Die Sonnenblumenschwestern - Martha Hall Kelly - E-Book

Die Sonnenblumenschwestern E-Book

Martha Hall Kelly

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Beschreibung

Drei Frauen, die inmitten eines gespaltenen Landes um alles kämpfen müssen, was ihnen lieb und teuer ist …

1861: Georgeanna stammt aus gutem Hause, für Ballabende hat die junge New Yorkerin aber nichts übrig. Ihr Traum ist es, Krankenschwester zu werden. Als der Bürgerkrieg ausbricht, meldet sie sich mit als Erste für die Lazarette an der Front. Die Sklavin Jemma kämpft auf einer Plantage in Maryland täglich ums Überleben. Unerwartet bekommt sie die Chance zur Flucht – doch dafür müsste sie ihre Schwester zurücklassen. Währenddessen versucht die Plantagenbesitzerin Anne-May ihr Gut vor den Truppen aus dem Norden zu verteidigen und fasst deshalb einen riskanten Plan: Sie wird Spitzel im Auftrag des Südens.
Die drei ahnen nicht, dass sich ihre Schicksale schon bald untrennbar miteinander verflechten werden …

»Ein großartiger Roman, der die Frauen feiert, die vor uns kamen, die für das kämpften, was sie für richtig hielten, und die zu Heldinnen wurden, die ihrer Zeit voraus waren.« Lisa Wingate

»Die Sonnenblumenschwestern« hat Ihnen gefallen? Dann lesen Sie auch »Und am Ende werden wir frei sein«, das packende Debüt von Martha Hall Kelly.

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Seitenzahl: 848

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Buch

1861: Georgeanna Woolsey stammt zwar aus gutem Hause, für rauschende New Yorker Ballabende hat die junge Frau aber nichts übrig. Ihr großer Traum ist es, Krankenschwester zu werden und Gutes zu tun. Als der Amerikanische Bürgerkrieg ausbricht, ist sie deshalb eine der Ersten, die sich für die Lazarette an der Front in Gettysburg meldet. Die Sklavin Jemma lebt auf einer Plantage in Maryland, wo sie täglich ums Überleben kämpft. Denn der Alltag auf der Farm ist hart und die Aufseher grausam. Unerwartet bekommt sie die Chance zur Flucht – doch dafür müsste sie ihre geliebte Schwester zurücklassen.

Währenddessen versucht die Plantagenbesitzerin Anne-May ihr Hab und Gut vor den einmarschierenden Unionstruppen aus dem Norden zu verteidigen. Sie droht alles zu verlieren und fasst in ihrer Verzweiflung einen riskanten Plan: Sie wird Spitzel im Auftrag des Südens.

Autorin

Martha Hall Kelly ist ausgebildete Journalistin und war lange Zeit als Werbetexterin tätig, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Ihr Debüt »Und am Ende werden wir frei sein« eroberte die internationalen Bestsellerlisten und wurde allein in den USA über eine Million Mal verkauft. Weitere erfolgreiche Romane folgten. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Connecticut und auf Martha’s Vineyard.

Weitere Informationen unter: www.marthahallkelly.com

Von Martha Hall Kelly bereits erschienen

Und am Ende werden wir frei sein

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet.

MARTHA HALL KELLY

Die Sonnenblumenschwestern

Roman

Deutsch von Karin Dufner

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Sunflower Sisters« bei Ballantine Books, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC, New York.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright der Originalausgabe © 2021 by Martha Hall Kelly

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Limes in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Matthias Teiting

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotive: Arcangel Images (Rekha Arcangel, Ivana Desancic); www.buerosued.de

Karte: © Holly Hollon Designs

Fotos: © Martha Hall Kelly

Illustration Sonnenblumen: © shutterstock.com/Dervik

DK · Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN978-3-6412-9171-6V001

www.limes-verlag.de

Für meinen Sohn Michael, der mich nach Gettysburg begleitet hat.

Und für all die Mütter, deren Söhne nie zurückgekehrt sind.

TEIL EINS

Kapitel 1

MARYWOOLSEY

Charleston, South Carolina

1859

Niemand konnte ahnen, was der blonde Junge in seinem grob gezimmerten Pferdekarren gerade durch die Straßen von Charleston steuerte.

Mutter, meine jüngere Schwester Georgy und ich waren auf Einladung von Pastor Cox von der African Free Church zu einem dreiwöchigen Besuch nach South Carolina gekommen. Den gestrigen Morgen hatten wir damit verbracht, durch das bilderbuchhaft elegante und kultivierte Viertel zwischen Stadtvillen und Palmen einherzuschlendern, um den Damen unsere Aufwartung zu machen und Mutters eierschalfarbene Visitenkarte auf diversen silbernen Tabletts zu hinterlassen.

Mrs. Charles Woolsey, 8 Brevoort Place, New York City.

Obwohl sich uns wirklich nichts auf unangenehme Weise aufdrängte, hielt uns doch jedes schwarze Gesicht, das uns an der jeweiligen Haustür freundlich empfing, unmissverständlich vor Augen, dass das System der Sklaverei hier noch fest etabliert war. Allerdings bestärkte uns das nur in unserem Entschluss, den Kampf fortzuführen.

Auf unserem Heimweg vom sonntäglichen Gottesdienst spazierten wir durch die vom Duft der Kräuselmyrte erfüllte Luft, als ein Junge mit einem Pferdekarren neben uns hielt. Er trug ein sauberes weißes Hemd und eine Hose aus Stoff vom heimischen Webstuhl. Mit dem Hinterrad seines Wagens war etwas nicht in Ordnung, denn es rumpelte bei jeder Umdrehung, weshalb er nicht viel schneller vorankam als wir.

»Wir haben uns ein wenig verirrt«, rief Mutter dem Jungen zu. »Kannst du uns zeigen, wo das Charleston Hotel ist?«

»Ich muss in dieselbe Richtung, Ma’am. Ich führe Sie hin.«

Mir gefiel sein Südstaatenakzent. Der Junge, er war etwa zwölf Jahre alt, machte einen gutmütigen Eindruck. Er hatte sehr helle Haut, und sein weißblondes Haar schimmerte in der Sonne. Das erinnerte mich an meine eigenen strohblonden Töchter, die ich bei unserer Freundin Mrs. Wolcott im Hotel gelassen hatte, wo sie bestimmt schon an der Tür standen und auf meine Rückkehr warteten. Obwohl wir nur knapp zwei Stunden fort gewesen waren, vermisste ich sie bereits entsetzlich.

»Wo wohnst du denn?«, erkundigte Mutter sich bei dem Jungen.

»Hier und da.« Er hielt sein Gesicht in die Sonne. »Und Sie? Sie klingen, als wären Sie aus Virginia.«

Mutter lächelte. Es freute sie sehr, wenn jemand den Tonfall ihrer früheren Heimat erkannte. »Richtig geraten. Ich bin zwar schon als Mädchen von dort weg, aber wahrscheinlich hat sich der Akzent ein bisschen gehalten. Inzwischen lebe ich in New York. Wir sind als Gäste von Pastor Cox von der African Church hier. Kennst du ihn?«

»Nein, Ma’am.«

Als wir weitergingen, war in der Stille lediglich das Rumpeln des beschädigten Wagenrads zu hören.

»Es war eine wunderschöne Eucharistiefeier«, sprach Mutter weiter. »Mehr als dreihundert Gläubige.«

Lächelnd drehte er sich zu ihr um. »Ich wette, Sie waren die einzigen Weißen dort.«

»Ja. Doch man hat uns mit offenen Armen empfangen.«

»Früher ist meine Ma jeden Sonntag mit mir in die Kirche gegangen. Aber jetzt ist sie tot.«

Der Junge kramte ein Stück Brot aus einer blechernen Proviantdose, die zu seinen Füßen stand, aß einen Bissen und steckte den Rest unter die Plane auf dem Karren.

»Gehst du zur Schule?«, fragte Mutter.

»Nein, Ma’am. Leute wie mich nimmt keine Schule auf.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, erwiderte Georgy.

Mein Blick wanderte zur Ladefläche des Karrens, wo sich unter der Plane fast unmerklich etwas bewegte.

»Wo willst du hin?«, erkundigte ich mich.

Er wies auf ein weißes Gebäude ein Stück voraus. »Zum Markt. Wie jeden Sonntag. Samstags mache ich meine Runde, und am nächsten Tag komme ich her, damit meine Ware noch frisch ist.«

»Was denn für eine Runde?«

»Überallhin, Ma’am. Stammkundschaft. Da gehe ich nur selten leer aus.«

Der Junge steuerte auf ein weißes Gebäude mit hohen schwarzen Torflügeln zu. Wir folgten ihm. Es war ein gewaltiges Bauwerk, über dessen Eingang in vergoldeten Buchstaben das Wort MARKT funkelte. Eine scharlachrote Fahne flatterte im Wind.

Der Junge zeigte auf ein Dach in der Ferne. »Ihr Hotel ist ein Stück weiter die Straße hinauf und dann nach rechts.«

»Du warst uns eine große Hilfe«, sagte Mutter.

Als der Junge auf das eiserne Tor zufuhr, öffnete ein beleibter, rotbärtiger Mann mit einem Bambusstock in der Hand die darin eingelassene Tür.

»Moment mal, mein Junge«, meinte er und klopfte mit dem Stock gegen den Karren. »Herrje, du sollst mit deiner Ladung doch hintenrum kommen und nicht zum Haupteingang.«

»Pa braucht mich zu Hause.«

Der Junge drehte sich auf dem Bock um und schlug die Plane zurück. Im Karren lagen drei farbige Kinder unterschiedlichen Alters. Sie waren nur mit zerschlissenen Windeln bekleidet. Das älteste Kind, ein etwa neun Monate altes Mädchen, hielt sich am Rand des Karrens fest und zog sich daran hoch.

»Mein Gott!«, entfuhr es mir, denn der Anblick traf mich völlig unvorbereitet.

Das Kind streckte – die weltweit immer gleiche Sprache der Babys – die Ärmchen nach mir aus, woraufhin ich es aus dem Karren hob. Ich drückte es an mich und roch seinen wundervollen Babygeruch nach Milch, Seife und Unschuld. Bis vor Kurzem hatte jemand die Kleine liebevoll versorgt.

Die beiden anderen Kinder lagen noch im Karren auf den rauen Brettern. Eines war höchstens ein paar Tage alt.

Der Junge reichte dem Mann an der Tür ein zusammengefaltetes Stück Papier.

»Wo sind ihre Mütter?«, fragte ich, erschüttert bis ins Mark. »Die Kinder haben nicht einmal eine Decke. Wann haben sie zuletzt etwas gegessen?«

Der Wachmann studierte das Papier und trat dann auf den Karren zu. »Nur Mädchen? Es sollte doch ein Junge dabei sein.«

»Darüber müssen Sie mit Pa reden.«

Der Wachmann beugte sich über den Karren und hob ein Baby heraus. »Das hier ist aber ziemlich mickrig.«

Der Junge zuckte die Achseln. »Ich nehme mit, was man mir gibt. Das große hat den ganzen Weg geschrien.«

Ich hielt das Mädchen fester und schmiegte sein Köpflein ganz sacht an meine Schulter.

Der Wachmann übergab dem Jungen ein Bündel Geldscheine, die dieser in die Hüfttasche steckte. Dann ruckte er an den Zügeln und fuhr davon.

Der Wachmann eilte mit fordernd ausgestreckter Hand auf mich zu. »Ich hab keine Zeit, Rücksicht auf Leute wie Sie zu nehmen. Geben Sie schon her.«

Ich wich zurück. »Auf gar keinen Fall, Sir.«

»Die Frauenzimmer aus dem Norden können einem den letzten Nerv töten! Haben Sie hundert Dollar, um die Kleine zu kaufen?«

Ich griff nach dem Täschchen an meinem Handgelenk. »Ich stelle Ihnen sofort einen Schuldschein aus.«

Als ich an dem Täschchen nestelte, nutzte der Mann die Gelegenheit, um mir die Kleine aus den Armen zu reißen. Sie weinte ganz gotterbärmlich, bäumte sich auf und reckte die Händchen nach mir. Doch der Wachmann übergab sie an einen schmuddeligen Komplizen, der sie, weit von sich gehalten, wegtrug.

Als wir ihm folgen wollten, knallte der Wachmann uns das Tor vor der Nase zu. »Bei der Auktion sind keine Damen erlaubt«, verkündete er durch die Gitterstäbe. »Hier herrschen raue Sitten, das ist nichts für zarte Gemüter.« Mit diesen Worten verschwand er in der Menge im Inneren.

Eine Hand um das Gitter geschlossen, beobachtete ich, wie die Kinder außer Sichtweite geschafft wurden. Die andere Hand hatte ich entsetzt vor den Mund geschlagen. Welcher Mensch konnte dieses Weinen hören, ohne tiefes Mitgefühl zu empfinden? Irgendwo gab es jetzt drei Mütter, die ihre geliebten Töchter vermissten und Höllenqualen ausstanden.

Ich wandte mich an Mutter. »Gestern haben wir den ganzen Tag damit verbracht, der besseren Gesellschaft von Charleston unsere Aufwartung zu machen. Wir müssen jemanden um Hilfe bitten.«

Mutter betrachtete weiter die versammelte Menschenmenge. »Wen denn? Hier geht es um Geld, Mary. Diese Plantagenbesitzer werden die Sklaverei niemals freiwillig aufgeben. Wir können nichts anderes tun, als einen Präsidenten zu wählen, der diesem Treiben den Garaus macht.«

Mit dem Übel der Sklaverei waren wir nur allzu gut vertraut. Schließlich hatten wir Dr. Cheevers Vorträge im Cooper Institute besucht, mehrfach Onkel Toms Hütte gelesen und am Morgen im Charleston Courier die Annoncen für die Sklavenauktion zur Kenntnis genommen. Allerdings hatte uns nichts auf das Grauen vorbereitet, dieses entsetzliche Spektakel mit eigenen Augen zu sehen.

Mit zunehmendem Unbehagen betrachteten wir den von Menschen wimmelnden Markt, wo nun die Auktion begann. Ein niedriger Raum ging in einen Hof über, in dem sich ein Backsteingebäude erhob. Hinter den vergitterten Fenstern drängten sich schwarze Gesichter. In dem langen Raum nahm ein Auktionator seinen Platz auf einer grob gezimmerten Bühne ein. Er ließ die Lederpeitsche gegen den Schaft seines Stiefels schnalzen. Wie immer, wenn Geld im Spiel ist, lag eine angespannte Stimmung in der Luft. Der Mann wirkte mit seiner karierten Hose und dem schäbigen Strohhut wie ein Strolch. Er zupfte an seinem gelblichen Kinnbart.

»Gentlemen, sind Sie bereit?« Seine Stimme hallte von den Steinwänden wider.

Die Bieter scharten sich in Grüppchen um die Bühne. Es waren gut situiert wirkende Herren, so wie wir sie jeden Tag im Speisesaal des Hotels sahen, mit Zylindern aus Biberpelz auf den Köpfen und mit ordentlich gestutzten Bärten. Die meisten hatten eine Zigarre in der einen und einen Katalog mit der Ware des Tages in der anderen Hand.

Die Ware selbst, Menschen von unterschiedlich dunkler Hautfarbe, stand aufgereiht an der Wand und wurde unsanft untersucht. Nicht weit von uns erblickten wir Gruppen von Müttern mit ihren Kindern. Die Frauen trugen schmucke Baumwollkleider, saubere weiße Schürzen und Kopftücher, die Kinder waren barhäuptig.

Wir reckten die Hälse, um einen Blick in das vom Hauptraum abgehende Vorzimmer zu erhaschen, wo einige Männer die Frauen verhörten, ihnen die Münder aufzwangen und ihre Röcke lüpften, sodass ihre Scham zu sehen war.

»Ich habe als junges Mädchen in Richmond so eine Auktion erlebt. Viele Master verkaufen ihre eigenen farbigen Kinder und die Kinder, die von ihren farbigen Töchtern zur Welt gebracht werden.«

»Und das im neunzehnten Jahrhundert«, stellte Georgy fest.

»Heute Nacht wird kein Dampfer und kein Zug diese grausame Stadt verlassen, der nicht als Fracht derart bedauernswerte Menschen an Bord hat.«

Georgy hakte Mutter unter. »Wir dürfen so etwas nicht untätig hinnehmen, nur deshalb, weil es hier erlaubt ist. Mrs. Wolcott kennt den Bürgermeister. Wir müssen mit ihm sprechen.«

Mutter schaute zum Auktionator hinüber. »Aller Wahrscheinlichkeit nach kauft und verkauft der Bürgermeister seine Sklaven ebenfalls hier. Das Gesetz steht auf seiner Seite. Unsere Bitten werden auf taube Ohren stoßen. Vermutlich wird man uns mit Gewalt verschleppen.«

»Trotzdem müssen wir jetzt etwas unternehmen«, beharrte ich. »Stillschweigen würde bedeuten, dass wir uns einverstanden erklären.«

»Ganz deiner Ansicht, Mary«, antwortete Georgy. »Allerdings wäre eine indirekte Vorgehensweise vermutlich wirkungsvoller.«

Inzwischen stieß der Wachmann zwei kleine Jungen und ein nur wenige Jahre älteres Mädchen in Richtung der Bühne. Das Mädchen stand hoch aufgerichtet und gesittet da und ließ einen argwöhnischen Blick über die Anwesenden schweifen. Sie hatte die Arme um die beiden Jungen gelegt. Ihr Haar war unter dem gleichen weißen Tuch verborgen, wie es auch die älteren Frauen trugen. Die Jungen starrten in die Menschenmenge. Sie waren zu jung, um die Todesangst in ihren Augen zu verbergen.

Der Auktionator streckte den Arm mit ausgebreiteter Hand aus, um sie anzupreisen. »Zwei Jungen: Scipio, zehn Jahre, Clarence, zwölf. Und ein Mädchen, Sukey, vierzehn. Das Mädchen ist gut im Haushalt und sauber. Die Jungen eignen sich großartig für die Feldarbeit.«

Drinnen, gleich neben dem Tor, stand eine Frau mit einem Kleinkind im Arm. Ein zweites klammerte sich an ihren Rock. Die Frau hielt den Kopf gesenkt und schluchzte in ihre Handfläche.

»Kennen Sie diese Kinder?«, erkundigte sich Mutter leise bei ihr.

Die Frau wischte sich die Augen ab, warf einen verstohlenen Blick auf die Bühne und drehte sich dann zu Mutter um. »Das sind alles meine Kinder«, antwortete sie im Flüsterton. »Das da auf der Bühne, das sind alles meine.«

Mutter zog ihr Umschlagtuch enger um sich. »Gütiger Himmel.«

»Das sind meine beiden Jungs und mein Mädchen, Sukey. Sie ist nicht mein eigen Fleisch und Blut, aber ich habe sie großgezogen. Ein braves Mädchen. Die Jungs haben sie sehr, sehr lieb.«

Die Frau drückte das Kleinkind fester an sich und schaute sich um.

»Keine Angst, Sie können offen mit uns sprechen, Ma’am«, flüsterte Mutter.

»Dass die ein paar von meinen Kindern verkaufen, war zu erwarten. Doch meine beiden Kleinen hier, die will ich behalten. Sie sind noch so hilflos und brauchen ihre Ma.«

»Und Ihr Mann?«, fragte ich.

»Verkauft. Schon vor Monaten.«

»Wohin?«, erkundigte sich meine Mutter.

»Ich weiß nicht, Missis. Es ist schwer, wenn einem die bessere Hälfte weggenommen wird. Aber was soll ich tun? Es bricht mir einfach nur das Herz.«

Inzwischen wurden Sukey und die Jungen auf der Bühne von Kauflustigen umringt.

»Sie soll das Kleid ausziehen«, rief ein Mann.

»Sie hätten sie sich vorhin gründlich ansehen können«, entgegnete der Auktionator. »Sie kennen die Regeln.«

Dann zerrte er dem Mädchen das Kleid an der Schulter herunter und packte es am Kinn. »Lächeln, Kleine.«

Sukey zwang sich zu einem Lächeln.

»Und schauen Sie sich diese Grübchen an. Die wird noch mal ein Prachtstück.«

Als der Auktionator den Saum ihres Kleides lüpfte, um Knöchel und Beine vorzuzeigen, riss Sukey ihm den Stoff aus der Hand.

»Was ist denn mit ihren Augen los?«, rief einer der Umstehenden.

»Die hat nur geheult, mehr nicht«, antwortete der Auktionator. »Sonst ist mit ihr alles in Ordnung.«

»Verkaufen Sie das Mädchen einzeln«, sagte ein Mann. »Ich biete sechshundert.«

»Verkauft …«, verkündete der Auktionator.

Sukeys Brüder schlangen die Arme um ihre Taille. Als der Auktionator sie gewaltsam wegzerrte, fingen die Jungen zu weinen an und schlugen mit den Fäusten nach ihm.

Durch die Gitterstäbe steckte Georgy der Frau Mutters Visitenkarte zu, unter der sie eine Goldmünze im Wert von zwanzig Dollar versteckt hatte. Auf der Münze war die Freiheitsstatue zu sehen. »Schnell. Nehmen Sie.«

»Oh, nein, Miss.«

Georgy schob die Karte den Gitterstab hinunter zur Hand der Frau. »Hier, niemand wird etwas bemerken. Es ist nicht viel, aber mehr haben wir im Moment nicht bei uns. Falls Sie es bis nach New York schaffen, kommen Sie zu dieser Adresse. Dort wird man Ihnen helfen.«

Die Frau blickte sich um und verstaute dann Karte und Münze tief in der Tasche ihrer Schürze. »Danke, Missis. Sehr gütig von Ihnen. Ich verstecke es gut.«

Der Wachmann erschien und stieß die Frau, das Kind in den Armen, und ihren kleinen Sohn zum Auktionsblock.

Sie drehte sich noch einmal um. »Ich heiße Alice«, rief sie, während der Mann sie ungeduldig die Stufen hinaufschubste.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie je frei und in der Lage sein wird, zum Brevoort Place zu kommen«, sagte Mutter.

Ich wandte mich wieder der Bühne zu. »Es ist besser als nichts.«

Langsam stieg Alice mit ihren beiden Kindern die Stufen hinauf und zog sie an sich. Der Auktionator spulte seine üblichen Sprüche herunter und nannte Einzelpreise für sie und ihre Kinder. Der Zuschlag erfolgte rasch.

»Verkauft!«, rief der Auktionator. »Einhundert Dollar für James und Baby Anthony. Neunhundert für Alice.«

Alice fiel vor dem Auktionator auf die Knie und flehte ihn an, ihre Kinder behalten zu dürfen.

In finsterer Entschlossenheit machte Mutter kehrt und marschierte über die Chalmers Street zurück zu unserem Hotel. Als wir ihr folgten, lastete das Elend dieser verkauften Menschen schwer auf unserer Seele. Alices verzweifelte Schreie gellten uns in den Ohren und zeugten von schier unermesslichem Leid.

Diesen Gesichtsausdruck kannte ich bei Mutter. Es war genau wie damals, als Vater gestorben war und sie mit acht minderjährigen Kindern zurückblieb. Und auch, als wir geweint hatten, weil sie uns in das fremde New York verpflanzte.

Wir werden etwas gegen dieses Grauen tun, sagte dieser Blick. Und wenn es uns das Leben kostet.

Kapitel 2

GEORGY

Brevoort Place, New York City

April 1861

Onkel Edward setzte mich am New York Hospital ab, einem gewaltigen Gebäude, das an eine steingewordene Hochzeitstorte erinnerte. Es war ein Hort der Ruhe nach einer Kutschfahrt über den von Passanten und Fahrzeugen wimmelnden Broadway. Die Straße war schwarz von Menschen, allesamt in heller Aufregung wegen des vermutlich bevorstehenden Krieges.

Vor nur wenigen Stunden hatte der Tag begonnen wie jeder andere. Es war Frühstückszeit, und ich stand im Esszimmer unseres Hauses, Brevoort Place acht, einem vierstöckigen Stadthaus mit Backsteinfassade in Manhattans East Side, während meine Schwester Jane den aufgetrennten Saum meines Kleides in Ordnung brachte. Es war nagelneu und schlicht und bestand aus schwarzer, mit weißen Kanten abgesetzter Seide.

Mutter saß am Tisch auf dem Platz, der dem Kaminfeuer am nächsten war. Sie trug ein Hauskleid und gab Margaret, einem unserer beiden Dienstmädchen, ausstaffiert mit weißem Häubchen und Schürze, Anweisungen, wo sie die warmen Speisen abstellen sollte. An diesem Morgen waren nur drei meiner sechs Schwestern, Abby, Jane und Carry, anwesend. Mary und Hatty befanden sich auf Reisen, und Eliza hielt sich in ihrem Landhaus auf.

Abby, die älteste, saß neben Mutter und beugte sich über ihre Korrespondenz.

Jane, die zweite im Bunde, kauerte mir zu Füßen und befasste sich mit meinem aufgetrennten Saum. Neben ihr auf dem Teppich stand, die perlmuttfarbenen Abteile aufgefächert wie Blütenblätter, ihr schwarzes Nähkästchen. Es ähnelte eher einem mit Nadeln und Garnen bestückten Operationsbesteck. Allein weißer Faden war in zehn Schattierungen vorhanden.

Ich strich ihr das rotblonde Haar glatt, das ihr in Wellen über die Schultern fiel und mich stets an die Venus von Botticelli denken ließ. »Beeil dich, Jane.«

Sie zupfte an meinem Rock. »Halt still, Georgy, sonst steche ich dich noch blutig.«

Carry, mit zweiundzwanzig Jahren unser Nesthäkchen, saß auf Mutters anderer Seite und fütterte Pico, den kleinen weißen Mischlingshund, mit Stückchen von ihrem Schmalzgebäck.

»Frank Bacon wird das Kleid gefallen«, stellte sie nun fest.

Ich wischte mir einen eingebildeten Fussel vom Rock. »Frank Bacon kann mir mal den Buckel runterrutschen.«

Abby blickte von ihrem Brief auf. »Du verschmähst einen Verehrer, an dem überhaupt nichts auszusetzen ist, während andere froh wären, wenn sie einen hätten.«

»Dann heirate du ihn doch.«

Als Abby errötete, bereute ich meine Bemerkung sofort. Mit dreiunddreißig Jahren hatte Abigail es schon vor langer Zeit aufgegeben, auf den Heiratsantrag unseres lieben Cousins Theodore Winthrop zu warten. Und Jane hatte mit einunddreißig ebenfalls keine Aussichten mehr: Ihre Verehrer hatten sich alle anderweitig verheiratet oder waren, in Vorbereitung auf den Krieg, zum Militär gegangen oder nach Europa entschwunden. Deshalb gingen alle davon aus, dass Abby und Jane wohl ledig bleiben würden.

»Er wird sich nicht ewig ins Zeug legen«, murmelte Abby.

»Mit seinem kurz geschorenen Bärtchen sieht er aus wie ein italienischer König«, entgegnete ich.

Als im vorderen Teil des Hauses das Schellen der Türglocke ertönte, hastete unsere brave Margaret mit flatternden Haubenbändern los, um aufzumachen. Die Aussicht auf einen morgendlichen Eindringling in unserem heiligen Refugium ließ uns stocksteif wie aufgeschreckte Rehe verharren.

»Um diese Zeit?«, entsetzte sich Mutter.

Kurz darauf kam Onkel Edward, die gefaltete New York Tribune in der Hand, hereingestürmt. Der Onkel war uns stets willkommen und ein sehr angenehmer Mensch, den alle, die ihn kannten, über den grünen Klee lobten. Ein Hang zur Eitelkeit und ein loses Mundwerk waren seine einzigen Laster. Mit seiner stattlichen Erscheinung war er Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, und in seinen aufrichtig dreinblickenden blauen Auen malten sich Güte und Zuneigung. Er kleidete sich sogar wie Vater. Seine Gehröcke stammten von einem guten Schneider, die Hosenbeine saßen ausgezeichnet und betonten seine wohlgerundeten Waden.

Mutter nickte ihm zu. »Oh, Edward, du bist es. Setz dich.«

»Ich bin unterwegs in den Club und kann nicht lange bleiben. Was für Neuigkeiten! Draußen ist der Teufel los. Wie könnt ihr alle so ruhig sein?«

»Trink ein Tässchen Tee. Jane hat Zucker aufgetrieben, der in Haiti frei von den Grauen der Sklaverei geerntet wurde.«

»Ihr müsst es doch schon gehört haben«, wunderte er sich und blickte uns nacheinander an.

Carry beugte sich zu ihm hinüber. Ihr Haarband baumelte dicht über den mit Sirup bestrichenen Waffeln auf ihrem Teller. »Was gehört, Onkel?«

»Ich weiß, dass ihr die Ereignisse in South Carolina aufmerksam verfolgt habt …«

»Ja«, antwortete Abby.

»Nachrichten aus Charleston lassen nur noch wenig Zweifel daran aufkommen …«

»Bitte, Onkel«, unterbrach Abby.

»… dass Fort Sumter unter Beschuss genommen wurde.«

Carry sprang auf, als hätte sie etwas gestochen. »Wir haben Krieg!«

»Die Konföderierten haben um halb fünf, also noch vor Sonnenaufgang, den ersten Schuss auf die Flagge unseres Landes abgegeben. Major Anderson zieht sich von der Insel zurück. Die Bürger von Charleston standen jubelnd auf den Dächern.«

Jane schnitt den Faden ab und warf die kleine Schere mit einem Scheppern ins Nähkästchen. »Also tritt der Süden tatsächlich aus. Es ist ein Trauerspiel.«

»Welche Staaten wollen bei der Union bleiben?«, erkundigte sich Mutter.

»Alle Nordstaaten haben an Präsident Lincoln telegrafiert und ihm Geld und Soldaten in Aussicht gestellt. Maryland und Kentucky müssen sich noch bekennen.«

Mutter stand auf. »Margaret, holen Sie den Mahagonitisch aus meinem Zimmer. Und die Mullpresse. Wir werden bald großen Bedarf an Verbandsmaterial haben.«

Onkel Edward steuerte auf den hinteren Flur zu, wo eine Treppe zu den Schlafzimmern hinaufführte. »Wo ist dein Sohn? Liegt er um diese Zeit etwa noch im Bett?«

Mutter stellte sich ihm in den Weg. »Was willst du von Charley?«

»Nun, vielleicht möchte er sich ja freiwillig melden. Am Broadway wurde bereits eine Rekrutierungsstelle eingerichtet. Die Winthrop-Brüder sind ganz sicher dabei.«

»Seine Cousins sind erwachsene Männer, Edward. Charley ist erst einundzwanzig. Willst du den einzigen Sohn deines armen verstorbenen Bruders in den Tod treiben?«

Als Onkel Edward die Zeitung auf den Tisch warf, griff Carry rasch danach. »Die ganze Woche werben sie schon Krankenschwestern für den Kriegsfall an. Man kann sich heute Vormittag im Krankenhaus vorstellen.«

»An einem Sonntag? So etwas habe ich ja noch nie …«

»Wir haben Krieg, Mutter«, wandte Abby ein.

Ich trat einen Schritt auf Onkel Edward zu. »Ich melde mich.«

Abby ließ ihren Füllhalter fallen. »Gütiger Himmel, Georgy. Du willst Krankenschwester werden? Zu dieser Arbeit werden normalerweise weibliche Strafgefangene verpflichtet. Zehn Tage Gefängnis, und danach geht es ab zum Dienst im Bellevue.«

»Jetzt ist es anders«, entgegnete ich. »Dr. Elizabeth Blackwell ist an der Sache beteiligt. Die ganze Woche schon stehen Annoncen in der Zeitung. Sie will eine Brigade ausgebildeter Krankenschwestern aufstellen.«

»So ein Unsinn«, höhnte Jane.

Ich nahm meine Handschuhe vom Kaminsims und versuchte dabei, den Fächer mit dem Elfenbeingriff nicht anzusehen. Ausgebreitet wie das Rad eines Pfaus ruhte er in dem Glassturz, den Mutter dafür hatte anfertigen lassen. Der Dank an Vater und mich für unsere Geistesgegenwart damals am Strand.

Ich wandte mich an Carry. »Es geht alles mit rechten Dingen zu. Ein Ausschuss aus angesehenen Ärzten führt die Aufsicht. Außerdem: Wer von euch will mich aufhalten? Ihr seid ja alle noch nicht richtig angezogen.«

Onkel Edward berührte mich am Unterarm. »Georgy, das ist kein Zeitvertreib für kultivierte junge Damen. Ungehobelten Soldaten die Bettpfanne zu reichen …«

»Es ist mir schnurzpiepegal, wie kultiviert ich bin, Onkel.«

Abby sah Mutter an. »Sie wird sich irgendetwas Grässliches einfangen.«

»Ich bin achtundzwanzig und kann auf mich selbst aufpassen, vielen Dank auch. Außerdem arbeitet Eliza oben in Fishkill ebenfalls als Krankenschwester.«

Mutter eilte zu mir herüber und strich mir mit der Hand über den Rücken. »Eliza verbindet die Dorfbewohner und verteilt Medizin. Das hier ist ein Krieg, Georgy, mein Kind. Wäre es da nicht besser, wenn wir alle zusammenblieben?«

Ich versuchte, Mutters von Sorge gezeichnetes Gesicht nicht anzusehen. Immer wieder gelang es ihr, mich mit Güte und Binsenweisheiten um den Finger zu wickeln. Jane Eliza Woolsey war eine ernst zu nehmende Gegnerin, und Einfühlsamkeit und Anmut waren ihre schärfsten Waffen. »Es gibt viele Mittel und Wege, von zu Hause aus etwas zur Sache beizutragen.«

Ich ließ zwei Finger über ihre gepuderte Wange gleiten. Wie sollte ich ihr klarmachen, dass ich hier, so weit ab vom Geschehen, den Verstand verlieren würde? Eingesperrt in diesem lieben alten Haus, das von Erinnerungen an Vater nur so strotzte, während der Rest der Welt in den Krieg zog?

»Ich weigere mich, die Hände in den Schoß zu legen, Mutter.«

Carry hielt die Zeitung hoch. »Hier ist eine ganze Liste von Voraussetzungen abgedruckt, die eine Krankenschwester mitbringen muss, und du hast keine einzige davon vorzuweisen.«

Ich setzte die Haube mit der Borte aus rosafarbenen Rosenknospen auf und band sie unter dem Kinn zu.

Unterdessen las Carry aus der Zeitung vor: »›Um sich das begehrte Blue Ticket zu verdienen, müssen die Kandidatinnen bereit sein, sich strengen Regeln zu unterwerfen …‹«

Abby lachte auf. »Das könnte schwierig werden für jemanden, der bei Vater nur sein Wildfang hieß.«

»… außerdem besteht die Pflicht zum Tragen einer sehr schlichten, vorschriftsgemäßen Schwesterntracht.‹«

»Deine französische Haube musst du unbedingt zum Vorstellungsgespräch vor dem Ausschuss aufsetzen«, spottete Jane. »Sie werden dich bestimmt vom Fleck weg nehmen.«

»Geh nicht, mein Kind«, sagte Mutter. Sie nestelte an dem goldenen Medaillon, das sie an einer Kette um den Hals trug. Es war ihr Trauerschmuck, den sie für Vater angelegt hatte. In den Deckel war eine mit Steinen besetzte Spinne eingelassen. »Denk nur daran, wie sich die, die losgezogen sind, über den Kriegsdienst freuen werden, den wir hier zu Hause leisten.«

»Mir wird nichts passieren, Mutter.«

»Du kannst doch nicht allein und zu Fuß zum Krankenhaus gehen«, wandte Abby ein.

Ich trat zur Tür. »Da ich Onkel Edwards Lieblingsnichte bin, setzt er mich bestimmt auf dem Weg zum Club dort ab, oder, Onkel?«

Onkel Edward starrte zu Boden und nickte kaum merklich mit dem Kopf.

»Vater hätte das nicht gewollt«, verkündete Carry.

Vater. Ich wirbelte zu ihr herum. »Woher willst du wissen, was Vater gewollt hätte, Carry? Als er starb, warst du noch ein Säugling.«

Carry betrachtete ihren Teller, und ich sah eine Träne glitzern. Wieder war ich zu weit gegangen.

Ich ging hastig zur Tür.

Abby schob ihren Stuhl zurück und stand auf. »Jede Florence Nightingale in New York wird dort sein, um sich zu bewerben. Es gibt nur eine kleine Anzahl an Plätzen.«

»Hundert, um genau zu sein. Und weil es noch so früh ist, bin ich bestimmt eine der Ersten in der Schlange.«

Onkel Edward und ich gingen den Flur hinunter und am Salon vorbei zur Haustür.

»Und man muss über dreißig sein!«, rief Carry mir nach. »Außerdem nicht hübsch. Du bist auf gar keinen Fall hässlich genug.«

Als ich in die von marmornen Säulen gestützte Eingangshalle des Krankenhauses kam, hatte sich bereits eine große Anzahl Frühaufsteherinnen eingefunden. Frauen aus allen gesellschaftlichen Schichten drängten sich in dem kalten Raum zusammen. Einige Glückspilze hatten einen Platz auf den Bänken aus Eichenholz ergattert, doch die meisten mussten stehen. Manche der Wartenden hatten ein oder zwei Kinder im Schlepptau. Eine Frau in einem langen grauen Umhang, deren teigiges Mondgesicht dem von Mary Todd Lincoln bemerkenswert ähnelte, verteilte Bewerbungsformulare und Bleistifte.

»Bitte ordentlich anstellen, meine Damen«, übertönte sie das Stimmengewirr. Beim Sprechen trat ihr eine kleine weiße Dampfwolke über die Lippen.

»Warum zündet hier niemand ein Feuer an?«, erkundigte ich mich.

»Für männliche Bewerber würde man das sicher tun.« Sie reichte mir ein zweiseitiges Formular und einen Bleistiftstummel. »Wenn Sie das rasch ausfüllen, werden Sie vielleicht sofort drangenommen. Eine Bewerberin ist gerade ausgeschieden. Sie hatte schreckliches Lampenfieber, weil sie solche Angst vor der Befragung durch das Ärztegremium hatte. Die Arme. Warten Sie in diesem Flur dort, bis Sie vor den Ausschuss gerufen werden.«

Ich warf einen Blick auf die Formulare. »Hier steht ›mit Tinte ausfüllen‹.«

Sie zuckte die Achseln. »Bis jetzt hat sich der Ausschuss nicht beschwert, und das, obwohl sie heute schon mit fünfzig Bewerberinnen gesprochen haben. Dreiundzwanzig wurden genommen.«

Ich trug meinen Namen und meine Adresse ein. Brevoort Place, New York City. Gewiss würde die prestigeträchtige Adresse unweit des berühmten Brevoort Hotels Eindruck auf die Ausschussmitglieder machen. Beim nächsten Punkt hielt ich inne, der Bleistift schwebte über der Zeile. Alter. Natürlich war ich viel zu jung, um zwei Jahre sogar. Was, wenn ich es mit der Wahrheit nicht so genau nahm und einfach »30« schrieb? Ich ließ die Frage unbeantwortet.

Die Frau beugte sich näher zu mir. »Verraten Sie niemanden, dass Sie das von mir haben, aber die suchen Oberschwestern, Matronen, die nicht mit modischem Firlefanz und einem reizenden Lächeln die Patienten verrückt machen.« Sie bedachte meine Halskette mit einem vielsagenden Blick. »Die letzte Dame trug Ohrringe. Sie konnte gar nicht so schnell schauen, wie sie wieder draußen war.«

»Das ist ein Familienerbstück. Ich trage es täglich. Das Risiko gehe ich ein.«

»Und was ist mit der Haube? Ich möchte Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber diese Blümchen …«

Während ich in Richtung Sitzungssaal hastete, riss ich mir die zarten französischen Rosenknospen von der Haube und verstecke sie in meinem Ärmel.

Nachdem ich eine schiere Ewigkeit auf dem Flur gewartet hatte, wurde mein Name aufgerufen. Ich trat ein und stand vor dem Ausschuss. Es waren fünf Männer, die meisten mit schlohweißem Haar. Sie trugen schwarze Anzüge und saßen kerzengerade hinter zwei zusammengeschobenen Tischen aus Eichenholz. Jeder hatte ein zusammengeknicktes Stück Papier mit seinem Namen darauf vor sich stehen.

Ich gab Dr. Harris meine Bewerbung.

»Guten Tag, Miss … Woolsey, richtig? Würden Sie uns Ihren vollen Namen nennen?«

»Georgeanna Muirson Woolsey.«

»Und warum, Miss Woolsey, möchten Sie sich der Women’s Central Association of Relief anschließen?«

»Ich will den gleichen Beitrag leisten wie ein Soldat, Sir.«

Zwei Ärzte ganz rechts von mir wechselten einen Blick.

»Das könnte sich als unmöglich erweisen, Miss Woolsey«, erwiderte Dr. Harris. »Denn schließlich werden Sie nicht auf dem Schlachtfeld eingesetzt.«

»Ich wüsste nicht, was dagegenspräche, Sir. Mir erscheint es ungerecht, dass diese Männer ihr Leben riskieren, während ich zu Hause sitze.«

»Erzählen Sie uns mehr über sich, Miss Woolsey.«

»Wenn Sie mir sagen, was genau Sie wissen möchten.«

Zwei Ärzte studierten etwas, das aussah wie die Speisekarte eines Restaurants. Ein dritter reinigte seine Pfeife und klopfte sich mit dem Pfeifenkopf auf die Handfläche.

»Nun, würden Sie sich als gewissenhaft bezeichnen?«, fragte Dr. Harrison.

»Ja, Herr Doktor.«

»Woran machen Sie das fest, Miss Woolsey?«

»Zum Beispiel würde ich von Bewerbern nicht verlangen, ein Formular wie dieses mit Tinte auszufüllen, und ihnen dann nur einen Bleistift zur Verfügung stellen.« Die Ärzte rutschten auf ihren Stühlen herum. »Oder die Vorhalle nicht beheizen, obwohl Frauen und Kinder dort warten, manche von ihnen stundenlang.«

Dr. Compton verschränkte die Finger und beugte sich vor. Er schien jünger als die anderen zu sein, hatte eine hohe Stirn und trug einen gequälten Gesichtsausdruck zur Schau. »Eine unbeheizte Vorhalle ist nichts verglichen mit den unerfreulichen Bedingungen, unter denen Sie Ihre Arbeit werden tun müssen, Miss Woolsey.«

»Nur Märtyrer erdulden Leid, obwohl es einfache Lösungen für ein Problem gäbe, Dr. Compton. Und ich sehe es als meine Aufgabe, Probleme zu lösen.«

Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Sie und die anderen Schwestern alles mit ihren Reifröcken umwerfen, Männer mit Durchfall nach Lust und Laune Orangen essen lassen und die Chirurgen in den Wahnsinn treiben.«

»Ich trage keine Reifröcke, Dr. Compton.«

»Und wie sieht es mit Ihrer Schulbildung aus, Miss Woolsey?«, erkundigte sich Dr. Harris.

»Als Kind habe ich Miss Murdocks Schule in Boston besucht. Anschließend war ich auf dem Rutgers Female Institute hier in Manhattan. Und meinen Abschluss habe ich am Misses Annable’s Young Ladies’ Seminary in Philadelphia gemacht. Danach habe ich mit meiner jüngeren Schwester Eliza Indien und Ägypten bereist.«

»Ach, eine Kavaliersreise sozusagen?«, hakte Dr. Harris nach.

»Männer tun das schon seit Jahrhunderten. In meiner Familie erweitern auch Frauen ihren Horizont.«

»Ihre Schulnoten?«, wollte Dr. Compton wissen.

»Recht gut, Dr. Compton. Am Tag meiner Abschlussfeier meinte unser Lehrer Mr. Holan im Scherz zu Mutter, dass das Direktorium wegen der vielen Auszeichnungen bald in finanzielle Nöte geraten würde, wenn sie ihre Töchter nicht bald aus der Schule nähme.«

Einige Ärzte lachten bei diesen Worten leise auf.

»Sprachen?«, fragte Dr. Harris.

»Deutsch, Französisch, Latein und Italienisch. Ich lerne schnell, und die Vorstellung, eine Lehrerin wie Dr. Elizabeth Blackwell zu bekommen, ist außerordentlich beflügelnd, Sir. Die erste Frau in diesem Land, die ein Medizinstudium abgeschlossen hat. Es wäre eine gewaltige Ehre, mich auch nur im selben Raum aufzuhalten wie sie. Ich habe bereits mit dem Gedanken gespielt, selbst eine Schwesternschule zu eröffnen …«

Dr. Compton beugte sich vor. »Eine Schule für Krankenschwestern?«

»Ist das denn eine so abwegige Idee?«

»Und was ist mit unseren tüchtigen Krankenpflegern? Sollen die etwa nach Hause gehen und stricken?«

»Das bleibt ihnen selbst überlassen, Dr. Compton. Vielleicht sollten sie sich ihren kämpfenden Brüdern anschließen.«

»Sind Sie mit Hauspersonal aufgewachsen?«, erkundigte sich Dr. Harris.

»Da wären Kate, die Köchin, Margaret, das Hausmädchen, der treue William in der Speisekammer …«

Dr. Compton rückte seine Manschetten zurecht. »Müssen wir uns jetzt Ihre ganze Personalliste anhören?«

»Ja, Mutter beschäftigt Hausangestellte. Aber es wurde immer von mir erwartet, dass ich im Haushalt helfe.«

Dr. Harris blätterte in seinen Papieren. »Die Krankenpflege ist Schwerstarbeit, insbesondere für jemanden, der Widrigkeiten nicht gewöhnt und, nun ja, privilegiert aufgewachsen ist. Sind Sie nah am Wasser gebaut?«

»Ich weine nicht, Herr Doktor. Genau genommen weine ich eigentlich nie.«

Dr. Benson zog die Augenbraue hoch.

»Wir brauchen Frauen, die nichts gegen schlichte Kleidung einzuwenden haben«, fuhr Dr. Compton fort. »Wie Sie sicher wissen, ist es Krankenschwestern nicht gestattet, Schmuck jedweder Art zu tragen.«

Ich warf einen Blick auf das Mieder meines Kleides, wo Vaters Uhrkette aus Messing hing, die ich als Halskette benutzte. »Die hier habe ich ständig um, sie ist schon ein Teil von mir geworden.«

Dr. Harris schichtete meine Bewerbungsunterlagen zu einem Stoß zusammen und klopfte damit auf den Tisch. »Ich fürchte, dann sind wir hier fertig, Miss Woolsey.«

Ich berührte die Uhrkette. »Natürlich werde ich sie ablegen, während ich Patienten versorge, Gentlemen. Die Uhrkette gehörte meinem Vater. Seit seinem Tod trage ich sie jeden Tag. Als es geschah, war ich noch sehr jung. Damals lebten wir in Boston. Er starb auf See, an Bord des Dampfers Lexington auf der Überfahrt von New York nach Hause.«

Dr. Harris legte den Füllhalter weg.

»Es war eine bitterkalte Nacht, das Thermometer zeigte Minusgrade an, und der Long Island Sound war voller Treibeis. Als zwischen den Baumwollballen im Frachtraum Feuer ausbrach, wurde Alarm gegeben. Von der Besatzung und den Passagieren haben nur vier überlebt. Mein Vater gehörte nicht dazu.«

Der Arzt am Ende des Tisches beugte sich vor. »Unser tief empfundenes Mitgefühl, Miss Woolsey.«

»Die Messingbuchstaben hier an der Kette stehen für die sieben Töchter, die er hinterließ. Meine Schwestern und mich. Mein Bruder Charles wurde wenig später geboren.«

Dr. Harris nahm die Brille ab. »Ihr Vater starb also, ohne zu wissen, dass er einen Sohn hatte.«

»Dass das Ergebnis kein privilegiertes Dasein ist, kann ich Ihnen versichern, Herr Doktor. Seit seinem Tod mühe ich mich Tag und Nacht ab, um meiner Mutter einen Teil der Haushaltspflichten abzunehmen und ihr das Leben zu erleichtern.«

Dr. Harris schwieg einen Moment. »Was hält Ihre Familie davon, dass Sie diesen Berufsweg einschlagen wollen?«

»Sie sind absolut dagegen. Allerdings hat mich das noch nie von etwas abhalten können. Nein, nichts wird mich daran hindern, mich mit Leib und Seele für mein Land einzusetzen, Sir. Wenn nötig, würde ich sogar mein Leben opfern, damit es von der Geißel der Sklaverei befreit wird. Ich glaube, mein Vater würde das begrüßen.«

Die Ärzte saßen reglos da. Schließlich ergriff Dr. Harris das Wort. »Miss Woolsey, ich muss Sie bitten, uns einen Moment allein zu lassen, damit wir uns beratschlagen können.«

Ich trat auf den Flur hinaus, wo ich mich an die Wand aus altem Stein lehnte und meine Antworten noch einmal Revue passieren ließ. Dr. Compton würde ganz sicher gegen mich stimmen. Als ich die Augen schloss, hatte ich Abbys selbstzufriedenes Grinsen vor Augen, wenn ich ohne mein Blue Ticket nach Hause kam.

Nach langer Zeit rief Dr. Harris mich zurück in den Sitzungssaal.

»Miss Woolsey, hatten Sie die Masern?«

»Ja, Herr Doktor.«

Er gab mir mein Bewerbungsformular zurück. »Dann ist es mir eine Ehre, Miss Georgeanna Muirson Woolsey, Ihnen im Namen von Dr. Elizabeth Blackwell und diesem Ausschuss einen Platz im ersten Lehrgang der Women’s Central Association of Relief zur Ausbildung von Krankenschwestern für die Armee anbieten zu können. Sie haben uns beinahe einstimmig mit Ihrer Charakterfestigkeit und Ihrer Entschlossenheit überzeugt, und wir sind der Ansicht, dass Sie ein Gewinn für unsere Organisation sein werden. Möge Gott Sie beschützen.«

»Danke, Gentlemen.« Ich nahm das Formular und verabschiedete mich rasch, ehe sie es sich vielleicht noch anders überlegten. Als ich durch die Vorhalle hastete, stieß ich immer wieder mit den zahlreichen kommenden oder gehenden Frauen zusammen. Nachdem ich ein stilles Eckchen gefunden hatte, entfaltete ich das Formular, auf dem Dr. Harris’ markante Unterschrift prangte. Ganz oben war das berühmte Blue Ticket angeheftet, das die Aufschrift Schülerin Nummer 24 trug.

Als ich es wieder zusammenfalten wollte, bemerkte ich, dass die Spalte mit der Altersangabe noch immer leer war. Endlich gestattete ich mir ein Lächeln.

Danach begann der Ernst des Lebens. Jeden Morgen um fünf sprang ich aus dem Bett und trat im New York Hospital an, wo auf zwei Wochen theoretischen Unterricht ein zehntägiges Praktikum bei Dr. Blackwell und ihren Kollegen folgte. In den Schulstunden hing ich an Dr. Blackwells Lippen, während sie uns berichtete, was für ein Kampf es gewesen sei, überhaupt Medizin studieren zu dürfen. Sie schilderte uns außerdem in allen schmerzhaften Details, wie sie bei der Behandlung eines Kleinkindes in einem Pariser Krankenhaus auf einem Auge erblindet war.

»Lernen Sie aus meinem Fehler«, verkündete sie. »Und richten Sie Ihre äußerste Aufmerksamkeit auf die hygienischen Bedürfnisse der Patienten.«

Ich hatte Freude daran, Verbandstechniken, alles über die Arbeit auf der Station und die verschiedenen Medikamente zu lernen. Dr. Blackwell stand vor uns einhundert Schwesternschülerinnen in einem kleinen Unterrichtsraum, der wie ein Amphitheater gebaut war. Das dunkle Haar hatte sie in einem weißen Haarnetz zusammengefasst. Sie war eine leidenschaftliche Rednerin und hatte, so wie ich, ihren Vater schon in jungen Jahren verloren. Außerdem lehnte sie die Sklaverei aufs Entschiedenste ab, weshalb ich mich ihr umso mehr verbunden fühlte.

Nach einer Unterrichtstunde stand ich mit zwei anderen Schwesternschülerinnen draußen vor dem Klassenraum.

»Sie ist wirklich eine mitreißende Lehrerin«, meinte die eine.

»Noch nie habe ich erlebt, dass sich jemand so deutlich für die Rechte der Frau ausspricht«, sagte ich. »Vielleicht hätte sie ja eines Tages Lust, an meiner Schwesternschule zu unterrichten.«

»An deiner Schwesternschule?« Die beiden lachten. »Dass Dr. Blackwell uns das Verbinden und Bettenmachen beibringt, hat doch nur mit dem Krieg zu tun«, erwiderte die eine in verschwörerischem Ton.

»Auf Dauer eine Schwesternschule für Frauen einzurichten wäre wirklich zu viel des Guten«, ergänzte die andere. »Wenn die Männer aus dem Krieg zurückkommen, werden sie es gar nicht gern sehen, dass du uns Frauen anstachelst, ihnen die Arbeit wegzunehmen.«

Als die beiden zu ihrer nächsten Stunde eilten, kam Dr. Blackwell aus dem Klassenraum und zog die Tür hinter sich zu. Sosehr ich mich auch bemühte, in ihrer Gegenwart brachte ich kaum einen Ton heraus.

»Hören Sie nicht auf die beiden Schwarzseherinnen«, sagte sie zu mir, während sie die Tür abschloss. »Sie sind den anderen haushoch überlegen. Wer Ihnen den Schneid abkaufen will, rechtfertigt damit nur seine eigene Einfallslosigkeit und wird nie etwas Großartiges leisten.«

Ich wollte antworten, doch es hatte mir die Sprache verschlagen. Die Ärztin blickte mich unverwandt an.

»Als ich beschloss, Medizin zu studieren, erklärte man mir, dass ich auf starke Vorurteile stoßen würde. Entweder müsste ich diese Vorurteile hinwegfegen, oder ich würde von ihnen hinweggefegt werden. Ihnen kann ich nur denselben Rat geben, Miss Woolsey. Haben Sie keine Angst. Bilden Sie Ihre eigene Armee von Krankenschwestern aus.«

Sie entfernte sich auf dem Flur, drehte sich aber noch einmal um: »Und ich würde mich freuen, wenn ich eines Tages an Ihrer neuen Schule unterrichten könnte.«

Dr. Blackwells Worte hallten noch in meinen Ohren, als ich einen knappen Monat später zum Krankenhaus eilte. Es war der Tag der letzten Visite, an dem sich entscheiden würde, ob ich meine Abschlussurkunde erhielt. Während ich meinen Schritt beschleunigte, erschienen plötzlich Tausende von Flaggen, große und kleine, in allen Fenstern und Türen. In der Stadt wimmelte es von aufgeregten Menschen, und die Luft war erfüllt von patriotischer Marschmusik und dem Stiefelgepolter der Regimenter.

In meiner neuen Schwesterntracht kam ich mir schrecklich wichtig vor. Allmählich hatte sich meine Familie an den Gedanken gewöhnt, dass ich Krankenschwester werden wollte, und mich bei der Beschaffung einer Ausstattung für den Dienst unterstützt. Nun trug ich einen grauen Rock mit kurzer Jacke, eine weiße Schürze und anstelle eines Reifrocks einen waschbaren Unterrock, der beim Gehen raschelte.

Meine bisherige praktische Ausbildung war eine Feuertaufe gewesen. Man hatte mich und eine andere Schwesternschülerin einfach ins kalte Wasser geworfen, indem man mir die Verantwortung für eine riesige Station übertrug. Inzwischen war es mir in Fleisch und Blut übergegangen, eine Schicht zu leiten. Einige der Schülerinnen hatten den Lehrgang abgebrochen oder waren wegen Zimperlichkeit oder Launenhaftigkeit nach Hause geschickt worden. Wir, die noch übrig waren, fühlten uns kleineren Notfällen oder einfachen Knochenbrüchen gewachsen. Auf dem Weg zum Krankenhaus schickte ich ein Stoßgebet zum Himmel, dass bitte nichts dazwischenkommen und meinen Abschluss vereiteln möge.

Gerade noch rechtzeitig fand ich den jungen Dr. Prentiss, einen unserer Lehrer, der in diesem Moment seine Visite begann. Er stand am Bett eines Patienten, der ein fahles Gesicht hatte und ein Pflaster seitlich am Hals trug.

»Für Ihren letzten Tag habe ich mir einen ganz besonders interessanten Fall ausgesucht«, empfing er mich. »Ein brandiger Hundebiss am Hals. Die Wunde nässt und sondert beträchtliche Mengen von Eiter ab. Also in etwa vergleichbar mit dem, was Sie eines Tages an der Front zu sehen kriegen werden. Wir wollen anfangen. Schwester, ein Becken«, wies er mich an.

Ich wollte beweisen, dass ich bei der Behandlung einer solchen Wunde assistieren konnte, und eilte zum Schrank.

»Sie dürfen niemals rennen, Schwester!«, rief er mir nach. »Bleiben Sie immer ruhig. Das wird Ihnen eine große Hilfe sein, wenn es auf der Station einmal hoch hergeht.«

Gemessenen Schrittes kehrte ich zurück und reichte dem Arzt das Becken. Er hielt es an den Hals des Mannes und entfernte das Pflaster, worauf ein Verwesungsgeruch aufstieg, von dem es mir beinahe den Magen umdrehte. Ich musste mich am Bettpfosten festhalten.

»Könnte jemand freundlicherweise einen Stuhl für Miss Woolsey holen?«, meinte der Arzt.

»Es ist alles in bester Ordnung, Herr Doktor«, entgegnete ich, obwohl sich der Raum um mich zu drehen schien.

»Wie Sie möchten, Miss Woolsey«, erwiderte Dr. Prentiss.

Er wandte sich wieder dem Patienten zu und begann, tief in dessen Wunde herumzustochern, worauf der Mann vor Schmerzen schrie. Ich streckte die Hand nach dem Bettpfosten aus, allerdings nicht schnell genug, denn meine Knie gaben nach, und es wurde schwarz um mich.

Kapitel 3

JEMMA

Peeler Plantation, Maryland

Mai 1861

An jenem Morgen hastete ich durch den Salon und ließ den Staubwedel über die Bilderrahmen und die Elfenbeintasten des riesigen alten Klaviers huschen, auf dem nie ein Mensch spielte. Dabei hoffte ich, dass sich der Staub lange genug in der Luft halten würde, damit Miss Anne-May bei Laune blieb und die Hochzeit stattfinden konnte. Sie tat ohnehin schon so, als wäre es ein gewaltiges Opfer, in ihrem Haus eine Hochzeit für die sechs neuen Sklaven aus South Carolina auszurichten. Wenn sie nun noch Staub auf ihrem Klavier im prächtigsten Zimmer des Hauses entdeckte, würde sie mir eine Abreibung mit dem Lederriemen verabreichen. Ganz gleich, ob heute der Tag des Herrn war.

Den Sonntag hatte ich am liebsten, denn dann durfte ich das Haus verlassen und meine Familie in der Hütte am Fuß des Hügels besuchen. Dort legte ich den Kopf auf Mas Schoß und ließ mir von ihr das Haar auskämmen. Pa hatte sich nur für mich eine lustige Geschichte aufgespart, und Sally Smith buk mir einen Brotfladen und bestrich ihn mit selbst gemachtem Quittengelee.

Deshalb kniff ich die Augen fest zu und wandte mich hilfesuchend an Jesus: »Bitte mach, dass diese Hochzeit schnell vorbei ist, damit ich Zeit habe, Ma und Pa in der Hütte zu besuchen. Und bitte mach, dass bei den Neuen ein Mädchen in meinem Alter dabei ist.«

Sweet Clementine, das letzte gleichaltrige Mädchen, war verschwunden, noch ehe ich Gelegenheit gehabt hatte, sie besser kennenzulernen. Anne-May hatte sie so übel verprügelt, dass sie in die Sümpfe lief. Als LeBaron und seine Männer von der Sklavenpatrouille, die Pattyroller, sie schließlich fanden, war sie schon seit einigen Tagen tot. Sie wurde als Warnung an uns alle hinter dem Schweinestall abgelegt. Das arme Mädchen war ganz aufgequollen und am ganzen Leibe zerbissen von dem Viehzeug, das im Sumpf herumfliegt oder kriecht. Schließlich zimmerte Pa eine seiner Holzkisten für sie, und diejenigen von uns, denen LeBaron dafür arbeitsfrei gab, trugen sie zu Grabe.

Aber wenigstens war sie jetzt frei.

Ich wartete auf Anne-May. Ich hatte ihr zwar heute Morgen beim Anziehen geholfen, doch sie wollte noch letzte Hand anlegen, was hieß, dass sie sich zur Stärkung ein Gläschen Brandy genehmigte und dabei ihren Diamantring bewunderte. Sie glaubte, dass niemand von dem Brandy wusste. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um mit dem Staubwedel über den vergoldeten, mit Schiffen bemalten Spiegel und den Kaminsims zu wischen. Die weißen, plattgesichtigen Porzellanhunde darauf sahen nicht aus wie die Hunde, die ich kannte. Und dann waren da noch die himmelblauen, mit Gold und halb nackten Damen verzierten Vasen, so wertvoll, dass Anne-May sie nie für Blumen benutzte.

Ich stand vor dem Porträt von Tante Tandy Rose. Sie hatte eine weiße Haube auf dem Kopf und schaute wie immer mit säuerlicher Miene auf mich herunter. Tandy Rose kannte ich von allen am besten, da ich ihr die Augen und vor allem die Ohren hatte ersetzen müssen, denn gegen Ende war sie ohne das Hörrohr, das Pa für sie gemacht hatte, stocktaub gewesen.

Für die meisten war sie eine anständige, gottesfürchtige Frau, der es genügte, uns Sklaven hin und wieder durch strenge Regeln zu zeigen, wo unser Platz war. Allerdings konnte sie manchmal auch wirklich gemein sein, was sie nach Kräften an Carter ausgelassen hatte, bevor sie ihn verkaufte. Auch ich hatte es gelegentlich abbekommen. Obwohl sie wegen ihres Alters rasch müde wurde, verprügelte sie mich einmal, weil ich ihre Zeitung gelesen hatte. Es tat so höllisch weh wie nichts zuvor in meinem Leben, denn sie konnte mit ihrer kleinen Peitsche ordentlich zuschlagen. Mein Rücken brannte tagelang wie der Teufel, und ich konnte nur auf dem Bauch schlafen. Allerdings hatte sie in mir den Verdacht geweckt, dass diese Zeitung etwas enthielt, das sich zu lesen lohnte.

Wir alle dankten Gott auf Knien dafür, dass sie uns nie von LeBaron auspeitschen ließ. Mit Ausnahme von denen, die versucht hatten wegzulaufen, natürlich. Er hatte hier angefangen, als ich noch klein war, und war im ganzen Umkreis dafür berüchtigt, wie brutal er neue Sklaven »einarbeitete«. Offenbar wollte Tandy Rose Schäden an ihrem »Eigentum« vermeiden.

Tandy Rose hatte Ma ganz besonders ins Herz geschlossen. Sie war der absolute Liebling der alten Dame. Ma war so hübsch, und außerdem konnte niemand Tandy Rose am Sonntag so gut zurechtmachen wie sie. Ma puderte und schminkte sie und frisierte ihr das Haar genau so, wie sie es wollte, woraufhin die anderen Damen in der Kirche sie mit Komplimenten überschütteten. Doch seit Anne-Mays Einzug hatte sich alles schlagartig geändert, denn unsere neue Herrin war schrecklich eifersüchtig auf jede Frau, die auch nur ein bisschen hübscher war als sie.

Ich fuhr mit dem Staubwedel jede Fensterscheibe hinunter. In der Ferne floss träge der Patuxent River dahin. Sein Wasser war so tiefblau wie die dunkelblaue Farbe, die man aus den hohen Indigopflanzen an seinem Ufer gewann. Wir waren mitten im Frühling. Tante Tandy Roses liebste Jahreszeit, als sie noch gelebt hatte. Damals, als wir noch Tante Tandy Rose gehörten, durfte ich jede Nacht bei Ma und Pa schlafen, und ich war Jesus dankbar dafür. Sogar nach der schlimmen Sache mit meinem kleinen Bruder Toby hatten wir wenigstens noch unsere Familie.

Die alte Sally Smith, die Köchin, wohnte bereits ihr Leben lang auf der Peeler Plantation. Sie hatte schon dort gekocht, als Ma und Pa aus Georgia ankamen, und wurde für Ma eine Art Ersatzmutter. Sie sahen sich mit ihren herzförmigen Gesichtern und den weit auseinanderstehenden, schönen Augen sogar ähnlich. Sally brachte Ma alles über die Heilpflanzen in ihrem Garten hinter dem hohen Zaun bei, den Pa neben der Hütte gebaut hatte.

Tante Tandy Rose nannte Sally ihre Kräuterhexe, und sie liebte Sallys Garten, wo Sträucher und Obstbäume wuchsen. Außerdem gab es ein kleines Feld mit Süßkartoffeln und Zwiebeln nur für uns. Sally wusste ein Mittel gegen alle Leiden, die einen Menschen so plagen konnten. Die Blätter des Pfirsichbaums halfen gegen Würmer, stinkender Teufelsdreck gegen Erkältungen und Beinwurz gegen ihren Husten und um Geister zu vertreiben. Sie pflanzte sogar Belladonna an, damit Tante Tandy Rose sich die Wangen rosig färben konnte, und außerdem Mohnblumen für ihr Opium.

Weil Sally schon viele Jahre an ihrem eisernen Herd stand und den Probierlöffel in Krebsterrine und Schildkrötensuppe tunkte, war sie nicht so mager wie wir anderen. Auf ihrem Schoß vergaß man selbst die schlimmsten Ereignisse und Sorgen des Tages, und es war, als bestünde sie selbst aus Nelken und Zucker.

Ma und Pa waren bei ihrer Hochzeit nicht ganz so alt gewesen wie ich heute. Pa fragte Tante Tandy Rose um Erlaubnis, und diese verheiratete sie an einem Montagnachmittag in der Kirche für Weiße. Nachdem ich und meine Zwillingsschwester Patience alt genug waren, brachte Tante Tandy Rose uns das Lesen bei. Dasselbe tat sie später auch beim kleinen Toby, damit wir ihr aus ihren ledergebundenen Lieblingsbüchern und aus der Bibel würden vorlesen können, wenn ihre Augen später einmal schlechter wurden.

Das Schreiben lernte ich, indem ich Sally Smiths Einkaufsliste führte und die Namen von den Dosen und Schachteln in der Speisekammer abschrieb. Sally hatte nie Lust gehabt, es zu lernen. Preston and Merrill Hefepulver war das Erste, was ich richtig schreiben konnte. Als Nächstes kam Welch’s Frauenpastillen, die Tandy Rose mit Brandy einnahm. Old Partner Kentucky Tobacco war das Kraut, das Fergus unserem eigenen Tabak vorzog. Alles in dieser Speisekammer schrie regelrecht, es sei »das Beste von der Welt«.

Tandy Rose schaute weg, wenn sie Patience und mich dabei ertappte, wie wir Bücher aus ihrer Bibliothek lasen. Mit dem Ergebnis, dass sie sich eine Standpauke von LeBaron anhören musste. Er saß auf seinem Pferd, sie auf der Veranda.

»Wenn Sie Ihren Farbigen weiter erlauben, gegen das Gesetz zu verstoßen, muss ich den Sheriff holen, Miss Tandy Rose. Sie möchten doch nicht zum Untergang unserer Kultur beitragen, oder?« Dann murmelte er etwas von wegen Niggerfreundin.

Tante Tandy Rose legte das Hörrohr weg, richtete ihre geschätzt vierzig Kilo schwere Gestalt kerzengerade auf und warf ihr Milchglas nach ihm. Es traf ihn am Rücken, worauf die Milch über den Sattel tropfte. »Sie arbeiten für mich, Mr. Caruthers. Und ich bestimme hier die Regeln. Der Sheriff wird sich hüten, mich deshalb zu belästigen.«

Tante Tandy Rose brachte mir das bei, was Ma als »weiße Manieren« bezeichnete, damit sie sich mit mir im Haus wohlfühlte, wenn ich sie bedienen musste. Sätze wie »Aber natürlich, Miss Peeler«, »Ich hole es Ihnen sofort, Ma’am« oder »Nur einen klitzekleinen Moment, Miss«. Das alles ausgesprochen mit einem zuckersüßen Lächeln und gesenktem Kopf.

Außerdem erlaubte sie mir und Patience, die Sonntagsschule zu besuchen, wo man uns Sklaven in der Heiligen Schrift unterwies. Allerdings dauerte das nur einige Tage, bevor die Schule wieder geschlossen wurde. Unsere Mitschüler waren ein paar Jungen von der Ambrosia Plantation, wohin meine Schwester momentan ausgeliehen war. Mein Beinaheverehrer Carter, der vor zwei Jahren verkauft wurde, war auch dabei gewesen. Tandy Rose hatte Pa sogar versprochen, dass wir freigelassen würden, wenn sie einmal bei Gott sei, und zeigte ihm den Brief, in dem das stand.

Doch auf unerklärliche Weise ging der Brief verloren, sobald Tante Tandy Rose auf einem Brett aus Mahagoni hier in diesem Zimmer aufgebahrt wurde. Und so gehörten wir plötzlich ihrer Nichte Miss Anne-May Wilson, die kurz vor der Hochzeit stand und das Haus und damit auch uns geerbt hatte. Der Mensch denkt, Gott lenkt. Wir werden schon einen Weg in die Freiheit finden, sagte Pa. Aber es stieß mir noch immer sauer auf, dass Tandy Rose einfach nur zu lange herumgetrödelt hatte und wir deshalb weiter das Eigentum eines anderen Menschen waren.

Die erste Veränderung, die für uns unter unserer neuen Herrin Miss Anne-May spürbar wurde, bestand darin, dass sie uns zumeist mit Nichtachtung strafte. Als Nächstes machte sie Schluss mit meinen »weißen Manieren« und befahl mir, nur noch »Jawohl, Missis« zu sagen, wenn sie mir etwas auftrug.

Kurz darauf hielten weitere Vorschriften Einzug. Sie schloss die Bibliothek ab und verkündete, Farbige hätten nicht das Recht, irgendetwas zu lesen. Da ich ihre Regeln anfangs nicht schnell genug befolgte, griff sie zu einer Lederpeitsche, so lang wie ihr Arm, oder zu ihrem anderen Lieblingsinstrument, einer Rute aus frischem Hickoryholz. Bald waren alle meine Kleider hinten zerrissen, und der Baumwollstoff klebte mir an der Haut. Den ganzen Tag bei der Arbeit fühlte ich mich, als wären hundert Bienen über mich hergefallen. In jenem ersten Monat muss ich mir schätzungsweise zehn neue Kleider genäht haben. Die alten behielt ich und bewahrte sie in meinem Stoffrestebeutel auf. Man konnte nie wissen, wozu sie noch gut waren.

Nach einer Weile jedoch lernte Anne-May aus ihren Fehlern, was hieß, dass ich mich ausziehen musste, bevor sie mich in der Speisekammer bearbeitete. Ganz gleich, was die Leute auch behaupten mögen, an das tiefe, glühende Brennen eines Peitschenhiebs gewöhnt man sich nie. Hinzu kam, dass Anne-May eine Art hatte zuzuschlagen, auf die sie ganz besonders stolz war. Dabei verausgabte sie sich so sehr, dass sie sich anschließend hinlegen musste. Natürlich nicht ohne die Striemen vorher mit Essig zu begießen, damit es ganz besonders wehtat. Mir machte es vor allem deshalb zu schaffen, weil ich so etwas vor ihrer Ankunft noch nie erlebt hatte. Und am schlimmsten war es, als ich zum ersten Mal zusehen musste, wie Ma auf den Knien lag und von ihr ausgepeitscht wurde.

Am liebsten hätte ich Anne-May vom Fleck weg umgebracht. Ich merkte Pa an, dass es ihm genauso ging.

Doch wir alle wussten, welche Strafe in Maryland einem Sklaven drohte, der jemanden tötete. In der Verfassung des Bundesstaates stand, dass dem Täter zuerst die rechte Hand abgehackt wurde. Anschließend wurde er auf die übliche Weise gehängt, dann geköpft und gevierteilt und zu guter Letzt an einem öffentlichen Platz in dem Landkreis, wo die Tat stattgefunden hatte, zur Schau gestellt.

Es gab Tage, an denen es mir das Risiko wert zu sein schien, Anne-May trotzdem umzubringen.

Als draußen Wagenräder auf dem Kies knirschten, warf ich den Staubwedel beiseite und hastete nach nebenan ins Arbeitszimmer, wo ich aus dem Fenster spähte. In diesem Moment fuhren zwei Pferdewagen vor, auf deren Ladefläche die sieben neuen Leute saßen. Alle hatten braune Haut und sahen aus wie Menschen, die sich vor dem Unbekannten fürchteten. Auf dem Kutschbock saß Aufseher Caruthers, die Zügel in der Hand. LeBaron Caruthers war wirklich ein Grund, um sich zu fürchten. Er lebte in einer verdreckten kleinen Hütte gleich neben dem Tabakschuppen, war ein bisschen dicklich und außerdem von Kopf bis Fuß schmutzig, vor allem, was seine Gedanken anging. Von seinem Platz auf dem Kutschbock aus bemerkte er mich hinter dem Fenster und richtete seine Schweinsäuglein auf mich. Aber ich schaute weg.

Rasch griff ich zum Notizbuch, denn Miss Anne-May hatte mir befohlen, jeden der Neuankömmlinge für sie zu beschreiben. Und wenn meine Schilderung nicht fehlerfrei war, würde ich es büßen, so viel stand fest. Obwohl sie uns das Lesen verbot, musste ich alles für sie aufschreiben, weil sie selbst nicht gut mit einem Stift umgehen konnte. Meine heutige Aufgabe bestand darin, die bisherigen Namen der Neuen zu notieren. Außerdem die Namen, die Miss Anne-May ihnen geben würde (welche, die ihr besser gefielen), ihr geschätztes Alter, wen sie heiraten würden und zu guter Letzt ein »Merkmal, um sie wiederzuerkennen«. Drei von ihnen würden hier bei uns auf der Peeler Plantation wohnen, die anderen auf der anderen Seite des Landkreises auf Mister Watsons Rübenfarm. Die Arbeitskräfte reichten zwar noch immer bei Weitem nicht, um die Tabakernte einzubringen, aber wir hofften sehr, dass bald noch mehr kommen würden.

Ich hatte bereits Etiketten mit den neuen Namen in die Kragen der Kleider oder Hemden genäht, die ich für die Ankömmlinge angefertigt hatte. Die Größe hatte ich anhand dessen geschätzt, was ich über sie wusste. Obwohl die meisten von ihnen Feldarbeiter waren und nur Sachen aus dem schäbigsten und dünnsten weißen Stoff bekamen, hatte ich jedes Kleid und jedes weite Hemd mit Sorgfalt genäht und in Manschetten und Krägen verstärkten Filz eingearbeitet. Schließlich war es ein hartes Los, hier bei Anne-May leben zu müssen. Sie sollten wenigstens bequeme Anziehsachen haben.

»Warum dürfen sie nicht heiraten, wen sie wollen?«, fragte ich eines Tages Sally, als ich in der Küche stand und nähte. Ich stand deshalb, weil es Farbigen nicht gestattet war, sich zu setzen, wenn die Watsons zu Hause waren. Sally Smith bereitete gerade gebratenes Maisbrot mit Fleisch und Gemüse zu. Der Geruch der in Schmalz brutzelnden Zwiebeln ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Wieder ein Essen, das Anne-May sowieso verschmähen und an die Schweine verfüttern würde.

Während ich meine Frage stellte, kam Anne-May herein. Kurz brauste mir das Blut in den Ohren, als sie mit der Hand nach der Peitsche an ihrem Gürtel tastete. Doch rasch beruhigte ich mich wieder, denn ich wusste, dass sie mich nie in aller Öffentlichkeit verprügeln würde. Nicht vor den Augen der alten Sally Smith. Sallys Vorfahren lebten schon seit über hundert Jahren auf der Plantage, und sie hatte großen Einfluss auf Mister Watson. Man merkte sofort, dass er sie mochte, denn niemand verwöhnte ihn so mit seinen Lieblingsspeisen wie sie.

»Jedes Mal wenn du den Mund aufmachst, kommt eine dumme Frage heraus, Jemma«, sagte Anne-May nur. »Nicht dass ich dir eine Antwort schuldig wäre, aber so hat es meine Mama in New Orleans gehalten. Eine Hochzeit bei der Ankunft, damit wir es hinter uns haben. Herrje, ansonsten gäbe es praktisch jede Woche eine Feier, und die Arbeit würde liegen bleiben. Außerdem kostet so etwas gutes Geld, was Farbige wie du überhaupt nicht zu schätzen wissen.«

Der wahre Grund war natürlich, dass die Paare möglichst schnell viele Kinder auf die Welt bringen sollten, die Anne-May dann entweder schinden oder verkaufen konnte.