Die Sonne hat Gesellschaft - Dorthe Nors - E-Book

Die Sonne hat Gesellschaft E-Book

Dorthe Nors

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Beschreibung

»Es ist nur eine Frage der Zeit. Früher oder später kommt jemand vorbei.« Zwei junge Frauen sammeln bei fremden Leuten Geld für die Krebshilfe, bis nicht mehr klar ist, wer hier eigentlich wem Hilfe leisten sollte. Eine alte Frau hat Angst davor, als Romanfigur benutzt zu werden, weil sie ihre eigene Geschichte nicht ertragen würde. Ein Mann verliert jeden Streit mit seiner Frau – bis sie ihn an den Wald verliert. Mit ihren kantigen, scharfen Sätzen zetrümmert Dorthe Nors ganze Realitäten und findet mit subtilem Humor selbst in den düstersten Geschichten Wärme und Hoffnung.

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INHALT

» Über die Autorin

» Über das Buch

» Buch lesen

» Impressum

» Weitere eBooks der Autorin

» Weitere eBooks von Kein & Aber

» www.keinundaber.ch

ÜBER DIE AUTORIN

Dorthe Nors wurde 1970 in Herning, Dänemark, geboren und studierte Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Åarhus. Sie ist die Autorin mehrerer Romane, Kurzgeschichten und Novellen. Bei Kein & Aber erschien 2016 ihr Roman Rechts blinken, links abbiegen, der für den Man Booker International Prize nominiert wurde. Dorthe Nors lebt an der dänischen Westküste.

ÜBER DAS BUCH

Zwei junge Frauen sammeln bei fremden Leuten Geld für die Krebshilfe, bis nicht mehr klar ist, wer hier eigentlich wem Hilfe leisten sollte. Eine alte Frau hat Angst davor, als Romanfigur benutzt zu werden, weil sie ihre eigene Geschichte nicht ertragen würde. Ein Mann verliert jeden Streit mit seiner Frau – bis sie ihn an den Wald verliert.

Mit ihren kantigen, scharfen Sätzen zertrümmert Dorthe Nors ganze Realitäten und findet mit subtilem Humor selbst in den düstersten Geschichten Wärme und Hoffnung.

INHALTSVERZEICHNIS

Auf einem Hochstand

Hunde der Sonne

Hygge

Am Bahnhof Südwest

Zwischen den Filialen

Der Festplatz

Fremde Vögel

Pershing Square

Caprifolium

Auf schmalen asphaltierten Wegen

In St. Paul’s Cathedral

Die Gefriertruhe

Manitoba

Wild Swims

Es ist immer möglich, sich ein Stück weiter zurückzuziehen.

AUF EINEM HOCHSTAND

Es ist nur eine Frage der Zeit. Früher oder später kommt jemand vorbei. Selbst Feldwege wie dieser sind nicht ewig menschenleer. Der Hof, an dem er zuletzt vorbeiging, muss bewohnt sein. Irgendwann gehen die Leute spazieren. Bestimmt ist das der Hochstand des Bauern, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis es regnet. Die Vegetation da unten ist trocken. Ein paar Büsche und etwas Heidekraut. Rechts ein Dickicht, links beginnt der Acker. Der Hohlweg ist nicht umsonst da, hier kommt ab und zu jemand vorbei. Schließlich ist er auch hierhergekommen. Vor einem Tag, aber es erscheint ihm länger. Daran ist seine Lage schuld. Gut möglich, dass der Fuß gebrochen ist, aber vielleicht ist er auch nur verstaucht. Der Schmerz kommt und geht. Auf jeden Fall ist der Fuß geschwollen. Jetzt sitzt er hier und hat kein Telefon dabei. Sie ist sicher schon völlig aufgelöst, das kann er sich gut vorstellen. Wie sie mit seinem Telefon in der Hand herumläuft. Draußen in der Waschküche. Da steht sie mit dem Telefon in der Hand und schimpft, dass er es nicht mitgenommen hat. Bald wird die Polizei gerufen. Vielleicht ist es längst geschehen. Bestimmt haben sie im Lokalsender gesagt, dass er siebenundvierzig ist, einen BMW fährt und das Haus in aufgewühltem Zustand verlassen hat. Der Gedanke daran macht ihn wahnsinnig, besonders das Letzte, er ist nicht aufgewühlt. Sie soll nur nicht jeden Streit gewinnen.

Heute Nacht hat etwas im Wald geschrien. Wahrscheinlich Eulen, vielleicht auch Füchse. Jemand hat hier draußen Wölfe gesehen, und bestimmt ist Lisette schon bei ihr. Lisette sitzt auf dem Sofa und saugt alles mit ihren großen Augen auf. Er ist so müde. Seine Kleidung ist feucht, er hat fürchterlich gefroren in der Nacht. Über ihm kreisen schwarze Vögel, wahrscheinlich Krähen, und sie läuft im Garten herum und findet keine Ruhe. Im Frühling hat er den Dachüberhang gestrichen. Es ist ein schönes Haus, aber sie will es verkaufen. Er mag das Haus, aber sie will etwas anderes. Wenn sie etwas anderes will, kann er nichts tun. Erst vorgestern wollte er seinen Bruder anrufen, aber diesen Kampf hat er auch verloren. Lisette darf immer zu Besuch kommen. Sie steht ständig bei ihnen in der offenen Küche und telefoniert. Lisette hat ein großes Netzwerk, trotzdem hängt sie meistens bei ihnen herum. Er hat nur noch die Kinder, im Prinzip. Sie kommt schon längst nicht mehr zu Familienfesten von seiner Seite. Irgendetwas stimmt nicht mit seinen Eltern, findet sie. Und mit der Freundin und den Kindern seines Bruders, besonders aber mit seinem Bruder. Sein Bruder sät Zwietracht, sagt sie. Weil er einmal gesagt hat, er solle sich scheiden lassen. Weil er sowieso jeden Streit verliert, hat er es ihr erzählt: Mein Bruder findet, ich sollte mich scheiden lassen, und deshalb ist es nicht das erste Mal, dass er allein in den Wald gefahren ist. In den letzten Jahren hat er das oft getan. Manchmal nur, um in Ruhe mit seinen Eltern oder seinem Bruder zu telefonieren. Dann muss er keine Ausreden erfinden.

Er sitzt auf einem Hochstand, und das Licht hat sich verändert. Nebel ist aufgezogen. Er kriecht über die Sträucher voll Krähenbeeren auf ihn zu. Es wird also schon wieder Abend. Er wollte allein sein, das hat er erreicht. Ungefähr siebzig Meter vor dem Hochstand ist er falsch aufgetreten und hat sich den Fuß verknackst. Zuerst der Schmerz, dann die Socke aus. Hat er um Hilfe gerufen? Ja, am Anfang ein wenig, aber dann wurde es dunkel, und er beschloss, den Hochstand einzunehmen.

Er zählt die Entfernungen zwischen den Dörfern zusammen. Ungefähr hundertsiebenundzwanzig Kilometer. So weit ist er von der Waschküche entfernt, wo sie jetzt auf sein Telefon starrt, aber Lisette ist bestimmt da. Sie spielt ihre Rolle als Trösterin, Mitverschworene und Sklavin, ja, Lisette ist auch ihr Sklave, aber ein Sklave mit Privilegien. In der Nacht hat er Schreie im Wald gehört, sicher ein Fuchs, aber jemand hat hier draußen Wölfe gesehen. Die Jäger stellen Wildkameras auf, um die Tiere aufzuspüren, die sie schießen wollen. Oder die Bauern wollen wissen, wer ihre Rüben frisst, obwohl es fast immer Rotwild ist. Aber eines Morgens starrt plötzlich so ein Wolf in die Kamera. Das hat er in der Zeitung gelesen, aber Wölfe können nicht klettern, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie neben der Waschmaschine zu Boden sinkt und die Hände um die Knie schlägt. Er hat sie seit Jahren nicht weinen sehen. Sie weinte nicht einmal, als ihre Mutter starb. Ihr Gesicht kann sich einem Gefühl verschließen wie die Klappe einer Kühltruhe über einem Terrarium mit Stabheuschrecken. In der siebten Klasse hatte er welche gehalten. Sie waren ziemlich langweilig, und der Biologielehrer sagte, er solle sie einfach in die Kühltruhe stellen, dann würden sie sterben. Er schaute sie lange an, ehe er die Klappe schloss. Sie wippten auf und ab und sahen aus wie kleine Zweige. Als er sie am Tag darauf herausholte, waren sie stocksteif. Sie sahen aus, als hätten sie nicht gelitten. Jetzt muss er an sie denken: die perfekte Illusionsnummer, genau wie sie. Vielleicht hat sie keine Gefühle. Sie hat viele Hobbys, aber er weiß nicht, ob sie Gefühle hat. Er ist sich sicher, dass Lisette in diesem Augenblick bei ihnen in der Küche steht. Lisette sitzt auf der Bettkante, sie geht mit den Kindern auf Studentengelage, sie kommt mit in die Ferien und fuhr jahrelang ihre Tochter zum Handballtraining. Sie hat kurze Beine und einen Führerschein, und inzwischen ist bestimmt die Polizei alarmiert. Er ist seit über vierundzwanzig Stunden verschwunden. In aufgewühltem Zustand, aber das ist nicht wahr. Er wollte nur einmal das Gefühl haben, dass er gewonnen hat, und jetzt hat er Aussicht auf Heideland in der Dämmerung. Seine Hose ist grün vom Moos und irgendetwas anderem. Die Bretter, auf denen er sitzt, sind von Algen zerfressen. Wenn sie solche Algen daheim auf der Terrasse hätten, müsste er sofort das Gift holen. Was hat er nicht alles gemacht an dem Haus, und jetzt will sie etwas Kleineres, aber ein Extrazimmer sollte es haben. Ein Extrazimmer?, fragte er. Für Lisette, antwortete sie, und da nahm er das Auto und ließ das Telefon liegen. Die Familie hat sich an seine Abwesenheit gewöhnt, er ist nicht mehr wie früher. Etwas hat sich über ihm geschlossen. Zuerst hat sie jeden Streit gewonnen, dann hat er sich ganz und gar auf ihre Seite gestellt. So hat er aufgehört zu verlieren, und sie hat aufgehört, ihn zu drangsalieren. Das war sein Plan, aber jetzt sitzt er hier. Nebel ist aufgezogen, es wird eine kalte Nacht, und jemand hat Wölfe gesehen.

HUNDE DER SONNE

Es ist lange her, aber einmal wohnte ich in einem kleinen Haus in Norwegen. Olav hatte mir davon erzählt, als unsere Beziehung noch warm war. Die Hütte sei das Sommerhaus des norwegischen Autors Knut Terje Aasbakken gewesen, hatte er gesagt. Jetzt sei sie ein Refugium für Schriftsteller. Von Olavs Heimatdorf führte ein schmaler Weg dorthin. Als Jugendlicher habe er sich manchmal hinaufgeschlichen, um heimlich die Schriftsteller zu beobachten. Sie wirkten so geheimnisvoll, hatte er gesagt und sein Gesicht in meinen Körper gegraben.

In dem Frühling, als unsere Beziehung immer mehr abkühlte, lud er mich in den Kongens Have ein. Ich nahm es nicht leicht und flehte ihn an, aber er wollte nicht mehr. Im Juli war ich nur noch ein Strich in der Landschaft, und ein Freund riet mir, ich solle verreisen. Da erinnerte ich mich an Knut Treje Aasbakkens Haus in Norwegen, das mitten im Wald auf einem Hügel stand.

Ich bewarb mich, bekam den Platz, und Anfang September reiste ich ab. Eine Frau aus dem Lebensmittelladen im Dorf fuhr mich zu dem Haus. Während wir in dem kleinen Golf den Weg hinaufkrochen, erzählte sie mir von der Gegend. Unterwegs kamen wir am Gemeindehaus vorbei. Sie sagte, es sei üblich, dass die Schriftsteller, die in der Hütte wohnten, dort Lesungen hielten. Ich schaute auf den Fluss im Tal, und dann setzte sie mich ab und gab mir die Schlüssel.

Am Abend stellte ich einen Stuhl vor das Haus und blieb draußen sitzen, bis ich vor Kälte zitterte. Am Morgen las ich meine mitgebrachten Notizen, ohne etwas zu schreiben. Später ging ich spazieren, oft hinunter ins Dorf. Ich las die Namensschilder an den Türen, und eines Tages kam ich an der Anschlagstafel des Gemeindehauses vorbei. TRACHTENKLEIDER, lautete die Überschrift, und darunter stand der Name von Olavs Mutter. Sie hieß Halldis und bot regelmäßig Nähkurse für ortstypische Trachten an.

Die Tage waren ewig lang, und nachts kam die Kälte. Ich lief in Aasbakkens Haus umher und kratzte Farbe von den Schranktüren. Im Wald schossen die Pilze aus dem Boden, und die Lesung im Gemeindehaus ließ sich kaum noch hinauszögern. Der Vorsitzende des Bibliotheksvereins kam mehrmals vorbei und drängte mich. An einem Abend im Oktober stand ich vor einem großen, gewobenen Wandteppich, las aus meinen Büchern und erzählte. In der Kaffeepause kam eine Frau mit kurzem dunklen Haar und einem inuitartigen Gesicht zu mir. Sie sagte: Ich glaube, du kennst meinen Sohn. Er wohnt in Kopenhagen. Ich muss sie angestarrt haben. Er hat einen Artikel über dich geschrieben, sagte sie. Wer ist dein Sohn?, fragte ich, obwohl ich die Antwort kannte.

So wurden Olavs Mutter, Halldis, und ich durch einen Zufall so etwas wie Freunde. Erst verabredeten wir uns zum Spazierengehen, dann ritten wir auf ihren Fjordpferden aus. Sie redete über die Landschaft, welche Spuren die Tiere hinterließen und wie der Winter werden würde. Über Olav sprachen wir nie. Ich erwähnte ihn nicht, und sie war diskret. Ich hatte den Eindruck, sie sei eine starke Frau, aber sie sorgte sich immer wieder darum, ob ich über sie schreiben würde.

Anfang November ritten wir zusammen in den Wald. Auf einer Lichtung sagte ich, dass die Aussicht gut für eine Anfangsszene geeignet sei. Sie sagte: Ja, genau davor habe ich Angst.

Sie sah auf ihre Hände, die die Zügel hielten, und ich dachte an Olav, sein Gesicht und ihres, und vielleicht lud sie mich an diesem Tag zum ersten Mal zum Kaffee ein. Jedenfalls weiß ich noch, dass wir die Pferde im Garten laufen ließen und uns in die Küche setzten. An der Pinnwand hingen Bilder von Olav und seiner Frau, und ich bin sicher, dass ich Halldis umarmte, als ich ging. Irgendwie muss mir der Abschied schwergefallen sein.

Trotz der etwas peinlichen Beziehung trafen wir uns weiter. Eines Tages, als wir nach einem Ausritt in der Küche saßen, kam Olavs Vater herein. Er setzte sich mürrisch zu uns, obwohl wir uns nicht begeistert zeigten. Halldis holte eine Tasse für ihn, und es war klar, dass er störte. Er erwähnte mehrmals, dass er etwas gegen studierte Menschen hatte. Er war Schreiner, Olavs Vater. Sagte, wie wichtig das Handwerk sei, und zeigte auf den Tisch. Ich lobte den Tisch, und dann musste ich mir seine Werkstatt ansehen.