Rechts blinken, links abbiegen - Dorthe Nors - E-Book

Rechts blinken, links abbiegen E-Book

Dorthe Nors

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Beschreibung

Als sich Sonja mit über vierzig endlich bei der Fahrschule anmeldet, verspricht sie sich davon mehr Freiheit. Nur bereitet ihr das Schalten größere Probleme als gedacht und überhaupt läuft ihr Leben gerade nicht rund. Immer mehr sehnt sie sich an die idyllischen Orte ihrer Kindheit zurück: Wilde Singschwäne und Zugvögel will sie sehen, keine Tauben und Plastikeulen auf Nachbarbalkonen! Doch was muss passieren, damit Sonja ihr Schicksal in die Hand nimmt?

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INHALT

» Über die Autorin

» Über das Buch

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» Impressum

» Weitere eBooks von Kein & Aber

» www.keinundaber.ch

ÜBER DIE AUTORIN

Dorthe Nors wurde 1970 in Herning, Dänemark, geboren und studierte Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Aarhus. Sie ist die Autorin mehrerer Romane, Kurzgeschichten und Novellen. Auf Deutsch erschien 2014 ihr international gefeierter Erzählband Handkantenschlag, im selben Jahr wurde sie mit dem Per-Olov-Enquist-Preis für junge Nachwuchsliteraten von europaweiter Ausstrahlungskraft ausgezeichnet. Dorthe Nors lebt an der dänischen Westküste.

ÜBER DAS BUCH

Als sich Sonja mit über vierzig endlich bei der Fahrschule anmeldet, verspricht sie sich davon mehr Freiheit. Nur bereitet ihr das Schalten größere Probleme als gedacht – und überhaupt läuft ihr Leben gerade nicht rund. Immer mehr sehnt sie sich an die idyllischen Orte ihrer Kindheit zurück: Wilde Singschwäne und Zugvögel will sie sehen, keine Tauben und Plastikeulen auf Nachbarbalkonen! Doch was muss passieren, damit Sonja ihr Schicksal in die Hand nimmt?

»Dorthe Nors erinnert an den Grund, warum man liest: um Menschen wie Sonja zu begegnen.«

Nordjyske

»Dorthe Nors weiß, wie sie die kleinen Momente einfängt und mit ihren Worten unvergesslich macht.«

Oprah Winfrey

1

Sonja sitzt in einem Auto, und sie hat das Wörterbuch dabei. Es ist schwer und liegt in der Tasche auf dem Rücksitz. Sie ist halb fertig mit der Übersetzung des neuesten Gösta Svensson, dessen Niveau schon im vorigen Krimi am Sinken war. Jetzt kann ich es mir leisten, dachte sie, suchte im Internet nach Fahrschulen und meldete sich bei Folke in Frederiksberg an. Der Unterrichtsraum war klein, blau gestrichen und roch nach altem Rauch und Umkleide, aber sie hat die Theorie bestanden. Außer Folke saß nur noch einer in Sonjas Alter dort. Er hatte den Führerschein wegen Alkohol am Steuer verloren und blieb während des gesamten Kurses für sich, sodass Sonja zwischen all den Teenagern umso mehr hervorstach. Beim Erste-Hilfe-Kurs musste sie das Unfallopfer spielen. Der Kursleiter zeigte auf die Stelle an ihrem Hals, wo sie nachfühlen sollten, ob sie noch atmete. Seine Finger strichen ihr übers Gesicht und fuhren in ihren Kragen. Dann packte er sie um den Oberkörper und führte das Heimlich-Manöver an ihr vor. Sie erstickte fast, doch das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, dass sie die Übungen wiederholten. Es war demütigend, von einem Achtzehnjährigen in die stabile Seitenlage gebracht zu werden. Ihr wurde schwindlig, aber keiner sollte es merken. Du bist ein Fighter, hat Mutter immer gesagt, und das stimmt, Sonja gibt nie auf. Vielleicht sollte sie, aber sie tut es nicht. Dann drückt ihr dreißig Mal fest auf den linken Brustkorb und fühlt nach, ob sie wieder atmet, sagte der Kursleiter.

Atmen, dachte Sonja, darauf kommt es an, und bestand die Theorie. Sie hat mehr Probleme mit der Praxis, deshalb sitzt sie nun im Auto. Sie freut sich, dass sie so weit gekommen ist, doch es reicht nicht, sie braucht Übung. Sonjas Schwester Kate und deren Mann Frank haben den Führerschein in den Achtzigern gemacht. Daheim in Balling ließ man die Autoreifen qualmen und fuhr Stoppelfeldrennen in tiefergelegten Schrottwagen. Allen Gefahren, die Kate heute scheut, hat sie als Teenager ins Auge geblickt. Sie war Beifahrerin in ausrangierten Autos, Femme fatale beim Scheunentanz und der Mittelpunkt von Vereinsheimen und Turnwettkämpfen. Sicher war sie oft betrunken nach Hause gefahren. In Balling nimmt man nachts den Schleichweg hinter der Kirche. Sonja schleicht ebenfalls, aber nur, weil sie so schlecht fährt. Das Auto als Mechanismus ist ihr ein Rätsel, was die Fahrstunden problematisch macht. Das größte Problem jedoch sitzt neben ihr. Es heißt Jytte und ist Kettenraucherin. Die Wände der Fahrschule sind mit Zigarettenrauch galvanisiert, von dem ein Großteil durch Jyttes Lunge gezogen ist. Wenn Sonja kommt, sitzt Jytte in Folkes Büro, ist auf Facebook oder blättert in den Akten der Fahrschüler. Melanie, die mit dem Pferdeschwanz, hat kein Attest bekommen, ruft sie Sonja zu. Sie hat was mit den Nerven, wusstest du das?

Sonja wusste es nicht. Auch sie hat kein Attest bekommen, weil mit ihren Ohren etwas nicht stimmt. Bei bestimmten Bewegungen kann sie die Balance nicht halten, das hat sie von ihrer Mutter geerbt. Lange glaubte sie, sie wäre davon verschont geblieben, bis ihr zum ersten Mal schwindlig wurde. Es nennt sich »Benigne paroxysmale positionale Vertigo«, doch das ist zu viel Latein für den Ort, aus dem Sonja stammt. Außerdem hat sie es im Griff. Es soll sie an nichts hindern, deshalb sitzt sie nun im Auto. Gösta liegt auf dem Rücksitz, und Jytte sitzt neben ihr.

Weil Jytte so viel auf dem Herzen hat, hat sie keine Zeit, Sonja das Schalten beizubringen. Seit sechs Monaten lernt Sonja bei Jytte, und sie findet noch immer nicht den richtigen Gang. Jytte nutzt die Gelegenheit und übernimmt das Schalten für sie, denn wenn sie für Sonja die Gänge wechselt, muss sie nicht das Thema wechseln: Ihr Sohn heiratet, ihre Enkel sollen irgendwelche fürchterlichen Namen bekommen, ihre Schwiegertochter ist eine dumme Gans, und die Mutter ihres Schwagers hat einen neuen Mann, dessen Schwester gerade gestorben ist.

»Thailänder können kein Auto fahren.«

Sonja und Jytte halten an einer Ampel in Frederiksberg. Der Rauch der letzten Zigarette hängt noch im Auto und mischt sich mit dem Geruch von Sonjas Schweiß. Sie blinkt rechts, Jytte hat die Hand an der Gangschaltung, und Sonja hält nach Radfahrern Ausschau.

»Ich hab jetzt eine, die heißt Pakpao. Pakpao? GRÜN! ZWEITERGANG, ZWEITERGANG, FAHRRAD!«

Jytte schaltet in den zweiten Gang, während Sonja dem Radfahrer ausweicht.

»Sie ist mit einem alten Sack verheiratet. Er ist mindestens fünfundsiebzig und hat sich bei mir im Büro aufgeblasen.«

Sie nähern sich der Innenstadt, der Verkehr fließt, sodass Jytte den vierten Gang einlegt. Sie hat ihr eigenes Kupplungspedal. Gleichzeitig zeigt sie auf ein Delikatessengeschäft.

»Da gibt es leckere Sülze und warme Leberpastete mit Bacon und Cocktailwürstchen. Ich liebe Weihnachten, kann gar nicht genug davon kriegen. Magst du Weihnachten auch?«

Es ist Anfang August, und Sonja hat nicht den geringsten Sinn dafür. Weihnachten: Das sind Kates endlose Einkaufszettel und der Versuch, die Zeit zurückzudrehen, um den Schaden möglichst gering zu halten. Trotzdem nickt sie. Sie will Jytte nicht verärgern, denn schließlich ist sie die eigentliche Fahrerin. Außerdem stammt sie aus Djursland, aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Nimtofte. Ihrem Vater gehörte der örtliche Futtermittelhandel, der sich direkt gegenüber der Schule befand. In der Pause konnte Jytte zum Essen nach Hause laufen. Mit zwanzig bezog sie ein Zimmer im Kopenhagener Stadtteil Hvidovre, das dem kleinen Bruder des Dorfpolizisten gehörte. Der kleine Bruder selbst war auch bei der Polizei, und Jytte hatte schon immer eine Schwäche für Männer in Uniform. Jetzt wohnt sie im gesetzten Vorort Solrød, aber damals hieß es ausgehen und tanzen, bis man nicht mehr nach Mist roch.

Sonja kann kaum noch hören, dass Jytte aus Jütland stammt. Ihr Dialekt ist verschwunden, aber sie ist trotzdem schwer zu verstehen. »Links abbiegen« heißt linksap, »rechts abbiegen« rechtsap. Jytte macht es kurz, damit sie nicht das Thema wechseln muss.

»Du sprichst gar kein Jütisch mehr«, sagt Sonja.

»Du solltest mich – rechtsap – mal hören, wenn ich mit meiner Schwester telefoniere. GRÜNERPFEIL! LENKDOCH, FAHRRAD!«

Sonja biegt Richtung Vesterbro ab und fragt sich, wie sie klingt, wenn sie mit Kate telefoniert, was fast nie der Fall ist. Vor ihr liegt das Verkehrschaos der Istedgade, und Jytte erzählt, dass sie schwedische Adventsleuchter in den Fenstern mag. Und ordentlich Lametta soll an den Weihnachtsbaum, aber ihre Schwiegertochter hat etwas dagegen. Bei ihr muss alles am Baum weiß sein, was Jytte gar nicht versteht, ebenso wenig wie die Tatsache, dass Folke so viele Ausländer annimmt.

»Die können doch auf ihre eigenen Fahrschulen gehen«, sagt Jytte. »Sie verstehen nicht, was ich sage. Mit denen zu fahren – linksap –, ist lebensgefährlich.«

Sonja denkt an den Futtermittelhandel in Djursland. Daheim in Balling gab es auch so einen, gegenüber vom Konsum, den sie nur »Aage« nannten, weil der Besitzer so hieß. Heute gibt es in Balling keinen Kaufmann mehr, keinen Metzger, keine Post. Die Höfe haben einander aufgefressen, es gibt nur noch zwei, und wo früher Molkereiwagen, Klatschweiber und Knechte unterwegs waren, ist heute kaum noch Verkehr. Balling liegt wie ein zufälliger Klecks Zivilisation mitten in einem überdimensionalen Maisfeld, doch die Heide hinter dem Feld ist der wirtschaftlichen Effektivität entronnen. Dort leben die Singschwäne. In Balling sind die Landküchen noch groß wie Kantinen, obwohl heute kaum jemand in der Landwirtschaft arbeitet. Ein langer, alter Tisch für das abgewanderte Gesinde und am Fenster die neueren Essmöbel. Wenn einer kam, der hart gearbeitet hatte, musste man zusammenrücken. So sitzt Jytte auf der Bank und lässt die Beine baumeln, die nicht auf den Boden reichen. Es ist große Pause, und sie ist zum Essen nach Hause gerannt. Sie trägt rote Socken und einen karierten Rock. Ihre Mutter hat ihr eine Scheibe Weißbrot auf den Teller gelegt. Sie backt es selbst, es ist trocken, und Jytte streicht Margarine darauf. Dann nimmt sie ein Päckchen Puderzucker. Es knirscht. Es macht Spaß, das Pulver in die Margarine zu drücken, sie lässt sich Zeit. Nach dem Abbeißen horcht sie, wie der Puderzucker im Mund weiterknirscht. Er löst sich im Speichel auf, wird zu süßem Sirup. Da klingelt es auf dem Schulhof. Mutter ruft, dass sie zu spät kommt. Jytte schnappt ihr Brot und rennt hinaus über die Landstraße.

»BREMSDOCH, VERDAMMT! SIEHSTDUNICHTDENZEBRASTREIFEN?«

Jytte hat gebremst und in den ersten Gang zurückgeschaltet. Sie halten an und sehen einen verschreckten Mann am Straßenrand.

»Du musst die Leute über die Straße lassen!«, sagt Jytte.

»Ich weiß«, sagt Sonja.

»Sieht aber nicht so aus«, sagt Jytte und nimmt den Fuß von der Kupplung. Erster Gang, zweiter Gang.

Jyttes Handy klingelt. Sie kreuzen die Vesterbrogade, dritter Gang. Jyttes Mann hat heute frei und findet die Fernbedienung nicht.

»SIELIEGTIMKORB. JA, DEMKORBNEBENDEN … (rechtsap, blink, blink doch, zum Teufel, rechtsap, langsam, LANGSAM!) Rippchen, glaube ich.«

Zwischen Schwärmen von glänzenden Fahrrädern fahren sie die Istedgade hinauf. Sonja sieht verschwommen, sie atmet kaum, aber an der Kreuzung zum Enghavevej biegt sie mehr oder weniger allein links ab. Jytte redet nicht mehr mit ihrem Mann, aber sie hat eine MMS von ihrer Schwiegertochter bekommen: Jyttes Enkel im Taufkleid. Ihre Stimme wird weich, sie will Sonja das Bild zeigen, aber Sonja möchte bis nach der Fahrstunde warten.

Als Fahrschüler legt man seinen Willen ab. Einmal zwang Jytte sie, einen Imbisswagen zu überholen, obwohl weiter vorne bereits eine Verkehrsinsel zu sehen war. Eine Verkehrsinsel und ein Imbisswagen. Sonja konnte nicht überholen, doch die Leute hinter ihr wurden ungeduldig und drängelten. Fahr doch, überhol!, rief Jytte. Sonja scherte auf die Gegenfahrbahn aus, überholte und lenkte so schnell wieder nach rechts, dass sie den Imbisswagen beinahe schnitt. Da hättest du fast ein Leben auf dem Gewissen gehabt, sagte Jytte hinterher. Die Scham sitzt Sonja noch immer im Nacken. Die Scham und die Angst, jemanden umzubringen. Sie fahren am Westfriedhof vorbei, und Jytte entscheidet, ihn zu umrunden.

»Ich mag den Westfriedhof«, versucht Sonja. »Besonders die alte Kapelle mit den zugenagelten Fenstern. Und die Allee mit den krummen Pappeln und den Teich. Da kann man schön im Gras liegen, ich gehe oft zum Lesen dorthin.«

Für Jytte ist Lesen etwas für Leute, die Ferien haben, und Friedhöfe sind für die Toten. Es gibt viele Tote in Jyttes Familie. Ein paar sind im Straßenverkehr umgekommen, andere an Krebs oder durch Arbeitsunfälle gestorben. Jyttes Mutter lebt noch, aber ihre Schwester hat eine Raucherlunge, und Sonja soll links abbiegen. Spiegel, Blinker, Schulterblick, Kupplung runter. Jytte legt den zweiten Gang ein, Sonja ordnet sich ein. Sie wählt die richtige Spur, was gar nicht so leicht ist, schließlich gibt es so viele. Die Ampel ist rot, Jytte schaltet in den ersten Gang. Rechts von ihnen steht ein Lieferwagen, der Fahrer spielt ungeduldig mit dem Gaspedal.

»Das sind Bimbos«, sagt Jytte und zeigt auf den Lieferwagen.

Die Ampel wird grün, Sonja fährt an. Der Lieferwagen fährt ebenfalls an und schwenkt vor Sonja nach links. Es ist verboten, von der rechten Spur links abzubiegen, das weiß Sonja, und Jytte weiß es auch. Sie streckt die Hand aus dem Fenster und zeigt dem Fahrer den Stinkefinger, während sie mit links auf die Hupe drückt. Das Fenster des Lieferwagens geht auf, beide bleiben mitten auf der Kreuzung stehen.

»KANAKEN!«, ruft Jytte.

»VERDAMMTEHURE!«, ruft der Lieferwagenfahrer.

Sonja denkt an den Friedhof. Sie liebt es, auf der Picknickdecke zu liegen und die Gräber der Ministerpräsidenten zu betrachten, während die Enten schnattern und das Dach der großen Kapelle in der Sonne glänzt. Es erinnert sie an das himmlische Jerusalem, oder an ein kleines, fernes Stück Dänemark. Dann ist der Verkehrslärm weit weg. Es duftet nach Eibe und Buchsbaum, und sie liegt in der Mitte von nirgendwo. Theoretisch könnte jederzeit ein Hirsch vorbeistolzieren. Sie hat Kaffee und Kekse mitgebracht und das Gedeck mit Efeu dekoriert. Die Toten machen keinen Lärm, und wenn sie Glück hat, schwebt ein Raubvogel über den Friedhof. Wenn sie dort liegt, kann sie allem ausweichen.

2

»Es sitzt im Nacken und in den Armen«, sagt Sonja.

Es ist Donnerstag und schwül. Sie liegt auf der Massagebank und schaut durch den kleinen Schwimmreifen am Kopfende auf den Boden. Ihr Wangenknochen drückt auf das Leder und spannt ihre Gesichtshaut. Das Kiefergelenk fühlt sich wie verrostet an, beim Zähneputzen hatte sie Schmerzen. Ellen, die Masseurin, knetet ihre Pobacken durch und arbeitet sich langsam nach oben. Sie sagt, etwas sei von Sonjas Bauch den ganzen Körper hinaufgezogen. Sicher Zorn. Und jetzt wolle er aus ihrem Mund heraus.

»Lass es einfach raus«, rät sie.

Der Boden bei Ellen ist aus glatten Dielen. Man sieht deutlich die Astlöcher. Sonja denkt an das Schlafzimmer ihrer Eltern. Es war mit Holz verkleidet, und überall waren Astlöcher. Während Mutter die Illustrierte las und Vater mit der Zeitung raschelte, setzte ihr Blick das Holzwerk in Bewegung. Die Astlöcher konnten alles Mögliche sein: Vögel, Autos, Donald-Duck-Figuren. Ellens Boden lebt auch. Sie greift fest zu und sagt, Sonja sei verkrampft. Als Sonja vorhin bei Ellen angekommen ist, war die Tür zu Ellens Wohnküche nicht wie sonst geschlossen. Sonja schaute durch den Spalt, aber außer Strickzeug auf dem Tisch sah sie nichts. Sie weiß nicht viel über Ellens Privatleben, aber sie weiß, dass sie eine gute Masseurin ist und dass ihre Augen voller Sehnsucht sind.

»Deine Pobacken sind steinhart«, sagt Ellen. »Weil du sie zusammenkneifst, wie man sagt. Man kneift die Backen oder beißt die Zähne zusammen. Merkst du, wie unsere Sprache das alles reflektiert?«

Sonja weiß dies nur zu gut. Sprache hat Macht, sie ist fast magisch. Die kleinste Veränderung kann einen Satz veredeln oder sein Ende bedeuten.

»Ich finde, du solltest dir mehr Ruhe im Auto ausbitten«, sagt Ellen.

Die Probleme in der Fahrschule sind ein häufiges Thema in der Massagepraxis, und Ellen rät stets zur Konfrontation. Sonja jedoch hat längst aufgegeben, um Ruhe zu bitten. Es wäre sinnlos. Vielleicht würde Jytte es versuchen, aber es würde nicht lange gutgehen. Dass ein Schüler ihr etwas vorschreibt, würde ihre Welt auf den Kopf stellen. In ihrer Welt kommt alles Böse aus der Stille, genau wie in der von Kate. Gefahr entsteht in Leerräumen, deshalb muss man jede Lücke mit monotonem Geschwätz, Kuchenrezepten oder Hundehaaren füllen.

Bei Ellen weiß sich Sonja in guten Händen, ein Gefühl, das sich bei ihr eher selten einstellt. Sie bildet sich ein, Ellens Hände seien die stärksten der Welt. Jeder Mensch braucht Körperkontakt, sagt Ellen. Auch Kate hat starke Hände. In dem Pflegeheim, in dem sie arbeitet, gibt es Lifter für Alte und Kranke, aber man muss trotzdem mit anpacken. Wer weiß, ob Ellens Patienten alle aus eigener Kraft auf die Pritsche kommen. Ellen und Kate sind stark. Ellen hat sich vom Po bis zum Hinterherz hochgearbeitet.

Das Hinterherz ist das Stück zwischen den Schulterblättern. Ellen nennt es so, weil es die Stelle ist, an der man von hinten erdolcht wird. Sonjas Hinterherz ist empfindlich. Während Ellen es massiert, starrt sie auf ein Astloch im Boden. Es sieht aus wie Micky Maus mit ihren großen Ohren. Sie steht aufrecht und stemmt die Hände in die Hüfte, trägt Handschuhe und eine rote Hose mit goldenen Knöpfen. Sie ruft Pluto, der auf der Stelle kommen soll. Es tut weh, im Nacken und an den Oberarmen, als wären sie ein einziger blauer Fleck.

»Aua, verdammt«, sagt Sonja.

»Warum, glaubst du, hast du so empfindliche Arme?«, fragt Ellen.

Vielleicht wegen des Handgemenges am Westfriedhof, meint Sonja. Sie dachte, sie hätte es Ellen schon erzählt, weil sie bei ihr immer über Jytte jammert. Es tut ihr gut, alles herauszulassen. Sie erzählt, wie Jytte sich auf dem Rückweg zur Fahrschule echauffiert hat. Einmal hat Sonja versucht, selbst zu schalten, doch das hätte sie besser bleiben lassen, denn Jytte fuhr sie an, sie wolle wohl den Motor ruinieren.

»Ich hab fast geheult«, sagt Sonja.

Ellen legt ihre warmen Hände auf ihre Oberarme.

»Das war echt gemein.«

Sonja spürt, wie sich die Muskeln leicht entspannen. Das kommt von Ellens Händen, sie streicheln sie und massieren einen Punkt hinter dem Ohr. Sonja steht mitten im Leben, sie ist längst erwachsen. Sie muss nicht immer dafür sorgen, dass die Leute miteinander auskommen, und kann es auch nicht. Die Leute wollen nicht miteinander auskommen, sie wollen sich nicht öffnen. Kate zum Beispiel, sie geht nicht mal mehr ans Telefon.

»Bereit für einen Durchgang auf dem Rücken?«, fragt Ellen. Sonja versucht zu nicken, aber ihr Kopf steckt in dem Schwimmreifen. Außerdem kann sie sich nicht ohne Weiteres umdrehen; ihr Schwindel wird in bestimmten Winkeln ausgelöst. Besonders schlimm ist die sogenannte Zahnarztstellung. Ellen meint, Sonjas Beschwerden seien Ausdruck eines seelischen Zustands. Dann befänden sich die meisten Frauen ihrer Familie in diesem seelischen Zustand, erklärt Sonja, aber sie hat keine Lust, ihre Familienverhältnisse mit Fremden zu diskutieren. Wie Ellen die Körper anderer Menschen liest, erinnert sie an die Textanalyse an der Universität. Die Dinge sollen etwas anderes bedeuten, sie sollen sich über ihre eigentliche Bedeutung erheben, sich vom Papier befreien und einen tieferen Sinn erlangen. Sie sollen weg von dem Ort, an dem sie stehen. Die Wirklichkeit ist nicht genug. Ellen kann diese Sehnsucht nicht verbergen, und nach den vielen Engeln zu urteilen, die in ihrer Praxis stehen, möchte sie das auch nicht. Überall Engel, auf dem Schreibtisch, auf der Fensterbank, an Ellens Halskette. Sie geht ans andere Ende der Massagebank, will Sonjas Füße massieren. Sonjas Füße haben eine Fehlstellung, sie wollen nicht fest auf der Erde stehen, sagt Ellen. Gemäß ihrer Homepage ist sie »Massagetherapeutin«, und Sonja hielt dies für eine Art Physiotherapie, aber bei Ellen ist ihre Schulter keine Schulter, sondern ein Gefühl. Ihre Hände sind nicht nur Hände, sondern zeigen eine Gemütsbewegung. Als Massagetherapeutin sieht Ellen es als ihre Aufgabe, Sonja zu lesen, und im Gegenzug kann Sonja nicht anders, als Ellen zu lesen. Ein Zirkus gegenseitiger Exegese. Wenn Sonjas Handgelenke schmerzen, sagt Ellen, dass sie »die Zügel zu straff hält«. Wenn Sonja sagt, es könne auch an dem Gösta-Svensson-Krimi liegen, der sie an die Tastatur fesselt, sagt Ellen: »Dann ist es dein Widerstand gegen Gösta Svensson, der in den Händen sitzt.«

Durchaus möglich, denkt Sonja, aber im Augenblick sind nicht die Hände an der Reihe: Sonjas Füße ragen weit über die Massagebank hinaus. Ihr Schwager Frank nennt sie »Massai«, weil er einmal in Afrika war. Er sollte den Schwarzen den Nutzen von Windmühlen nahebringen, und Sonja stellt sich lebhaft vor, wie er in der Savanne steht und die Kniekehlen eines Massai anstarrt. Vielleicht ist es eine Art Kompensation, dass er nun Sonja damit aufzieht, denn sie ist größer als er. Sie ist so groß, dass Ellen ihren Schemel zurückschieben muss, um an ihre Füße zu kommen. Sie ist eine gute Masseurin, kein Zweifel, aber mit der Körperanalyse hat Sonja mehr bekommen, als sie bestellt hat.

»Schöner Anhänger«, sagt Sonja und schaut auf Ellens Engel.

Ellen scheint verlegen und sagt, sie habe ihn auf einem Seminar gekauft.

Mehr sagt sie nicht, aber Sonja weiß schon länger, dass da noch mehr ist. Ellen hat einen Hang zum Übernatürlichen, genau wie Sonjas Freundin Molly, die sie seit dem Gymnasium kennt. Molly war immer von geografischer und kosmischer Rastlosigkeit getrieben; die ganze Schulzeit über wollte sie nur weg und schmiedete Pläne. Nicht, dass Sonja nicht wegwollte, aber Molly schmückte die Pläne immer weiter aus und fasste sie in Worte. Es war eine Zeit fieberhafter Zukunftsträume, und 1992 saßen sie endlich zusammen in einem Möbelwagen. Vater am Steuer, mit vorgeschobener Unterlippe, Sonja und Molly mit starkem Drang nach Osten. Zuerst eine gemeinsame Wohnung, dann das Leben in Kopenhagen, und nun wohnt Molly in Hørsholm. Vor ein paar Jahren war Sonja bei ihr auf einer Party, wo sie eine Wahrsagerin traf. Sonja stand am Kühlschrank und trank Bier, die Wahrsagerin trank Wasser, trug eine currygelbe Tunika und schaute in Sonjas Zukunft. Vater hatte sie vor allem gewarnt, was nach Glaube roch, aber Sonja war neugierig. Vater hatte auch gesagt, dass man die Kranken nicht abweisen dürfe, also ließ sie die Wahrsagerin gewähren. Sie sollte sogar recht behalten mit ihrer Prophezeiung einer unglücklichen Liebe. Erst lernte Sonja Paul kennen. Dann verliebte sie sich. Dann verließ er sie für eine Zwanzigjährige, die noch immer mit geflochtenen Zöpfen herumlief. Den Rest der Weissagung hat sie verdrängt. Wie soll man sonst leben, denkt sie und versucht zu vergessen. Aber die Erinnerung lässt nicht locker.

»Tut es weh?«, fragt Ellen.

Oh ja, es tut weh, aber sie gibt es nicht zu, denn Sonja will nicht, dass Ellen ihre Fußsohlen interpretiert. In Jütland hat sie einmal eine getroffen, die Gespenster sehen konnte. Sie war in ein Übersetzerzentrum gefahren, weil es zu einsam geworden war, allein mit Gösta Svensson daheimzusitzen. Das Zentrum befand sich in einem alten Kloster, und auf dem Dachboden polterte es. Die Dielen knirschten, Türen öffneten sich, aber keiner kam herein. Nachts flogen die Eulen über das Haus, und die Übersetzer – es waren eine ganze Menge – hatten aus all den Zeichen ein Gespenst erfunden. Die Abende vergingen mit Rotwein und Gesprächen, in denen das Gespenst immer wieder vorkam. Sonja hat ihm ein paar Kennzeichen Gösta Svenssons angedichtet: Ziegenbart, Tweedjacke und quietschende Schuhe. Das konnte sie gut, denn sie hatte alle seine Krimis ins Dänische übersetzt und ihn mehrmals persönlich getroffen. Eines Tages traf sie eine Angestellte des Zentrums im Treppenhaus. Sie war auf demWeg nach unten, das Zimmermädchen kam die Treppe hinauf. Oh, sagte Sonja und tat erschrocken, ich dachte, du wärst das Gespenst.

Das Zimmermädchen lachte nicht. Sie hielt die Hand vor das linke Auge und sagte: Mit diesem Auge kann ich Gespenster sehen. Sonja erinnert sich, wie sie zwischen den Fingern hindurchblickte. Die Geste unterstrich das Besondere der Situation. Sie wollte Sonja nicht vorbeilassen, es gab zu viel zu erzählen. Das Kloster liege an einem Ort mit besonderen Energien. Jahrhundertelang seien kosmische Kräfte in die Landschaft gedonnert. In den Hügeln westlich des Klosters gebe es einen Ort, der wie ein sakrales Telefon funktioniere. Wenn man mit dem Universum sprechen wolle, brauche man sich nur dorthin zu stellen. Das Zimmermädchen erklärte alles ausführlich. Unter anderem bekam Sonja zu hören, Kopenhagen sei das spirituelle Arschloch Dänemarks. Die Stadt sauge alle dunklen Kräfte der Nation in sich auf.

Ich wohne in Kopenhagen, sagte Sonja.

Okay, sagte das Zimmermädchen.

Bist du schon mal durch Balling gefahren?, fragte Sonja.

Nein, antwortete das Zimmermädchen.

Das ist noch so ein schönes, dänisches Arschloch, sagte Sonja, und damit war das Gespräch beendet. Für den Rest des Aufenthaltes redete sie nicht mehr mit dem Zimmermädchen.

Sonja schaut in Ellens linkes Auge, es ist aschgrau. Sie hat einen wehmütigen Zug um den Mund, und sie färbt ihre Haare nicht mehr. Ihre Hände sind stark, aber sie hat etwas Dunkles im Augenwinkel und kann Sonjas Aura sehen, mit beiden Händen zeigt sie an, wie weit sie in den Raum reicht. Dein Energiefeld ist geschwächt, sagt sie und demonstriert, wie Sonja einen Trichter über dem Kopf formen soll. Du musst neue Energie durch den Schädel aufnehmen