Und am Ende werden wir frei sein - Martha Hall Kelly - E-Book
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Und am Ende werden wir frei sein E-Book

Martha Hall Kelly

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Beschreibung

Inspiriert von der Geschichte einer realen Heldin, beleuchtet Martha Hall Kelly den Zweiten Weltkrieg aus einer neuen, weiblichen Perspektive.

1939: Die New Yorkerin Caroline Ferriday liebt ihr Leben. Ihre Stelle im Konsulat erfüllt sie, und ihr Herz schlägt seit Kurzem für den französischen Schauspieler Paul. Doch ihr Glück nimmt ein jähes Ende, als sie die Nachricht erreicht, dass Hitlers Armee über Europa hinwegfegt und Paul aus Angst um seine Familie nach Europa reist – mitten in die Gefahr. Auch das Leben der jungen Polin Kasia ändert sich mit einem Schlag, als deutsche Truppen in ihr Dorf einmarschieren und sie in den Widerstandskampf hineingerät. Doch in der angespannten politischen Lage kann ein falscher Schritt für sie und ihre Familie schreckliche Folgen haben. Währenddessen würde die Düsseldorferin Herta alles tun für ihren sehnlichsten Wunsch, als Ärztin zu praktizieren. Als sie ein Angebot für eine Anstellung erhält, zögert sie deshalb keinen Augenblick. Noch ahnen die drei Frauen nicht, dass sich ihre Wege an einem der dunkelsten Orte der Welt kreuzen werden und sie bald für alles kämpfen müssen, was ihnen lieb und teuer ist …

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Seitenzahl: 725

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Buch

1939: Die New Yorkerin Caroline Ferriday liebt ihr Leben. Ihre Stelle im Konsulat erfüllt sie, und ihr Herz schlägt seit Kurzem für den französischen Schauspieler Paul. Doch ihr Glück nimmt ein jähes Ende, als sie die Nachricht erreicht, dass Hitlers Armee über Europa hinwegfegt und Paul aus Angst um seine Familie nach Europa reist – mitten in die Gefahr. Auch das Leben der jungen Polin Kasia ändert sich mit einem Schlag, als deutsche Truppen in ihr Dorf einmarschieren und sie in den Widerstandskampf hineingerät. Doch in der angespannten politischen Lage kann ein falscher Schritt für sie und ihre Familie schreckliche Folgen haben. Währenddessen würde die Düsseldorferin Herta alles tun für ihren sehnlichsten Wunsch, als Ärztin zu praktizieren. Als sie ein mysteriöses Angebot für eine Anstellung erhält, zögert sie deshalb keinen Augenblick. Noch ahnen die drei Frauen nicht, dass sich ihre Wege an einem der dunkelsten Orte der Welt kreuzen werden und sie bald für alles kämpfen müssen, was ihnen lieb und teuer ist …

Autorin

Nach ihrem Journalismus-Studium war Martha Hall Kelly lange Jahre als Werbetexterin tätig. Ihren Spürsinn für faszinierende Geschichten hat sie in dieser Zeit aber nie verloren, und so stieß sie schließlich auf die Spuren Caroline Ferridays, einer Amerikanerin, die sich während des Zweiten Weltkriegs für eine Gruppe polnischer Frauen einsetzte. Aus den daraus folgenden Recherchearbeiten entstand schließlich Martha Hall Kellys Debüt »Und am Ende werden wir frei sein«. Der bewegende Roman eroberte die internationalen Bestsellerlisten und wurde allein in den USA über eine Million Mal verkauft. Die Autorin lebt in Connecticut und auf Martha’s Vineyard.

Weitere Informationen unter: www.marthahallkelly.com

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MARTHAHALLKELLY

Und am Ende werden wir frei sein

ROMAN

Deutsch von Karin Dufner

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Lilac Girls« bei Ballantine Books, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2016 by Martha Hall Kelly

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Limesin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Matthias Teiting

Covergestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign nach einer Originalvorlage von Penguin Random House US

Coverdesign: Laura Klynstra

Covermotive: ullstein bild - Roger-Viollet; Jodi Baglien Sparkes/Shutterstock.com)

Karten: © Holly Hollon Designs

Fotos: © Martha Hall Kelly

dn · Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN978-3-641-24703-4V003www.limes-verlag.de

Für meinen Mann Michael, der bei mir noch immer die Puderdose klacken lässt

Erster Teil

Kapitel 1

CAROLINE

September 1939

Wenn ich gewusst hätte, dass ich gleich den Mann kennenlernen sollte, unter dessen Einfluss ich zerbrechen würde wie Knochenporzellan auf Terrakotta, wäre ich zu Hause geblieben. Stattdessen holte ich unseren Floristen Mr. Sitwell aus dem Bett, damit er mir ein Sträußchen fürs Knopfloch anfertigte. Meine erste Konsulatsgala war nicht der richtige Zeitpunkt, um das Protokoll mit Füßen zu treten.

Ich reihte mich in die Flut der vielen Ungewaschenen ein, die die Fifth Avenue entlangströmten. Männer in grauen Filzhüten drängten sich an mir vorbei. Die Zeitungsschlagzeilen verkündeten die letzten erfreulichen Nachrichten des Jahrzehnts. An diesem Tag braute sich im Osten kein Sturm zusammen, nichts wies auf die kommenden Ereignisse hin. Das einzige unheilvolle Vorzeichen aus Richtung Europa war der Geruch nach brackigem Wasser, der vom East River heranwehte.

Als ich mich unserem Gebäude an der Ecke Fifth Avenue und Forty-ninth Street näherte, spürte ich, dass Roger mich von oben aus dem Fenster beobachtete. Er hatte schon Leute aus geringeren Gründen als einer zwanzigminütigen Verspätung gefeuert. Trotzdem war der einzige Tag im Jahr, an dem die oberen Zehntausend von New York ihre Brieftaschen öffneten und ein wenig Interesse an Frankreich heuchelten, nicht der richtige Zeitpunkt, um an Knopflochsträußchen zu sparen.

Ich bog um die Ecke. Die helle Morgensonne fing sich in den eingemeißelten, vergoldeten Buchstaben im Eckstein: LAMAISONFRANCAISE. Das französische Haus, Heimat des französischen Konsulats, stand Seite an Seite mit dem British Empire Building, einem Teil des Rockefeller Center, Rockefeller Juniors neuem Bauwerk aus Granit und Kalkstein. Damals hatten viele ausländische Konsulate hier ihre Büros, was einen großartigen Mischmasch internationaler Diplomatie zur Folge hatte.

»Ganz nach hinten durchgehen, immer nach vorn schauen«, sagte Cuddy, unser Liftboy.

Mr. Rockefeller suchte die Liftboys persönlich aus und überprüfte sie auf Manieren und gutes Aussehen. Cuddy war mit Letzterem über Gebühr ausgestattet, auch wenn sein Haar bereits grau meliert war und sein Körper es mit dem Altern eilig hatte.

Cuddy starrte auf die beleuchteten Ziffern über den Türen. »Ziemlich viele Leute da oben, Miss Ferriday. Pia meinte, es sind zwei neue Schiffe angekommen.«

»Entzückend«, erwiderte ich.

Cuddy wischte etwas vom Ärmel seiner marineblauen Uniformjacke. »Wird es bei Ihnen wieder spät heute?«

Obwohl wir angeblich die schnellsten Aufzüge der Welt hatten, brauchte unserer eine Ewigkeit. »Ich muss um fünf weg. Eine Gala heute Abend.«

Ich liebte meinen Beruf. Großmutter Woolsey hatte die Tradition arbeitender Frauen in unserer Familie begründet, indem sie auf dem Schlachtfeld in Gettysburg verwundete Soldaten gepflegt hatte. Allerdings war meine ehrenamtliche Stelle als Leiterin der Familienhilfe im französischen Konsulat eigentlich kein richtiger Beruf. Dass ich alles Französische liebte, war mir einfach in die Wiege gelegt worden. Auch wenn mein Vater ein halber Ire war, gehörte sein Herz Frankreich. Außerdem hatte Mutter eine Wohnung in Paris geerbt, wo wir jeden August verbrachten, sodass ich mich dort zu Hause fühlte.

Der Aufzug stoppte. Selbst durch die geschlossenen Türen hörten wir überwältigendes, lautes Stimmengewirr. Ein Schauder durchlief mich.

»Vierter Stock«, verkündete Cuddy. »Französisches Konsulat. Vorsicht beim …«

Sobald die Türen auseinanderglitten, übertönte der Lärm die Höflichkeitsfloskel des Liftboys. In dem Flur vor unserem Empfangsbereich drängten sich so viele Menschen, dass kaum ein Durchkommen war. An diesem Morgen waren die Normandie und die Ile de France, zwei der bedeutendsten Ozeanriesen Frankreichs, im Hafen von New York eingelaufen, vollgestopft mit Passagieren, die den unsicheren Verhältnissen in ihrem Heimatland hatten entfliehen wollen. Als das Signal ertönte und alle aussteigen durften, hatten die Wohlhabenden an Bord das Konsulat gestürmt, um Visaprobleme und andere heikle Themen zu klären.

Ich zwängte mich durch den verqualmten Empfangsbereich, vorbei an einer Gruppe von Damen in den neuesten Pariser Tageskleidern, eingehüllt in eine duftende Wolke Arpège und die Gischt noch im Haar, die dastanden und miteinander plauderten. Diese Menschen waren es gewohnt, dass ein Butler ihnen mit einem Kristallaschenbecher und einer Champagnerflöte auf Schritt und Tritt folgte. Pagen in den scharlachroten Jacken der Normandie warteten neben ihren schwarz berockten Kollegen von der Ile de France. Ich rempelte mich mit der Schulter durch die Menge und steuerte auf den Schreibtisch unserer Sekretärin hinten im Raum zu, wobei mein Chiffonschal an der Schließe einer Perlenkette hängen blieb, die eine bezaubernde Dame neben mir um den Hals trug. Während ich mich zu befreien versuchte, summte die Gegensprechanlage, ohne dass jemand ranging.

Roger.

Ich kämpfte mich weiter durch die Menge und spürte, dass mir jemand auf den Po klopfte. Als ich mich umdrehte, hatte ich einen Schiffsoffizier mit einem strahlenden Lächeln vor mir.

»Gardons nos mains pour nous-mêmes«, sagte ich. »Wir wollen unsere Hände bei uns behalten.«

Der Junge hob den Arm über die Köpfe der anderen und schwenkte seinen Salonschlüssel von der Normandie. Wenigstens war er nicht über sechzig, der Männertyp, den ich normalerweise anzog.

Ich schaffte es zum Schreibtisch der Sekretärin, wo diese mit gesenktem Kopf dasaß und tippte.

»Bonjour, Pia.«

Rogers Cousin, ein dunkeläugiger Junge von achtzehn Jahren, hatte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen auf Pias Schreibtisch niedergelassen. Er hielt seine Zigarette hoch, während er in einer Pralinenschachtel kramte, Pias Lieblingsfrühstück. In meinem Posteingang auf dem Schreibtisch stapelten sich bereits die Fallakten.

»Vraiment? Was soll an diesem Morgen gut sein?«, entgegnete sie, ohne den Kopf zu heben.

Pia war viel mehr als eine Sekretärin. Wir alle erfüllten die verschiedensten Aufgaben, und zu ihren gehörte, neue Antragsteller zu registrieren, für jeden von ihnen eine Akte anzulegen, Rogers umfangreiche Korrespondenz zu tippen und die gewaltige Flut von Morsenachrichten zu entziffern, die das Lebensblut unseres Büros waren.

»Warum ist es hier drin so heiß?«, fragte ich. »Pia, das Telefon läutet.«

Sie angelte sich eine Praline aus der Schachtel. »Das tut es schon die ganze Zeit.«

Pia sammelte Verehrer, als würde sie eine Frequenz aussenden, die nur Männer empfangen konnten. Sie war auf eine raubtierhafte Art attraktiv, wobei ich den Verdacht hegte, dass ihre Beliebtheit zum Teil an ihren engen Pullovern lag.

»Kannst du heute einen Teil meiner Fälle übernehmen, Pia?«

»Roger hat mir verboten, diesen Stuhl zu verlassen.« Sie knackte die Kruste an der Unterseite einer Praline mit ihrem manikürten Daumennagel und machte sich über die Erdbeercreme her. »Außerdem will er dich sofort sehen. Aber ich glaube, die Frau auf dem Sofa dort hat letzte Nacht auf dem Flur geschlafen.« Pia wedelte mir mit einem halben Hundertdollarschein vor der Nase herum. »Und das Dickerchen mit den Hunden sagt, er gibt dir die andere Hälfte, wenn du ihn zuerst drannimmst.« Sie wies mit dem Kopf auf ein wohlgenährtes Paar neben meiner Bürotür. Beide hielten je einen Dackel mit grauer Schnauze an der Leine.

Wie bei Pia umfasste auch mein Zuständigkeitsbereich zahlreiche Pflichten. Dazu gehörten die Betreuung französischer Staatsbürger hier in der Stadt, von denen viele in Schwierigkeiten geraten waren, und die Verwaltung des French Families Fund, einer wohltätigen Organisation, mit deren Hilfe ich Hilfspakete an französische Waisen in Übersee schickte. Ich hatte mich gerade aus einer fast zwei Jahrzehnte andauernden Karriere am Broadway zurückgezogen, weshalb mir die Beschäftigung im Konsulat vergleichsweise geruhsam erschien. Jedenfalls fiel das ständige Kofferpacken weg.

Mein Chef, Roger Fortier, erschien in der Tür seines Büros.

»Caroline, ich muss Sie sofort sprechen. Bonnet hat abgesagt.«

»Das darf doch nicht wahr sein, Roger.« Die Nachricht traf mich wie ein Schlag in die Magengrube. Schon vor Monaten hatte ich den französischen Außenminister als Hauptredner für unsere Gala angeworben.

»Momentan ist es nicht leicht, französischer Außenminister zu sein«, rief er mir über die Schulter zu und kehrte in sein Büro zurück.

Ich trat in meines und blätterte das Adressregister auf meinem Schreibtisch durch. Hatte Mutters Freund, der buddhistische Mönch Ajahn Chah, heute Abend Zeit?

»Caroline«, ertönte Rogers Stimme. Ich schnappte mir mein Adressregister und hastete in sein Büro, wobei ich dem Paar mit den Dackeln auswich, das sein Bestes tat, um möglichst tragische Mienen aufzusetzen.

»Warum sind Sie heute Morgen zu spät gekommen?«, fragte Roger. »Pia ist schon seit zwei Stunden hier.«

Als Generalkonsul regierte Roger Fortier sein Reich von einer Ecksuite aus, die einen beeindruckenden Blick auf die Rockefeller Plaza und das Promenade Café bot. Normalerweise beherbergte die abgesenkte Stelle dort die berühmte Eislaufbahn, die jetzt im Sommer allerdings geschlossen war. Kaffeehaustische nahmen den Platz ein, zwischen denen Kellner im Frack und mit knöchellanger Schürze herumwimmelten. Dahinter stürzte der gewaltige goldene Prometheus von Paul Manship zur Erde und hielt dabei das gestohlene Feuer hoch. Die siebzig Stockwerke des RCA Building ragten weit in den saphirblauen Himmel. Roger hatte viel mit der gewaltigen, über dem Eingang eingemeißelten Männerstatue gemeinsam, die die Weisheit darstellte. Die gerunzelte Stirn. Den Bart. Den zornigen Blick.

»Ich habe noch das Knopflochsträußchen für Bonnet besorgt …«

»Ach, und deshalb lässt man halb Frankreich warten.« Als Roger in einen Donut biss, rieselte Puderzucker in seinen Bart. Obwohl man ihn, wenn man wohlwollend war, als stattlich bezeichnen konnte, litt er nie Mangel an weiblicher Begleitung.

Auf seinem Schreibtisch türmten sich Akten, vertrauliche Unterlagen und Dossiers über vermisste französische Bürger. Laut dem Französischen Konsulatshandbuch hatte er die Pflicht, »französische Staatsbürger in New York im Fall von Diebstahl, schwerer Krankheit oder Festnahme sowie bei Schwierigkeiten im Zusammenhang mit Geburtsurkunden, Adoptionen, verlorenen oder gestohlenen Dokumenten zu unterstützen. Außerdem muss er Besuche französischer Würdenträger und anderer Diplomaten planen und Menschen bei politischen Krisen und Naturkatastrophen beistehen.« Die Lage in Europa versorgte uns in all diesen Bereichen mit genügend Arbeit. Wenn man Hitler als Naturkatastrophe einstufte.

»Ich muss mich wieder um meine Fälle kümmern, Roger …«

Schwungvoll schob er einen braunen Ordner über den polierten Konferenztisch. »Jetzt haben wir heute Abend nicht nur keinen Redner, sondern ich habe auch vollkommen überflüssigerweise die halbe Nacht damit zugebracht, Bonnets Rede umzuschreiben. Ich musste geschickt übergehen, dass Roosevelt amerikanische Flugzeuge an Frankreich verkaufen will.«

»Frankreich sollte so viele Flugzeuge kaufen dürfen, wie es will.«

»Wir sammeln hier Spenden, Caroline. Der Zeitpunkt ist ungünstig, um die Isolationisten zu verärgern. Insbesondere die reichen.«

»Die unterstützen Frankreich sowieso nicht.«

»Wir können keine schlechte Presse gebrauchen. Stehen die USA und Frankreich sich zu nahe? Wird die Folge sein, dass Deutschland und Russland enger zusammenrücken? Ich schaffe es kaum bis zum Nachtisch, ohne dass ein Reporter mich beim Essen stört. Außerdem können wir Rockefeller nicht erwähnen. Ich habe keine Lust auf noch einen Anruf vom Junior. Aber wahrscheinlich werde ich dem sowieso nicht entkommen, jetzt da Bonnet abgesagt hat.«

»Das ist eine Katastrophe, Roger.«

»Vielleicht streichen wir das Ganze am besten.« Als Roger sich mit den Fingern durchs Haar fuhr, entstanden neue Furchen in seine Pomade.

»Vierzigtausend Dollar zurückzahlen? Was ist mit dem French Families Fund? Ich pfeife ohnehin schon auf dem letzten Loch. Außerdem haben wir fünf Kilo Waldorfsalat gekauft …«

»So was nennen die Salat?« Roger blätterte durch seine Kontaktkarten, die Hälfte davon unleserlich und von durchgestrichenen Stellen übersät. »Der Matsch ist pathétique … nur gehackte Äpfel und Sellerie. Und dazu diese durchweichten Walnüsse …«

Ich durchforstete mein Adressregister nach prominenten Kandidaten. Mutter und ich kannten Julia Marlowe, die berühmte Schauspielerin, aber die war gerade auf Europatournee. »Was ist mit Peter Patout? Den haben Mutters Leute schon einmal engagiert.«

»Der Architekt?«

»Der gesamten Weltausstellung. Die haben dort immerhin einen über zwei Meter großen Roboter.«

»Langweilig«, entgegnete er und schlug sich mit dem silbernen Brieföffner auf die Handfläche.

Ich blätterte weiter vor bis zum L. »Wie finden Sie Captain Lehude?«

»Von der Normandie? Der wird dafür bezahlt, die Leute zu langweilen.«

»Sie können nicht jeden Vorschlag so mir nichts, dir nichts abtun, Roger. Wie wäre es mit Paul Rodierre? Laut Betty reden alle über ihn.«

Roger schürzte die Lippen, immer ein gutes Zeichen. »Der Schauspieler? Ich war in seiner Vorstellung. Er ist begabt. Groß und attraktiv, wenn man diese Art Aussehen mag. Er muss einen traumhaften Stoffwechsel haben.«

»Zumindest wissen wir, dass er sich einen Text merken kann.«

»Er ist ein wenig unzuverlässig. Und außerdem verheiratet. Machen Sie sich also keine falschen Hoffnungen.«

»Ich bin fertig mit den Männern, Roger«, antwortete ich. »Mit siebenunddreißig habe ich mich damit abgefunden, allein zu bleiben.«

»Ich bin nicht sicher, ob Rodierre mitmacht. Schauen Sie, wen Sie kriegen können, aber keinen Roosevelt …«

»Und keine Rockefellers«, beendete ich den Satz.

Zwischen den einzelnen Klienten telefonierte ich sämtliche Alternativen ab und hatte zu guter Letzt nur noch eine Option. Paul Rodierre. Er war in New York und trat am Broadhurst Theatre in einer amerikanischen Musical-Revue auf. In den Straßen von Paris, Carmen Mirandas großem Durchbruch am Broadway.

Ich rief die William Morris Agency an, wo man mir mitteilte, man werde sich erkundigen und sich wieder bei mir melden. Zehn Minuten später erklärte mir Monsieur Rodierres Agent, das Theater sei heute geschlossen. Sein Klient besitze zwar keine Abendgarderobe, fühle sich aber tief geehrt von unserer Anfrage, am Abend durch die Gala zu führen. Er werde sich im Waldorf mit mir treffen, um die Einzelheiten zu erörtern. Da unsere Wohnung in der East Fiftieth Street nur einen Katzensprung vom Waldorf entfernt war, eilte ich nach Hause, um Mutters schwarzes Kleid von Chanel anzuziehen.

Monsieur Rodierre saß an einem Kaffeehaustisch in der Peacock-Alley-Bar des Waldorf neben der Hotelhalle. Die zwei Tonnen schwere Bronzeuhr läutete gerade mit ihrem reizenden Westminster-Klang die halbe Stunde ein. Herausgeputzte Galagäste strömten herein und steuerten auf den großen Ballsaal im Obergeschoss zu.

»Monsieur Rodierre?«, fragte ich.

Was die Attraktivität anging, hatte Roger recht gehabt. Wenn man sich von seiner hinreißenden Schönheit erholt hatte, fiel einem bei Paul Rodierre als Zweites sein strahlendes Lächeln auf.

»Wie kann ich Ihnen dafür danken, dass Sie in letzter Minute eingesprungen sind, Monsieur?«

Als er sich erhob, kam ein Körperbau in Sicht, der sich besser für eine Rudermannschaft auf dem Charles als für die Bühne geeignet hätte. Er wollte mich auf die Wange küssen, aber ich hielt ihm die Hand hin, die er schüttelte. Es war nett, einem Mann zu begegnen, der so groß war wie ich.

»Es ist mir ein Vergnügen«, erwiderte er.

Allerdings war seine Kleidung ein Problem: grüne Hose, ein Sakko aus auberginefarbenem Samt, braune Wildlederschuhe und, was am schlimmsten war, ein schwarzes Hemd. Nur Priester oder Faschisten trugen schwarze Hemden. Und Gangster natürlich.

»Möchten Sie sich umziehen?« Ich widerstand der Versuchung, sein Haar zu glätten, das lang genug war, um es mit einem Gummiband zusammenzubinden. »Und sich vielleicht rasieren?« Laut seinem Agenten wohnte Monsieur Rodierre im Hotel, was hieß, dass sich sein Rasierer nur einige Etagen über uns befand.

»So ziehe ich mich eben an«, meinte er achselzuckend. »So sehe ich aus.« Typisch Schauspieler. Ich hätte es wissen sollen. Die Prozession der Gäste in Richtung Ballsaal wurde dichter. Die Frauen in ihren atemberaubenden Abendkleidern, die Männer im Frack und mit Oxfords aus Lackleder oder kalbsledernen Opernschuhen.

»Das ist meine erste Gala«, sagte ich. »Der einzige Abend, an dem das Konsulat Spenden sammeln kann. Abendgarderobe ist Pflicht.« Würde er in Vaters alten Frack passen? Die Länge wäre wohl richtig, aber an den Schultern wäre er zu eng.

»Sind Sie immer so angespannt, Miss Ferriday?«

»Nun, hier in New York trifft Individualität nicht immer auf Zustimmung.« Ich reichte ihm die zusammengehefteten Seiten. »Sicher sind Sie schon gespannt auf das Manuskript.«

Er gab es mir zurück. »Non, merci.«

Ich drückte es ihm abermals in die Hand. »Aber der Generalkonsul hat es selbst geschrieben.«

»Erklären Sie mir noch einmal, weshalb ich das hier mache.«

»Wir sammeln Gelder, von denen Exilfranzosen das ganze Jahr über profitieren sollen. Und mit dem French Families Fund helfen wir Waisen in Frankreich, deren Eltern aus den verschiedensten Gründen verschwunden sind. Angesichts der problematischen Lage im Ausland stellen wir die Versorgung mit Kleidung und Nahrung sicher. Außerdem werden die Rockefellers da sein.«

Er blätterte nun doch in der Rede. »Die könnten doch einen Scheck ausschreiben, dann wäre die ganze Veranstaltung überflüssig.«

»Die Rockefellers gehören zu unseren großzügigsten Spendern, aber bitte erwähnen Sie sie nicht. Auch nicht Präsident Roosevelt. Oder die Flugzeuge, die die USA an Frankreich verkauft hat. Natürlich fühlen sich nicht wenige unserer Gäste heute Abend Frankreich verbunden, möchten sich jedoch bislang aus einem Krieg heraushalten. Roger will umstrittene Themen vermeiden.«

»Wenn man um den heißen Brei herumredet, fühlt es sich nie authentisch an. Das Publikum merkt das.«

»Könnten Sie sich nicht einfach an das Manuskript halten, Monsieur?«

»Wenn man sich zu viele Sorgen macht, bekommt man früher oder später einen Herzinfarkt, Miss Ferriday.«

Ich öffnete den Nadelverschluss an den Maiglöckchen. »Hier, ein Knopflochsträußchen für unseren Ehrengast.«

»Muguet?«, meinte Monsieur Rodierre. »Wo haben Sie die um diese Jahreszeit her?«

»In New York bekommt man alles. Unser Florist züchtet sie aus den Samen.«

Ich stützte die Hand auf sein Revers und bohrte die Nadel tief in den französischen Samt. Kam der wundervolle Duft von ihm oder von den Blumen? Warum rochen amerikanische Männer nicht so? Nach Tuberosen, Holz, Moschus und …

»Sie wissen schon, dass Maiglöckchen giftig sind?«, fragte Monsieur Rodierre.

»Dann dürfen Sie sie eben nicht essen. Zumindest nicht, bis Sie mit Ihrer Rede fertig sind. Oder nur, wenn sich das Publikum vor Empörung auf Sie stürzt.«

Als er auflachte, wich ich einen Schritt zurück. Es war ein herzhaftes Lachen, wie man es in der besseren Gesellschaft nur selten hörte, insbesondere wenn es um meine Witze ging.

Ich begleitete Monsieur Rodierre hinter die Bühne und stellte ehrfürchtig fest, wie groß sie war. Zweimal so groß wie die am Broadway, auf denen ich gestanden hatte. Wir betrachteten das Meer aus Tischen im Ballsaal, die von den Kerzen erleuchtet wurden wie blumengeschmückte Schiffe in der Dunkelheit. Obwohl das Licht gedämpft war, schimmerte der Kronleuchter aus Waterford-Kristall.

»Die Bühne ist riesig«, stellte ich fest. »Kriegen Sie das hin?«

Monsieur Rodierre wandte sich zu mir um. »Damit verdiene ich meine Brötchen, Miss Ferriday.«

Aus Angst, Monsieur Rodierre weiter zu verärgern, ließ ich ihn mit seinem Manuskript hinter der Bühne zurück und versuchte, meine Fixierung auf braune Wildlederschuhe abzuschütteln. Ich hastete in den Ballsaal, um mich zu vergewissern, dass Pia meine Tischordnung umgesetzt hatte, eine Operation, die mehr Fingerspitzengefühl erfordert hatte als der Flugplan der Luftwaffe. Ich stellte fest, dass sie einfach ein paar Karten auf die sechs Tische der Rockefellers geworfen hatte. Ich sortierte sie und nahm dann meinen Platz zwischen der Küche und dem Ehrentisch ein. In dem gewaltigen Raum standen rot verkleidete Podeste, jedes mit einem eigenen Esstisch. Sämtliche eintausendsiebenhundert Plätze waren reserviert. Wenn nicht alles klappte wie am Schnürchen, würden viele Leute sehr unzufrieden sein.

Die Gäste versammelten sich und nahmen ihre Plätze ein, Massen an weißen Fliegen, antiken Edelsteinen und derartige Unmengen an Roben aus der Rue du Faubourg Saint-Honoré, dass das Sortiment der luxuriösesten Läden in Paris vermutlich ausverkauft war. Allein die Hüftgürtel hatten sicher dafür gesorgt, dass Bergdorf und Goodman ihr Umsatzziel im dritten Quartal erreicht hatten.

Einige Journalisten scharten sich um mich und griffen nach den Bleistiften hinter ihren Ohren. Der Oberkellner stand einsatzbereit neben mir und wartete auf ein Zeichen, um mit dem Servieren zu beginnen. Elsa Maxwell trat ein, Klatschbase, professionelle Gastgeberin und Selbstdarstellerin ne plus ultra. Würde sie die Handschuhe ausziehen, um eine Gruselgeschichte über diesen Abend für ihre Kolumne zu verfassen, oder sich das Grauen einfach nur einprägen?

Fast alle Tische waren besetzt, als Mrs. Cornelius Vanderbilt, von Roger »Euer Gnaden« genannt, eintraf. Auf ihrer Brust funkelte ein viersträngiges Diamantcollier von Cartier. Sobald Mrs. Vanderbilds Hintern die Sitzfläche des Stuhls berührte und sie ihre weiße Fuchsstola, komplett mit Kopf und Pfoten, über die Stuhllehne drapiert hatte, gab ich das Signal zu servieren. Die Lichter wurden gedämpft, und Roger trottete, begleitet von herzlichem Applaus, auf die in Scheinwerferlicht getauchte Bühne. Ich war noch nie so nervös gewesen, nicht einmal bei meinen eigenen Auftritten vor Publikum.

»Mesdames et Messieurs, Außenminister Bonnet entschuldigt sich vielmals, aber er kann heute Abend nicht bei uns sein.« Die Gäste raunten, unsicher, wie sie auf diese Enttäuschung reagieren sollten. Sollten sie verlangen, dass sie ihr Geld per Post zurückerstattet bekämen? Sollten sie in Washington anrufen?

Roger hob die Hand. »Wir konnten jedoch einen anderen Franzosen dafür gewinnen, heute Abend zu uns zu sprechen. Er bekleidet zwar keinen Regierungsposten, wirkt jedoch in der Hauptrolle an einer viel gelobten Inszenierung am Broadway mit.«

Die Gäste tuschelten. Es ging nichts über eine Überraschung, vorausgesetzt, dass sie gut war.

»Bitte gestatten Sie mir, Monsieur Paul Rodierre zu begrüßen.«

Monsieur Rodierre ließ das Rednerpult links liegen und steuerte die Mitte der Bühne an. Was führte er im Schilde? Der Scheinwerfer huschte auf der Suche nach ihm eine Weile hin und her. Roger setzte sich unterdessen neben Mrs. Vanderbilt an den Ehrentisch. Ich verharrte in der Nähe, in einigem Sicherheitsabstand, um später nicht erwürgt zu werden.

»Es ist mir ein großes Vergnügen, heute hier zu sein«, begann Monsieur Rodierre, nachdem der Scheinwerfer ihn auf der Bühne entdeckt hatte. »Ich bedauere sehr, dass Monsieur Bonnet verhindert ist.«

Selbst ohne Mikrofon füllte Monsieur Rodierres Stimme den Raum. Er strahlte förmlich im Scheinwerferlicht.

»Ich bin ein ärmlicher Ersatz für einen so illustren Gast. Hoffentlich hatte er keine Schwierigkeiten mit seinem Flugzeug. Sicher wird ihm Präsident Roosevelt in diesem Fall gern ein neues schicken.«

Nervöses Auflachen machte sich im Raum breit. Ich brauchte die Journalisten nicht anzuschauen, um zu wissen, dass sie mitschrieben wie die Wilden. Roger, dem Meister in der Kunst des Tête-à-Tête, gelang es, mit Mrs. Vanderbilt zu plaudern und mich gleichzeitig mit Blicken zu erdolchen.

»Gut, ich darf nicht mit Ihnen über Politik sprechen«, fuhr Monsieur Rodierre fort.

»Gott sei Dank!«, rief jemand an einem der hinteren Tische. Wieder lachten die Gäste, diesmal lauter.

»Aber ich kann Ihnen von Amerika erzählen, einem Land, das mich jeden Tag erstaunt. Ein Land, das nicht nur das französische Theater, die Bücher, den Film und die Mode willkommen heißt, sondern auch uns Franzosen, und zwar trotz unserer Fehler.«

»Scheiße«, fluchte ein Reporter neben mir, dessen Bleistift abgebrochen war. Ich gab ihm meinen.

»Jeden Tag beobachte ich Menschen, die anderen helfen. Amerikaner, inspiriert von Mrs. Roosevelt, die ihre Hand über den Atlantik ausstreckt, um französische Kinder zu unterstützen. Amerikaner wie Miss Caroline Ferriday, die sich jeden Tag für französische Familien hier in Amerika einsetzt und französische Waisen mit Kleidung versorgt.«

Roger und Mrs. Vanderbilt schauten zu mir herüber. Der Scheinwerfer entdeckte mich an der Wand; das vertraute Licht blendete mich. Euer Gnaden applaudierte, und die Menge folgte ihrem Beispiel. Ich wartete ab, bis der Lichtkegel zurück zur Bühne wanderte und mich in kühler Dunkelheit zurückließ. Obwohl ich den Broadway nicht wirklich vermisste, war es schön, einmal wieder das warme Scheinwerferlicht auf der Haut gespürt zu haben.

»Es ist ein Amerika, das sich nicht fürchtet, Flugzeuge an das Volk zu verkaufen, das ihm in den Schützengräben des Großen Krieges zur Seite gestanden hat. Ein Amerika, das keine Angst hat, Hitler aus den Straßen von Paris fernzuhalten. Ein Amerika, das den Schulterschluss mit uns nicht scheut, falls uns die schrecklichste Zeit bevorsteht …«

Ich beobachtete ihn und warf nur ab und zu einen kurzen Blick auf die Gäste. Sie lauschten gebannt und kümmerten sich eindeutig nicht um seine Schuhe. Die halbe Stunde verflog im Nu, und ich hielt den Atem an, als Monsieur Rodierre sich verbeugte. Der Applaus begann leise, steigerte sich jedoch in Wellen wie ein gewaltiger Platzregen, der auf ein Dach niederging. Elsa Maxwell hatte Tränen in den Augen, die sie mit einer Hotelserviette wegtupfte. Und als das Publikum sich erhob und aus voller Kehle »La Marseillaise« sang, war ich froh, dass Bonnet nicht im Anschluss an diese Darbietung auftreten musste. Selbst das Personal stimmte, die Hand aufs Herz gelegt, mit ein.

Als die Lichter angingen, wirkte Roger erleichtert und begrüßte die Gratulanten, die sich um den Ehrentisch drängten. Während der Abend sich seinem Ende näherte, zog er sich mit einem Grüppchen unserer großzügigsten Spender, auch einigen Mitgliedern der Showtanzgruppe The Rockettes, den einzigen Frauen in New York, die mich klein aussehen ließen, in den Rainbow Room zurück.

Beim Verlassen des Speisesaals berührte Monsieur Rodierre mich an der Schulter. »Ich kenne ein Lokal am Hudson, wo es ausgezeichneten Wein gibt.«

»Ich muss nach Hause«, erwiderte ich, obwohl ich noch keinen Bissen gegessen hatte. Gleichzeitig dachte ich an warmes Brot und Schnecken mit Butter. Allerdings war es keine gute Idee, allein mit einem verheirateten Mann auszugehen. »Nicht heute Abend, Monsieur. Trotzdem vielen Dank.« In wenigen Minuten würde ich zu Hause sein, in einer kalten Wohnung mit übrig gebliebenem Waldorfsalat.

»Soll ich nach unserem Triumph etwa allein essen?«, entgegnete Monsieur Rodierre.

Was sprach eigentlich dagegen? Meine Clique speiste stets in denselben Restaurants, die sich an einer Hand abzählen ließen und sich innerhalb eines Radius von vier Blocks rings um das Waldorf befanden. Was konnte ein Abendessen am Hudson schon schaden?

Wir fuhren mit dem Taxi ins Le Grenier, ein gemütliches Bistro in der West Side. Da die französischen Ozeanriesen stets den Fluss hinauftuckerten und an der Fifty-first Street anlegten, waren dort einige von New Yorks besten kleinen Restaurants aus dem Boden geschossen wie Pfifferlinge nach einem kräftigen Schauer. Das Le Grenier lebte ihm Schatten der SS Normandie im Speicher der früheren Hafenmeisterei. Als wir aus dem Taxi stiegen, ragte das große Schiff hoch über uns auf. Das Deck war mit Scheinwerfern hell erleuchtet, vier Etagen mit Bullaugen schimmerten. Ein Schweißer am Bug schickte aprikosenfarbene Funken in die Nacht, während Matrosen eine Lampe zu dem Gerüst der Maler seitlich am Rumpf hinunterließen. Als ich so unter dem riesigen schwarzen Heck stand, fühlte ich mich ganz klein. Jeder der drei roten Kamine war höher als die Lagerhäuser, die das Pier säumten. Salzgeruch hing in der Spätsommerluft, da hier das Meerwasser aus dem Atlantik mit dem Süßwasser des Hudson zusammentraf.

An den Tischen drängten sich freundlich wirkende Gäste, die meisten aus der Mittelschicht. Außerdem ein Reporter, der auf der Gala gewesen war, und einige Passagiere des Ozeanriesen, die froh waren, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Wir entschieden uns für eine enge, lackierte Holznische, die aussah wie auf einem Schiff, wo jeder Zentimeter zählt. Der Restaurantchef des Le Grenier, Monsieur Bernard, scharwenzelte um Monsieur Rodierre herum, sagte, er habe In den Straßen von Paris dreimal besucht, und schilderte ausführlich seine eigene Karriere bei einer Laienspieltruppe in Hoboken.

Monsieur Bernard wandte sich an mich. »Und Sie, Mademoiselle? Habe ich Sie nicht auf der Bühne mit Miss Helen Hayes gesehen?«

»Eine Schauspielerin?«, meinte Monsieur Rodierre lächelnd.

Aus der Nähe betrachtet war sein Lächeln gefährlich. Ich musste bei klarem Verstand bleiben, denn Franzosen waren meine Achillesferse. Wenn Achilles Franzose gewesen wäre, hätte ich ihn vermutlich auf dem Rücken herumgeschleppt, bis seine Sehne geheilt gewesen wäre.

»Ich fand die Kritiken unfair …«, fuhr Monsieur Bernard fort.

»Wir möchten bestellen«, unterbrach ich ihn.

»Einer hat, wie ich glaube, sogar das Wort ›aufgesetzt‹ benutzt …«

»Wir nehmen die Schnecken, Monsieur. Bitte mit wenig Sahne …«

»Und was stand in der Times noch mal über Twelfth Night? ›Miss Ferriday hat sich als Olivia tapfer geschlagen‹? Ziemlich ungnädig, oder?«

»Und keinen Knoblauch. Garen Sie sie bitte nicht zu lange, damit sie nicht zäh werden.«

»Sollen die Schnecken zum Tisch kriechen, Mademoiselle?« Monsieur Bernard notierte sich unsere Bestellung und begab sich in die Küche.

Monsieur Rodierre studierte eingehend die Champagnerkarte. »Eine Schauspielerin, ja? Darauf wäre ich nie gekommen.« Sein zerzaustes Äußeres hatte etwas Anziehendes an sich, wie ein Küchengarten, der gejätet werden musste.

»Im Konsulat gefällt es mir besser. Mutter kennt Roger schon seit Jahren, und als er vorschlug, ich solle dort aushelfen, konnte ich nicht widerstehen.«

Monsieur Bernard stellte einen Brotkorb auf den Tisch und musterte Monsieur Rodierre eine Weile, als wollte er ihn sich einprägen.

»Ich hoffe, dass ich Ihnen mit unserem Auftritt nicht den Freund vergraule«, sagte Paul. Als er gleichzeitig mit mir in den Brotkorb griff, streifte seine warme, weiche Hand die meine. Ruckartig legte ich meine Hand in den Schoß.

»Dafür bin ich zu beschäftigt. Sie kennen ja New York. Die Partys und so. Eigentlich recht anstrengend.«

»Ich sehe Sie nie bei Sardi’s.« Als er den Brotlaib zerriss, stieg Dampf ins Lampenlicht auf.

»Oh, ich arbeite viel.«

»Ich habe den Eindruck, dass Sie nicht fürs Geld allein arbeiten.«

»Es ist ein ehrenamtlicher Posten, falls Sie das gemeint haben. Allerdings stellen höfliche Menschen nicht solche Fragen, Monsieur.«

»Können wir das mit dem ›Monsieur‹ nicht lassen? Ich komme mir uralt vor, wenn Sie mich so ansprechen.«

»Sie wollen meinen Vornamen wissen? Wir haben uns doch gerade erst kennengelernt.«

»Wir haben 1939.«

»Die bessere Gesellschaft von Manhattan ist ein Sonnensystem, das nach seinen eigenen Regeln funktioniert. Dass eine ledige Frau mit einem verheirateten Mann zu Abend isst, reicht schon, um die Planeten aus der Bahn zu werfen.«

»Hier sieht uns niemand«, erwiderte Paul und zeigte Monsieur Bernard einen Champagner auf der Liste.

»Erzählen Sie das Miss Evelyn Shimmerhorn an dem Tisch dort hinten.«

»Ist Ihr guter Ruf jetzt ruiniert?«, fragte er so gütig, wie man es bei hinreißend attraktiven Männern selten hörte. Vielleicht hatte er mit dem schwarzen Hemd doch die richtige Wahl getroffen.

»Evelyn wird nicht reden. Sie bekommt ein Kind zum falschen Zeitpunkt, die Arme.«

»Kinder. Sie verkomplizieren alles, richtig? Im Leben eines Schauspielers ist kein Platz für so etwas.«

Wieder ein selbstsüchtiger Schauspieler.

»Und wie hat Ihr Vater Ihnen einen Platz in diesem Sonnensystem ermöglicht?«

Für einen neuen Bekannten stellte Paul eine Menge Fragen.

»Durch harte Arbeit. Er war im Kolonialwarenhandel tätig.«

»Wo?«

Monsieur Bernard stellte einen silbernen Sektkübel vor uns hin, dessen Griffe an die Ohrringe einer spanischen Tänzerin erinnerten. Der smaragdgrüne Hals der Champagnerflasche ragte seitlich heraus.

»Er war Geschäftspartner von James Harper Poor.«

»Von den Gebrüdern Poor? Ich war schon mal in Mr. Poors Haus in East Hampton. Der Name Poor – arm – passt nicht so ganz. Sind Sie häufig in Frankreich?«

»Jedes Jahr in Paris. Meine Mutter hat eine Wohnung in der Rue Chauveau Lagarde geerbt.«

Monsieur Bernard entkorkte die Flasche mit einem satten, dumpfen Plopp. Dann goss er die goldene Flüssigkeit in mein Glas. Die Blasen stiegen hoch bis zum Rand, der Schaum floss beinahe über und zog sich auf das optimale Niveau zurück. Der Mann verstand etwas vom Einschenken.

»Meine Frau Rena hat dort in der Nähe einen kleinen Laden. Les Jolies Choses. Kennen Sie ihn?«

Ich nippte an meinem Champagner. Die Flüssigkeit prickelte auf meinen Lippen.

Paul holte ein Foto aus seiner Brieftasche. Rena war jünger, als ich gedacht hatte, und trug die Haare wie eine Porzellanpuppe. Sie lächelte mit weit geöffneten Augen, als teilte sie ein köstliches kleines Geheimnis mit jemandem. Rena war zierlich und vermutlich das genaue Gegenteil von mir. Ich tippte darauf, dass ihr Laden zu den schicken kleinen Boutiquen gehörte, die es den Frauen ermöglichten, sich auf die berühmte französische Art auszustatten: die Kleider nicht übertrieben aufeinander abgestimmt, genau das richtige Maß Stilbruch.

»Nein, den kenne ich nicht«, sagte ich und gab ihm das Foto zurück. »Sie ist sehr hübsch.«

Ich leerte mein Champagnerglas.

Paul zuckte die Achseln. »Natürlich zu jung für mich, aber …« Mit zur Seite geneigtem Kopf musterte er eine Weile das Foto, als bemerkte er den Altersunterschied zum ersten Mal, bevor er es wieder einsteckte. »Wir sehen uns nicht oft.«

Der Gedanke ließ mich erbeben, dann folgte sofort die Ernüchterung, zermalmt von der Erkenntnis, dass meine burschikose Art jeden Funken von Romantik sofort im Keim ersticken würde, selbst wenn Paul frei gewesen wäre.

Aus dem Küchenradio dröhnte eine verkratzte Aufnahme von Edith Piaf.

Paul nahm die Flasche aus dem Eiskübel und füllte mein Glas nach. Der Champagner schäumte über, widerspenstige Blasen perlten über den Rand des Glases. Ich blickte ihn an. Wir beide wussten, was das bedeutete. Eine Tradition, die jeder kennt, der ein wenig Zeit in Frankreich verbracht hat. Hatte er das Glas mit Absicht zu voll gegossen?

Ohne zu zögern, tunkte Paul den Finger in den übergeschwappten Champagner neben meinem Glas und tupfte mir die kühle Flüssigkeit hinter das linke Ohr. Seine Berührung sorgte dafür, dass ich beinahe einen Satz machte. Ich wartete, während er mein Haar beiseitestrich, mich auch hinter dem rechten Ohr berührte und seinen Finger kurz dort innehalten ließ. Danach salbte er sich selbst lächelnd hinter beiden Ohren.

Warum war mir plötzlich so warm?

»Besucht Rena dich je?«, fragte ich. Ich versuchte, einen Teefleck von meiner Hand zu reiben, nur um festzustellen, dass es sich um einen Altersfleck handelte. Na wunderbar.

»Noch nicht. Sie interessiert sich nicht fürs Theater. Sie war nicht einmal hier, um sich In den Straßen von Paris anzuschauen. Und ich weiß umgekehrt nicht, ob ich bleiben kann. Hitler macht die Leute zu Hause ganz verrückt.«

Irgendwo in der Küche stritten zwei Männer. Wo waren unsere Schnecken? Mussten sie die erst aus Perpignan kommen lassen?

»Wenigstens hat Frankreich die Maginot-Linie«, meinte ich.

»Die Maginot-Linie? Vergiss es. Eine Betonmauer und ein paar Wachposten? Für Hitler ist das eine Herausforderung zum Duell.«

»Die Linie ist immerhin zwanzig Kilometer lang.«

»Wenn Hitler etwas will, kann nichts ihn abschrecken«, entgegnete Paul.

Inzwischen war in der Küche eine lautstarke Auseinandersetzung im Gange. Kein Wunder, dass wir unser Essen noch nicht hatten. Der Koch, ein temperamentvoller Künstler, schien sich schrecklich über etwas aufzuregen.

Monsieur Bernard kam aus der Küche. Die Tür mit dem Bullauge hinter ihm fiel zu, schwang ein paarmal hin und her und schloss sich endlich. Er trat in die Mitte des Raums. Hatte er geweint?

»Excusez-moi, meine Damen und Herren.«

Als jemand mit einem Löffel an ein Glas klopfte, wurde es still im Raum.

»Gerade habe ich aus zuverlässiger Quelle erfahren …« Monsieur Bernard holte tief Luft, sodass sich seine Brust aufblähte wie ein Blasebalg. »Wir wissen aus gut informierten Kreisen, dass …« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Adolf Hitler ist in Polen einmarschiert.«

»Mein Gott«, seufzte Paul.

Wir starrten einander an, während im Lokal Stimmengewirr laut wurde, ein Tumult aus Mutmaßungen und Furcht. Der Reporter, der auf der Gala gewesen war, warf einige zerknitterte Dollarscheine auf den Tisch, griff nach seinem Filzhut und stürmte hinaus.

In dem Durcheinander, das auf seine Ankündigung folgte, gingen Monsieur Bernards letzte Worte beinahe unter.

»Möge Gott uns allen beistehen.«

Kapitel 2

KASIA

1939

Eigentlich war es Pietrik Bakoskis Idee, auf den Felsvorsprung an der Hirschwiese zu steigen, um die Flüchtlinge zu sehen. Nur damit es da keine Zweifel gibt. Matka hat mir das nie geglaubt.

Hitler hatte Polen am 1. September den Krieg erklärt, doch seine Soldaten brauchten einige Zeit, um Lublin zu erreichen. Ich war froh darüber, weil ich nicht wollte, dass sich etwas veränderte. Lublin war vollkommen, so wie es war. Wir hörten Radioansprachen aus Berlin, in denen es um neue Vorschriften ging, und am Stadtrand fielen ein paar Bomben. Sonst passierte nichts. Die Deutschen konzentrierten sich auf Warschau, und als die Truppen dort näher rückten, flohen die Menschen zu Tausenden zu uns nach Lublin. Familien reisten in Scharen die hundertfünfzig Kilometer weiter nach Südosten und übernachteten auf den Kartoffeläckern vor der Stadt.

Vor dem Krieg war nie etwas Aufregendes in Lublin geschehen, weshalb wir einen schönen Sonnenaufgang manchmal mehr zu schätzen wussten als einen Kinofilm. Am 8. September, kurz vor Morgengrauen, erreichten wir den Gipfel und sahen unter uns Tausende Menschen, die dort in der Dunkelheit träumten. Ich lag zwischen meinen beiden besten Freunden, Nadia Watroba und Pietrik Bakoski, und beobachtete alles von einem platt gedrückten Strohhaufen aus, der noch warm war, weil eine Hirschkuh mit ihren Kitzen dort geschlafen hatte. Inzwischen waren die Hirsche fort. Frühaufsteher, so wie Hitler.

Als es am Horizont dämmerte, stockte mir der Atem, ein Nachluftschnappen, von dem man überrascht wird, weil man etwas sieht, was so schön ist, dass es wehtut. Ein Jungtier zum Beispiel, Sahne, die über Haferbrei rinnt, oder Pietrik Bakoskis Profil im ersten Morgenlicht. Sein zu achtundneunzig Prozent makelloses Gesicht wurde besonders hübsch von der Morgensonne beschienen, so wie die Prägung auf einer Zehn-Zloty-Münze. In diesem Moment sah Pietrik aus wie alle Jungen beim Aufwachen, bevor sie sich gewaschen haben. Sein Haar hatte die Farbe von frischer Butter und klebte ihm am Kopf – an der Seite, auf der er geschlafen hatte.

Nadias Profil war auch beinahe perfekt, zu erwarten bei einem Mädchen mit so zarten Gesichtszügen. Nur der violette Bluterguss auf ihrer Stirn, Souvenir eines Zwischenfalls in der Schule, trennte sie von den hundert Prozent. Inzwischen war es keine gänseeidicke Beule mehr, aber zu sehen war es noch. Sie trug einen Kaschmirpulli in der Farbe einer unreifen Honigmelone, den ich streicheln durfte, sooft ich wollte.

Es war schwierig zu verstehen, wie eine traurige Situation wie diese eine so hübsche Szene zur Folge haben konnte. Die Flüchtlinge hatten sich aus Bettlaken und Decken eine kunstvoll angelegte Zeltstadt gebaut. Als die Sonne aufging, konnten wir wie mit einem Röntgenapparat durch die geblümten Laken eines Zeltes die Umrisse der Menschen darin erkennen, die sich anzogen, um sich dem Tag zu stellen.

Eine städtisch gekleidete Frau öffnete die Zeltklappe und duckte sich heraus. Sie hielt ein Kind an der Hand, das einen Pyjama und Filzstiefel trug. Die beiden stocherten mit Stöcken im Boden und gruben nach Kartoffeln.

Hinter ihnen in der Ferne erhob sich Lublin wie eine Märchenstadt, verstreute alte pastellfarbene Häuser mit roten Dächern, als hätte ein Riese sie in einem Würfelbecher geschüttelt und auf die geschwungenen Hügel geworfen. Weiter westlich hatten sich früher unser kleiner Flugplatz und ein Industriegebiet befunden, doch das hatten die Nazis bereits bombardiert. Es war das Erste, was sie zerstört hatten, aber zumindest waren noch keine Deutschen in der Stadt einmarschiert.

»Glaubst du, die Briten helfen uns?«, fragte Nadia. »Oder die Franzosen?«

Pietrik betrachtete den Horizont. »Vielleicht.« Er riss ein Grasbüschel aus und warf es in die Luft. »Ein guter Tag zum Fliegen. Die sollten sich besser beeilen.«

Eine Reihe gefleckter Kühe trottete mit bimmelnden Glocken den Hügel hinunter und auf die Zelte zu, um dort zu weiden. Angeführt wurden sie von einigen Melkerinnen mit Kopftüchern. Eine Kuh hob den Schwanz und ließ hinter sich eine Spur aus Kuhfladen fallen, die von ihren Artgenossinnen umrundet wurden. Jede Frau hatte eine große silbrige Milchkanne geschultert.

Ich hielt Ausschau nach unserer Schule, der katholischen Mädchenschule St. Monika, an deren Glockenturm eine orangefarbene Fahne wehte. Die Böden dort waren so gründlich gebohnert, dass wir drinnen Pantoffeln aus Satin trugen. Die Tage waren von strengem Unterricht, der täglichen Messe und unseren strikten Lehrerinnen geprägt. Keine von ihnen hatte Nadia geholfen, als sie es gebraucht hätte. Mit Ausnahme von Frau Mikelsky, unserer Lieblingsmathelehrerin.

»Schaut«, sagte Nadia. »Die Frauen kommen mit den Kühen, aber da sind keine Schafe. Normalerweise sind die Schafe jetzt immer draußen.«

Nadia fiel alles auf. Obwohl sie nur zwei Monate älter war als ich, also schon siebzehn, wirkte sie in gewisser Weise reifer. Pietrik blickte an mir vorbei zu Nadia, als sähe er sie zum ersten Mal. Alle Jungen mochten sie, weil sie so anmutig Rad schlug und eine makellose Haut wie Maureen O’Sullivan hatte und außerdem einen dicken blonden Zopf. Vielleicht war ich nicht so schön wie sie und eine miserable Sportlerin, aber ich war in einer inoffiziellen Abstimmung an unserem Gymnasium zum Mädchen mit den besten Beinen und zur besten Tänzerin gewählt worden, an unserer Schule ein Jahrhundertereignis.

»Du kriegst wirklich alles mit, Nadia«, stellte Pietrik fest.

Nadia lächelte ihn an. »Nicht wirklich. Ob wir runtergehen und helfen sollten, die Kartoffeln auszugraben? Du bist nicht ungeschickt mit der Schaufel, Pietrik.«

Flirtete sie mit ihm? Ein eindeutiger Verstoß gegen meine Regel Nummer eins: Freundinnen zuerst! Pietrik hatte in der Mittsommernacht meinen Kranz aus dem Fluss geangelt und mir eine Kette mit einem silbernen Kreuz geschenkt. Hatten die Traditionen denn gar nichts mehr zu bedeuten?

Ob Pietrik sich in sie verliebte hatte? Das ergab Sinn. Anfang des Monats hatten die Pfadfinderinnen für wohltätige Zwecke Tänze mit den Jungs bei uns im Ort verkauft. Und Pietriks kleine Schwester Luiza hatte mir erzählt, Nadia habe sämtliche zehn Tänze von Pietrik erworben. Und dann war es zu dem schrecklichen Tumult vor dem Schultor gekommen. Nadia und ich hatten gerade gehen wollen, als die Straßenjungen anfingen, Nadia mit Steinen zu bewerfen und sie zu beschimpfen, weil ihr Großvater Jude war. Pietrik hatte sie in Windeseile gerettet.

Dass die Leute mit Steinen nach Juden warfen, war kein seltenes Ereignis, aber dass es Nadia passierte, war ungewöhnlich. Bis dahin hatte ich gar nicht gewusst, dass sie zum Teil Jüdin war. Wir besuchten eine katholische Schule, und sie konnte mehr Gebete auswendig als ich. Allerdings waren alle im Bilde, seit unser Deutschlehrer Herr Speck uns unseren Familienstammbaum hatte aufzeichnen lassen und dann die ganze Klasse informiert hatte.

An dem Tag, als die Jungen mit Steinen warfen, hatte ich versucht, Nadia wegzuziehen, aber sie hatte sich gewehrt. Frau Mikelsky, die ihr erstes Kind erwartete, war aus dem Schulgebäude gestürmt, hatte die Arme um Nadia geschlungen und die Jungen angeschrien, sie sollten aufhören, weil sie sonst die Polizei rufen werde. Frau Mikelsky war die Lieblingslehrerin aller Mädchen und unser Vorbild; wir wollten so sein wie sie: schön, klug und humorvoll. Sie verteidigte ihre Mädchen wie eine Löwenmutter und schenkte uns krowki, Karamellen, für jede fehlerfreie Matheprüfung, weshalb ich immer welche bekam.

Pietrik, der gekommen war, um uns nach Hause zu begleiten, vertrieb die Straßenjungen, indem er eine Schaufel schwenkte. Allerdings büßte er dabei eine Ecke seines Schneidezahns ein, was seinem Lächeln nicht schadete, sondern es sogar noch niedlicher machte.

Ein seltsames Geräusch riss mich aus meinem Tagtraum. Es war, als summten rings um uns Zikaden. Es wurde lauter, bis der Lärm den Boden unter uns zum Vibrieren brachte.

Flugzeuge.

Sie rasten so tief über uns hinweg, dass sie das Gras niederdrückten. Das Licht brach sich an ihren silbernen Bäuchen. In Dreierformationen bogen sie nach links ab, hinterließen einen öligen Geruch und steuerten auf die Stadt zu. Ihre grauen Schatten glitten über die Felder unter ihnen. Ich zählte insgesamt zwölf.

»Die sehen aus wie die Flugzeuge aus King Kong«, sagte ich.

»Im Film waren es Doppeldecker, Kasia«, widersprach Pietrik. »Curtiss Helldivers. Das waren deutsche Flugzeuge.«

»Vielleicht sind es ja polnische.«

»Es sind keine polnischen. Das erkennt man an den weißen Kreuzen unter den Tragflächen.«

»Haben sie Bomben an Bord?«, fragte Nadia eher neugierig als ängstlich. Sie fürchtete sich nie.

»Den Flugplatz haben sie sich ja schon vorgenommen«, meinte Pietrik. »Was wollen sie denn sonst noch bombardieren? Bei uns gibt es kein Munitionslager.«

Die Flugzeuge umkreisten die Stadt und flogen dann hintereinander nach Westen. Das erste ging mit einem grässlichen Kreischen in den Sturzflug und warf eine Bombe mitten in der Stadt ab, genau dort, wo sich die Krakowskie Przedmieście, unsere Hauptstraße, befand, gesäumt von den schönsten Gebäuden der Stadt.

Pietrik sprang auf. »Jezu Chryste, nein!«

Ein gewaltiger Aufprall erschütterte den Boden, und von der Abwurfstelle stiegen schwarze und graue Rauchwolken hoch. Wieder umkreisten die Flugzeuge die Stadt, und diesmal warfen sie ihre Bomben über dem Rathaus ab. Meine Schwester Zuzanna, die gerade ihr Medizinstudium abgeschlossen hatte, half dort manchmal in der Klinik aus. Was war mit meiner Mutter? Lieber Gott, bitte hol mich sofort in den Himmel, falls meiner Mutter etwas zugestoßen ist, dachte ich. War Papa gerade auf dem Postamt?

Die Flugzeuge zirkelten über der Stadt und hielten dann auf uns zu. Wir duckten uns ins Gras, als sie wieder über uns hinwegflogen. Pietrik lag auf Nadia und mir, so nah, dass ich am Rücken spürte, wie unter seinem Hemd sein Herz schlug.

Zwei Flugzeuge kehrten zurück, als hätten sie etwas vergessen.

»Wir müssen …«, begann Pietrik, doch ehe wir uns rühren konnten, gingen die Maschinen erneut in den Sturzflug über und rasten tief über das Feld unter uns hinweg. Kurz darauf hörten wir die Bordkanonen. Sie schossen auf die Melkerinnen. Einige Kugeln schlugen ins Feld ein, sodass Staubwolken aufstoben. Andere jedoch trafen die Frauen, die zu Boden stürzten. Die Milch ergoss sich ins Gras. Eine Kuh brach mit einem Aufschrei zusammen. Die Kugeln, die die Milchkannen aus Metall durchlöcherten, erzeugten ein dumpfes Klopfen.

Die Flüchtlinge auf dem Feld ließen ihre Kartoffeln fallen und rannten auseinander, doch die Kugeln streckten einige von ihnen im Lauf nieder. Ich duckte mich, als die letzten beiden Flugzeuge wieder über uns hinwegrasten. Das Feld unter uns war mit toten Männern, Frauen und Kühen bedeckt. Die Kühe, die noch laufen konnten, tobten wie wild herum.

Ich stürmte, gefolgt von Nadia und Pietrik, den Hügel hinunter, durch den Wald und über die mit Tannennadeln übersäten Pfade nach Hause. Waren meine Eltern verletzt? Zuzanna? Da es bei uns nur zwei Krankenwagen gab, würde sie die ganze Nacht bei der Arbeit sein.

Am Kartoffelfeld wurden wir langsamer; es war unmöglich, nicht hinzustarren. Nur eine Milchkannenlänge entfernt ging ich an einer Frau in Zuzannas Alter vorbei. Die Kartoffeln waren rings um sie verstreut. Sie lag auf dem Rücken in den gepflügten Furchen. Die linke Hand hatte sie über ihre Brust gelegt. Ihre Schulter war voller Blut, und auch ihr Gesicht war damit bespritzt. Ein Mädchen kniete neben ihr.

»Schwester«, sagte sie und nahm deren Hand. »Du musst aufstehen.«

»Drück die Wunde mit zwei Händen zusammen«, meinte ich zu ihr, aber sie sah mich nur an.

Eine Frau in einem Morgenmantel aus Chenille erschien und kauerte sich neben die beiden. Sie holte ein bernsteinfarbenes Gummiband aus ihrer schwarzen Arzttasche.

Nadia zog mich weg. »Los. Die Flugzeuge könnten zurückkommen.«

In der Stadt liefen alle wild durcheinander, schrien und kreischten und versuchten, sich mit dem Fahrrad, dem Pferd, Lastwagen oder Karren oder zu Fuß in Sicherheit zu bringen.

Als wir uns meiner Straße näherten, griff Pietrik nach Nadias Hand. »Du bist fast zu Hause, Kasia. Ich begleite Nadia.«

»Und was ist mit mir?«, rief ich ihnen nach. Aber sie rannten bereits die kopfsteingepflasterte Straße hinunter zur Wohnung von Nadias Mutter.

Pietrik hatte sich entschieden.

Ich steuerte auf den Tunnel zu, der unter dem alten Krakauer Tor hindurchführte, einem hohen Backsteinturm mit einer glockenförmigen Spitze, meiner Lieblingssehenswürdigkeit in Lublin und früher der einzige Zugang zur Stadt. Wegen der Bomben hatte der Turm nun an einer Seite einen Riss, aber wenigstens stand er noch.

Meine Mathelehrerin Frau Mikelsky und ihr Mann, die bei uns in der Nähe wohnten, fuhren auf ihren Rädern in entgegengesetzter Richtung an mir vorbei. Die hochschwangere Frau Mikelsky drehte sich im Fahren nach mir um.

»Deine Mutter sucht dich, Kasia«, sagte sie.

»Wo wollen Sie hin?«, fragte ich.

»Zu meiner Schwester«, erwiderte Herr Mikelsky.

»Geh nach Hause zu deiner Mutter!«, rief Frau Mikelsky über die Schulter.

Während sie weiterfuhren und in der Menschenmenge verschwanden, setzte ich meinen Heimweg fort.

Bitte, lieber Gott, lass Matka unverletzt sein.

Sobald ich unseren Häuserblock erreichte, prickelte mein ganzer Körper vor Erleichterung darüber, dass unser rosafarbenes schmales Haus noch stand. Das Haus auf der anderen Straßenseite war nur noch ein Schutthaufen, ein Gewirr aus Beton und verputzten Mauern und verbogenen Eisenbetten, das quer über die Straße reichte. Ich kletterte über die Trümmer, und als ich näher kam, bemerkte ich, dass einer von Matkas Vorhängen in der sanften Brise aus dem Fenster wehte. Da wurde mir klar, dass die Bomben all unsere Fenster mitsamt Verdunkelungspapier zerschmettert hatten.

Ich brauchte den Wohnungsschlüssel nicht hinter dem losen Backstein hervorzuholen, denn die Tür stand weit offen. Matka und Zuzanna knieten in der Küche neben Matkas Zeichentisch und sammelten Pinsel vom Boden auf. Der Geruch von umgekipptem Terpentin hing in der Luft. Psina, unser Haushuhn, folgte ihnen. Gott sei Dank, Psina war nicht verletzt – sie war für uns mehr Familienhund als Henne.

»Wo warst du?«, fragte Matka, ihr Gesicht so weiß wie das Zeichenpapier in ihrer Hand.

»Oben auf der Hirschwiese«, erwiderte ich. »Es war Pietriks Idee …«

Zuzanna stand da und hatte eine Tasse voller Glasscherben in der Hand. Ihr weißer Arztkittel war grau von Asche. Sie hatte sechs lange Jahre gebraucht, um sich diesen Kittel zu verdienen. Ihr Koffer stand neben der Tür. Sicher hatte sie gepackt, um während ihres Praktikums in der Kinderabteilung im Krankenhaus zu wohnen, als die Bomben fielen.

»Wie konntest du nur so dämlich sein?«, tadelte Zuzanna.

»Wo ist Papa?«, fragte ich, während die zwei mir Betonbröckchen aus dem Haar wischten.

»Er ist rausgegangen …«, begann Matka.

Zuzanna packte Matka an den Schultern. »Sag es ihr, Matka.«

»Er wollte dich suchen«, erwiderte Matka den Tränen nah.

»Bestimmt ist er im Postamt«, fügte Zuzanna hinzu. »Ich schaue nach ihm.«

»Geh nicht«, widersprach ich. »Was, wenn die Flugzeuge zurückkommen?« Angst zuckte in meiner Brust wie ein Zitteraal. Die armen Frauen auf dem Feld …

»Ich gehe«, beharrte Zuzanna. »Und ich komme wieder.«

»Ich will mit«, sagte ich. »Sie werden mich in der Klinik brauchen.«

»Warum machst du solchen Unsinn? Papa ist deinetwegen weg.« Zuzanna schlüpfte in ihren Pulli und näherte sich der Tür. »Im Krankenhaus braucht dich niemand. Du rollst sowieso nur Verbände. Bleib hier.«

»Geh nicht«, flehte Matka, aber Zuzanna hastete hinaus. Sie war immer stark, so wie Papa.

Matka trat ans Fenster und bückte sich nach den Glasscherben, gab es jedoch auf, weil ihre Hände so heftig zitterten. Sie kam zu mir, strich mein Haar glatt und küsste mich auf die Stirn. Ja cię kocham, wiederholte sie ein ums andere Mal wie eine Schallplatte mit einem Sprung.

Ich liebe dich.

In jener Nacht schliefen Matka und ich zusammen in ihrem Bett. Beide warteten wir mit offenen Augen darauf, dass Papa und Zuzanna eintrafen. Psina, mehr Hund als Huhn, kauerte am Fußende und steckte den Kopf unter einen ihrer daunenweichen Flügel. Mit einem Gackern wachte sie auf, als Papa vor dem Morgengrauen endlich erschien. Die Tweedjacke grau von Asche, stand er in der Tür. Papa hatte schon immer ein trauriges Gesicht wie das eines Bluthunds gehabt. Selbst auf seinen Babyfotos hingen ihm die Hautfalten hinunter. Doch in jener Nacht warf das Licht aus der Küche einen Schatten auf sein Gesicht, der ihn noch bedrückter wirken ließ.

Matka fuhr im Bett hoch. »Ade?« Sie schleuderte die Decke weg und hastete auf ihn zu. Ihre Silhouetten hoben sich dunkel vor dem Licht in der Küche ab. »Wo ist Zuzanna?«

»Ich habe sie nicht gesehen«, antwortete Papa. »Als ich Kasia nicht finden konnte, bin ich zum Postamt gegangen und habe meine Akten draußen verbrannt. Informationen, die die Deutschen interessiert hätten. Namen und Adressen. Militärlisten. Sie haben das Postamt in Warschau besetzt und die Telegrafenleitung durchgeschnitten. Also sind wir als Nächste dran.«

»Was ist aus den Mitarbeitern geworden?«, erkundigte sich Matka.

Papa warf einen Blick auf mich und antwortete nicht.

»Unserer Vermutung nach sind die deutschen Truppen in einer Woche da. Und aller Wahrscheinlichkeit nach werden sie zuerst hierher kommen.«

»Hierher?« Matka zog ihren Morgenmantel am Hals zusammen.

»Um mich zu suchen. Ich könnte ihnen nützlich sein.« Papa lächelte zwar, aber sein Blick blieb dunkel. »Sie werden das Postamt für ihre eigene Kommunikation verwenden wollen.«

Niemand kannte das Postamt so gut wie Papa. Er leitete es, solange ich mich erinnern konnte. Kannte er Geheimnisse? Papa war Patriot. Er würde lieber sterben, als den Deutschen etwas zu verraten.

»Woher wissen die denn, wo wir wohnen?«

Papa betrachtete Matka, als wäre sie ein Kind. »Die planen das schon seit Jahren, Halina. Falls sie mich gefangen nehmen, brauchen sie mich hoffentlich noch und werden mich am Leben lassen. Wenn es so weit kommen sollte, warte zwei Tage. Wenn du bis dahin nichts von mir gehört hast, nimm die Mädchen und geh nach Süden.«

»Die Briten werden uns helfen«, protestierte Matka. »Die Franzosen …«

»Es wird niemand kommen, Liebling. Der Bürgermeister flieht und nimmt die Polizei und die Feuerwehr mit. Jetzt müssen wir so viel von unseren Sachen verstecken, wie wir können.«

Papa holte Matkas Schmuckkasten aus der Kommode und warf ihn aufs Bett. »Spül und trockne sämtliche Blechdosen. Wir müssen alle Wertsachen vergraben.«

»Aber wir haben doch nichts falsch gemacht, Ade. Die Deutschen sind ein kultiviertes Volk. Hitler hat sie verhext.«

Matkas Mutter war eine Deutsche gewesen, ihr Vater ein halber Pole. Selbst aus dem Schlaf gerissen war sie schön. Weich, aber nicht zerbrechlich und eine echte Blondine.

Papa packte sie am Arm. »Dein Kulturvolk will, dass wir verschwinden, um selbst hier einziehen zu können. Verstehst du das nicht?«

Papa ging durch die Wohnung und verstaute unsere wichtigsten Wertsachen in einer Blechkiste mit aufklappbarem Deckel: Matkas Krankenschwesternzertifikat, ihre Hochzeitsurkunde, einen kleinen Rubinring aus Matkas Familie und einen Umschlag mit Familienfotos.

»Hol den Sack mit Hirse. Den vergraben wir auch.«

Matka zog den Leinensack unter der Spüle hervor.

»Wahrscheinlich werden sie jedes Haus nach versteckten polnischen Soldaten durchsuchen«, sagte Papa leise. »Im Radio wurden die neuen Vorschriften gesendet. Polen als Land gibt es nicht mehr. Man darf nicht mehr Polnisch sprechen. Alle Schulen werden geschlossen. Es werden Ausgangssperren verhängt. Um davon befreit zu werden, braucht man einen rosafarbenen Ausweis. Außerdem dürfen wir keine Waffen, Skistiefel oder Lebensmittel besitzen, die über die Rationierung hinausgehen. Wer heimlich etwas hortet, wird mit dem …« Wieder sah Papa mich an und verstummte. »Wahrscheinlich werden sie sich einfach nehmen, was sie wollen.«

Als Papa seinen alten silbernen Revolver aus der Kommodenschublade nahm, wich Matka davor zurück.

»Vergrab ihn, Ade«, meinte sie mit geweiteten Augen.

»Vielleicht brauchen wir ihn noch«, widersprach Papa.

Matka wandte sich ab. »Aus Waffen entsteht nie etwas Gutes.«

Nach kurzem Zögern legte Papa den Revolver in die Kiste. »Vergrab deine Pfadfinderinnenuniform, Kasia. Die Nazis haben es auf Pfadfinder abgesehen. In Danzig haben sie einige Pfadfinder erschossen.«

Ich erschauderte. Da ich wusste, dass ich mich nicht mit Papa herumstreiten durfte, steckte auch ich meine wertvollsten Habseligkeiten in die Blechdosen: den Wollschal, den Pietrik früher getragen hatte und der noch nach ihm roch. Das neue rote Kleid aus Cord, das Matka für mich genäht hatte. Mein Uniformhemd von den Pfadfinderinnen und das Halstuch und ein Foto, auf dem Nadia und ich auf einer Kuh ritten. Matka wickelte einige ihrer Zobelhaarpinsel von Kolinsky ein, die ihrer Mutter gehört hatten, und legte sie ebenfalls in eine Dose. Dann versiegelte Papa die Deckel der Dosen mit geschmolzenem Wachs.

In jener Nacht beleuchteten nur die Sterne unseren Garten, eine kahle Fläche, begrenzt von einigen Brettern, die bloß noch vom Unkraut aufrecht gehalten wurden. Papa trat auf das rostige Schaufelblatt, um es in den Boden zu treiben. Es durchschnitt die harte Erde, als wäre die ein Stück Kuchen. Er schaufelte ein tiefes Loch, wie das frische Grab eines Babys.

Wir waren fast fertig, doch selbst im Halbdunkel bemerkte ich, dass Matka noch ihren Verlobungsring am Finger trug. Den, den ihre Mutter ihr geschenkt hatte, weil Papa zu arm gewesen war, um ihr selbst einen zu kaufen. Der Ring ähnelte einer wunderschönen Blume: mit einem großen Diamanten in der Mitte, umgeben von Blütenblättern aus tiefblauem Saphir. Als Matka in der Dunkelheit die Hand bewegte, funkelte er wie ein nervöses Glühwürmchen. »Der Diamant hat einen Kissenschliff. Aus dem siebzehnten Jahrhundert, als man Steine noch so schliff, dass sie auf Kerzenlicht reagierten«, hatte Matka gesagt, wenn die Leute den Ring bewundert hatten. Und das tat er auch. Er schimmerte, als wäre er lebendig.

»Was ist mit dem Ring?«, fragte Papa.

Das Glühwürmchen verschwand schutzsuchend hinter ihrem Rücken. »Den nicht«, protestierte sie.

Wenn wir als Kinder eine Straße überquert hatten, hatten Zuzanna und ich uns immer gestritten, wer Matkas Hand mit dem Ring halten durfte. Die hübsche Hand.

»Haben wir nicht schon genug vergraben?«, wandte ich ein. »Wir werden hier draußen noch erwischt.«

In der Dunkelheit debattierend herumzustehen würde Aufmerksamkeit erregen.

»Wie du willst, Halina«, entgegnete Papa und warf Schaufeln voller Erde in das Loch, um unsere Schätze zu bedecken. Ich schob mit den Händen Erde hinterher, damit es schneller ging. Papa klopfte den Boden glatt. Danach zählte er seine Schritte zurück zum Haus, damit er später unser Schatzversteck auch wiederfände.

Zwölf Schritte bis zur Tür.

Endlich kam Zuzanna nach Hause. Sie brachte schreckliche Geschichten von den Ärzten und Schwestern mit, die sich die ganze Nacht abgemüht hatten, um die Verwundeten zu retten. Es hieß, viele seien noch unter dem Geröll verschüttet. Wir lebten in Angst davor, die Deutschen vor unserer Tür zu hören, und klebten in der Hoffnung auf gute Nachrichten mit dem Ohr am Küchenradio. Doch wir erfuhren nur von Tragödien. Polen hatte sich verteidigt und hohe Verluste erlitten, da es den modernen Panzerdivisionen und den Fliegerstaffeln der Deutschen unterlegen war.

Als ich am Samstag, den 17. September, aufwachte, berichtete Matka Papa gerade, was sie im Radio gehört hatte. Die Russen hatten Polen von Osten her angegriffen. Würden nun alle Länder über uns herfallen?

Ich traf meine Eltern in der Küche an, wo sie aus dem Fenster spähten. Es war ein kühler Herbstmorgen. Eine leichte Brise blähte Matkas Vorhänge. Als ich mich dem Fenster näherte, bemerkte ich eine Gruppe von Juden in schwarzen Anzügen, die den Schutt vor unserem Haus beseitigten.

Matka schlang die Arme um mich, und sobald die Straße frei war, sahen wir eine Kolonne deutscher Soldaten, die sich heranwälzte wie neue Gäste auf dem Weg in die Pension, beladen mit Bergen von Gepäck. Zuerst kamen Lastwagen, dann Fußsoldaten und dann weitere Soldaten, die kerzengerade und hochmütig auf ihren Panzern standen. Wenigstens blieb Zuzanna dieser traurige Anblick erspart, weil sie an jenem Morgen bereits im Krankenhaus war.

Mama kochte Wasser für Papas Tee, während er alles beobachtete. Ich tat mein Bestes, um mich so still wie möglich zu verhalten. Wenn wir keinen Mucks von uns gäben, würden sie uns vielleicht nicht behelligen. Um mich zu beruhigen, zählte ich die Vögel, mit denen Matkas Vorhänge bestickt waren. Eine Lerche. Zwei Schwalben. Eine Krähe. Waren Krähen nicht Vorbotinnen des Todes? Das Dröhnen eines Lastwagens wurde lauter.

In dem Versuch, die in mir aufsteigende Panik zu unterdrücken, atmete ich tief durch.

»Raus, raus!«, brüllte ein Mann. Das schreckliche Klappern beschlagener Stiefel auf dem Kopfsteinpflaster. Es waren so viele.

»Weg vom Fenster, Kasia«, sagte Papa und wich selbst zurück. Sein gepresster Tonfall verriet mir, dass er Angst hatte.

»Sollen wir uns verstecken?«, flüsterte Matka. Sie drehte ihren Ring herum, sodass der Stein in ihrer hohlen Hand verborgen war.