank nach Ruß und faulen Eiern.

Er öffnete die Tür zu seiner kleinen Abstellkammer, in der die Putzsachen aufbewahrt wurden. Der Schlüssel hakte ein bisschen, das hatte er schon immer getan. Der Vermieter hatte ihn angewiesen, den Schlüssel nachschleifen zu lassen, aber das gehörte zu den Dingen, aus denen nie etwas wurde. Im Grunde fand er, war es Sache des Vermieters, dafür zu sorgen, dass seine Angestellten ordentliche Schlüssel bekamen. Er als Arbeitnehmer brauchte sich um so etwas doch wohl nicht zu kümmern! Es machte ihn wütend, daran zu denken. Seine Bewegungen wurden ruckhaft. Wasser in den Eimer, ein wenig Schmierseife, ganz gewöhnliche Schmierseife, aber nicht so viel, dass der Boden glatt wurde und irgendeine verdammte alte Schachtel hinflog und sich einen Oberschenkelhalsbruch holte. Aber genug, um die grauen Flecken eingetrockneten Drecks wegzukriegen.

Er begann mit dem Aufzug, schrubbte erst und wischte anschließend mit dem Aufnehmer nach. Es war immer das Gleiche, irgendwer drückte immer genau in dem Moment den Knopf, sodass er manchmal mehrmals auf und ab fuhr, während er in dem kleinen Aufzug stand und putzte.

Leute stiegen ein und aus, aber nicht alle grüßten ihn. Anfangs hatte er noch versucht, höflich zu sein, hatte locker Hallo gesagt oder auch guten Tag, wenn die Person schon etwas älter war. Es gab Leute, die einem darauf keine Antwort gaben, und dann versuchte er, es nicht persönlich zu nehmen.

Andererseits gab es auch einige, die sich gerne unterhielten und einen gar nicht mehr gehen lassen wollten.

»Kommen Sie doch mit, ich lade Sie zu einer Tasse Kaffee ein«, hatte ihn eine dieser alten Schachteln immer wieder eingeladen. Sie trug meistens eine bekleckerte, karierte Hose und hatte kleine, blutunterlaufene Augen.

Ein einziges Mal war er mitgegangen. Die Frau wohnte in einer Einzimmerwohnung, die mit verstaubtem Nippes voll gestopft war. Ihre Hände zitterten, als sie Kaffeepulver in den Filter gab. Er hatte wie auf Kohlen gesessen. Der Kaffee war schwach, aber heiß gewesen, und er hatte sich die Zunge verbrannt. Von da an hielt er sie sich vom Leib.

»Ich habe leider keine Zeit.« Er hatte ihren Vornamen vergessen. S. stand an der Tür. S. Andersson, er wollte nicht daran erinnert werden, sich nicht erinnern. Schabracke Andersson.

Auf ihrer Etage musste er immer besonders schnell schrubben. Aber er wusste genau, dass sie hinter der Tür war, er spürte ihren Blick durch den Spion. Er war wie ein Laserstrahl, wenn er ihm zu nahe kam, würde er den Alarm auslösen. So ließ er seiner Fantasie freien Lauf, um stärker zu werden. Es galt, weiterzuschrubben, die abgetretene Treppe feucht zu machen, zu wienern und zu wischen, sich aber stets von dem Strahl fern zu halten.

Du bist kindisch, schoss es ihm manchmal durch den Kopf. Dann wurde er beinahe wütend auf sich selbst.

Aber es war eben ein Weg, die Arbeit erträglich zu gestalten.

Eine andere Möglichkeit waren die Namensschilder auf den Türen, zu denen man sich etwas einfallen lassen konnte. Buxterhud zum Beispiel. Wie mochte jemand aussehen, der so hieß? Er hatte noch nie jemanden aus dieser Wohnung kommen sehen, stellte sich aber einen großen und angeberischen Kerl mit breitem Kreuz vor. Wenn er schlampig schrubbte und Buxterhud ihn dabei erwischte, dass er es mal nicht so genau nahm, würden sich die krallenartigen Finger des Mannes in seinen Nacken bohren und er in Buxterhuds kleinen Flur geschleift werden. Manchmal bekam er eine Erektion, wenn er sich vorstellte, was hinter dieser Tür alles geschehen könnte.

Mittlerweile hatte er sich schon in die vierte Etage heruntergearbeitet. Trotz der Wärme kam er heute schnell voran. Das halbe Haus war fertig, allerdings kam der Flur im Keller noch hinzu. Andererseits war es dort unten dunkel, es gab kein entlarvendes Sonnenlicht. Wenn er diese Etage fertig hatte, würde er frisches Wasser holen müssen. Er drehte sich um und summte, hier ging die Arbeit leicht von der Hand, es stand nicht jede Menge Zeug vor den Türen wie an anderen Stellen im Haus: Kinderwägen, Fahrräder, leere Getränkekästen und Müll. Im Grunde war das verboten. Aber wer war er, so etwas zu beanstanden?

Die Leute darauf ansprechen? Nein, das war bestimmt falsch. Was hieß wohl beanstanden auf Deutsch?

Er hatte sich vorgenommen, Deutsch zu lernen. Seit fast einem Jahr paukte er nun, und schuld war sein Buder Jerry. Man könnte auch sagen, es war sein Verdienst. Sie waren im Tre backar ein Bier trinken gewesen, einer Kneipe mit Bücherregalen an den Wänden. Ein Buch war auf ihrem Tisch liegen geblieben, jemand hatte vergessen, es zurückzustellen. Daniel spielte damit und las plötzlich laut vor:

»Der Tod in Venedig.«

Der Tod.Aber er hatte das Wort schwedisch ausgesprochen, das O als ein U gelesen.

So etwas hätte er niemals getan, wenn er nicht getrunken hätte, nicht in Jerrys Gegenwart, denn Jerry war jemand, der immer alles besser wusste. Er hatte Daniel das Buch aus der Hand genommen und mit überdeutlicher Stimme seine Aussprache korrigiert:

»Der Tood in Venedig. Von Thomas Mann.«

»Na und?«

»Das ist Deutsch. Man spricht es mit O. Es bedeutet Tod. Falls du das nicht wusstest.«

Es war doch klar wie Kloßbrühe, dass er das nicht wusste. Er hatte nie Deutsch gelernt, war ohnehin nicht sonderlich sprachbegabt und generell keine große Leuchte in der Schule gewesen.

Erst wurde er wütend. Konnten die nicht so schreiben, dass man es als Schwede richtig aussprach? Stattdessen machten sie es einfachen Leuten wie ihm absichtlich schwer. Musterten sie aus, schufen Klassenunterschiede. Aber er konnte auch verdammt stur sein. Als er an jenem Abend nach Hause ging, hatte er seinen Entschluss gefasst.

In seinem Elternhaus fand er eine deutsche Grammatik, die seine Mutter benutzt hatte, als sie jung war. Sie hatte den Umschlag mit Blumengirlanden verziert, Kurzgefaßte deutsche Grammatik von Hjalmar Hjort und Sven Lide. Er nahm sich unverzüglich die Ausspracheregeln vor und wäre bereits daran fast gescheitert.

Doch zu der Zeit hatte er Ulrika kennen gelernt.

Und sie konnte verdammt gut Deutsch.

Jetzt wischte er vor der letzten Tür in der vierten Etage. J. Bosch stand auf dem Namensschild, vielleicht war der Mieter ja Deutscher, J. Bosch. Sollte er klingeln und fragen? Irgendetwas sagen? Eine der Phrasen vorbringen, die er auswendig gelernt hatte?

Denen, die tapfer sind, steht die Welt offen.

Die Tür öffnete sich unvermittelt und eine Frau trat in den Flur hinaus. Sie schaute sich um, zog anschließend die Tür hinter sich sehr nachdrücklich zu und schloss ab. Sie war älter als er, ein paar Jahre vielleicht. Höchstens 35, ein breiter Hintern, um den sich ein eng sitzender Rock spannte, sodass er die Passform ihres Slips sah. Sie hatte blonde Haare, die nachlässig zu einem Knoten hochgesteckt waren. Da war etwas mit ihren Augen, sie starrten ihn an und brannten ihn in die Wand.

»Hallo«, entfuhr es ihm.

»Hei. Du bist das also, der hier putzt?«

Er nickte.

Sie trug Schuhe mit hohen Absätzen. Ihre Beine schimmerten irgendwie. Als sie die Tür zum Aufzug öffnete, drehte sie sich noch einmal um und lächelte ihm zu.

»Wie heißt du?«

»Daniel.«

»Keep smiling, Daniel. Keep smiling.«

Sie ging ihm den ganzen Weg bis nach Vällingby nicht mehr aus dem Sinn. Er saß in der U-Bahn und musste dauernd an sie denken.

»Keep smiling, Daniel. Keep smiling.«

Ihre Art, seinen Namen auszusprechen, fast wie Dánniel. Ihre raue, etwas heisere Stimme. Als hätte sie in ihrem Leben viel geschrien.

Bei Orgasmen?

Er schloss die Augen und versuchte sich an ihr Aussehen zu erinnern, eine schmale Taille, er würde sie mit den Händen umfassen können, und üppige Hüften, sie hatte einen kurzen Rock getragen, der nur den halben Oberschenkel bedeckte, und ein T-Shirt, ihre Haut war glänzend und braun gewesen.

Es gibt andere Frauen, dachte er. Zum Teufel, es gibt auch noch andere Frauen als Ulrika. Wenn ich ihr nicht mehr gut genug bin.

Aber ich könnte sie vielleicht überraschen.

Mit einer Flasche Wein. Und einem Strauß Rosen. Nein, das geht zu weit, der Wein muss reichen. Im Grunde kann ich mir nicht einmal den leisten.

3. Magda

Sie konnte es nicht glauben, es einfach nicht akzeptieren. Sie hob das Kissen hoch, so als hätte Angelica platt wie eine Briefmarke darunter liegen können. Das Kissen fiel ins Gras, und das Diadem holperte davon. Sie hob es wieder auf. Ihre Bewegungen waren schwerfällig und steif. Sie hielt das Diadem in der Hand und hörte, wie sich ihre Lippen mit einem schmatzenden Laut öffneten.

»Angelica!« Ihre Stimme überschlug sich krächzend, und sie rief erneut, diesmal jedoch lauter, schneller. Ihr Mund war ausgedörrt, sie betrachtete die Saftflasche, griff aber nicht danach.

Der Saft ist für sie, sie braucht ihn dringender als ich. Wenn sie kommt. Kommt?

Aber sie hatte doch geschlafen. Sie lag doch im Wagen und schlief.

»Magda?« Kattis kam den Hügel hinauf. Kattis und die Kinder. Magda zählte sie durch. Nein, keine Angelica.

»Was ist los, Magda, was ist mit dir?«

»Angelica. Sie ist nicht hier.«

»Was heißt, nicht hier?«

»Du siehst es doch selbst!«

»Aber sie kann doch nicht einfach verschwunden sein.«

Die Straße!

Der Gedanke schnürte ihr den Magen zu. Was, wenn sie herausgeklettert und zur Straße hinuntergelaufen war.

»Bleibt hier!«, schrie sie und lief los. Auf der Mitte des Hangs rutschte sie aus und fiel aufs Steißbein, was höllisch wehtat. Sie schluchzte kurz, kam wieder auf die Beine und übersprang mit einem Riesensatz den staubigen Straßengraben.

Die Straße war fast leer. In der Ferne ging eine Frau mit zwei Hunden, einem kleinen und einem großen.

Magda rannte los. Da vorn war ein Mensch, den sie fragen konnte. Sie lief so schnell, dass ihr Brustkorb schmerzte.

Als sie näher kam, hielt die Frau die Hunde kürzer an der Leine. Der kleinere war nur ein Welpe.

»Ich suche ein Mädchen, vier Jahre alt, dunkle Haare und gelbes Kleid. Haben Sie es vielleicht gesehen?«

Die Frau schüttelte den Kopf.

»Sind Sie sicher?«

»Was ist denn los, ist sie etwa verschwunden?«

»Jaaa«, sagte Magda jammernd.

»Nein, tut mir Leid, ich habe kein Kind gesehen. Aber ich werde die Augen offen halten, das verspreche ich Ihnen.«

»Sie hat auch noch Fieber! Sie ist krank!«

Die Frau warf ihr einen traurigen Blick zu.

»Ich werde wirklich die Augen offen halten.«

Sie musste umkehren und zurücklaufen, den ganzen langen Hang hinauf, so schnell sie konnte. Auf der Hügelkuppe warteten Kattis und die anderen Kinder.

»Nein«, keuchte sie. »Da war sie nicht. Oh Gott, was sollen wir nur tun?«

»Ich dachte, sie schläft«, sagte Kattis.

»Das hat sie auch. Sie ist doch krank, sie hat Fieber. So ein Mist! Wenn Eva sie zu Hause behalten hätte, wäre das nie passiert.«

»Aber sie muss hier doch irgendwo sein. Man verschwindet nicht einfach so. Vielleicht hat sie sich versteckt, um uns einen Streich zu spielen.«

»Ach was, Angelica doch nicht, so etwas würde sie niemals tun.«

Magda packte einen Jungen und schüttelte ihn.

»Habt ihr sie gesehen? Wenn ihr sie gesehen habt, müsst ihr es uns erzählen! Sofort! Auf der Stelle! Sonst bringe ich euch um! Und es gibt kein Fest, das kann ich euch versprechen!«

Sie wirkten verängstigt, wussten aber offenbar nichts.

»Wir müssen sie suchen«, schrie sie. »Verteilt euch! Sucht hinter allen Bäumen und Sträuchern, sucht überall!«

Hinterher fragte sie sich, was am schwersten gewesen war. Hinterher, als sie in ihrer Wohnung saß und einen Tee zu trinken versuchte. War es der Moment gewesen, in dem sie den verlassenen Kinderwagen entdeckt hatte? Ihr Körper hatte mit wachsender Übelkeit reagiert.

Ich habe sie als Letzte gesehen. Ich war für sie verantwortlich.

Oder war es noch schlimmer gewesen, als sie erkannten, dass sie das Mädchen nicht finden würden? Sie hatten überall nach Angelica gesucht und die Kinder hatten ihnen geholfen. Sie waren sehr bedrückt gewesen und einige hatten geweint.

Sie dachte: Das Fest.

Mitten in dem ganzen Chaos dachte sie an das Fest und daran, dass es nun kein Fest geben würde.

Die Kinder hatten sich so auf diesen Tag gefreut.

Oder war es am schlimmsten gewesen, in den Kindergarten zurückzukehren und Carita Auge in Auge gegenüberzustehen?

»Was zum Teufel sagst du da?«, fragte sie mit ihrem schleppenden, finnischen Akzent.

Sie hatte es noch einmal wiederholen müssen. Es ist etwas Schreckliches passiert, es geht um Angelica, sie ist verschwunden.

Vor Scham und Entsetzen war ihr ein Schauer über den Rücken gelaufen.

Carita hatte ausgesehen, als würde sie ihr am liebsten eine Ohrfeige geben. Sie hatte Kattis angebrüllt: »Steh hier nicht dumm rum, sieh lieber zu, dass die Kinder etwas zu essen bekommen! Die Essenszeit ist längst vorbei, sie müssen ja nicht auch noch verhungern.«

Anschließend hatte sie die Bürotür so heftig zugeschlagen, dass ein kleines Keramikbild vom Haken fiel und in zwei gleich große Teile zersprang.

»Du kommst also her und sagst mir allen Ernstes, dass eines unserer Kinder verschwunden ist? Begreifst du eigentlich, was du da sagst? Begreifst du, was das bedeutet? Begreifst du, dass wir, du und ich, für diese Kinder verantwortlich sind?«

So viel überflüssiges Gerede. Magda hatte an der Wand gelehnt und gedacht, hör auf. Hör auf, du verdammte Hexe, es war nicht meine Schuld und auch nicht die von Kattis. Keiner von uns ist schuld, es hat keinen Sinn, nach Sündenböcken zu suchen.

Aber Carita hatte nicht aufgehört.

»Habt ihr auch wirklich überall gesucht?«

»Ja, natürlich haben wir das.«

»Wie konntest du den Wagen einfach so stehen lassen? Wie konntest du dich nur so verantwortungslos verhalten?«

»Aber ich habe dir doch schon gesagt, dass es nur für ein paar Minuten war. Ich dachte, ich hätte sie die ganze Zeit im Blick.«

Caritas Mund wurde runzlig, verengte sich zu einem kleinen Loch.

»Dachtest du!«

»Wenn Jens nicht geschrien hätte, wenn Johan nicht diesen Fahrradschlauch gefunden hätte.«

»Wenn das Wörtchen wenn nicht wär, wär mein Vater Millionär.«

Caritas Fenster stand einen Spaltbreit offen. Eine Bachstelze trippelte draußen auf den Steinplatten herum und schnappte nach einer Fliege. Magda beobachtete sie, ohne wirklich etwas zu sehen. Sie hatte das Gefühl, ein Band hätte sich um ihren Kopf gespannt, ein Band, das immer fester gezogen, das pochend und rot über ihre Lider gezerrt wurde.

»Bitte, Carita«, sagte sie mit belegter Stimme, »ruf jetzt bitte die Polizei. Das ist das Einzige, was wir noch tun können.«

4. Daniel

Er entschied sich für einen französischen Wein, der fünfzig Kronen kostete und Le Bistro hieß. Er kaufte auch eine Plastiktüte, obwohl das eigentlich nicht nötig gewesen wäre. Für einen Donnerstagnachmittag waren erstaunlich viele Leute im staatlichen Alkoholgeschäft. Er hatte Wartenummer 152 gezogen, und als er eintrat, wurde gerade Nummer 87 bedient. Folglich würde er eine Zeit lang warten müssen, aber das machte nichts. Er brauchte ohnehin etwas Zeit, um die Kraft zu sammeln, Ulrika gegenüberzutreten.

In der Ferne hörte man Sirenen, es musste etwas Größeres passiert sein, ein Verkehrsunfall oder ein Brand. Das Geräusch wurde lauter und leiser, wie die Rufe entfernter Vögel.

Als er von der Bank aufstand, klebte seine Hose an der Unterseite der Oberschenkel. Er dachte, dass er duschen musste, denn sonst würde sie sich über seinen Geruch aufregen.

Ein Despot war sie.

Eine Despotin.

Aber hatte er denn eine Wahl?

Sie hatten sich vor knapp einem Jahr bei einer Fete kennen gelernt. Sie hatte ihm Leid getan. Ihr Aussehen sprach gegen sie, sie war groß und plump, saß wie ein grober Klotz auf ihrem Stuhl. Als sie aufstand, fiel der Rock wie ein Zelt um sie herum.

»Wir tanzen!«, entschied sie, und am liebsten hätte er Nein gesagt, aber sie packte ihn am Hosenbund und zog ihn mit sich.

Sie bewegte sich erstaunlich elegant. Ihre platte breite Hand lag zwischen seinen Schulterblättern, und sie war es, die führte, nicht er. Ihr Atem roch nach Petersilie.

Ihm war aufgefallen, dass er seine Meinung über Leute oft ändern musste. Ihr Äußeres mochte gegen Ulrika sprechen, aber sie brauchte einem beim besten Willen nicht Leid zu tun.

»Jetzt trinken wir einen Schluck Wein!«, hatte sie erklärt und ihn zu dem Tisch mit den Flaschen geführt. Sie hielt zwei Gläser hoch und ließ ihn einschenken. Im Ausschnitt sah er ihre Haut, die weiß war und irgendwie mehlig wirkte.

»Setz dich!« Sie zeigte auf einen Hocker, und er konnte sich noch genau an die Farben erinnern, abblätterndes Blau in verschiedenen Tönen. Die Wohnung schien gerade frisch gestrichen zu werden. Sie kam direkt zur Sache:

»Bist du allein, Daniel?«

»Wie meinst du das, allein?«

»Hast du eine Freundin?«

»Nicht direkt.«

»Aber indirekt?«

»Das auch nicht direkt.«

Sie lächelte zufrieden. Sie sah süß aus, wenn sie lächelte, ihr Blick wurde unter den kurzen, braunen Wimpern ganz sanft. Sie erzählte ihm, dass sie ihren Freund gerade hinausgeworfen hatte. Er sah vor sich, wie sie ihn an Hemd und Hosenboden packte und über das Balkongeländer hievte, und bekam Lust, ihre Hände zu berühren. Er leerte sein Weinglas und fuhr sich mit der Zunge über die Zähne.

»Sollen wir noch einmal tanzen, Ulrika?«

So würde er sie jetzt gerne sehen: fröhlich, befreit von Strenge und Ernst. Aber so lagen die Dinge heute nicht mehr. Sie war bösartig geworden, meckerte wie eine alte Ziege. Nichts war ihr recht. Ihm musste alles recht sein, er musste sich unterwerfen und mitspielen, denn es war ihre Wohnung. Sie lag in der Vittangigatan im Vorort Vällingby.

Die Balkontür stand offen, er sah es schon von weitem. Also war sie zu Hause. Vielleicht putzte sie gerade die Wohnung. Ein Schauer des Unbehagens lief ihm über den Rücken.

Sie telefonierte. Sie hatte sich ausgezogen, trug nur BH und Slip und saß, ein dickes Bein über die Lehne geschwungen, auf der Couch. Er vermied es, sie anzusehen.

»Guten Tag, Fräulein Ulrika«, sagte er scheu und stellte die Weinflasche auf den Tisch. Er merkte, dass sie die Luft anhielt. Er schenkte sich ein Glas Wasser ein und nippte daran. Es schmeckte fade und abgestanden.

Ulrika telefonierte mit ihrer Schwester, der vortrefflichen Karolina. Er hörte es ihrer Stimme an. Karolina war die Einzige, vor der sie Respekt hatte. Sie warf ihm einen Blick zu und murmelte etwas in den Hörer. Sie sprachen über ihn. Dann zog sie die Haare vors Gesicht und prustete los, als hätte ihre Schwester etwas Lustiges gesagt.

Über ihn.

Welch ein Schlappschwanz er war, welch eine lächerliche Figur.

Er ging ins Schlafzimmer und riss sich das T-Shirt vom Leib. Die Hitze war nahezu unerträglich. Sicherheitshalber ging er ins Bad und wusch sich unter den Armen.

»Ja, das werde ich tun«, hörte er durch die Tür. »Nein, das finde ich auch nicht.«

Er ging ins Schlafzimmer zurück, stellte sich vor die Spiegelkommode und starrte sich in dem schillernden Glas an. Ulrika hatte die Kommode von ihrer Großmutter geerbt und er hatte ihr geholfen, sie abzulaugen.

Hübsch, dachte er. Hübschihübsch. Ein gesunder, munterer Junge.

Er hatte sie an jenem ersten Abend nach Hause begleitet. Sie hatten einiges getrunken und ehe er sich versah, hatte er ihr auch schon erzählt, dass er Deutsch lernen wollte. Dass er es Jerry schon zeigen und eines Tages fließend Deutsch sprechen würde, nur um seinem Bruder eins auszuwischen. Sie war sofort Feuer und Flamme gewesen.

»Ich könnte dir helfen, du kannst zu mir kommen und Privatunterricht bekommen.«

»Was jetzt, kannst du etwa Deutsch?«

»Ja klar, meine Mutter stammt aus Bremen. Wir haben dort gewohnt, als ich klein war. Ich bin dort sogar in die Schule gegangen.«

Und sie fing an, jede Menge Sätze auf Deutsch herunterzuleiern.

»Warte«, flüsterte er. »Nicht so schnell, ich komme nicht mit.«

Daraufhin zwickte sie mit sanften Fingern seine Ohrläppchen und brachte ihn schließlich dazu, sie zu begehren.

Sie war eine gute Liebhaberin.

Aber wenn einem jeden Tag ein Stück Torte angeboten wird, möchte man sich am Ende nur noch übergeben.

Den Deutschunterricht nahmen sie sehr ernst. Ulrika war eine strenge Lehrerin, gab ihm Hausaufgaben auf und ließ ihn Texte schreiben. Wenn er aufgeben wollte, war sie verletzt und wurde kurz angebunden. Er hatte keine Wahl, er musste weitermachen. Nach ein paar Wochen zog er zu ihr und sie lebten, als wären sie verheiratet. Abends kam das Essen auf den Tisch und die Fenster wurden regelmäßig geputzt. Sie machten auch Besuche in Villastaden, wo ihre Eltern in einem adlerhorstähnlichen Gebäude auf der Kuppe eines Hügels wohnten. Sobald Schnee lag, war es ohne Allradantrieb praktisch unmöglich, den Hang hinaufzukommen.

Er stand vor dem Spiegel und betrachtete seine hohe Stirn und anschließend die Nase mit ihrer kleinen Spitze.

Nase und Ohren. Wie Tiere.

Daniel Magnusson, 28 Jahre alt.

Seine Haare wurden immer dünner.

Ein Hals wie von einer nicht gefleckten Giraffe.

Er hörte ihre Füße auf dem Parkett, sah ihre brüchigen weißen Nägel vor sich, er half ihr manchmal bei der Pediküre, denn sie war zu dick, um richtig an ihre Füße heranzukommen. Dann spielte es keine Rolle, wie sie rochen.

Aber das war auch schon eine ganze Weile her.

»Ich habe eine Flasche Wein gekauft!«

Früher, noch vor ein paar Wochen, hätte sie ihn unter ihren verquollenen Lidern angeschaut und nicht locker gelassen, bis er es auf Deutsch gesagt, einen vollständigen Satz mit allen Satzteilen in der richtigen Reihenfolge gebildet hätte.

Ich habe eine Flasche gekauft.

Wein.

Roter.

Oh doch. Er hätte es durchaus hinbekommen. Aber das war vorbei, ihr Leben war in eine neue und weniger angenehme Phase eingetreten. Sie hatte ihn schlicht und ergreifend satt.

Und ich sie auch, dachte er erbost, ich sie auch.

Er griff nach einem Bademantel und steckte seine zitternden Arme mit gemessenen Bewegungen in die Ärmel, zog ihn um sich und band ihn zu. Er wollte sich bedecken. Plötzlich brannte sein Hals und er musste sich abwenden, die Knöchel gegen die Augen pressen.

»Was ist!«, sagte sie gereizt.

»Ich sagte, ich habe eine Flasche Wein gekauft.«

»Na und?«

»Wie, na und?«

Sein Adamsapfel bewegte sich, er spürte es, er hüpfte auf und ab. Er zog die oberste Küchenschublade auf, holte den Korkenzieher heraus und hielt ihn ihr hin.

»Hier! Du kannst sie ja öffnen.«

Daraufhin sagte sie es.

»Ich möchte, dass du ausziehst!«

Er war darauf gefasst gewesen, immerhin hatte sie ihm schon mehrfach damit gedroht. Aber trotzdem. Das Blut wich aus seinem Kopf und schien durch den ganzen Körper bis in seine Zehen zu schießen. Er hörte es regelrecht, so als würde man auf der Toilette abziehen.

Wouusch.

Er griff nach der Kante der Spüle, musste sich setzen.

»Und warum?«

Ulrika stand breitbeinig im Zimmer, ihre Zunge lugte zwischen den Lippen hervor, die Zungenspitze mit ihren winzigen Rissen und Unebenheiten. In diese Zunge habe ich gebissen, dachte er, vermisste jedoch nichts. Nein. Das war es nicht.

»Ich möchte eben allein wohnen, wir passen einfach nicht zusammen. Ich habe dich zum Beispiel schon hundert Mal gebeten, etwas Geld zur Haushaltskasse beizusteuern, und dann kommst du mit einer Flasche Wein. Als ob das reichen würde. Und dann dieser so genannte Job, den du da hast. Wenn du schon unbedingt in der Gebäudereinigungsbranche bleiben willst, hättest du wenigstens eine eigene Reinigungsfirma gründen und Leute anstellen können, damit du nicht selber putzen musst. Ich habe dich satt, auch auf andere Art. Na ja, du verstehst vielleicht.«

»Aber wo soll ich denn hin?«, sagte er quengelnd.

»Heute Nacht kannst du noch bleiben, aber morgen musst du dich verziehen.«

Später dachte er, dass es besser gewesen wäre, wenn sie ihn sofort rausgeschmissen hätte. Alles wäre besser gewesen als das, was dann passierte. Er zog den Korken aus der Weinflasche und stellte zwei Gläser auf den Tisch, aber sie wollte nichts trinken. Stattdessen ging sie duschen und er leerte sein Glas und dann ihres und schenkte sich anschließend wieder ein, sodass die Gläser aussahen, als wären sie nicht angerührt worden. Sie hatte nasse Haare, suchte nach einem Kleid. Durch den Türspalt sah er ihren breiten, weißen Rücken. Er empfand Ekel, vermischt mit immer größer werdender Wut.

Und dennoch.

Er hatte starke Arme.

Er stieß sie rücklings aufs Bett und hielt sie fest. Ihre massigen, gespreizten Schenkel, sie war unten noch feucht von der Dusche, ihre fette Fotze.

Sie leistete keinen Widerstand, wenn sie sich doch wenigstens gewehrt hätte. Er hielt ihre Arme mit der linken Hand fest und zog den Reißverschluss seiner Hose auf, es war lange her, dass er einen solchen Ständer gehabt hatte, es schmerzte regelrecht an der Peniswurzel, und er hievte sich auf sie, bestieg sie wie einen Berg aus Speck und Fleisch und Haut.

Sie wehrte sich nicht, sondern lag einfach nur da und starrte mit gleichgültiger Miene an die Decke. Als er kam, stieß sie ihn mit einem Schwung des Unterarms von sich und setzte sich auf.

»Bist du fertig?«

Da brach er in Tränen aus und weinte so laut und jammernd, dass er es nicht einmal hörte, als sie ging.

5. Angelica

Sie schlief, aber tief in ihr kämpfte etwas darum aufzuwachen.

Mama, dachte sie, brachte das Wort aber nicht heraus, ihr Mund lag schlaff und offen.

Das schöne Kleid, wie Sonne und Nebel, schau mal, Angelica, was bist du nur für eine kleine Elfe!

War jetzt das Fest, was war aus dem Fest geworden?

Sie schlief, und im Schlaf ertönte der Klang von Stimmen.

Mama und Papa, es schrillte und schepperte.

Geh weg, dachte sie. Mama und ich. Nur wir zwei.

Ihr Hals tat weh, wenn sie so dachte.

Papa war so lieb, er schenkte ihr ganz tolle Sachen. Sie legte sich dicht an die Wand in ihrem kleinen Kinderzimmer, warte hier, Papa und ich müssen uns unterhalten. Das Diadem drückte gegen den Kopf. Sie hatte es in einem Paket bekommen, er hatte ihr geholfen, die Schnur zu lösen.

Papas kleine Prinzessin.

Oh, das will ich im Kindergarten anziehen.

Ja, das darfst du auch. Aber du musst gut darauf aufpassen, denn es hat viel Geld gekostet.

Seine Finger mit dem Tabakgeruch.

Viel, viel Geld.

Und dann:

Geh ein bisschen in dein Zimmer, Angelica. Mama und ich müssen uns unterhalten.

Sie würde es in den Kindergarten mitnehmen. Die anderen würden es schön finden und ganz neidisch sein. Aber keiner würde es anziehen dürfen, auch nicht Mimmi oder Isabelle. Sie könnten es kaputtmachen. Sie kapierten nicht, dass man mit so teuren Sachen ganz vorsichtig sein muss.

Ihre Hände lagen dicht, ganz dicht an den Ohren. Hatten sie nicht bald genug geredet? Sie musste Pipi, ihre Hände lagen auf den Ohren und sie dachte: still. Mechanisch begann sie zu singen, lauter, immer lauter und schrill. Aber das nützte nichts. Nichts in der Art konnte helfen, das wusste sie, und die Tür war geschlossen, aber dennoch drangen die schweren Geräusche von Stoff und Haut herein, und dann Mama:

Sie klang wie ein Welpe.

An-ge-li-ca. Sie dachte an ihren Namen und war jetzt ein Fisch. Ganz tief schwamm sie, fast platt auf dem Grund, sie war einer dieser grauen komischen Fische mit Stachelzähnen. So einen hatte sie gesehen, als sie mit Papa in dem großen Meerwasseraquarium war – was für ein komisches Wort, sie konnte es gar nicht richtig aussprechen. Sie waren auch in den Vergnügungspark gegangen, der Gröna Lund hieß.

So was darfst du mit Mama bestimmt nie fahren, Mamas trauen sich nämlich nicht auf so etwas.

Sie schrie mit dem Mund an seiner Hemdbrust.

Als sie sich übergab, drehte er ihren Kopf weg.

Möchtest du ein Eis? Möchtest du Zuckerwatte?

Möbel schabten über den Boden. Mama schrie oder sang. Ihren Papa hörte sie nicht, aber sie dachte an seine Augen, wie sie aussahen, wenn sie etwas angestellt hatte, an seine Finger und Daumen, die sich drehten. Und dann schoss seine Hand explosionsartig gegen ihre Nase.

Plötzlich wusste sie, dass ihr Papa gegangen war. Sie hatte es nicht gehört, aber da war etwas mit der Luft. Mama, piepste sie, und es war ihre Fischstimme, die kleine, winzig kleine Blubberstimme.

Aber sie musste alleine aufstehen und die Tür öffnen. Mama war im Badezimmer, hatte die Tür zugemacht und abgeschlossen.

Es roch irgendwie besonders, wenn Papa da gewesen war. Es roch süßlich und gleichzeitig ein wenig verbrannt.

Mamas Stimme durch das Wasserrauschen:

»Liebes, Mama kommt sofort. Setz dich so lange auf die Couch und warte.«

Und sie saß mit gestreckten Beinen auf der Couch und drehte das Diadem, bis Mama mit feucht glänzendem, aufgedunsenem und verzerrtem Gesicht herauskam.

»Papa ist lieb«, sagte sie fragend.

Mama nickte.

»Ja. Aber jetzt wird Mama den Fernseher anmachen, es ist Kinderstunde, die dürfen wir nicht verpassen.«

Sie hatte in dem Kinderwagen gelegen, obwohl sie eigentlich viel zu groß für so etwas war, denn der Wagen war für die kleineren. Für die Kleinkinder.

»Mein Gott, wie heiß du bist!«

Magda, dachte sie, und es zuckte in ihren Gliedern. Ihre Schläfen pochten, und hinter den Augen scheuerte es wie Sand.

»Du wirst hier ein wenig liegen bleiben und dich ausruhen müssen.«

Sie hatte ihr Ohr in das Kissen gepresst und durch den Stoff die Räder über den Schotter knirschen gehört. Jemand quengelte, es war Mimmi, ich will auch im Wagen fahren.

»Ein anderes Mal, denn jetzt ist Angelica an der Reihe, sie ist heute ein bisschen müde.«

Ein singender, rasselnder Laut.

Sie schwitzte, sie lag in ihrem Kleid in dem Wagen.

Was war dann passiert? Sie wurde herausgehoben, aber es ging alles ganz schnell, und sie sah nichts, denn es war schwarz vor ihren Augen, vor ihrem ganzen Gesicht war es schwarz, und sie dachte an Samt und Moos. Ein Arm schob sich unter ihren Bauch, und sie wurde getragen oder flog.

Mama, keuchte es in ihr.

Aber das waren keine Mamahände, keine Magdahände, keine Hände, die sie kannte.

Mimmi, die den Wagen umgekippt hatte? Mimmi, die knuffte und stieß, sie musste sich mit aller Kraft festklammern.

Da hörte sie zum ersten Mal die neue Stimme.

»Ganz ruhig, Kleines, hab keine Angst.«

Sie lag da, und es roch nach Auto, und etwas Spitzes stach in ihr Bein. Tränen traten ihr in die Augen, und sie versuchte zu schreien, erkannte ihre eigene Stimme aber nicht mehr wieder.

Etwas floss wie Sirup in ihrem Körper.

Danach erinnerte sie sich an nichts mehr.

6. Magda

Sie konnte nicht schlafen. Sie hatte versucht, wie jeden Abend ins Bett zu gehen, sich an die alltäglichen Gewohnheiten zu halten. Aber nichts funktionierte mehr wie sonst. Sie war völlig überdreht, Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf. Schließlich schlug sie die Decke zur Seite und stand auf. Das Nachthemd war feucht, und trotz der Wärme bekam sie eine Gänsehaut.

Angelica, was habe ich nur getan, was machen die mit dir?

Die Polizei war gekommen, sie hatte gesehen, wie die Streifenwagen auf dem Wendeplatz parkten. Sie hatte Angst bekommen, war aber gleichzeitig erleichtert gewesen. Immer wieder hatte sie erklären müssen, wie sie den Wagen im Schatten des Baumes stehen gelassen hatte und dass sie sich nur für kurze Zeit entfernt hatte. Wenn sie den Beamten erzählen sollte, wie es war, als sie zurückkehrte, musste sie jedes Mal weinen. Eine Polizistin tätschelte ihre Hand. Ihre Augen waren voller Mitleid.

»Haben Sie eine Vermutung, was passiert sein könnte?«

Florian, schoss es ihr durch den Kopf, aber sie sprach den Namen nicht aus, schüttelte nur den Kopf. Tränen liefen ihr den Hals hinab, und der Pullover wurde nass.

Auf dem Hof stand Carita und nahm die Eltern in Empfang. Bedauerte, erklärte und tröstete. Es waren keine lauten Stimmen zu hören, sondern nur ein säuselndes Murmeln, eine ungewohnte, plötzliche Stille. So leise war es sonst nie in den Räumen des Kindergartens, nicht einmal, wenn Mittagsschlaf gehalten wurde.

Der Arm der Polizistin war sonnengebräunt und von kurzen, feinen, blonden Härchen bedeckt. Ihr Kajal war ein wenig verlaufen, vielleicht wegen des grellen Sonnenlichts.

»Sollte Ihnen doch noch etwas einfallen, egal was, rufen Sie uns bitte an! Hier ist die Nummer. Sie können mit mir sprechen oder mit ihm dort er heißt Greger. Im Grunde können Sie natürlich mit jedem unserer Kollegen sprechen, aber fragen Sie ruhig erst nach uns. Tun Sie das bitte!«

Die Polizisten nahmen sie mit in den Wald. So machte man es auch mit Tatverdächtigen, das wusste sie, man führte sie herum. Wie Kühe. Sie hatte eiskalte Fingerspitzen, musste ihnen alles zeigen.

»Hier habe ich den Kinderwagen abgestellt, da unten waren Kattis und die anderen Kinder. Und da drüben bin ich reingerobbt, weil ich dachte, ich hätte ein paar Buschwindröschen gesehen, Sie können es selber sehen, ich glaube, die Stiele, die ich abgebrochen habe, liegen noch da.«

Es tauchten weitere Polizisten auf, die einen Hund dabei hatten, einen Rottweiler. Im Nachbarhaus gab es auch einen, der allerdings kleiner war als dieser Polizeihund. Sie hörte, dass die Beamten den Hund Rex nannten. Man hatte ihm eine Art Zaumzeug angelegt, und er begann eifrig zu schnüffeln, wo der Wagen gestanden hatte.

Immer wieder musste sie alles erzählen.

Die Polizisten sprachen auch mit den Kindern, den ganzen Nachmittag wurden sie verhört. Sie hörte das Geräusch eines Hubschraubers.

Sie zog sich an. Von dem Schlag, den sie bei ihrem Sturz abbekommen hatte, tat ihr das Kreuz weh. In gewisser Weise geschah es ihr nur recht. Es war eine Art Strafe dafür, dass sie Angelica allein gelassen hatte. Je mehr es schmerzte, desto besser würden die Chancen stehen, dass das Mädchen unverletzt gefunden wurde.

Eine Begegnung mit Eva, Angelicas Mutter, war ihr Gott sei Dank erspart geblieben. Sie war mit den Polizisten im Wald gewesen, als Eva eintraf. Sie hatte Kattis fragen wollen, was sie gesagt, wie sie es aufgenommen, was sie getan hatte. Aber sie hatte nicht die Kraft dazu gehabt.

Sie verstellte die Jalousien so, dass sie hinausschauen konnte. Es war halb zwölf und mittlerweile ziemlich dunkel. Sie wohnte in der Grundtvigsgatan in Blackeberg in einem dreistöckigen Backsteingebäude. Ihre Wohnung lag im Souterrain. Die Miete war in Ordnung. Aber die Kosten für ein weiß lackiertes, schmiedeeisernes Einbruchsgitter hatte sie selber übernehmen müssen. Es sah recht gut aus, versuchte sie sich einzureden, wie erstarrte oder gefrorene Spitze.

Ihre Wohnung bestand aus einem zehn Quadratmeter großen, rechteckigen Raum, in dem ihr ganzer Hausrat Platz fand. Die Küche war nur eine Kochnische mit einem Kühlschrank und einem primitiven Herd. Wenn man den Ofen benutzte, funktionierte die größere der beiden Kochplatten nicht. Unter der Decke verliefen Rohre, in denen es fortwährend säuselte. Normalerweise fand sie das gemütlich, aber jetzt störte und quälte es sie.

Sie schaltete den Computer ein und öffnete eine Datei, der sie den Namen Mein Jetzt gegeben hatte. Es war eine Art Tagebuch. Manchmal schrieb sie auch Gedichte, oder vielmehr Entwürfe zu Gedichten, die sie in dieser Datei sammelte. Sie hatte die Texte bislang nur einer einzigen Person gezeigt.

Im Moment, schrieb sie, im Moment geht es mir sehr schlecht. Was geschehen ist, erscheint mir so grauenvoll, dass ich nicht einmal darüber schreiben kann. Wird das Leben jemals wieder normal sein? Woher soll ich die Kraft nehmen, mit allem weiterzumachen? Ich habe etwas Schreckliches getan. Ich habe zugelassen, dass ein kleines Kind verschwunden ist.

Sie konnte einfach nicht mehr in der Wohnung bleiben, hatte das Gefühl, die Wände würden auf sie herabstürzen und ihr die Luft zum Atmen nehmen. Sie ging hinaus und schloss die Tür hinter sich ab. Der Schlüssel hakte ein wenig, sie vergaß immer, Schmieröl zu kaufen. Vor einer Woche hatte sie es mit Margarine versucht, eine Messerspitze davon in das Schloss gepresst, aber das hatte nichts genützt. Stattdessen hatte ihre neue Hose Flecken bekommen. Fettflecken bekam man nie mehr heraus. Das hatte Tante Gunilla ihr immer wieder gepredigt. Wie sich nun herausstellte, hatte sie Recht gehabt. Als sie auf den Hof hinaustrat, schoss eine Katze lautlos in die Sträucher. Magda zuckte zusammen. Das war Bruno, ein großer und bissiger Kater, der sie schon einmal fast angesprungen hätte. Damals hatte sie versucht, ihn von einer verletzten Taube wegzuscheuchen, die an der Wand hockte. Bruno kam und ging, wie er wollte, sein Besitzer ließ das Fenster immer einen Spaltbreit offen stehen, sogar im Winter. Der beißende Gestank von Katzenurin stieg direkt neben den Fahrradständern vom Boden auf. Sie dachte an Fredriksson, den Hausmeister. Sie hatte ihn einmal mit seinem lehmverschmierten Holzschuh nach der Katze treten sehen.

Erst konnte sie ihren Fahrradschlüssel nicht finden, aber dann lag er doch in der Jackentasche, wo sie schon nach ihm gesucht hatte. Es war ein kühler Abend. Sie fror ein wenig, zog den Reißverschluss bis zum Hals zu. Sie fuhr gerne Rad, es tat ihr gut, es kam ihr vor, als würde der Fahrtwind einen reinigen. Als ihre Tante letztes Jahr ihren fünfzigsten Geburtstag gefeiert und ein neues Fahrrad mit mehreren Gängen geschenkt bekommen hatte, übernahm Magda den alten Drahtesel. Es war ein Rad der Marke Crescent, das in den Sechzigern glänzend und neu gewesen war. Zum Sattel gehörte ein Regenschutz aus gepunktetem Wachstuch, den ihre Tante selber genäht hatte.

Seit dem Tag vor 22 Jahren, an dem ihre Eltern ins Meer gefallen und ertrunken waren, hatte sie bei Tante Gunilla und Onkel Olle gewohnt. Ihre Eltern hatten mit ihrer Motorsegelyacht Urlaub in den Schären von Sankt Anna an der schwedischen Ostküste gemacht. Vermutlich hatten sie zu viel getrunken, das hatte Magda sich anhand der Kommentare zusammengereimt, die sie im Laufe der Jahre aufgeschnappt hatte. Sie selbst war in ihrer Wiege in der schaukelnden Kajüte alleine zurückgeblieben. Das Boot trieb und trieb, bis sich schließlich der Seenotrettungsdienst seiner annahm. Sie besaß ein altes, verblichenes Zeitungsfoto, das einen Mann in einem Overall zeigte, der mit einem Säugling im Arm an Land ging. Dieser Säugling war sie gewesen.

Sie trat wie eine Wahnsinnige in die Pedale, und es rauschte in ihren Ohren. Im Zentrum von Blackeberg bog sie links auf den steilen Anstieg ab und fuhr auf den Fahrradweg. Sie kam an dem Kreisverkehr vorbei, in dem sie einmal einen Lastwagen umkippen und Feuer fangen gesehen hatte. Das war zu der Zeit gewesen, als sie noch ins Gymnasium ging, und sie hatten auf dem angrenzenden Sportplatz Brennball gespielt. Der Fahrer war bei dem Unfall ums Leben gekommen, sie musste jedes Mal daran denken, wenn sie hier vorbeifuhr, und träumte bisweilen, dass sie seine Hände durch den Rauch und die Windschutzscheibe sah, seine vergeblichen Versuche, sich aus der Fahrerkabine zu befreien, bevor das ganze Auto von den Flammen erfasst wurde.

Sie hielt sich an den großen Fahrradweg, der parallel zum Bergslagsvägen verlief. Der kürzere Weg hätte über Grimsta geführt, aber das Viertel hatte einen schlechten Ruf. In der Nähe des Autoverkehrs fühlte sie sich sicherer. Das Fahrrad glitt durch die Dämmerung, und die Luft duftete nach zartem, feuchtem Grün. Sie hielt den Lenker fest umklammert, war die ganze Zeit von der eigentümlichen Hoffnung erfüllt, dass sie die Augen für einen Moment schließen und anschließend wieder öffnen würde, und dann das Mädchen in seinem verknitterten gelben Kleid vor ihr stehen, mit dem Fuß aufstampfen und wütend sein würde.

»Ihr habt mich vergessen, ihr seid einfach weggegangen!«

Nein. Angelica war nur selten wütend. Sie saß am liebsten am Tisch und malte mit Wachsmalstiften kleine Kinder, die wie Tiger in Käfigen hockten. Oder sie zog sich in die Kissenecke zurück und lutschte an ihren Fingern. Ihren Eltern gefiel das nicht, es konnte schlecht für ihre Zähne sein. Das Kindergartenpersonal hatte deshalb Anweisung bekommen, darauf zu achten, dass sie nicht an den Fingern lutschte.

Ein einziges Mal hatte Angelica einen Wutanfall bekommen. Der Auslöser dafür war etwas gewesen, das Eva gesagt hatte. Magda war in dem Moment in den Flur gekommen. Ein kleiner, roter Stiefel flog an ihr vorbei. Eva hatte das brüllende Kind festgehalten.

»Was ist denn hier los?«, hatte Magda gerufen.

»Angelica mag ihre Mama nicht mehr.«

Um diese Uhrzeit waren nicht mehr viele Autos unterwegs. Ein Taxi fuhr Richtung Vällingby, und als sie sich Johannelund näherte, hörte sie die rhythmischen Laute einer U-Bahn, die an dieser Stelle oberirdisch fuhr. Dann sah Magda sie auch, es war einer von den neuen Zügen. Er wurde langsamer und hielt plötzlich auf freiem Feld. Wahrscheinlich eine Störung, die gab es auf der so genannten Grünen Linie häufiger. Sie fuhr in die Unterführung und dann entlang der asphaltierten Gehwege. Außer ihr war niemand auf der Straße.

Der Kindergarten war geschlossen. Sie hatte nichts anderes erwartet. Sie radelte an dem flachen, gelben Holzbau vorbei, der ihr Arbeitsplatz war, und weiter zu dem Wäldchen, in dem Angelica verschwunden war. Ein Hase richtete sich aus dem Gras auf. Sie sah sein Profil und die langen, sensiblen Löffel. Ganz ruhig blieb er sitzen und ließ sich von ihr keine Angst einjagen. Sie dachte an ein Buch über Hasen oder Kaninchen, das sie sich einmal ausgeliehen hatte. Es hatte Unten am Fluss geheißen und war eines der besten Bücher, die sie je gelesen hatte.

Als sie das Wäldchen erreichte, bremste sie und stieg ab. Sie blieb zunächst eine Weile stehen und lauschte, ehe sie das Fahrrad abstellte und abschloss. Langsam trat sie zwischen die Bäume. Das Areal war mit blauweiß gestreiftem Plastikband abgesperrt worden. Hinter der Absperrung sah alles so aus wie immer. Unzählige Male waren sie hier mit den Kindern gewesen, es war ein überschaubarer und friedlicher Vorortwald, im Grunde nicht einmal ein richtiger Wald, sondern eine Ansammlung von Bäumen und Sträuchern, ein Stück Natur zwischen all den Häusern, in dem Kinder Ameisen beobachten und Blaubeeren pflücken konnten.

Sie stand an der Eiche, wo sie den Kinderwagen abgestellt hatte, und berührte sie mit den Fingerspitzen.

Die gefurchte Rinde war kühl, und sie presste ihre Wange an den Stamm, bis es beinahe wehtat. Plötzlich bekam sie keine Luft mehr. Es war, als würde ihr der ganze Brustkorb zusammengeschnürt, sodass die Luft nicht mehr hineinkonnte. Sie breitete die Arme aus, versuchte tief durchzuatmen und strengte sich dabei so an, dass ihr Unterkiefer zitterte. Sie geriet ein wenig in Panik und war verunsichert. Und wenn Angelica nun doch bei ihrem Vater war? Wenn er sie mitgenommen hatte und weggefahren war? Sie hätte der Polizei sagen sollen, was sie über Eva und Florian wusste. Aber das fanden die Beamten wahrscheinlich ohnehin heraus. Außerdem hatten sie auch mit Carita gesprochen, und Carita wusste Bescheid. Als Leiterin musste sie über die Familienverhältnisse der Kinder informiert sein. Sie würden Florian bis in das kleine rumänische Dorf verfolgen, aus dem er stammte, und er würde sagen, jetzt ist sie hier, meine Tochter, sie ist bei mir und sie wird hier eine Weile bleiben, aber ich bringe sie dann wieder nach Hause, gebt mir nur etwas Zeit.

So musste, musste es einfach sein!

Aber da war noch die Sache mit dem Diadem. Das hätte er doch sicher mitgenommen und nicht im Kinderwagen zurückgelassen. Andererseits hatte es unter dem Kissen gelegen, wie hätte er es also sehen sollen?

Magda schloss die Augen, blickte zum Nachthimmel auf und zwang sich, langsam und tief durchzuatmen. Warum war sie eigentlich mitten in der Nacht hierher gefahren? Um Spuren zu finden? Nicht einmal die Polizei hatte das gemacht. Es war dumm, verrückt und konnte sogar gefährlich werden.

»Ist mir scheißegal!«, murmelte sie.

Es war windig geworden. Vielleicht würde es nun endlich Regen geben. Das wäre dringend nötig, denn alles dürstete nach Regen und Feuchtigkeit. Sie starrte zum Gewirr der Äste hinauf, die noch nicht vollständig begrünt waren. Eichen schlugen spät aus. Auf einmal war sie unruhig. Sie musste nach Hause. Im Laufschritt kehrte sie zu ihrem Fahrrad zurück und hatte Schmerzen im Kreuz.

Lieber Gott, mach bitte, dass Angelica bei ihrem Vater ist!

7. Daniel

Er blieb in der Wohnung. Sein erster und verzweifelter Gedanke war, dass er sich in Ulrikas riesiges Bett legen und sich weigern würde, aufzustehen. Sie war zwar kräftig gebaut, aber er war stärker als sie. Selbst wenn sie ihre Schwester holte und die beiden gemeinsam versuchen sollten, ihn herauszuzerren, würde es ihm gelingen, sich festzuklammern. Er legte sich breitbeinig auf den Bauch, griff nach den Bettkanten und hielt sich fest, als wären sie schon im Raum, zwei riesige Monsterfrauen, die mit vereinten Kräften versuchen würden, ihn unschädlich zu machen.

»Ulrika«, murmelte er und versuchte das zarte, stille Mädchen heraufzubeschwören, das sie trotz allem ab und an zu sein versuchte.

Nein, es ging nicht. Es war aus.

Und der Deutschunterricht?

Zum Teufel mit der deutschen Sprache.

Ihr Vater würde sich garantiert freuen. Dieser aufgeblasene Direktorenheini. Der Mann hatte sich ihm tatsächlich mit seinem Direktorentitel vorgestellt, als Ulrika ihn das erste Mal zu ihren Eltern mitgenommen hatte.

»Direktor Frölich.« Kein Vorname, nur Titel und Nachname.

»Daniel. Ja also, Daniel Magnusson.«

»Und was macht Herr Magnusson beruflich, wenn man fragen darf?«

»Er studiert, Papa.«

Wie ein Reptil war sie dazwischengefahren, hatte geantwortet und ihm kaum die Chance gelassen zu hören, was der alte Knacker überhaupt sagte.

»So so, aha. Und was?«

»Informatik. Etwas, wovon du sowieso nichts verstehst, Papi.«

Dass er Informatik studierte, stimmte natürlich überhaupt nicht. Sie schämte sich für ihn, das war alles.

Auch ihre Alte würde darüber, dass Daniel als Schwiegersohn abgeschrieben war, erleichtert aufseufzen.

»Die blöde Kuh!«, murmelte er ins Kissen, das schwach nach Ulrika roch, nach irgendeinem Shampoo, das sie häufig benutzte. Auch ihre Eltern waren kräftig gebaut, die Statur hatte sie von ihnen geerbt. Sogar ihre Schwester Karolina war groß wie eine Riesin. Heiligabend hatte er sich im Vergleich zu Ulrika und ihrer Familie wie ein Schneeglöckchen gefühlt. Ja wirklich, genau dieser Vergleich war ihm in den Sinn gekommen. Ein zartes und empfindliches Schneeglöckchen. Er hatte Marzipan für sie gekauft, in Schokolade getunkte Schweinchen. Vier Stück, deren Hintern so breit waren wie ihre. Erst hatte er gar nicht vorgehabt, ihnen etwas zu schenken, aber Ulrika hatte ihn darauf angesprochen, und daraufhin war er losgezogen und hatte die Schweinchen gekauft und für sie außerdem noch eine Geschenkpackung mit lila Schaumbad und einer Seife.

Sie hatte an der Schaumbadverpackung gerochen, und an ihrer Nasenwurzel hatten sich kleine, feine Falten gebildet.

»Ich bade ja eigentlich nie«, sagte sie. »Ich dusche meistens, aber trotzdem vielen Dank.«

Es war eine schöne Vorstellung, ihnen nicht mehr begegnen zu müssen. Ständig hatte er das Gefühl gehabt, mit ihm würde etwas nicht stimmen. Er war nicht gut genug. Aber als ihr Alter einen runden Geburtstag feierte, da war er gut genug gewesen, da hatte er wie ein Butler die Gäste in Empfang nehmen und ihre verdammten Mäntel aufhängen müssen, bis die Garderobe kurz davor war, zusammenzubrechen. Ulrika und ihre Schwester waren in der Küche beschäftigt gewesen, er hatte nichts von ihnen gesehen und sich auch nicht getraut, seinen Platz an der Tür zu verlassen. Er hatte zwischen den nassen Wollmänteln gestanden, und es schneite, und die Leute hatten Probleme, den steilen Hang hinaufzukommen. Aus dem Salon hatte man Lachen und Stimmengewirr gehört. Er war allmählich hungrig und schließlich wütend geworden. Wo war Ulrika?