Gute Nacht, mein Geliebter - Psychothriller - Inger Frimansson - E-Book

Gute Nacht, mein Geliebter - Psychothriller E-Book

Inger Frimansson

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Beschreibung

Ein glückloses Ende für ein glückloses Leben? Justine Dalvik ist eine exzentrische Frau. Als sie dann endlich die Liebe ihres Lebens kennenlernt, geschehen um sie herum erschreckende Dinge: Ihr Geliebter verschwindet plötzlich auf einer Urlaubsreise, eine Mitreisende kommt ums Leben und eine alte Schulfreundin löst sich in Luft auf. Die Spuren führen zu Justine selbst, doch ist sie wirklich die Täterin? Oder versucht jemand, ihr neugefundenes Glück zu zerstören?-

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Inger Frimansson

Gute Nacht, mein Geliebter - Psychothriller

Paul Berf

Saga

Gute Nacht, mein Geliebter - Psychothriller ÜbersetzerPaul Berf Coverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 2002, 2020 Inger Frimansson und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726445022

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

Ein herzliches Dankeschön an Karl-David,

für das Blasrohr, das er mir lieh, und dass

ich es so lange behalten durfte, wie ich wollte.

PROLOG

Abends gegen Viertel nach sechs kamen sie in Arlanda an. Sie waren in London verspätet gelandet und hatten deshalb ihren Anschlussflug verpasst. Alle Maschinen nach Stockholm waren ausgebucht. Sie hätten erst am nächsten Tag Weiterreisen können, wenn der Frau von der Botschaft nicht der Kragen geplatzt wäre. Sie hieß Nancy Fors und war während der gesamten Reise ruhig und ein wenig melancholisch gewesen. Ihr überraschender Gefühlsausbruch verblüffte Justine.

Sie durften als Erste das Flugzeug verlassen. Zwei Polizisten in Zivil kamen an Bord und schleusten sie über einen Nebenausgang hinaus.

»Die Presse hat leider Wind von Ihrer Ankunft bekommen«, sagte der eine. Justine hatte seinen Namen nicht richtig verstanden.

»Die sind wie Hyänen. Müssen in alles ihre Schnauze stecken und darin herumwühlen. Aber jetzt zeigen wir ihnen, was eine Harke ist.«

Sie nahmen Justine in ihrem Wagen mit.

Was ihr sofort auffiel, war das Licht, dieses reine, kühle Licht und das fast schon zerbrechlich wirkende Grün. Sie hatte ganz vergessen, dass es hier so aussah. Sie sprach mit Nancy Fors darüber: »Haben Sie nie Heimweh? Wie halten Sie es in der Hitze dort drüben nur aus?«

»Ich weiß doch, dass es nur vorübergehend ist«, lautete die Antwort. »Und die Dinge hier verändern sich ja nicht, sie warten auf mich.«

Sie kamen an der Ausfahrt nach Sollentuna und Upplands Väsby vorbei. Es war halb acht.

Der Polizist, der den Wagen fuhr, sagte:

»Übrigens ... dieses Mädchen. Martina. Ihre Eltern möchten Sie gerne sehen.«

»Ach.«

»Es ist ihnen sehr wichtig.«

Sie wandte ihr Gesicht dem Fenster zu. Sah ein kleines Wäldchen mit weißen Stämmen.

»Sicher«, sagte sie. »Das geht in Ordnung.«

1. Teil

1. KAPITEL

Die Kälte: schneidend, rein. Das Wasser – wie etwas Graues und Lebendiges, Seide!

Kein Himmel, nein, keine Kontraste, das hätte sie nicht ertragen, das tat den Augen zu weh. Aber Wolken, am liebsten dichte, geballte, die Schnee verhießen.

Und er sollte trocken vom Himmel fallen, sollte wie Rauch durch die Straßen treiben, sie würde ihre Kleider aufreißen und sich von der Kälte durchdringen lassen.

Dort in der Ferne hatte sie versucht, genau das heraufzubeschwören, das Gefühl von Eiskristallen. Voller Anspannung hatte sie die Augen geschlossen, um das Geräusch eines nordischen Ufers zu hören, an einem Frühlingstag, wenn das Eis schmilzt.

Es war ihr nicht gelungen. Nicht einmal, als die heftigsten Fieberanfälle ihren geschwächten Körper schüttelten und Nathan sie mit allem bedeckte, was er auftreiben konnte, Kleider, Stoffreste, Gardinen.

Sie fror, aber es war die falsche Art von Kälte.

Vorwärts, vorwärts, sie rannte.

So hast du mich nie gesehn!

Vorwärts, vorwärts jagte ihr massiger Leib, die Füße federleicht in den Joggingschuhen. Vor ein paar Tagen erst hatte Justine sie in einem Sportgeschäft in Solna anprobiert, hatte sie vor den kritischen Augen eines jungen Mannes mit schneeweißen Zähnen und glänzendem, dichtem Haar getestet. Er hatte sie auf einem Laufband traben lassen und ihre Fußbewegungen mit einer Videokamera aufgenommen. Beim Laufen hatte sie ihre Hände zu Fäusten geballt, entschlossen, fest, aus Angst, das Gleichgewicht zu verlieren, aus Angst, er könnte sie lächerlich finden, eine übergewichtige Frau von fünfundvierzig Jahren, könnte etwas Verzweifeltes in der Art entdecken, wie sie die Knie zusammenpresste.

Missmutig hatte er sie betrachtet.

»Sie pronieren«, stellte er fest.

Unsicher starrte sie ihn an.

»Doch. Wirklich. Aber das ist nicht schlimm, das macht fast jeder.«

Sie stieg vom Band herunter, die Haare klebten ihr im Nacken.

»Ich meine damit, dass Sie falsch belasten. Sie laufen nicht gerade, sondern seitwärts, was dazu führt, dass sich Ihre Sohlen einseitig abnutzen.«

Er hob ihre alten Winterstiefel hoch und hielt sie ihr entgegen.

»Sehen Sie selbst!«

»Aber ich laufe doch nie, ich bin noch nie gelaufen.«

»Das spielt keine Rolle. Sie pronieren auf jeden Fall.«

»Promenieren?«

Der Versuch eines Scherzes. Er lachte höflich.

Justine kaufte die Schuhe, sie kosteten fast einen Tausender. Er hielt ihr einen kleinen Vortrag darüber, dass es sich auf Dauer lohne, jetzt auf Qualität zu setzen, man könne sich selber Schaden zufügen, wenn man mit den verkehrten Schuhen jogge, sich verletzen, eine Zerrung holen, vor allem, wenn man überhaupt keine Übung habe.

Die Schuhe waren von Avia. Sie dachte ans Fliegen, als sie es bemerkte.

An Flucht.

Sich Horizonten nähern.

Die dunkelblaue Mütze tief ins Gesicht gezogen, begann sie den Anstieg Richtung Johannelundstippen. Sie lief, vornübergebeugt, aus dem Gras stoben kleine Schwärme grüner Vögel. Lautlos, aber vorwurfsvoll. Justine kam einfach so daher und unterbrach sie bei einer wichtigen Beschäftigung, sie mit ihrem keuchenden Menschenleib, ihrem schweren, rasselnden Atem.

Wir entgleiten einander.

Nein.

Du solltest mich jetzt sehen, du wärst stolz auf mich, ich könnte dir bis ans Ende der Welt folgen, und du würdest dich umdrehen und mich mit deinen Himmelsaugen anschauen, das ist Justine, die ich liebe, sie kann an der Wand laufen wie eine Fliege.

Wie eine Laus.

Oben auf der Kuppe wehte ein kräftiger Wind, der ihr die Tränen in die Augen trieb. Unten breiteten sich die Häuser aus. Sie glichen kleinen Pappschachteln, aufgestellt in einem Gewimmel aus Straßen und Wendehämmern, umgeben von rankenden Rosenhecken. So musste auch das Modell ausgesehen haben, das ursprüngliche Gipsmodell des Architekten.

Um ein Haar wäre sie geradewegs in die Reste eines abgebrannten Feuerwerks getreten, in Flaschen und Plastikbecher. Eine Gruppe von Leuten war in der Silvesternacht hierher gekommen, um besser gesehen zu werden und höher schießen zu können als alle anderen und dann anschließend betrunken hinuntergetorkelt, nach Hause.

Manchmal fuhr sie mit dem Auto zu der neuen Reithalle in Grimsta. An Werktagen fand man dort immer einen Parkplatz. Pferde sah man nur selten, doch einmal, auf der schlammigen Weide direkt neben dem Stall, entdeckte sie ein paar Tiere mit langen Beinen, ihre Mäuler wanderten wie Staubsauger über die Erde. Sie konnte keinen einzigen Grashalm entdecken.

Justine verspürte unwillkürlich den Impuls, in die Hände zu klatschen, um eine unmittelbare Reaktion auszulösen, um zu erleben, dass eines, vielleicht das Leittier, sie entsetzt anstarrte und durchging, ohne zu begreifen, dass es an allen Seiten von Zäunen umgeben war. Voller Panik würde es an nichts anderes mehr denken können als an Flucht, und die anderen würden ihm folgen. Außer sich vor Angst würden sie durch den Morast donnern und völlig die Orientierung verlieren.

Natürlich tat sie es nicht.

Links von der Eisbahn begann eine beleuchtete Loipe. Sie folgte ihr nur ein kurzes Stück, bog dann ab auf das matschige Terrain unterhalb der Mietshäuser, ließ den Parkplatz am Maltesholmsbad hinter sich, wo sie im Vorbeigehen registrierte, dass die kaputte Fensterscheibe in einem der Wohnwagen, die dort standen, immer noch nicht repariert worden war, und setzte ihren Weg Richtung Wasser fort, wo sie eine Weile am Ufer entlanglief.

Vier Enten watschelten lautlos davon. Es war Januar, einige Grad über Null, über eine Woche hatte es ununterbrochen geregnet, aber an diesem Nachmittag war der Himmel bleich und weiß.

Sie atmete durch die Nase.

An den Hängen lagen Berge von Laub, der Verrottungsprozess schien beendet zu sein, sie waren braun und glitschig, erinnerten in nichts an Leder.

Wie dort.

Kein Laut, keine Vögel oder Tropfen, nur ihre eigenen rhythmischen Schritte, das dumpfe Stampfen, als sie sich den Hügel hochkämpfte, schließlich wurde es hallender, sie hatte die Holzbrücke erreicht und wäre beinahe hingefallen. Die vom Wasser aufsteigende Feuchtigkeit hatte einen tückischen Belag gebildet, der die Avia-Sohlen ins Rutschen brachte.

Nein! Nicht stehen bleiben, jetzt keine Schwäche zeigen, ihre Lungen brannten, ein stechendes und leises Röcheln, sie zwang sich weiter, als wäre sie er. Nathan.

Du wärst stolz auf mich. Liebe mich.

Zu Hause angekommen blieb sie gleich hinter der Tür stehen, lehnte sich gegen die Wand und schnürte sich die Schuhe auf. Riss sich die restlichen Kleider vom Leib, den roten, winddurchlässigen Overall, das Zeug darunter, den Sport-BH und die Unterhose. Breitbeinig stand sie da, streckte ihre Arme aus, ließ den Schweiß langsam verdunsten.

Der Vogel flatterte von oben auf sie herab. Das Rauschen seiner Schwingen, er kollerte, knurrte ohne Unterlass. Er setzte sich in ihr Haar, klammerte sich mit seinen groben, glänzenden Krallen fest. Sie bewegte den Kopf, spürte ihn als warmes Gewicht mitten auf ihrem Schädel.

»Hast du auf mich gewartet?«, fragte sie. »Du weißt doch, dass ich immer wiederkomme.«

Sie strich ihm über den Rücken und scheuchte ihn dann weg. Mit griesgrämigem Gurren verschwand er in der Küche.

Auf dem dicken Teppich im Esszimmer machte sie ein paar Stretchingübungen, die sie sich aus einem Gymnastikprogramm im Fernsehen abgeguckt hatte. Sie war nie besonders wild darauf gewesen, etwas gemeinsam mit anderen zu unternehmen. Scheu, hatte Nathan sie genannt. Anfangs war es das gewesen, was ihn am meisten angezogen hatte.

Sie war nach wie vor nicht gerade schlank, aber die Zeit dort in der Ferne hatte ihrem Körper eine neue Form gegeben, sie sah schmaler aus, auch wenn die Waage weiterhin achtundsiebzig Kilo anzeigte. Sie stand lange unter der Dusche, glitt mit dem Schwamm über ihren Bauch, die Schenkel, in die Kniekehlen.

Dort in der Ferne war kein Tag vergangen, an dem sie sich nicht nach sauberen europäischen Duschen gesehnt hätte, nach einem Fußboden unter ihren Füßen, gekachelten Wänden.

Martina und sie hatten in dem gelben Flusswasser gebadet, aber der Geruch von Staub und Schlamm fraß sich in die Poren und war nicht wegzubekommen. Anfangs widerstrebte es ihr, in den Fluss zu steigen. Sie dachte daran, was sich unter der Oberfläche alles bewegen mochte: Schlangen, Piranhas, Blutegel. Doch eines Morgens war ihnen nichts anderes übrig geblieben, als in voller Montur die Stromschnellen zu durchqueren. Es gab keinen anderen Weg. Danach hatte sie keine Angst mehr gehabt.

Sie trocknete sich sorgfältig ab und cremte sich ein. Die Roma-Flasche war inzwischen fast leer und hatte die gleiche Form wie der Schiefe Turm von Pisa. Sie schnitt sie mit einer Schere auf und kratzte den Rest mit dem Zeigefinger heraus. Betrachtete für einen Moment ihr Gesicht im Spiegel, rotfleckig von der Hitze, nicht mehr jung. Zog Striche um die Augen, wie sie es immer getan hatte, schon seit den Sechzigern. Niemand war es gelungen, ihr das abzugewöhnen.

Nicht einmal Flora.

In ihrem grünen Hauskleid ging sie anschließend in die Küche und holte sich eine Schüssel Naturjoghurt. Der Vogel hatte sich auf dem Fensterbrett niedergelassen. Er glotzte aus einem Auge und grummelte, als wäre er unzufrieden. Draußen auf dem Weg hüpfte eine Amsel, winterfett und aufgeplustert. Im Winter veränderte sich ihr Gesang, wurde eintönig und schrill, als schlage jemand eine hart gespannte Gitarrensaite. Der andere Gesang, der gleichzeitig wehmütig und jubilierend war, verschwand irgendwann im Spätsommer, um Ende Februar wieder zu neuem Leben zu erwachen. In der Krone eines sehr hohen Baumes.

Ihr ganzes Leben hatte Justine im gleichen Haus verbracht, in Hässelby Villastad, nahe am Wasser. Es war ein schmales, hohes und kleines Steinhaus, passend für zwei oder drei Personen. Mehr hatten hier auch nie gewohnt, von der kurzen Zeit mit dem Kind einmal abgesehen.

Justine war als Einzige noch da, sie konnte es so einrichten, wie sie wollte. Bisher hatte sie allerdings das meiste so belassen, wie es war. Sie schlief in ihrem Mädchenzimmer mit den ausgebleichten Tapeten, konnte sich nicht dazu überwinden, in Papas und Floras Schlafzimmer zu ziehen. Dort war das Bett gemacht wie immer, als könnten beide jeden Moment zurückkommen, und ein paar Mal im Jahr nahm Justine die Tagesdecke herunter und wechselte die Laken.

In der Kleiderkammer hingen ihre Kleider, Papas Anzüge und Hemden links und all die zierlichen Kostüme Floras auf der anderen Seite der Stange. Die Schuhe waren von einer dünnen Staubschicht bedeckt. Manchmal dachte Justine daran, die Staubschicht zu entfernen, brachte es aber nicht einmal über sich, sich zu bücken und die Schuhe zu berühren.

Die Kommode wischte sie ab, wenn sie Lust bekam, etwas zu pflegen. Sie ging mit Fensterputzmittel über das Glas des Spiegels und rückte die Haarbürste und die kleinen Parfümflaschen ein wenig hin und her. Einmal hatte sie Floras Bürste in Richtung Fenster gehalten und die langen grauen Haare angestarrt. Sie hatte sich fest in die Backe gebissen und eines der Haare mit einer schnellen Handbewegung losgerissen. Dann ging sie auf den Balkon und zündete es an. Es brannte, begleitet von einem beißenden Geruch, kräuselte sich und verschwand.

Es wurde bereits dunkel. Sie war jetzt im oberen Flur, zog einen Stuhl zum Fenster, schenkte sich ein Glas Wein ein. Das Wasser des Mälarsees glitzerte, schaukelnde Lichter von der Außenbeleuchtung des Nachbarhauses. Sie war programmiert, ein Timer schaltete sie in der Abenddämmerung ein. Nur selten war jemand zu Hause, und sie kannte die Leute auch nicht, die dort jetzt wohnten.

Das machte nichts.

Sie war allein. Es stand ihr frei, all das zu tun, was sie sich vorgenommen hatte, was getan werden musste, damit sie wirklich eins mit sich selbst werden konnte. Ein starker und lebendiger Mensch wie alle anderen.

Darauf hatte sie ein Recht.

2. KAPITEL

Er hatte die Weihnachtstage bei seinen Eltern verbracht, ruhige Tage, ereignislos. Heiligabend war es schön gewesen, die Bäume mit Raureif überzogen. Seine Mutter hatte eine Laterne in die alte Birke gehängt, so wie sie es immer getan hatte, als sie noch klein waren, und er erinnerte sich seiner und Margaretas überdrehter Aufregung, wenn sie am Morgen des Heiligabends erwachten.

Seine Mutter bestand darauf, dass er Weihnachten nach Hause kam. Was sollte er auch sonst tun? Trotzdem ließ er sich bitten, ließ sie betteln und flehen, als müsste er sich ständig vergewissern, wie viel er ihr immer noch bedeutete.

Wie das bei seinem Vater war, wusste er nicht so genau. Kjell Bergman war kein Mann, der Gefühle zeigte. Ein einziges Mal hatte Hans Peter gesehen, dass er die Fassung verlor, hatte er einen Ausdruck von Schmerz über das breite, fleischige Gesicht gleiten sehen. Es war in jener Nacht, als die Polizei kam, um ihnen mitzuteilen, dass Margareta von der Straße abgekommen war. Das war mittlerweile achtzehn Jahre her, damals hatte Hans Peter noch zu Hause gewohnt.

Der Tod seiner Schwester hatte für ihn zur Folge, dass er seinen Auszug von zu Hause verschieben musste. Er war als Einziger noch da, und seine Eltern brauchten ihn.

Er war fünfundzwanzig, als es geschah, und mitten in seinen Bemühungen, seiner Zukunft eine Struktur zu geben. Er studierte Theologie und Psychologie. Irgendwo in seinem Innersten gab es eine Sehnsucht nach etwas Höherem, er sah sich selbst in strengen, schwarzen Gewändern und empfand etwas, das innerem Frieden glich.

Drei Jahre blieb er noch bei ihnen. Dann packte er seine Sachen und ging fort. Seine Eltern hatten wieder begonnen, miteinander zu reden. Die erste Zeit schwiegen sie, saßen wie Marmorsäulen in ihren Fernsehsesseln und sagten kein Wort. Als wollten sie sich gegenseitig bestrafen, als wären sie auf eine irrationale Weise davon überzeugt, der andere sei schuld daran, dass Margareta von der Straße abgekommen war.

Sie hatte den Führerschein erst seit gut einer Woche gehabt, und es war das Auto ihrer Eltern gewesen, das sie an jenem Abend gefahren hatte, einen Saab, Baujahr 1972. Ohne dass es jemals gelang, die genaue Unfallursache zu ermitteln, kam sie in der Nähe von Bro von der Straße ab und fuhr direkt in einen Betonpfeiler.

Das Auto glich einem Schrotthaufen.

Ihr Zimmer wurde jahrelang nicht benutzt. Seine Mutter ging manchmal hinein und schloss die Tür. Wenn sie wieder herauskam, ging sie stets auf direktem Weg ins Schlafzimmer, zog sich aus und legte sich ins Bett.

Hans Peter litt darunter. Ganz allmählich und behutsam begann er, sie dazu zu überreden, ihm die Erlaubnis zu geben, hineinzugehen und aufzuräumen. Schließlich gab sie nach.

Er hatte das Zimmer ausgeräumt, Margaretas persönliche Sachen auf den Speicher getragen und ihr Bett und den kleinen, zierlichen Schreibtisch für sich beansprucht. Seine Eltern zeigten keine Reaktion, erwähnten es mit keinem Wort, nicht einmal, als ihnen die Leere aus dem frisch geputzten Zimmer entgegenstarrte. In der Tat, er war sehr gründlich gewesen, hatte die Wände mit Seifenlauge abgeschrubbt, war mit einem Wollmopp über die Decke gegangen, hatte sowohl die Fenster als auch den Fußboden geputzt.

Seine Mutter hatte immer von einem Esszimmer geträumt.

»Jetzt habt ihr eins«, hatte er gesagt. »Jetzt habe ich alles dafür vorbereitet.«

Und er hatte den IKEA-Katalog auf den Wohnzimmertisch geknallt und sie schließlich dazu bewegt, darin zu blättern und sich die Sachen anzuschauen. Sein Vater hatte ein wenig auf den Backen herumgekaut, die Zähne zusammengebissen und geschwiegen. Seine Mutter hatte geweint. Aber ganz allmählich hatten sie es akzeptiert. Er hatte sie dazu gebracht zu akzeptieren, zu begreifen, dass Margareta nie wieder zurückkommen würde und man ihr Andenken nicht befleckte, wenn man ihr Zimmer in etwas Praktischeres verwandelte als ein Museum.

Aber letztendlich aßen sie wohl nur, wenn er zu Hause war, in diesem Zimmer, um ihm einen Gefallen zu tun. Hans Peter glaubte nicht, dass sie jemals Gäste hatten. Sie hatten vorher keine gehabt, warum sollte sich das jetzt ändern? Nur weil sie ein Esszimmer bekommen hatten?

Es war, als hätten sie für mehr als die alltäglichen Arbeiten keine Kraft mehr. Sein Vater war ständig müde. Er hatte als Klempner gearbeitet, war aber schon seit vielen Jahren pensioniert. Sein Rücken war kaputt.

Seine Mutter war Realschullehrerin gewesen.

Hans Peter erinnerte sich, wie Margareta ihren Eltern einmal den Vorwurf gemacht hatte, sie würden sich isolieren. Sie war damals ungefähr dreizehn gewesen, hatte begonnen, ein wenig aufmüpfig zu werden. Ihr Vater hatte sie an den Oberarmen gepackt und gegen die Wand gedrückt.

»Wir leben auf unsere Art, und wenn das dem Fräulein nicht passt, kann es gerne ausziehen. Wir kommen ausgezeichnet zurecht, auch ohne dass eine Menge fremder Leute in unseren Angelegenheiten rumschnüffelt.«

Es war eine der seltenen Gelegenheiten gewesen, bei denen er aufbrausend reagiert hatte.

Er wollte fort und fand eine Wohnung in Hässelby Strand. Es war nicht weit zur U-Bahn, nicht weit ins Grüne, er mochte Spaziergänge, bewegte sich gern. Er studierte weiter, aber ohne dass dabei etwas Konkretes herauskam. Als er anfing, sich wegen der aufgelaufenen Studiendarlehen Sorgen zu machen, nahm er Gelegenheitsjobs an, trug Post aus, machte Umfragen für ein Meinungsforschungsinstitut. Dabei sprang zwar nicht besonders viel heraus, aber er kam auch mit wenig zurecht.

In der Bücherei von Åkermyntan, dem Einkaufszentrum von Hässelby Villastad, traf er Liv Santesson, eine frisch examinierte Bibliothekarin, die er nach einer Weile heiratete. Von Leidenschaft konnte keine Rede sein, weder von seiner noch von ihrer Seite. Sie mochten sich, das war alles.

Es wurde eine schlichte Hochzeit, Trauung im Rathaus mit anschließendem Essen im Restaurant Ulla Winbladh im Kreise der engsten Verwandten.

Ihr Bruder leitete ein Hotel in der Stadt. Hans Peter nahm dort die Stelle eines Nachtportiers an. Das war natürlich keine besonders gute Idee, nicht für jemanden, der gerade geheiratet hatte und von dem erwartet wurde, dass er seiner jungen Ehefrau den Hof machte, wie es sich für einen frisch verheirateten Mann gehört.

Kinder bekamen sie folgerichtig auch keine, und mit der Zeit stellten sie ihre sexuellen Aktivitäten gänzlich ein.

»Wir haben eine andere Art von Beziehung«, pflegte er zu denken, der festen Überzeugung, dass sie der gleichen Ansicht war. Das war sie nicht. An einem Samstagabend, ziemlich genau vier Jahre nach ihrer Hochzeit, teilte sie ihm mit, dass sie sich scheiden lassen wolle.

»Ich habe einen anderen Mann getroffen«, sagte sie, zupfte nervös an ihrem Ohrläppchen und duckte sich ein wenig wie vor einem Schlag.

Er blieb vollkommen ruhig.

»Bernt und ich passen zusammen. Auf eine ganz andere Art als du und ich. Wenn wir ehrlich sind, haben wir eigentlich kaum gemeinsame Interessen außer der Literatur, und von Literatur allein kann man nicht leben.«

Trauer überkam ihn, leicht und flatternd, kam und verschwand dann wieder.

Sie berührte ihn, ihre kleine, verfrorene Hand legte sich um seinen Hals. Er schluckte, schluckte.

»Du bist ein feiner Kerl«, flüsterte sie. »Es ist nicht so, als würde mit dir was nicht stimmen ... Aber wir sehen uns ja fast nie und Bernt und ich, wir haben uns einfach ...«

Hans Peter nickte.

»Verzeih mir, sag, dass du mir verzeihst.«

Jetzt weinte sie, die Tränen liefen ihr die Wangen herab, blieben an der Kinnspitze hängen, verloren den Halt und wurden vom Pullover aufgesaugt, ihre Nase war rot und glänzend.

»Da gibt es wohl im Grunde nichts zu verzeihen«, sagte er mit belegter Stimme.

Sie schluchzte auf.

»Dann bist du nicht wütend auf mich?«

»Eher enttäuscht, würde ich sagen, darüber, dass es nicht ging.«

»Vielleicht braucht man ja ein wenig mehr ... Feuer?«

»Ja, vielleicht.«

Bereits am nächsten Tag zog sie aus der Wohnung aus. Nahm nur das Notwendigste mit, fuhr zu Bernt nach Hause. Später in dieser Woche kehrte sie mit einem Transporter zurück, den sie an einer Tankstelle gemietet hatte. Das verblüffte ihn. Sie war nie gerne Auto gefahren.

Er half ihr hinunterzutragen, was ihr gehörte. Die meisten Möbel und Haushaltssachen durfte er behalten. Bernt hatte bereits ein komplett eingerichtetes Heim. Er wohnte in einem Reihenhaus auf dem Blomsterkungsväg.

»Darf ich dir wenigstens eine Tasse Kaffee oder etwas anderes anbieten?«, fragte er, als sie fertig waren. Eigentlich wollte er das gar nicht, eigentlich wollte er, dass sie sich auf den Weg machte, damit er allein sein konnte. Er hatte keine Ahnung, warum er das gesagt hatte, die Worte kamen einfach aus seinem Mund.

Sie zögerte kurz, nahm dann an.

Gemeinsam saßen sie auf dem Sofa, aber als sie den Arm um ihn legen wollte, entzog er sich ihr.

Sie schluckte.

»Dann bist du also doch scheißsauer auf mich?«

Es war das erste Mal, dass er sie fluchen hörte. Er war so überrascht, dass er in Gelächter ausbrach.

Ein paar Jahre später traf er die beiden in Åkermyntan, mit Einkaufstüten beladen. Sie hatten ein paar Kinder dabei, sie nannte ihre Namen, aber er vergaß sie sofort wieder.

Ihr neuer Mann war groß und kräftig gebaut, hatte einen Bauch, der sich deutlich abzeichnete. Er trug eine Jogginghose.

»Dickwanst«, dachte Hans Peter, aber ohne Aggression.

Liv war beim Friseur gewesen, ihr Haar jetzt lockig.

»Komm doch mal auf einen Drink vorbei«, schlug sie vor. Der Mann neben ihr nickte.

»Klar, mach das. Wir wohnen drüben in Backlura, nimm einfach den Bus, den 119er.«

»Ja«, sagte er unverbindlich.

Liv griff nach dem Ärmel seiner Jacke.

»Ich möchte nicht, dass wir uns ganz aus den Augen verlieren«, sagte sie.

Er sah zu den ungeduldigen Gesichtern der Kinder hinab. Das eine war ein Mädchen, es betrachtete ihn abweisend.

»Nein«, antwortete er. »Das werden wir schon nicht.«

Von Zeit zu Zeit machte seine Mutter ihm Vorwürfe. Sie hatte sich Enkelkinder gewünscht. Sie sprach es nie offen aus, aber es kam vor, dass sie auf ein Kind in einer Zeitung zeigte und einen traurigen Kommentar abgab. Oder das Fernsehen: Mit Vorliebe schaltete sie den Fernsehapparat immer dann ein, wenn es Zeit für die Kinderstunde war, Werwiewas, Wiesoweshalbwarum.

Das machte ihn rasend. Aber er ließ sich nie etwas anmerken.

Er hatte verschiedene Damenbekanntschaften, nahm die Frauen manchmal mit nach Hause und stellte sie seinen Eltern vor, nicht zuletzt, um seiner Mutter wenigstens die Andeutung einer Hoffnung zu geben.

Er wusste, dass seine Eltern enttäuscht von ihm waren, weder eine ordentliche Arbeit noch eine Familie hatte er.

Er konnte ihnen deswegen keinen Vorwurf machen, im Gegenteil.

Alles hätte sich anders entwickelt, wenn die Sache mit Margareta nicht passiert wäre. Das hatte ihn jeglichen Schwung verlieren lassen.

Am ersten Weihnachtstag begann es zu regnen, und das regnerische Wetter hielt mehr als eine Woche lang an. Seine Mutter tat ihr Bestes, um ihn zu verwöhnen. Sie deckte kleine Frühstückstabletts, und wenn er im Bett lag und gerade dabei war, aufzuwachen, hörte er ihr vorsichtiges Scharren an der Tür.

»Mein großer Junge«, murmelte sie und stellte das Tablett auf den Nachttisch.

Da bekam er Lust, zu ihr zu kriechen, zu weinen. Aber er hatte einen schlechten Geschmack im Mund und blieb unter der Decke liegen, regungslos.

Er blieb bis zum Tag vor Silvester. Länger hielt er es nicht aus. Ihre Atemzüge, ihre Art zu kauen, das Geräusch des Fernsehapparats, der so laut gestellt sein musste. Sie waren beide über siebzig. Einer von ihnen würde natürlich als Erster dran glauben müssen. Er wusste nicht, für wen es am schlimmsten sein würde, weiterzuleben, einsam.

Sie kannten sich, seit sie zwanzig waren.

Er sehnte sich nach seiner stillen, kühlen Wohnung. Er würde eine Flasche Wein leeren und ein Kreuzworträtsel lösen, seine Musik hören, Kraus und Frank Sinatra.

Seiner Mutter sagte er, dass er bei guten Freunden zu einer Silvesterparty eingeladen war.

Er war kaum zur Tür hereingekommen, als auch schon das Telefon klingelte.

Eine seiner Damenbekanntschaften.

Mist, dachte er. Nicht mehr.

»Wie geht es dir?« Ihre zarte Mädchenstimme.

»Gut, ich bin gerade nach Hause gekommen.«

»Bist du bei Kjell und Birgit gewesen?«

Sie hatte die beiden ein einziges Mal getroffen, tat aber so, als gehörte sie schon zur Familie.

»Ja.«

»Habe ich mir fast gedacht, ich habe versucht, dich anzurufen.«

»Aha ...«

»Hans Peter? Darf ich morgen zu dir kommen? Sollen wir zusammen Silvester feiern?«

Er hätte sagen können, dass er arbeiten musste, aber er brachte es nicht über sich.

Sie kam, und sie hatte sich schön gemacht. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass sie so süß war, er begriff, dass sie sich Mühe gegeben hatte, seinetwegen, er bekam ein schlechtes Gewissen.

Sie waren sich bei gemeinsamen Freunden begegnet, danach hatten sie sich eine Zeit lang getroffen. Sporadisch, nichts Festes. Aber sie waren gemeinsam bei seinen Eltern in Stuvsta gewesen.

»Findest du mich aufdringlich?«, fragte sie ihn ohne Umschweife. »Eine Frau soll ja eigentlich nicht die Initiative ergreifen. Solche Initiativen, meine ich.«

»Ach, Unsinn!«

»Tja, jetzt bin ich jedenfalls hier.«

Sie hatte Lebensmittel mitgebracht, zwei Tüten voll, dazu Wein und Sekt.

Okay, dachte er. Sie will es so haben.

Etwas an ihr machte ihn geil, stärker als bei jeder anderen. Etwas in ihrer Art, den Kopf hängen zu lassen, schuldbewusst auszusehen.

Er erschreckte selbst ein wenig über seine Kraft.

Danach verließ sie sofort das Bett.

Er wusste, dass es für sie nicht schön gewesen war, es war zu schnell gegangen.

Er dachte, dass er ihr das sagen sollte, fand aber nicht die richtigen Worte.

Wir machen es noch mal, dachte er. Später.

Sie deckten gemeinsam den Tisch, und sie sagte nicht viel, aber als sie ein halbes Glas Wein getrunken hatte, begann sie zu weinen.

»Du ...«, sagte er besorgt. »Was ist los?«

Sie antwortete nicht, weinte nur noch mehr.

Er warf seine Gabel auf den Tisch.

»Ich bin ein großes Stück Scheiße!«, schrie er.

Sie drehte sich zur Seite und beruhigte sich.

»Mein kleines Dummerchen«, sagte er leise. »Warum wolltest du eigentlich zu mir kommen?«

»Ich hab dich doch gern, hab mich nach dir gesehnt, ich hab mich die ganzen beschissenen Weihnachtstage nach dir gesehnt.«

Er stand auf und ging um den Tisch herum, fasste sie an den Armen, zog sie hoch.

»Sollen wir weiteressen?«

Sie zog ein Taschentuch hervor. Sie nickte.

Nach dem Essen schlief sie auf dem Sofa ein, an seinen Arm gelehnt. Sie atmete schwer und geräuschvoll. Er saß unbequem, traute sich aber nicht, seine Stellung zu ändern, voller Angst, sie könne aufwachen und etwas von ihm fordern.

Einsamkeit erfüllte ihn.

3. KAPITEL

Nathan hatte die grüne Militärhose getragen, sie war viel zu dick dort im Dschungel, aber das hatte er nicht gewusst, als er sie kaufte, er fand einfach, sie sei praktisch und billig. Preiswert hatte er gesagt, Justine erinnerte sich genau an dieses Wort. Niemand sah, als er fortging, um für einen Moment seine Ruhe zu haben, niemand außer ihr.

Wahrscheinlich schrie er, als der Pfeil ihn traf. Wahrscheinlich schrie er, vor allem aus Überraschung, vielleicht tat es aber auch ein wenig weh. Er fiel im gleichen Augenblick, und unter ihm waren die Stromschnellen und die Wasserfälle, sie schluckten jeden Laut und hatten so viel Kraft, dass alles, was sie mitrissen, zerschmettert wurde.

Manchmal meinte sie, diesen Schrei zu hören. Sie war jetzt daheim, wieder daheim in ihrem Haus, aber dennoch. Und sobald sie diesen Schrei hörte, sah sie auch den Körper, wie er sich im Fallen einmal um sich selbst drehte, sah seine Arme und seine Hände, die sie geliebt hatte.

Ihr Haus war schmal und hoch, auf fast schon holländische Art. Ursprünglich war es nur zweigeschossig gewesen, also hatte Papa das Dachgeschoss ausbauen lassen, um etwas mehr Platz zu schaffen. Aber dann kam es doch nie dazu, dass sie dort oben saßen, im Sommer war es oft zu heiß und im Winter zu kalt.

Ihr Vater hatte keine praktische Veranlagung. Er hatte Handwerker beauftragt, junge Männer in Latzhosen, sie waren die Treppen rauf- und runtergerannt und hatten ihre Lippen lautlos zu eindeutigen Angeboten geformt, wenn sie im Nachthemd herausgekommen war.

Sie hatte krank im Bett gelegen, dagelegen und auf ihre Schritte und das Hämmern gelauscht, und ganz allmählich wurde ihr klar, dass sie kein kleines Mädchen mehr war.

In der hintersten Ecke des Kellers befand sich die Ölheizung. Der Tankwagenfahrer meckerte andauernd, wie schwierig es sei, an die Heizung heranzukommen, wenn er Öl liefern sollte, das Haus liege zu nah am Ufer, es sei praktisch unmöglich, Schläuche zu haben, die lang genug seien. Papa bestach ihn regelmäßig mit einer Flasche Whisky, eine Tradition, die Justine übernommen hatte. Natürlich war es nicht mehr der gleiche Lieferant. Ihrer war verknöchert und reizbar. Er sprach einen Dialekt, der es ihr sehr schwer machte, zu verstehen, was er sagte. Sie hatte das Gefühl zu schrumpfen, sobald sie das Motorengeräusch des großen Tanklastwagens hörte. Eine Zeit lang erwog sie, auf Öl zu verzichten, wusste aber nicht, wie sie sonst das Haus hätte heizen sollen. Es gab zwar einen offenen Kamin im zweiten Stock, aber sie ging davon aus, dass er nicht reichen würde. Die beißende Kälte setzte sich vom See herkommend in die Wände und in den Boden.

Außerdem war sie nur einmal im Jahr gezwungen, dem Tankwagenfahrer zu begegnen. Sie stellte die Whiskyflasche jeweils vor das Kellerfenster, verziert mit einem gekräuselten Papierband.

»Vielen Dank für das Öl«, schrieb sie auf einen kleinen Zettel, auf den sie die Flasche stellte. Der Zettel lag anschließend immer noch da, und die Tinte hatte begonnen, sich aufzulösen.

Im Keller stand auch jener altertümliche Waschzuber, den Flora unbedingt weiterbenutzen wollte. Zweimal im Monat machte sie dort unten große Wäsche, Tage, an denen sowohl Justine als auch ihr Vater schlechter Laune waren. Flora machte sich dann hässlich, und es hatte den Anschein, als genieße sie es geradezu, sich in ein abstoßendes Waschweib zu verwandeln. Sie band sich ein Tuch um die Haare und trug jenen nach Staub stinkenden, gemusterten Kittel, an dem mehrere Knöpfe fehlten. Sie durchlief eine Art umgekehrter Aschenputtelverwandlung, und ihre Finger hinterließen brennende, feuchte Abdrücke auf Justines Wangen.

Der Flur war winzig, aber trotzdem mussten sie hier ihre Hüte und Mäntel aufbewahren. Überhaupt gab es nur wenig Kleiderschränke. Als Erwachsene hatte sie sich manchmal darüber gewundert, dass sich Papa, bei seinem Vermögen, dazu entschlossen hatte, in einem so kleinen Haus zu bleiben, selbst wenn es direkt am Mälarsee lag. Es hatte etwas mit ihrer Mutter zu tun, mit etwas Nostalgischem.

Justine hatte Floras Mäntel und den Blaufuchspelz weggeräumt, alles in große Plastiksäcke gestopft, Papas Lodenmantel, seine Mützen und Hüte hatte sie in einen anderen Sack gelegt. Sie war fest entschlossen gewesen, das Ganze zu Emmaus oder Humana zu bringen, aber in letzter Minute hatte sie es sich anders überlegt und die Sachen in den Keller getragen. Der Gedanke, irgendwo auf der Straße einer unbekannten Frau zu begegnen, die Floras Pelz trug, erfüllte sie mit großem Unbehagen, Es war, als würden die Augen ihrer Stiefmutter sie dann aus dem fremden Gesicht anschauen, sie zum Rückzug zwingen.

Gleich rechts vom Flur ging das blaue Zimmer ab, das sie als Esszimmer benutzt hatten. Alles war dort blau oder weiß, der dicke Teppichboden, die Samtvorhänge, das Fensterbrett mit den Usambaraveilchen und Browallia. Die Pflanzen hatten nicht überlebt. Sie hatte alle gut getränkt, bevor sie fuhr, und Tüten aus braunem Karton über sie gestülpt. Es hatte nichts genützt.

Der Vogel dagegen hatte keine Not gelitten. Sie ließ ihn auf dem Speicher hausen, dort konnte er sich nicht verletzen. Sie hatte ihm Schüsseln mit Körnern und Wasser und einen ganzen Korb mit geschälten Äpfeln hingestellt. Er hatte sich ein paar schöne Tage gemacht.

Sogar in der Farbgebung der Bilder dominierte Blau, Winterlandschaften, Segelboote und ein gewebter Wandbehang aus dünnen Seidenfetzen, der die ganze Schmalwand einnahm. Justines Mutter hatte ihn gewebt, lange bevor Justine geboren wurde. Er hatte immer dort gehangen, war wie ein Teil ihrer selbst.

An ihre Mutter erinnerte sie sich nur bruchstückhaft:

Ein prasselnder Regenschauer, ein Stück Stoff, unter dem sie und die Mutter zusammengekauert saßen, durchnässte Strümpfe, die sich an ihren Zehen festsaugten.

Ein Duft von pelzigen Blumen, etwas Heißes mit Honig.

Widerwillig hatte ihr Vater erzählt.

Sie war beim Fensterputzen. Es war das Fenster zum Wasser hin, im ersten Stock, an einem Tag mit scharfen Konturen aus grellem Sonnenlicht und dem sirrenden Gesang der Meisen. Windstill war es, das Eis lag noch in der Bucht, hatte aber begonnen, brüchig zu werden, und vielleicht freute sie sich darüber, vielleicht trällerte sie vor sich hin im flutenden Sonnenlicht, vielleicht hatte sie daran gedacht, anschließend, sobald sie fertig war, hinauszugehen und sich eine Weile auf den Balkon zu setzen, das Gesicht gen Himmel gewandt. Sie hatte dieses typisch nordische Ritual des Genießens sehr schnell übernommen. Sie stammte aus Annecy, einer kleinen Stadt in Frankreich in der Nähe der Schweizer Grenze, und er hatte sie gegen den Willen ihrer Eltern von dort als seine Braut entführt.

Es war ein Donnerstag. Er war sieben Minuten nach vier heimgekommen. Da lag sie auf dem Boden neben dem Fenster, die Arme ausgestreckt wie eine Gekreuzigte. Er sah sofort, dass nichts mehr zu machen war.

»Wie sieht man das?«, fragte Justine. Sie war in einer Phase, in der sie fast schon besessen war von dem Wunsch, so viel wie möglich über ihre Mutter zu erfahren.

Er konnte nicht antworten.

»Vielleicht hat sie doch noch gelebt. Wenn du sofort einen Arzt gerufen hättest, wäre sie vielleicht noch zu retten gewesen.«

»Mach mir bitte keine Vorwürfe«, sagte er, und es zuckte ein wenig um seine Mundwinkel. »Wenn du irgendwann selbst einmal einen Toten siehst, wirst du verstehen, was ich meine.«

Zuerst hatte er geglaubt, sie wäre von der Leiter gefallen und hätte sich etwas Lebenswichtiges gebrochen. Aber die Obduktion ergab, dass in ihrem Gehirn ganz einfach eine Ader geplatzt war, durch die ihr Leben verronnen war.

»Ein Aneurysma!«

Jedes Mal, wenn sie sich während Justines Kindheit darüber unterhielten, was geschehen war, sprach er das Wort langsam und überdeutlich aus.

Sie machte sich manchmal Sorgen, es könne erblich sein.

Sie fragte ihn nach sich selbst.

»Wo war ich denn, Papa, was habe ich gemacht?«

Er erinnerte sich nicht.

Sie war erst drei Jahre alt gewesen, als es geschah, drei Jahre und ein paar Monate. Wie reagiert eine Dreijährige darauf, wenn ihre Mutter von einer Leiter stürzt und stirbt?

Sie musste irgendwo im Haus gewesen sein, musste geschrien und geweint haben.

Auch wenn sie nicht verstanden hatte, was geschehen war, musste sie die vollkommene Verwandlung der Mutter entsetzt haben.

Ab und zu erwachte sie von einem Traum. Davon, dass ihr Stirnbein schmerzte wie nach langem und heftigem Weinen. Sie betrachtete sich dann im Spiegel und sah, dass die Augenlider geschwollen und die Augen glasig waren.

Fragmente einer Beisetzung, Fragmente aus Lehm und aus Blumen, die nie geduftet hatten.

Ein Vater, der auf dem Eis stand und schrie.

Im Album sah sie Bilder der Frau, die ihre Mutter gewesen war. Das fremde Gesicht ließ sie eigenartig kalt. Dichtes, nach hinten gekämmtes Haar, an den Seiten gelockt, Justine war ihr nicht einmal ähnlich.

Es lag eine Distanz in den Augen dieser Frau, die schlecht mit ihren eigenen Vorstellungen von ihr in Einklang zu bringen war.

Eine steile und enge Treppe führte in die obere Etage. Hier oben hatte die Mutter gestanden und Fenster geputzt. Links lagen die Schlafzimmer, rechts öffnete sich der Flur zu einem Wohnzimmer mit Aussicht auf die Lambarinsel und über den Mälarsee. Bücherregale bedeckten die Wände, nur wenige Möbelstücke: eine Musikanlage, ein länglicher Glastisch und zwei Sessel.

Sie gehörten Papa und Flora.

Justine waren mehrmals große Summen für das Haus geboten worden. Die Makler ließen nicht locker, stopften Prospekte in ihren Briefkasten, riefen sogar von Zeit zu Zeit an. Einer von ihnen war besonders aufdringlich. Er hieß Jakob Hellstrand.

»Sie könnten ein paar Millionen für den Kasten bekommen, Justine«, schwadronierte er und benutzte ihren Namen, als wären sie eng befreundet. »Ich habe einen Kunden, der das Haus umbauen will, er hat immer schon von dieser Lage geträumt.«

»Es tut mir Leid, aber ich glaube, daraus wird nichts.«

»Warum denn nicht? Denken Sie einmal darüber nach, was Sie für das Geld alles bekommen könnten. Eine allein stehende Frau wie Sie, Justine, Sie sollten nicht hier draußen in Hässelby hocken und verstauben, kaufen Sie sich stattdessen eine Wohnung in der Stadt und fangen Sie endlich an, richtig zu leben.«

»Sie wissen wohl kaum, ob ich richtig lebe oder nicht. Vielleicht tue ich das ja schon längst?«

Er lachte in den Hörer hinein.

»Ja, da haben Sie natürlich Recht. Aber geben Sie zu, Justine, geben Sie zu, dass ein bisschen was dran ist an dem, was ich sage.«

Eigentlich hätte sie wütend werden sollen, wurde es aber nicht. Es kam nur selten vor, dass jemand ihren Namen aussprach.

»Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie sich entschieden haben, Justine. Sie haben doch meine Handynummer, oder?«

»Ja.«

»Es ist schwer für eine allein stehende Frau, sich um ein ganzes Haus zu kümmern, so ganz allein.«

»Ich rufe Sie an, wenn es so weit ist«, sagte sie. »Falls ich mich dazu entschließen sollte zu verkaufen.«

Sie hatte nicht die geringste Absicht zu verkaufen. Geld brauchte sie auch nicht. Ihr Vater hatte ihr bei seinem Tod genug vermacht. Sie konnte problemlos davon leben, bis ans Ende ihrer Tage.

Und Flora würde niemals mehr etwas für sich selbst fordern.

4. KAPITEL

Zu den Dingen, die am schwersten zu ertragen waren, gehörte der Geruch. Flora kannte ihn noch aus jenem weit zurückliegenden Sommer, als sie einen Nebenjob in einem Krankenhaus für psychisch kranke Frauen hatte. Es war ein ranziger Geruch aus Bohnerwachs, ungewaschenem Haar und Blumenwasser.

Diesen Geruch gab es nun in ihr selbst.

Im Gegensatz zu dem, was sie sich vorgestellt hatte, waren die Nächte allerdings gar nicht so schlimm. Nein, die Nächte gehörten ihr, nachts konnte sie damit rechnen, ihre Ruhe zu haben, niemand versuchte, sich mit ihr zu verständigen, es gab keine Aktivitäten, bei denen von ihr erwartet wurde, dass sie dabei war und mitmachte.

Meine Gedanken werde ich für mich behalten, meine Gedanken werdet ihr nie anrühren. Das bin ich, da drin, Flora Dalvik, ja, ich habe einen richtigen Namen, ich bin ein Individuum, den Menschen Flora Dalvik schütze ich mit meinem menschlichen Körper, wie gebrechlich und verkümmert er auch erscheinen mag. Er besteht jedenfalls immer noch aus einem Gehirn und aus Gedanken, aus Dingen, die Menschen haben, es ist der Leib eines lebendigen Menschen.

Die jungen Frauen, alle waren jung im Vergleich zu Flora, legten in ihren Bewegungen eine Ungeduld an den Tag, als könnten sie auf diese Weise den Arbeitstag beschleunigen und schneller vorbeigehen lassen. Damit sie zu ihren Spinden in den Umkleideräumen eilen konnten, ihre Arbeitskittel und Hosen ablegen, wieder Privatpersonen werden und nach Hause zu ihrem eigenen Leben fahren konnten. Auch nachts gab es natürlich Pflegepersonal, aber sie störten selten, kamen manchmal herein, wie Schatten eher, und drehten sie um. Sie wusste in etwa, wann sie die Tür öffnen würden, sie war bereit.

Sie waren dazu übergegangen, etwas öfter zu kommen, seit ein junges Mädchen im Polhemsgård in Solna die Vernachlässigung alter Menschen angeprangert hatte. ABC hatte Großaufnahmen von wund gelegenen Stellen und schwarz gewordenen Zehen gezeigt, und das Mädchen, das Angestellte im Polhemsgård gewesen war, hatte eine Art Tapferkeitsmedaille bekommen. Es war viel über Zivilcourage geredet worden.

Für Flora hatte die Geschichte zur Folge, dass die Weißhosen sie jetzt täglich aus dem Bett hoben, sogar an den Wochenenden – ja, vor allem an ihnen, weil an den Wochenenden die meisten Besucher auftauchten –, sie aufrichteten und in einem Rollstuhl festschnallten. Sie kämmten ihr schütteres Haar und flochten es zu zwei Zöpfen. Sie hatte sich nie die Haare geflochten. Das war nicht ihr Stil.

Was war ihr Stil gewesen?

Sie begann mehr und mehr, es zu vergessen.

Sie war dreiunddreißig, als sie bei Sven Dalvik und seiner fast fünfjährigen Tochter einzog. Flora war eine seiner Arbeitskolleginnen, besser gesagt, sie war angestellt als Sekretärin, um Herrn Direktor Dalvik in allen Angelegenheiten zu assistieren, bei denen er Hilfe benötigte.

Chefsekretärin. Existierte dieser Beruf heutzutage überhaupt noch? Sie war stolz darauf gewesen, hatte zunächst einen kaufmännischen Realschulabschluss erworben und dann die Berlitz School besucht. Solche Ambitionen waren ungewöhnlich in ihrem Bekanntenkreis. Die meisten in ihrem Alter hatten relativ bald nach der Schule geheiratet und Kinder bekommen.

Und sie? Warum hatte sie keinen netten, jungen Mann abbekommen und im passenden Alter geheiratet? Darauf wusste sie keine rechte Antwort. Die Jahre waren vergangen, ohne dass »der Richtige« sich gezeigt hatte. Natürlich hatte sie Anträge bekommen, mehrere übrigens, besonders in der Zeit, in der sie regelmäßig die Tanzlokale der Stadt und von Hässelby Strand besuchte. Dorthin kamen junge Männer aus ganz Stockholm, und sie kannte natürlich die Büsche und Verstecke, sie hätte also sehr wohl jemand zu einem lauschigen Plätzchen locken können, wenn sie nur gewollt hätte, und wie ihre Freundinnen es taten.

Nein. Sie fand das banal. Außerdem machte sie sich Sorgen, die Kerle aus der Stadt könnten sich hinter ihrem Rücken viel sagende Blicke zuwerfen. Denken, sie wäre ein Landei wie jede andere auch. Das war sie nicht. Sie war anders.

Sie lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. Die Frau im Nachbarbett lag im Sterben. Die Weißhosen hatten einen Schirm zwischen die Betten gestellt, aber das Geräusch des Todes ließ sich nicht abschirmen. Sie glaubten wohl, dass sie es nicht verstand.

Flora lauschte den mühsamen Atemzügen, sie kamen in immer größeren Abständen. Die Sterbende war eine alte Frau, und es war ihr schlecht gegangen, seit sie vor vierzehn Tagen aufgenommen worden war. Für sie war die Zeit gekommen, alles Irdische hinter sich zu lassen, sie war weit über neunzig.

Ihr Sohn befand sich irgendwo im Zimmer und wanderte umher, es fiel ihm schwer, still zu sitzen. Auch er war alt. Als er ins Zimmer kam, nickte er Flora zu, unsicher, ob sie sich seiner bewusst war oder nicht. Sie schaffte es auf ihrem Kissen zurückzunicken.

Er hatte mit den Weißkitteln wegen eines Einzelzimmers getuschelt und sie hatten erklärt und bedauert: Platzmangel und Überbelegung. Dann senkten sie ihre Stimmen, und Flora begriff, dass sie von ihr sprachen.

Der Sohn schien Schmerzen zu haben, sie hörte, wie er hinter dem Schirm jammerte. Jedes Mal, wenn er dies tat, wurden die Atemzüge seiner Mutter schneller, gleichsam zitternder, so als sehne sie sich nach jener Zeit zurück, als sie noch trösten konnte.

Sie hatten Flora heute Abend früh fertig gemacht. Man würde sie stören, die Weißhosen würden die ganze Nacht über rein- und rausrennen und in gedämpftem Ton sprechen, so als bekäme man dadurch nichts mit. Sie würden mit Taschenlampen leuchten, und der Duft von Kaffee würde aus dem Personalraum zu ihr herübersickern.

Es würde mit Sicherheit keine gute Nacht werden.

Sie dachte an Sven und fand es ungerecht. Sein Tod war so schnell gekommen. Sie wäre auch gerne auf die gleiche schmerzfreie, leichte Art gestorben, einfach alles hinter sich lassen und aussteigen. Stattdessen lag sie nun hier wie ein lebendiges Gepäckstück und wurde erniedrigt und gekränkt wie ein Kind.

Sie und Sven hatten von Anfang an Sympathie füreinander empfunden. Er bot ihr das Du an, was zu jener Zeit noch sehr ungewöhnlich war, ihre Zusammenarbeit jedoch zweifellos erleichterte.

Schon bald hatte sie seine Unbeholfenheit in gewissen Dingen durchschaut, tat aber ihr Bestes, damit er dies nicht merkte. Ein Firmenchef war er im Grunde nicht und Flora erkannte nach einer Weile, dass er das Familienunternehmen ohne große Begeisterung übernommen hatte. Er tat es, weil es von ihm erwartet wurde, seine gesamte Erziehung war darauf ausgerichtet gewesen. Sein Vater, Georg Dalvik, hatte die Firma gegründet. Er war es, der die heute fast weltweit berühmte Halspastille Sandy erschaffen und vermarktet hatte, »außen rau wie Sand, löscht aber deiner Kehle Brand«.

Sven war nicht unbedingt der Mann, den sie als sehr junges Mädchen in ihren Träumen vor Augen gehabt hatte, aber er war lieb. Er glaubte an sie, wandte sich an sie, wenn die Dinge kompliziert wurden. Er fragte sie auch regelmäßig um Rat, wenn er Geschenke für seine französische Frau kaufen wollte. So gesehen hatte sie das Gefühl, sowohl ihn als auch seine Familie zu kennen, ohne jemals seine Frau oder das kleine Mädchen getroffen zu haben. Ein Foto von ihnen stand auf seinem Schreibtisch, eine dunkelhaarige Frau mit einem pummeligen und lachenden Kind auf dem Schoß. Das Kind reckte seine Arme nach hinten und schlang sie um den Nacken der Mutter.

Manchmal, wenn er im Ausland war, ging sie in sein Büro und betrachtete die Fotografie. Sie war im Freien aufgenommen worden, in Hässelby, wo er erst vor kurzem ein Haus gekauft hatte. Man konnte einen Dachgiebel erkennen. Flora wusste genau, wo das Haus lag.

Sven erzählte ihr oft von den Mühen des Gemüseanbaus. Er war auf dem Karlaväg, mitten in der Stadt aufgewachsen und hatte nur wenig Erfahrung mit Gartenarbeit, er zeigte ihr seine Handflächen. Einmal klagte er über die Himbeersträucher, sie schienen von einer seltsamen Krankheit befallen worden zu sein.

Flora bat ihn, sie zu beschreiben.

»Nun ja, es sind solche braunlila Flächen auf den Blättern und den Zweigen, die aufplatzen und dann grau gesprenkelt werden. Himbeeren wachsen auch keine, sie vertrocknen einfach. Ich finde es so traurig, wir wollten doch auf dem Balkon sitzen, meine Frau und ich, und frische Himbeeren mit Sahne essen.«

Sie wusste sofort, was los war.

»Rutenkrankheit«, sagte sie und es wurde ihr innerlich warm. »Es ist eine Pilzkrankheit, und leider muss ich dir mitteilen, dass es die schlimmste Krankheit ist, die einen Himbeerbestand befallen kann.«

Ihr Chef starrte sie an.

»Doch, es stimmt«, sagte sie voller Eifer. »Du musst alles wegschneiden und verbrennen, was angegriffen aussieht. Anschließend kannst du Kupferkalk und Kupfersulfat spritzen.«

»Zum Teufel, was du alles weißt!«

Er fluchte selten, jetzt tat er es.

»Du vergisst, dass meine Eltern eine Gärtnerei haben. Ich bin mit Kupfersulfat groß geworden.«

Er lachte und umarmte sie. Das war ungewöhnlich. Körperliche Berührungen waren zwischen ihnen fast nie vorgekommen.

Noch zweimal kam es dazu. Eines Abends arbeiteten sie länger, es wurde ziemlich spät. Flora setzte einen Tee auf und schmierte ein paar Butterbrote. Als sie das Tablett auf seinem Tisch abstellte, legte er ihr den Arm um die Taille, zog ihn aber unverzüglich wieder zurück. Sie begriff, dass er gedacht hatte, er wäre zu Hause. Er war müde. Er wurde rot.

Das zweite Mal passierte es auf einem von der Belegschaft auf einer Insel organisierten Krebsessen. Sie wurden betrunken, sowohl Sven als auch sie, keiner von ihnen war es gewohnt, Schnaps zu trinken. Sie saßen in dieser Nacht eine Weile zusammen auf einem Felsen und hielten einander an den Händen. Mehr war es nicht.

Als Svens Frau starb, war er sehr stark. Schon am nächsten Tag kehrte er in sein Büro zurück. Das Mädchen hatte er bei seinen Eltern gelassen. Er war verändert, aber nur äußerlich, schien an einem einzigen Tag mehrere Kilo an Gewicht verloren zu haben. Ansonsten war er wie immer. Ein bisschen still, ein bisschen traurig.

Flora stellte ihm einen Topf mit blauen Usambaraveilchen ans Fenster. Blau war die Farbe der Hoffnung und des Trostes. Sie wusste nicht, ob er es überhaupt merkte. Sie fragte, ob es etwas gebe, was sie tun könne. Da wandte er ihr das Gesicht zu, aber ohne sie zu sehen.

Nach der Beerdigung begann er, von seinem Kind zu sprechen. Das Mädchen hieß Justine. Sie war in einem schwierigen Alter, und dass sie ihre Mutter verloren hatte, machte die Sache nicht besser.

»Meine Eltern kommen nicht mit ihr zurecht«, sagte er, »sie haben sich nie besonders für Kinder interessiert. Außerdem ist mein Vater herzkrank.«

Flora hörte geduldig zu. Die ganze Zeit saß sie da und hörte zu und versuchte gerade dadurch zu trösten, versuchte, nicht aufdringlich zu wirken, nicht mit zu vielen Ratschlägen zu kommen.

Das erste Jahr löste er das Problem mit Haushaltshilfen, die sich um das Haus und das Kind kümmern sollten. Manchmal sprach er davon, das Haus zu verkaufen, aber seine Frau lag auf dem Friedhof von Hässelby begraben, und mehrmals in der Woche ging er dorthin.

»Glaubst du, sie würde wollen, dass ich es verkaufe?«, wollte er von ihr wissen. »Sie hat dieses Haus so sehr gemocht, ihr zuliebe haben wir es gekauft.«

Er hatte Probleme, seine Haushaltshilfen zu halten. Vielleicht war es zu einsam dort unten am Seeufer? Vielleicht fühlten sie sich isoliert?

Dass es an dem Mädchen liegen könnte, dieser Gedanke kam seinem armen, verstörten Gehirn nie.

5. KAPITEL

Die Bäume lösten sich aus dem Nebel, wurden schwarz, bekamen Kontur. Es war Morgen. Justine hatte die ganze Nacht in einem Sessel sitzend geschlafen, sie war durstig und zwischen den Schulterblättern völlig verspannt. Auf die gleiche Art wie dort, und doch wieder ganz anders. Dort: Sie konnte sich noch gut an die Erleichterung erinnern, die sie empfunden hatte, als sie endlich die Konturen erahnen konnte. Die kompakte tropische Dunkelheit hatte begonnen, sich zu bewegen, war auf dem Rückzug. Sie lag mit weit aufgerissenen Augen da und beobachtete, wie alles Schritt für Schritt wiederkehrte, die Stämme, die Blätter, wie sie in den Tag hineinwuchsen und Form annahmen. Erleichterung breitete sich in ihr aus, ihre Glieder entspannten sich. Sie hatte die ganze Nacht wach gelegen. Jetzt sank sie in einen kurzen Schlaf, während die anderen schon langsam begannen, sich in ihren Schlafsäcken zu räkeln.

Justine ging die Treppe hinab, hielt sich am Geländer fest wie eine müde und gealterte Frau. Ja, wie sich Flora zwischen den Etagen auf und ab geschleppt hatte, bevor sie ins Heim kam. Freiwillig wäre sie nie gegangen. Aber nach dem Anfall hatte sie keine Kraft mehr.

Unten lag die Küche im Dunkeln. Sie machte das Licht über dem Herd an und setzte einen Topf mit Wasser auf. Ihr Kleid war zerknittert, sie musste geschwitzt haben, während sie schlief. Sie hatte nicht gemerkt, dass die Nacht hereinbrach.

War es so, wenn man starb?

An die Wand gelehnt trank sie ihren Tee in langsamen Schlucken, spitzte ihre Ohren auf der Suche nach eventuellen Geräuschen. Empfand eine plötzliche Sehnsucht, ein Bedürfnis nach Worten, nach etwas anderem als dieser Stille. Sie rief den Vogel. Er saß vermutlich auf seinem Ast und schlief, den Kopf nach hinten gedreht und den Schnabel in die grauen Federn gebohrt. Er kam nicht, antwortete auch nicht, saß irgendwo in der Stille und erinnerte sich an seinen Ursprung.

Das Haus war daraus gemauert: aus kühler und brütender Stille. Wie eine Isolierung. Sie saß in den Steinen, im Kellergemäuer, saß in den Wänden, nicht einmal der Sonnenglut eines Augusttages gelang es, das Helle, Lebendige hervorzulocken.

Dort, im Dschungel. Dort existierte keine Stille. Überall lebte, kroch, pfiff und rieselte es, das Rascheln aus Laubschichten, in denen der Prozess endlos weiterging, ein knabberndes, dampfendes Vermodern, Millionen kleiner, schlemmender Kiefer, die niemals satt zu bekommen waren, die Schreie und das Rauschen des Regens, das Heulen einer Säge.

Sie hatte Nathan gefragt.

»Stehen die hier draußen im Dschungel mit einer Kreissäge. Ist es das, was man die Bedrohung der Regenwälder nennt?«

Er antwortete nicht, zwang sie, sich zu wiederholen. Erst dann drehte er sich um, und seine Augen waren so verändert, wie sie es seit Kuala Lumpur waren, wo Martina zu ihrer Gruppe gestoßen war.

Es war ein Insekt. Ein Insekt, das dieses ziehende Geräusch auslösen konnte, das ihr durch Mark und Bein ging und sie frieren ließ, obwohl es heiß war.

Martina ... Sie war im Grunde auch nicht viel mehr als ein Insekt gewesen. So musste sie das sehen. Auf Insekten setzt man seinen Absatz und zermatscht sie. Insekten wie sie, Martina, haben es nicht besser verdient. So musste sie es sehen, genau so.

Sie selbst war wie das Haus, aus Stille gemacht und gemauert.

So als bräuchten die Worte Zeit, um Form anzunehmen, um ihren Weg in ihr und aus ihr heraus zu finden.

Es hatte dazu geführt, dass die Menschen die Geduld verloren.

Niemand hatte Lust, auf Worte zu warten.