14,99 €
Der Meisterdetektiv unmöglicher Verbrechen ist zurück!
Japan in der Nachkriegszeit. Im abgelegenen Bergdorf Onikobe sorgen mysteriöse Todesfälle für Entsetzen: Die Opfer werden in grotesken Posen aufgefunden, als wären sie Teil eines makabren Spiels. Was hat es mit dem alten Kinderlied auf sich, zu dem die Spur Kosuke Kindaichi führt? Um dieses teuflische Rätsel zu lösen, muss der ebenso schrullige wie liebenswerte japanische Detektiv tief in die dunklen Geheimnisse des Ortes und seiner verfeindeten Familien vordringen. Wird es ihm gelingen, das tödliche Geheimnis zu entschlüsseln?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 369
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ein Freund von Kosuke Kindaichi lädt den legendären Detektiv in das abgelegene japanische Bergdorf Onikobe ein, wo er auf einen 20 Jahre alten ungelösten Mordfall stößt. Kaum ist Kindaichi im Dorf eingetroffen, beginnt eine neue Mordserie: Mehrere Leichen werden in bizarren Posen entdeckt, und schon bald wird klar, dass sie auf unheimliche Weise auf den Text eines traditionellen Kinderliedes anspielen. Entschlossen, Licht ins Dunkel zu bringen, taucht Kindaichi in die finstere Geschichte des Dorfes ein, wo alte Fehden, tragische Geheimnisse und tödliche Intrigen aufeinanderprallen. Wird es ihm gelingen, das Rätsel zu lösen, bevor der Spatzenmörder weitere Opfer fordert?
Seishi Yokomizo, der wohl beliebteste Krimiautor Japans, hat mit »Die Spatzenmorde von Onikobe« Kindaichis fünften Fall vorgelegt. Ein packender, atmosphärisch dichter Historienkrimi, voll von unerwarteten Wendungen und japanischem Flair.
Seishi Yokomizo (1902-1981) ist einer von Japans berühmtesten und beliebtesten Kriminalautoren. Er wurde in Kobe geboren und las als Junge unzählige Detektivgeschichten, bevor er selbst zu schreiben begann. Allein seine Serie um Kosuke Kindaichi umfasst 77 Bücher. »Die rätselhaften Honjin-Morde« war der erste Band dieser Reihe und gewann sogleich den ersten Preis für Kriminalautoren Japans. »Die Spatzenmorde von Onikobe« ist Kosuke Kindaichis fünfter Fall.
Einmal im Monat informieren wir Sie über
die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehrFolgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:
https://www.facebook.com/aufbau.verlag
Registrieren Sie sich jetzt unter:
http://www.aufbau-verlage.de/newsletter
Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir
jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!
Seishi Yokomizo
Die Spatzenmorde von Onikobe
Kriminalroman
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
Newsletter
Personenregister
PROLOG
TEIL I — Was das erste Spätzlein sagt
Ein Betrüger im Dorf
Das Glamourgirl
Schildkrötenbad
Blaubarts fünfte Frau
Auftritt des Glamourgirls
Der erste Obon-Feiertag
Dorfvorstehers Tod
Der Molch
Tot oder lebendig
Durch den Trichter in den Krug
TEIL II — Was das zweite Spätzlein sagt
Geschichten am Feuer
Die Rivalen
Shiro Aoyagi, der Benshi
Das Mädchen mit dem Feuermal
Marokko – Fluch eines Films
Geheimnis um den Tod eines Vaters
Eine dreiundachtzigjährige Dame
Ein vaterloses Kind
Die erste Nacht der Enthüllungen
Koreya Kusakabe, der Manager
TEIL III — Was das dritte Spätzlein sagt
Große Batzen, kleine Batzen waren ihre Welt
Zur ew’gen Ruh
Folklore
Fumikos Mutter
Die zweite Nacht der Enthüllungen
Kosuke Kindaichi fährt nach Kobe
Das verräterische Album
Des Schlossers Tochter war ein schönes Kind
Abschiedsfeuer
Feuer und Wasser
Der letzte Schreck
Kosuke Kindaichi spekuliert
Epilog
Glossar
Impressum
© Neil Gower
FAMILIE YURA (Böttcher)
Ioko Yura – dreiundachtzigjährige Matriarchin der Familie
Utaro Yura – ihr verstorbener Sohn
Atsuko Yura – Utaros Witwe
Toshio Yura – ihr Sohn
Yasuko Yura – ihre Tochter
Eiko Yura – Toshios Frau
FAMILIE NIRE (Waagenbauer)
Jimpei Nire – verstorbenes Familienoberhaupt
Kahei Nire – Familienoberhaupt
Naohei Nire – sein ältester Sohn
Shohei Nire – sein jüngerer Sohn
Fumiko Nire – seine Tochter, die jüngste der Geschwister
Michiko Nire – Naoheis Frau
Sakie Nire – Kaheis jüngste Schwester
FAMILIE AOIKE
Rika Aoike – Betreiberin des Onsens Schildkrötenbad
Genjiro Aoike – ihr verstorbener Mann, alias Shiro Aoyagi als Benshi (Kinoerzähler)
Kanao Aoike – ihr ältester Sohn
Satoko Aoike – ihre Tochter
Omiki – Hausmädchen
FAMILIE TATARA
Hoan Tatara – Dorfvorsteher
Orin Kurabayashi – seine fünfte Frau
FAMILIE BESSHO (Schlosser)
Ryota Bessho – Familienoberhaupt
Matsuko Bessho – seine demenzkranke Frau
Harue Bessho – ihre Tochter
Chieko Bessho – Harues Tochter, alias Sängerin Yukari Ozora, bei den Großeltern aufgewachsen
Tatsuzo Bessho – Harues älterer Bruder
Goro Bessho – Tatsuzos Sohn
ANDERE
Ikuzo Onda – Handlungsreisender, angeblicher Betrüger
Koreya Kusakabe – Yukari Ozoras Manager
Oito – Wirtin des Gasthauses Zum Brunnen in Soja
Dr. Honda – praktizierender Arzt in Onikobe
Kazuko Honda – seine Frau
Der alte Dr. Honda – sein Vater, früher Arzt in Onikobe
ERMITTLER
Kosuke Kindaichi – Privatdetektiv
Kommissar Isokawa – von der Präfekturpolizei Okayama, alter Freund von Kosuke Kindaichi
Tachibana – Polizeiobermeister
Inui, Kato, Yamamoto – Kriminalbeamte
Kimura – Dorfpolizist
Ein Freund von mir gibt ein kleines Magazin mit dem Titel Folklore heraus. Es umfasst nur vierundsechzig Seiten, hat eine bescheidene Auflage und nur wenige Abonnenten, stellt aber eine durchaus bereichernde Lektüre dar.
Wie der Titel bereits vermuten lässt, widmet sich die Zeitschrift regionalen Volksbräuchen in ganz Japan. Mit Ausnahme einiger bekannterer Autoren sind die Verfasser in der Regel anonyme Leser, die einen Artikel eingereicht haben. Auch wenn die Beiträge mitunter etwas naiv erscheinen, sind sie aufgrund ihrer Kuriosität häufig sehr interessant und enthalten die eine oder andere Neuigkeit.
Ich sammle die einzelnen Ausgaben der Zeitschrift und blättere immer wieder gern darin, wenn ich etwas Zeit habe. Kürzlich stieß ich auf einen besonders ausgefallenen Artikel, der mir bisher entgangen war. Er war im September 1953 erschienen, trug den Titel »Überlegungen zu einem Temari-Lied aus Onikobe« und beschäftigte sich mit einem Werk dieser fast vergessenen Gattung. Verantwortlich für den Artikel zeichnete ein gewisser Hoan Tatara, wobei aus der Zeitschrift nicht hervorging, wer genau dieser Herr war. Wahrscheinlich war er einer der Leser, die sich mehr oder weniger zufällig an den Herausgeber wandten.
Da gerade dieses Temari-Lied in der schrecklichen Geschichte, die ich hier mit Kosuke Kindaichis gütiger Erlaubnis erzählen werde, eine so entscheidende Rolle spielte, werden meine geschätzten Leserinnen und Leser großen Nutzen aus der Wiedergabe der Strophen ziehen, die auch Herr Tatara in seinem Beitrag zitierte.
Temari-Lied aus dem Dorf Onikobe
Im Garten hinter unsrem Haus
Lebten einst drei Spatzen,
Und das erste Spätzlein sagt zu mir,
Hör zu, was ich berichten kann:
In der Burg in meiner Heimat hier
Wohnt ein stolzer Edelmann,
Der liebt Jagd, Wein, Weib und Gesang,
Vorweg zum Weibe hat er einen Drang.
Des Böttchers Tochter war ein schönes Kind,
Schönes Kind, doch soff sie wie ein Loch.
Aus dem Fass durch den Trichter in den Krug,
Der Durst, er rief, sie kriegte nie genug,
Also schickte er sie fort,
Hinfort.
Und das zweite Spätzlein sagt zu mir,
Hör zu, was ich berichten kann:
In der Burg in meiner Heimat hier
Wohnt ein stolzer Edelmann,
Der liebt Jagd, Wein, Weib und Gesang,
Vorweg zum Weibe hat er einen Drang.
Des Waagenbauers Tochter war ein schönes Kind,
Schönes Kind, doch sie gierte nur nach Geld,
Große Batzen, kleine Batzen waren ihre Welt.
Tag und Nacht wog sie sie ab, kriegte nie genug,
Rastlos war sie, fand keinen Schlaf an keinem Ort,
Also schickte er sie fort,
Hinfort.
Und das dritte Spätzlein sagt zu mir,
Hör zu, was ich berichten kann:
In der Burg in meiner Heimat hier
Wohnt ein stolzer Edelmann,
Der liebt Jagd, Wein, Weib und Gesang,
Vorweg zum Weibe hat er einen Drang.
Des Schlossers Tochter war ein schönes Kind,
Schönes Kind, das sehr verschlossen war,
Doch wenn das Schloss zerbricht,
Passt kein Schlüssel nicht,
Also schickte er sie fort,
Hinfort.
Das Temari-Lied von Onikobe hatte anscheinend noch eine weitere Strophe, doch mehr als diese drei gab der Verfasser nicht preis.
Laut Tatara waren die Lieder in der Regel eine Art Abzählreim, die beim Spiel mit einem kleinen Stoffball – dem Temari – gesungen wurden. Meist enthielten sie Wortspiele und basierten eher auf Assoziation als auf innerer Logik. Das Lied aus Onikobe schien hingegen einem roten Faden zu folgen, was Tatara darauf zurückführte, dass die Bauern zur Zeit des Shogunats mit Balladen wie dieser versteckte Kritik an ihren Grundherren übten.
Aber wo war eigentlich dieses Dorf Onikobe?
Es lag genau an der Grenze zwischen den Präfekturen Hyogo und Okayama, etwa dreißig Kilometer von der Küste der Inlandsee entfernt. In einem von Bergen umschlossenen Talkessel war es von allen Hauptverkehrsadern abgeschnitten. Aufgrund der wenigen Straßen, die dorthin führten, wäre es naheliegend gewesen, Onikobe der Präfektur Hyogo zuzuordnen. Merkwürdigerweise gehörte es jedoch zur Präfektur Okayama, was wohl auf historische Verbindungen zurückzuführen war.
Aufgrund der besonderen geografischen Lage von Onikobe ergaben sich einige Schwierigkeiten, insbesondere bei polizeilichen Ermittlungen. Während die Polizei der Präfektur Okayama das Dorf stiefmütterlich behandelte, neigte die Polizei von Hyogo trotz besserer Verkehrsverbindungen dazu, bei allem, was dort geschah, ein Auge zuzudrücken, da Onikobe außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs lag. Es war daher nicht verwunderlich, dass dies erhebliche Auswirkungen auf den Fall hatte, von dem ich zu berichten habe.
Während des Shogunats gehörte die Gegend zum Lehen eines gewissen Ito, einem Fürsten von Shinano. Das Lehensregister aus dem ersten Jahr der Meiji-Zeit – 1868 – führt Itos Lehensgebiet nur mit der eher geringen Summe von 10.343 Koku auf. Der »Edelmann« im Temari-Lied aus Onikobe bezog sich natürlich auf einen Vorfahren dieser Familie Ito. Tataras Nachforschungen zufolge gab es in der Tenmei-Zeit einen als Tyrann und Vergewaltiger bekannten Feudalherren namens Sukeyuki Ito. Wenn er auf seinen Jagdausflügen einem hübschen jungen Mädchen oder auch einer attraktiven verheirateten Frau begegnete, entführte er sie und zwang sie brutal zum Beischlaf. Sobald er ihrer überdrüssig war, bezichtigte er sie eines geringfügigen Vergehens und tötete sie. Dieser Sukeyuki scheint gegen Ende der Tenmei-Zeit eines plötzlichen Todes gestorben zu sein. Mutmaßlich hatte jemand aus seinem Gefolge ihn vergiftet.
Das Temari-Lied aus Onikobe handelt von den Verbrechen dieses Sukeyuki Ito. Der Refrain »Also schickte er sie fort, hinfort« am Ende jeder Strophe ist eine beschönigende Ausdrucksweise für die Ermordung der jungen Frauen.
Die Berufsbezeichnungen Böttcher, Waagenbauer und Schlosser wurden gewählt, da Handwerker nach dem damaligen Gesetz keine Familiennamen tragen durften und entsprechend ihres Handwerks gerufen wurden. Obwohl sie in der Meiji-Zeit das Recht auf einen Familiennamen erhielten, werden die Berufsbezeichnungen besonders von älteren Menschen noch heute verwendet. So entstand das in der Zeitschrift Folklore abgedruckte Temari-Lied. Nachdem ich diese Hintergründe erklärt habe, gebe ich nun die Bühne frei für die Geschichte der grausigen Morde von Onikobe, von denen die drei Spatzen berichten.
Was das erste Spätzlein sagt
Ende Juli 1955 erreichte Kosuke Kindaichi in einer der mittlerweile selten gewordenen Rikschas über den Sennin-Pass das Dorf Onikobe, im Gepäck ein Empfehlungsschreiben von Kommissar Isokawa. Natürlich ahnte er nicht, dass das Dorf für seine Temari-Lieder bekannt war.
Der Privatdetektiv kam nicht wegen eines Falls nach Onikobe. Schließlich war auch er nur ein Mensch und keine Maschine. Er war nicht ständig auf Verbrecherjagd, sondern suchte auch hin und wieder Ruhe und Einsamkeit, um sich geistig und körperlich zu erholen.
Nach reiflicher Überlegung hatte er sich für die Präfektur Okayama entschieden. Durch frühere Fälle wie Die rätselhaften Honjin-Morde, gefolgt von Mord auf der Insel Gokumon und Das Dorf der acht Gräber hatte er eine enge Beziehung zu Okayama und eine Vorliebe für die Sitten und Gebräuche der Gegend entwickelt. Vor allem schätzte er die Wärme und Gastfreundschaft der Menschen dort.
Da er als Junggeselle frei und ungebunden war, machte er sich eines schönen Tages mit seiner Reisetasche auf den Weg nach Westen, um zunächst seinem Freund Kommissar Isokawa bei der Präfekturpolizei Okayama einen Besuch abzustatten.
Wie üblich hatte er sich weder mit einem Brief noch per Postkarte angekündigt, so dass Kommissar Isokawa, als er ihn in dem schlichten Warteraum sitzen sah, überrascht die Augen aufriss.
»Ach, Kindaichi! Wann sind Sie angekommen?« Er freute sich so sehr, dass er seinen alten Freund sogleich mit Fragen überschüttete.
»Gerade eben«, antwortete Kosuke Kindaichi mit halb geschlossenen Augen, um zu demonstrieren, dass er im Zug nicht geschlafen hatte und müde war.
»Sie sind gerade erst angekommen? Ist es wegen eines Falls?«
»Ach, hören Sie doch auf, Kommissar. Kaum sehen Sie mich, denken Sie sofort, ich arbeite an einem Fall. Kann ich einem alten Freund, den ich lange nicht gesehen habe, nicht einfach so einen Besuch abstatten?«
»Ist das Ihr Ernst?«
Kommissar Isokawa lachte.
»Ja, mein voller Ernst.«
»Da fühle ich mich ja richtig geehrt.«
Der Kommissar rieb sich mit seiner großen Hand das Kinn und lachte übers ganze Gesicht. Er war seit ihrer letzten Begegnung erheblich gealtert.
Sein kurz geschorenes Haar war inzwischen fast weiß und so schütter, dass die Kopfhaut hindurchschimmerte. Auch seine Augenbrauen waren weiß, und seine Stirn war zerfurcht, aber er hatte noch immer eine kräftige Statur und wirkte energisch und furchtlos. Sein gebräuntes Gesicht bildete einen markanten Kontrast zu seinem weißen Haar. Seit Jahrzehnten versah er unermüdlich Tag für Tag seinen Polizeidienst. Er war Witwer, seine Frau war bereits vor vielen Jahren gestorben.
»Was haben Sie vor, Kindaichi?«
»Da bin ich mir noch nicht ganz sicher.«
Er sei auf der Suche nach einem ruhigen Ort, an dem er sich etwa einen Monat ohne Ablenkungen erholen konnte.
»Kennst du vielleicht etwas Schönes hier in der Gegend?«, fragte Kosuke seinen Freund. »Es kann ruhig abgelegen sein. Vielleicht ein kleines Dorf in den Bergen, möglichst ländlich?«
»Da fällt mir bestimmt etwas ein. Aber wie sehen Sie denn wieder aus, Kindaichi?« Kopfschüttelnd musterte Kommissar Isokawa seinen Freund, der in seinem zerknitterten blau-weißen Kimono und seinem fadenscheinigen Sommer-Hakama wie üblich einen etwas schäbigen und ungepflegten Eindruck machte. »Sie sind wirklich ganz der Alte.«
Er lachte herzlich, und Fältchen bildeten sich um seine Augen. »Egal, darüber sprechen wir heute Abend. Sie sind sicher müde. Ich gebe Ihnen die Adresse einer gemütlichen Herberge, wo Sie ein Bad nehmen und sich ausruhen können. Und hole Sie dann nach Feierabend dort ab.«
Während die beiden am Abend ein paar Bier tranken, zog Kommissar Isokawa ein Schreiben aus seinem Yukata.
»Hier habe ich die gewünschte Empfehlung für Sie. Aber ich erachte es als meine Pflicht, Sie vorzuwarnen. Völlige Abgeschiedenheit werden Sie auch dort nicht finden. Selbst in diesem Dorf, so klein es ist, weht der Wind.«
Auf dem Umschlag stand: An Frau Rika Aoike, Onikobe.
»Das ist schon in Ordnung. Wie heißt das? Onikobe? Teufelsdorf? Seltsamer Name. Und Rika ist wohl der Name einer Frau?«
»Ja, genau. Die Arme hat wirklich allerhand durchgemacht«, sagte der Kommissar mitfühlend und rieb sich das Kinn. »Ihr Mann wurde ermordet, und der Täter wurde nie gefasst.«
Den Brief in der Hand, sah Kosuke Kindaichi den Kommissar entrüstet an.
»Kommt nicht infrage! Ich habe Ihnen heute Mittag klar und deutlich gesagt, dass ich mich ausruhen will und sonst nichts.«
»Weiß ich doch, weiß ich doch.« Kommissar Isokawa winkte ab. »Der Mord liegt schon über zwanzig Jahre zurück, Sie können also ganz beruhigt sein. Damit wollte ich doch nur sagen, dass es heutzutage viel verlangt ist, einen Ort zu finden, der völlig von der Außenwelt abgeschnitten ist. Vor über zwanzig Jahren war Onikobe viel abgeschiedener als heute. Und dennoch gab es einen ungelösten Mordfall.«
Kommissar Isokawa hätte seinem Freund gern mehr darüber erzählt, aber er traute sich nicht, weil dieser so entschieden behauptete, nichts mit Kriminalfällen zu tun haben zu wollen.
Kosuke Kindaichi fand jedoch, dass es nicht schlecht wäre, etwas mehr über diese Rika Aoike zu erfahren, da er bei ihr wohnen sollte. Nein, überhaupt nicht schlecht, ganz im Gegenteil. Er hob den Blick vom Briefumschlag.
»Klingt interessant, oder?« Er grinste schelmisch und sah den Kommissar herausfordernd an.
»Ja, das ist die Geschichte wirklich«, sagte dieser ein wenig verlegen, wie ein Kind, das bei einem Streich ertappt wurde. »Möchten Sie sie hören?«
»Ja, unbedingt. Einem ungelösten Fall von vor über zwanzig Jahren kann ich nicht widerstehen. Das ist eine ganz schlechte Angewohnheit von mir.«
»Freut mich. Aber eins muss ich zur Sicherheit noch sagen.« Erfreut, dass sein Freund sich so zugänglich zeigte, begann der Kommissar begeistert zu erzählen. »Sie kennen sich ja mit den Dörfern auf dem Land ziemlich gut aus, Kindaichi, und wissen, dass immer eine Familie die mächtigste ist und eine andere mit ihr konkurriert. So war es auf der Insel Gokumon und auch im Dorf der acht Gräber.«
»Ja, stimmt, das heißt also, in Onikobe gibt es ebenfalls zwei Clans?«, nahm Kosuke Kindaichi den Faden auf.
»Genau so ist es«, fuhr Kommissar Isokawa freudig fort. »Oder besser gesagt: Es gab zwei mächtige Familien dort. In letzter Zeit haben sich die Machtverhältnisse in der Gegend offenbar verschoben. Der Mord ereignete sich im Jahr Showa 7, also 1932, ein Jahr nach dem Mukden-Zwischenfall in der Mandschurei. Sie erinnern sich sicher, in welch tiefer wirtschaftlicher Krise die Dörfer damals steckten.«
»Ja, diese Krise war einer der Hauptgründe für den Zwischenfall in der Mandschurei.«
»Ja, genau. Jedenfalls teilten sich damals die Familien Yura und Nire die Macht im Dorf. Dann gab es noch die Familie Tatara, die in der Edo-Zeit das Amt des Dorfvorstehers innehatte und eigentlich die mächtigste hätte sein müssen. Allerdings brachten die letzten beiden Generationen nur Verschwender hervor, die die Familie in den Ruin trieben, so dass die Familien Yura und Nire die Macht an sich reißen konnten. Alle im Dorf waren nun gezwungen, sich auf die Seite einer dieser Familien zu schlagen. Niemand konnte neutral bleiben.«
»Das klingt wie die Lage zwischen den Sowjets und den Amerikanern in der modernen Welt.«
»Stimmt genau. Übrigens waren die Yuras die mächtigere der beiden Familien, denn sie besaßen nicht nur fast ganz Onikobe, sondern auch eine Menge Land und Reisfelder in der Umgebung. Vor allem die Verschwendungssucht der Tataras ermöglichte es ihnen, so viel Grundbesitz zu erwerben. Die aufstrebenden Nires hatten zwar ebenfalls viel Land erworben, dieses lag jedoch zu großen Teilen in den Bergen. Das brachte damals keinen großen Gewinn, so dass die Nires eigentlich keine echte Konkurrenz waren. Doch Jimpei Nire, das damalige Familienoberhaupt, war ein vorausschauender Mann. Er begann irgendwann in den zwanziger Jahren, also zu Ende der Taisho-Zeit, Trauben an seinen Hängen anzubauen. Anfang der 1930er Jahre verzeichnete er bereits so gute Erträge, dass die Nires ihren Einfluss ausweiten konnten.
»Und bauen sie noch immer Wein an?«
»Natürlich. Wein ist mittlerweile der wichtigste Wirtschaftszweig von Onikobe.«
»Aha, jetzt begreife ich den Aufstieg der Familie Nire. Immerhin haben sie dem Dorf eine neue Industrie beschert.«
»Ja, genau. Jimpei Nire muss ein sehr kluger Mann gewesen sein. Onikobe liegt in einem Talkessel und ist somit von allen Seiten von Bergen umgeben. Er führte ausführliche Messungen durch und stellte fest, dass die Temperatur, die Luftfeuchtigkeit und die Sonnenstunden nahezu identisch mit denen in der Region Koshu sind, die für ihren Weinanbau berühmt ist. Seine Bemühungen trugen bereits Ende der 1920er Jahre Früchte. Und wie es nun einmal ist, wenn jemand Erfolg hat, umschwirrten ihn die Leute wie Bienen den Honig. Bei all den Schmeicheleien kam es, wie es kommen musste: Jimpei stieg der Erfolg zu Kopf.«
»Ich verstehe. All das war sicherlich wenig erfreulich für die Familie Yura, und sie mussten Gegenmaßnahmen ergreifen.«
»Gut kombiniert, Kindaichi. Genau das geschah. Die Yuras setzten sich zur Wehr – und damit begann die ganze Tragödie.« Der Kommissar strich sich mit seiner großen Hand übers Gesicht. »Damaliges Familienoberhaupt war ein gewisser Utaro. Er war um die vierzig und in den Augen des alten Jimpei noch grün hinter den Ohren. Er war von seiner Amme großgezogen und entsprechend verwöhnt worden. Kurz, er wusste nicht viel von der Welt. Zu allem Überfluss fühlte er sich ständig gedrängt, sich dem alten Mann überlegen zu zeigen. All das wusste jemand geschickt auszunutzen.«
»Und wer?«
»Ein Schwindler. Ein Schwindler, der sich die Notlage der Bauern zunutze machte. Damit brachte er nicht nur die Familie Yura in Schwierigkeiten, sondern stellte ganz Onikobe auf den Kopf.«
»Was? Ein Schwindler kam ins Spiel?« Diese Wendung überraschte sogar Kosuke Kindaichi.
»Ja, er verschwand, nachdem er jemanden umgebracht hatte, und versetzte damit das ganze Dorf in Aufruhr.« Kommissar Isokawas Miene verdüsterte sich.
»Er nannte sich Ikuzo Onda – natürlich ein falscher Name – und war etwa Mitte dreißig. Er war im Jahr 1931 mit einem Empfehlungsschreiben bei Utaro Yura aufgetaucht. Mit seiner goldgerahmten Brille und dem kleinen Schnurrbart war er anscheinend ein gut aussehender Mann. Er versprach dem Dorf Nebeneinkünfte durch die Herstellung von Lametta und Girlanden. Sie wissen schon, das bunte Zeug, das man zu Weihnachten an den Baum hängt. Es war für den Export bestimmt.«
»Ah ja, verstehe.«
Da sich das Gespräch nun nicht mehr nur um die Machtkämpfe im Dorf drehte, setzte Kosuke Kindaichi sich interessiert auf. Kommissar Isokawa wurde immer redseliger.
»Utaro wurde hellhörig und stieg in das Geschäft ein. Er wollte den armen Bauern diese Nebeneinkünfte ermöglichen und sie sich so zu Dank verpflichten. Die Bauern stürzten sich auf die Gelegenheit. Alles schien so einfach. Onda sollte ihnen die einfachen Maschinen vermieten und das Material zur Verfügung stellen, aus dem sie das Lametta herstellen würden. Onda würde es ihnen zu einem fairen Preis abkaufen, bis sie genug Geld hätten, um sich selbst Maschinen zu kaufen. Solange sie dafür sparten, sollte Utaro die Leihgebühr übernehmen. Zu Anfang ging auch alles glatt. Die Bauern waren Utaro Yura dankbar für die zusätzlichen Einkünfte, und sein Ansehen wuchs. Nach etwa einem Jahr, im Herbst 1932, hatten die meisten eigene Maschinen. Doch irgendwann erregten Ondas Machenschaften den Argwohn von Rika Aoikes Mann Genjiro.
Und an der Stelle möchte ich Ihnen zunächst etwas über die Familie Aoike erzählen.« Kommissar Isokawa zog bedächtig an seiner Zigarette. »Die Familie Aoike betreibt seit mehreren Generationen unweit von Onikobe ein Onsen namens Schildkrötenbad.«
»Ach, es gibt dort eine heiße Quelle?« Kosuke Kindaichi beugte sich neugierig vor.
»Als heiße Quelle würde ich es nicht bezeichnen. Das Wasser ist nur etwa zwanzig Grad warm. Es handelt sich eher um eine Mineralquelle, aber ihr Wasser wird erhitzt. In der Nebensaison nehmen die Reisbauern aus der Umgebung dort heiße Bäder. Sie haben hier eine besondere Stellung und sind die einzigen Bauern, die Respekt genießen. Alle, die anderen landwirtschaftlichen Berufen nachgehen, gelten als niedere Kaste, sogar die Gemüsebauern. Wer etwas anderes als Reis anbaut, ist nichts wert. Selbst der alte Jimpei Nire, der mit seinen Trauben so erfolgreich war, stand nicht auf einer Stufe mit Utaro.«
Kommissar Isokawa klopfte die Asche von seiner Zigarette.
»Als Betreiber des Schildkrötenbads galt die Familie Aoike natürlich als unter ihnen stehend. Genjiro war der zweite Sohn der Familie und damals wohl um die achtundzwanzig Jahre alt. Er war als junger Mann nach Kobe und Osaka gegangen und hatte einiges von der Welt gesehen. Im Herbst 1932 kehrte er mit seiner Frau Rika und seinem kleinen Sohn zum Schildkrötenbad zurück. Onda kam ihm sogleich suspekt vor. Als er Jimpei Nire von seinem Verdacht erzählte, war dieser hocherfreut und bezahlte ihn dafür, der Sache nachzugehen, was er später natürlich abstritt. Genjiro kam Onda jedenfalls auf die Schliche, worauf er Onda in seiner Unterkunft im Dorf aufsuchte, um ihn zur Rede zu stellen, aber …«
»Stattdessen wurde er getötet?«
»Genau so war es.«
»Wie wurde er getötet? Erwürgt oder erstochen?«
»Er wurde erschlagen. Es war spät im Herbst, deshalb brannte im Irori ein Feuer. Daneben lagen Holzkohle und eine Axt. Genjiro wurde mit einem einzigen Schlag auf den Hinterkopf getötet«, erzählte Kommissar Isokawa mit finsterer Miene. »Das war am 25. November im Jahr 1932.«
»Gab es Zeugen?«
»Nein, sonst hätten sie den Mörder davon abgehalten.«
»Und wie wurde der Tote entdeckt?«
»Rika wusste, dass ihr Mann Onda aufsuchen wollte. Offenbar hatte sie sogar vergeblich versucht, ihn aufzuhalten. Mehrere Stunden vergingen, ohne dass ihr Mann zurückkehrte. Genjiro war nach dem Abendessen gegen sechs Uhr aufgebrochen. Als er um neun Uhr noch nicht zurück war, machte Rika sich auf den Weg zu Ondas Unterkunft.
»Wo genau war die?«
»Ach, das habe ich noch nicht gesagt, oder? Er wohnte nicht in Onikobe. Er kam einmal im Monat für ein paar Tage, um nach den Geschäften zu sehen, bevor er wieder wegfuhr. Anfangs übernachtete er bei den Yuras, aber weil ihm das zu eng wurde, mietete er später ein Außenhaus auf Hoan Tataras Grundstück.«
»Von der Familie Tatara, die früher die Dorfvorsteher stellte?«
»Ja, genau. Eigentlich heißt er mit richtigem Namen Kazuyoshi, nennt sich aber Hoan, in Anspielung auf sein späteres Leben in der Einsiedelei. Ein ziemlich selbstgefälliger Mensch. Die Familie befindet sich seit zwei Generationen im Niedergang, aber Hoan besaß noch das von seinen Vorfahren geerbte Anwesen, wo er mit seiner fünften Frau Orin ein bescheidenes Leben führte.«
»Mit seiner fünften Frau?«, fragte Kindaichi erstaunt.
Der Kommissar grinste verschmitzt. »Das ist noch gar nichts. Hoan ist ziemlich gut beieinander. Inzwischen hat er die achte Frau, ganz zu schweigen von seinen anderen Eskapaden.«
»Da bin ich ja gespannt. Werde ich also das Vergnügen haben, diesen erstaunlich vitalen Mann in Onikobe kennenzulernen?«
»Ob das ein Vergnügen ist, weiß ich nicht. Auf jeden Fall ist er ein lustiger alter Bursche. Aber in Onikobe werden Sie noch eine andere, sehr attraktive Persönlichkeit kennenlernen.«
»Ach? Und wer ist das?«
»Diese Überraschung hebe ich mir für später auf.« Wieder grinste Kommissar Isokawa schelmisch. Kosukes Neugier war geweckt. »Kommen wir zu unserer Mordgeschichte zurück. Als ihr Mann um neun Uhr noch nicht zu Hause war, machte Rika sich auf den Weg zu Hoan, um nach dem Rechten zu sehen. Doch just an diesem Abend war es bei den Tataras zu einem Streit gekommen, und Orin hatte ihren Mann verlassen. Hoan hatte aufgeregt versucht, sie aufzuspüren, aber sie war nirgends zu finden. Überzeugt, sie hätte ihn für immer verlassen, war er gerade dabei, seinen Kummer in Schnaps zu ertränken, als Rika eintraf. Sie gingen zusammen zum Außenhaus.«
»Wo sie Genjiro erschlagen vorfanden?«
»Ja, mit dem Gesicht in der Feuerstelle.«
»Im Irori?« Kosuke Kindaichi starrte den Kommissar verblüfft an und brach dann in Gelächter aus. »Beinahe hätte ich mich ins Bockshorn jagen lassen, Kommissar.«
»Nein, Kindaichi, so war es wirklich!«, wehrte der Kommissar ab. »Es ist mein voller Ernst. Aber lassen Sie mich der Reihe nach erzählen.«
»Also gut. Das heißt, die Leiche war schwer zu identifizieren?«
»Es war nicht unmöglich, auch wenn das Gesicht nahezu unkenntlich war.«
»Aber Sie sind sich sicher, dass es Genjiro war?«
»Natürlich. Nicht nur seine Frau Rika, sondern auch seine Eltern und Geschwister haben ihn identifiziert.«
Kosuke Kindaichi wurde allmählich ungeduldig.
»Und gab es Kampfspuren?«
»Nein, aber es war offensichtlich, dass jemand in großer Eile den Raum durchsucht hatte.«
»Aber der Mörder wurde nie gefunden?«
»Nein, Ikuzo Onda blieb wie vom Erdboden verschluckt.«
»Und er war wirklich ein Betrüger?«
»Das ist schwer zu beweisen, aber im Nachhinein betrachtet muss es so gewesen sein. Er überredete die Bauern, seine teuren Maschinen zu kaufen, und plötzlich kamen keine Aufträge mehr. Anfangs war es jedoch noch nicht so. Er hatte die Leute für ihre Produkte anständig bezahlt. Wir konnten sogar den Lametta-Vertrieb ausfindig machen, für den er arbeitete. Dieser befand sich in Kobe, war aber kurz vor der Tat bankrottgegangen. Wahrscheinlich infolge der Großen Depression in den USA.«
»Und niemand in der Firma wusste, was aus Onda geworden war?«
»Nicht das Geringste. Niemand hatte ihn richtig überprüft. Er hatte die erforderliche Kaution bezahlt, und damit war die Sache für die Firma erledigt. Wir wissen also nicht sicher, ob er tatsächlich ein Betrüger war, der von Anfang an vorhatte, die Dorfbewohner übers Ohr zu hauen, oder ob das Geschäft bloß wegen der Rezession in den USA schiefgelaufen ist. Jedenfalls geschah kurz darauf der Mord, und dieser Onda – wenn er wirklich so hieß – verschwand ohne jede Spur. Es war gleich nach dem Mukden-Zwischenfall – ein günstiger Zeitpunkt, um unterzutauchen. Vielleicht hat er sich einfach mit dem Geld der Bauern nach China abgesetzt.«
Kommissar Isokawa ließ sich nichts anmerken, aber Kosuke Kindaichi wusste genau, was an ihm nagte: die Reue eines Polizisten, dem ein Verdächtiger durch die Lappen gegangen war.
»Und welche Auswirkungen hatte die Angelegenheit im Dorf?«, fragte Kindaichi.
»Utaro erlitt einen schlimmen Gesichtsverlust. Danach traute man ihm weder Rückgrat noch gesunden Menschenverstand mehr zu. Anscheinend entschädigte er die Bauern für einen Teil ihres Verlusts aus eigener Tasche, wurde aber trotzdem von ihnen gehasst und war das Gespött des Dorfes. All dies machte ihn sehr unglücklich. Er hatte keinen Spaß mehr am Leben und starb 1935, also nur drei Jahre später.«
»Sie sagten, die Yuras seien Großgrundbesitzer gewesen. Wie ist es der Familie nach dem Krieg ergangen?«
»Die Landreform hat sie, wie viele andere auch, beinahe völlig ruiniert. Glücklicherweise erstreckten sich die Reformen jedoch nicht auf die Berghänge, so dass sie ihr hügeliges Ackerland behalten konnten. Utaros Witwe Atsuko war eine starke Frau. Nachdem ihr Mann gestorben war, bezwang sie ihren Stolz und bat den alten Jimpei Nire, sie im Traubenanbau zu unterrichten. So überlebten die Yuras den Krieg, verloren aber ihren früheren Einfluss. Heutzutage ist es die Familie Nire, die Onikobe regiert.«
»Ist der alte Jimpei noch am Leben?«
»Nein, er ist schon vor einiger Zeit gestorben. Aber Kahei, sein Sohn und Erbe, ist sogar noch ehrgeiziger als er. Nach Utaros Tod gab es jede Menge Gerüchte über ihn und Atsuko. Heute ist er der mächtigste Mann im Dorf.«
»Sie sagten, der getötete Genjiro sei der jüngere Sohn der Familie Aoike gewesen. Aber warum ist seine Frau Rika dennoch in Onikobe geblieben?«
»Die arme Rika hatte wirklich Pech. Sie war hochschwanger zu der Zeit. Können Sie sich den Schock vorstellen, als sie ihren toten Mann fand?«
»Sie meinen, sie hatte eine Fehlgeburt?«
»Nein, das nicht, aber das kleine Mädchen …« Der Kommissar verzog das Gesicht. »Sie werden es selbst sehen. Andererseits hatte Rika Glück im Unglück. Der ältere Bruder und seine Frau konnten keine eigenen Kinder bekommen, also konnte sie mit ihrem Sohn Kanao das Schildkrötenbad übernehmen. Er ist seiner Mutter wohl eine große Hilfe.«
Kosuke Kindaichi sah seinem alten Freund forschend ins Gesicht.
»Fahren Sie öfter nach Onikobe, Kommissar?«
»Ja, ab und zu, wegen meiner Gesundheit gönne ich mir dort eine Badekur. Rika schickt mir jedes Jahr zu Obon und zu Neujahr Glückwunschkarten, so dass ich immer auf dem Laufenden bin.«
Es entstand eine kurze Pause, dann fiel Kosuke Kindaichi etwas ein.
»Jetzt haben Sie mich richtig neugierig gemacht, Kommissar. Aber das Beste kommt ja noch. Wer ist die attraktive prominente Persönlichkeit, die Sie mir in Aussicht gestellt haben?«
Der Kommissar warf einen kritischen Blick auf Kosukes zerzausten Haarschopf. »Sie gehen doch manchmal ins Kino, Kindaichi, oder? Und hören sich gerne Schlager im Radio und im Fernsehen an?«
Kosuke Kindaichi blinzelte überrascht. Wo war der Zusammenhang?
»Ja, ab und zu. Wieso fragen Sie? Ist das schlimm?«
»Nein, natürlich nicht. Lassen Sie mich erzählen. Als Ikuzo Onda sich im Dorf aufhielt, freundete er sich mit Harue Bessho an, der Tochter des Schlossers. Sie bekam 1933, unverheiratet natürlich, ein Kind, ein kleines Mädchen. Der Vater war eindeutig dieser Onda. Die Leute hätten ohnehin mit dem Finger auf sie gezeigt, als ledige Mutter, aber nun hatte sie auch noch das Kind eines im ganzen Dorf verhassten Mörders und Betrügers zur Welt gebracht. Doch Harue ließ sich nicht unterkriegen und vertraute ihr Töchterchen Chieko der Obhut ihres Vaters Ryota an. Dieser ließ das Mädchen als sein Kind und das seiner Frau registrieren. Harue selbst ging nach Kobe, um dort als Kellnerin und Bardame zu arbeiten. Später holte sie Chieko zu sich nach Kobe. Während des Kriegs hatte sie jedoch keine andere Wahl, als zu ihren Eltern nach Onikobe zu flüchten. 1948 verließ sie das Dorf erneut, als wäre der Teufel ihr auf den Fersen. Chieko muss damals ungefähr sechzehn Jahre alt gewesen sein. Seitdem hat sie etwas aus sich gemacht.«
»Ach ja? Was denn?«
»Haben Sie schon einmal von Yukari Ozora gehört? Sie ist gerade unglaublich populär. Wenn sie singt, strömen Zehntausende herbei, und in ihren Filmen haut diese glamouröse Schönheit die Männer reihenweise von den Sitzen.«
Kosuke Kindaichi ballte unwillkürlich die Fäuste.
»Und jetzt ist Yukari Ozora wieder in Onikobe?«
»Sie soll in Kürze eintreffen. Sie hat letztes Jahr ein prächtiges Haus für ihre Großeltern bauen lassen, die eigentlich ihre Eltern sind, da sie sie großgezogen haben. Die Leute nennen es den »Yukari-Palast«. Sie soll in den nächsten Tagen dort Einzug halten. Die ganze Präfektur ist schon völlig aus dem Häuschen, gar nicht zu reden von Onikobe.«
Als Kosuke Kindaichi mit seinem ramponierten Panamahut, dem zerschlissenen blau-weißen Kimono und dem abgewetzten Sommer-Hakama in einer Rikscha über den Sennin-Pass kam, befand sich das Dorf tatsächlich in heller Aufregung.
Kosuke Kindaichi hielt sich nun seit zehn Tagen in dem am Rande von Onikobe gelegenen Weiler Schildkrötenbad und der gleichnamigen Pension auf. Mittlerweile war es August.
Wie bei vielen ländlichen Onsen handelte es sich um ein baufälliges, einstöckiges Holzgebäude, dessen trostloser Anblick eher an ein Wohnheim oder eine Jugendherberge erinnerte als an ein Ryokan.
Niemand hätte Schildkrötenbad je in einem Atemzug mit den berühmten Bädern in Hakone und Izu genannt.
In der Nebensaison waren die Gäste meist Bauern aus der Umgebung. Sie brachten ihre eigenen Lebensmittel, Töpfe, Pfannen, Reis, Salz, Miso und Sojasauce mit und versorgten sich selbst. Einige hatten sogar eigenes Bettzeug dabei. Sie kamen in Gruppen von bis zu fünf Personen, und das Schildkrötenbad bot ihnen gegen eine geringe Gebühr Unterkunft und heiße Bäder.
Ab und zu kamen jedoch auch Badegäste von außerhalb, wie Kosuke Kindaichi. Für sie gab es einen separaten, etwas rustikalen Bau, der wie ein typisches japanisches Gasthaus aussah. Er verfügte über fünf oder sechs Zimmer und ein Bad. In diesem Bau lebte auch die aus vier Personen bestehende Familie Aoike: die Wirtin Rika, ihr Sohn Kanao, ihre Tochter Satoko und das Hausmädchen Omiki.
Kosuke schätzte Rika auf über fünfzig. Laut Kommissar Isokawa war ihr Mann aber im Jahr 1932 im Alter von achtundzwanzig Jahren getötet worden. Da er drei Jahre älter gewesen war als sie, musste sie also jetzt – 1955 – etwa achtundvierzig Jahre alt sein. Dennoch bewegte sie sich nicht wie eine ältere Frau. Im Gegenteil, sie erschien auf den ersten Blick zwar zerbrechlich, war aber groß und schlank und strahlte eine gewisse Kraft aus.
Im Sommer trug sie einfache, leichte Kleidung, achtete dabei aber sehr auf ihr Äußeres. Ihr Haar war stets sorgfältig frisiert, und sie betrat Kosukes Zimmer nur im Kimono. Sie hatte feine Züge, ein ovales Gesicht und ein vornehmes, gesetztes Auftreten. Ihre ganze Erscheinung deutete darauf hin, dass sie einst sehr schön gewesen sein musste.
Vermutlich aufgrund der tragischen Ereignisse in ihrer Jugend hatte sie jedoch etwas Düsteres und Einsames an sich und sprach nur wenig. Vielleicht wirkte sie auch deshalb älter, als sie war. Das Wenige, das sie sagte, erschien jedoch stets genau durchdacht, aufrichtig und niemals oberflächlich.
Ihr Sohn Kanao war fünfundzwanzig Jahre alt und hatte die Oberschule in der Kreisstadt besucht, was damals bei Dorfkindern eine Seltenheit war.
Der junge Mann erregte Kosuke Kindaichis Interesse. Er war groß und hatte als Pitcher in der Baseballmannschaft seiner Schule gespielt. Er sah seiner Mutter ähnlich, hatte ihre feinen Gesichtszüge und ihre schöne Haut. Alles in allem war er ein sehr gut aussehender junger Mann. Neben dem Familienbetrieb bewirtschaftete er mehrere Reisfelder und baute Trauben an einem nahe gelegenen Hang an, was ihm eine kräftige Statur und einen sonnengebräunten Teint verschafft hatte. Er hatte ein fröhliches Naturell, und man hörte ihn häufig bei der Arbeit im Weinberg mit schöner, weicher Stimme populäre Schlager singen.
Es versteht sich von selbst, dass er sich bei den jungen Damen des Ortes großer Beliebtheit erfreute, was seiner Mutter Rika so manch schlaflose Nacht bereitete.
Außerdem war Onikobe die Heimat der berühmten Sängerin Yukari Ozora, und Schlager sowie Jazz standen in der ganzen Gegend hoch im Kurs. Obon wurde hier später als in Tokio gefeiert, und die Jugendlichen hatten die Idee, Yukari Ozora zu diesem Anlass einzuladen und einen Schlagerwettbewerb zu veranstalten. Allerdings war die Sängerin noch nicht eingetroffen.
Kanaos jüngere Schwester Satoko war 1933, also im Jahr nach der Ermordung ihres Vaters, geboren worden und inzwischen dreiundzwanzig. Kosuke Kindaichi war ihr noch nicht begegnet. Im Familientrakt gab es einen durch einen Korridor mit dem Haupthaus verbundenen Speicherraum, in dem sich Satoko anscheinend meist verborgen hielt.
Als Kosuke eines Abends von einem Spaziergang zurückkehrte, betrat er das Grundstück nicht durch den Vordereingang, sondern schlenderte zum Hintertor. Dort entdeckte er im Garten ein junges Mädchen, das sofort in Richtung Speicher davonlief, so dass er es nur kurz von hinten sah.
Kommissar Isokawa hatte ihm nicht viel über das Mädchen erzählen wollen. Doch nachdem es in solcher Panik vor seinen Blicken geflohen war, ahnte Kindaichi, dass nach dem Mord an ihrem Vater, als sie noch im Bauch ihrer Mutter gewesen war, etwas Schreckliches geschehen sein musste. Was konnte das gewesen sein?
Als das Hausmädchen Omiki ihm das Abendessen brachte, versuchte er, mehr zu erfahren.
»Ich habe vorhin eine junge Dame im Garten gesehen. War das vielleicht Satoko, die Tochter der Wirtin?«
»Ja, wahrscheinlich.«
»Ich habe sie nur von hinten gesehen. Wohnt sie in dem Nebengebäude?«
»Ja, Herr«, antwortete Omiki wortkarg und hielt dabei das Tablett mit seinem Essen auf den Knien.
Omiki war ungefähr sieben- oder achtundzwanzig Jahre alt. Sie war mit einem Bauern aus einem Nachbardorf verheiratet gewesen, ihm aber davongelaufen, weil sie mit ihrer Schwiegermutter nicht zurechtkam. Als sie in ihr Elternhaus nach Onikobe zurückkehrte, erfuhr sie, dass ihr Bruder bald heiraten und mit seiner Frau bei den Eltern leben würde. Also verdingte sie sich bei Rika im Schildkrötenbad als Dienstmädchen. Rika nahm sie freundlich auf, ließ ihr aber nichts durchgehen. Dennoch konnte Omiki ihren Hang zur Schwatzhaftigkeit nicht immer unterdrücken; heute war sie allerdings außergewöhnlich schweigsam. Wahrscheinlich war es ihr strengstens verboten, über dieses Thema zu sprechen.
»Das Fräulein geht also nie aus und sperrt sich in diesem Speicher ein? Warum denn?«
»Sie ist nicht gesund«, erwiderte Omiki wortkarg. Sie sprach keinen Okayama-Dialekt, sondern einen aus der benachbarten Präfektur Hyogo.
»Was hat sie denn?«
»Ein schwaches Herz. Sie ist immer sofort außer Atem, auch bei ganz kurzen Strecken.«
Vielleicht hatte Satoko einen Herzklappenfehler. Es war medizinisch erforscht, dass Überanstrengung oder ein psychischer Schock während der Schwangerschaft das Herz eines ungeborenen Kindes schädigen konnten. Das erklärte jedoch nicht die Menschenscheu des Mädchens.
»Und was macht Satoko so den ganzen Tag?«
Omiki legte den Kopf schief und rückte das Tablett zurecht. »Meist liest sie. Sie liest unheimlich viele Bücher.«
»Und was sind das für Bücher?«
Omiki starrte Kosuke mit offenem Mund an. Dann lächelte sie ratlos.
Kosuke verzichtete darauf, ihr weitere Fragen zu stellen. Vermutlich interessierte sie sich nicht dafür und hatte auch keine Ahnung, was die Leute lasen. Während er überlegte, was er sonst noch fragen könnte, lenkte Omiki ab.
»Nett, dass Sie sich Gedanken um Satoko machen, Herr. Aber Sie müssen sich doch zu Tode langweilen.«
»Ich bin hier, um mich zu langweilen. Heißt es nicht, Langeweile verlängere das Leben?«
»Ihre Sorgen möchte ich haben. Leute mit Geld sind wahrlich ganz anders …«
Natürlich gehörte Kosuke Kindaichi nicht zu den Leuten mit Geld. Sonst wäre er bestimmt nicht an diesem heruntergekommenen Ort gelandet. Zum Glück gelang es ihm gerade noch, diese allzu beleidigende Bemerkung für sich zu behalten. Er gab es auf, mehr über Satoko zu erfahren, und wechselte das Thema.
»Übrigens ist Yukari Ozora noch immer nicht angekommen, oder? Anscheinend ist ihr Auftritt im Dorf das Gesprächsthema Nummer eins.«
Eigentlich hatte er Omiki mit diesem Thema einen Gefallen tun wollen, doch zu seiner Überraschung verfinsterte sich ihre Miene. Sie verzog das pausbäckige Gesicht und rümpfte die stumpfe Nase.
»Ach, die! Ich verstehe überhaupt nicht, warum die Leute so ein Gewese um diese dahergelaufene Person machen«, sagte sie gehässig.
Offenbar war sie Yukari Ozora gegenüber ziemlich feindselig eingestellt.
»Kennst du sie denn?«, erkundigte sich Kosuke Kindaichi zaghaft.
»Ich kannte sie vor langer Zeit, als sie im Krieg hierhin evakuiert worden war«, erklärte Omiki düster. »So ein schmutziges Ding mit dunkler Haut.«
»Du hast sie also nicht wiedergesehen, seit sie berühmt ist?«
»Wie denn? Die ist ja nie mehr gekommen! Aber ich habe Fotos von ihr in Zeitschriften gesehen. Sie ist immer halb nackt. Dass die sich nicht schämt! Dabei ist sie doch nur die Tochter eines Schlossers.«
»Eines Schlossers? Ich habe gehört, dass ihre Mutter die Tochter des Schmieds war.«
»Schlosser ist so etwas wie ihr Familienname. Die Leute nennen sich hier nach dem Handwerk, das ihre Familie früher ausgeübt hat. Zum Beispiel Korbflechter wie bei mir.«
Natürlich schenkte Kosuke Kindaichi dem Namen »Schlosser«, der die Familie von Yukari Ozora bezeichnete, in diesem Moment keine besondere Beachtung. Welch gravierende Bedeutung er hatte, wurde ihm erst viel später klar, als bereits drei Menschen tot waren.
»Aber wie finden Sie so was, Herr?«, fragte Omiki.
»Was soll ich wie finden?«
»Solche Frauen, die halb nackt herumlaufen.«
»Ich habe eigentlich nichts dagegen. Immerhin bin ich ein Mann«, ergriff Kindaichi ungerührt Partei für das Glamourgirl und lachte.
»Es ist doch nicht zu glauben!« Omiki schnaubte entrüstet. »Ihr Männer seid doch alle gleich. Sogar Kanao ist ganz hingerissen von ihr. Du meine Güte, er will sogar ein Willkommensfest für sie schmeißen. Ekelhaft! Einfach ekelhaft!«
Kosuke war mit seinem Essen fertig, und Omiki machte sich daran, sein Geschirr abzuräumen.
»Klingeln Sie, Herr, falls Sie noch etwas brauchen«, sagte sie und schlurfte mit hängenden Schultern aus dem Zimmer.
Kosuke Kindaichi sah ihr schweigend nach. Plötzlich tat sie ihm leid, und er hatte keine Lust mehr, sie aufzuziehen.
Er war momentan der einzige Gast im Schildkrötenbad und genoss es, ungestört zu sein. Wie bereits erwähnt, lag es am Rande von Onikobe, und das nächste Haus war anderthalb Kilometer entfernt. Gleich dahinter kamen die Weinbergterrassen mit ihren bernsteinfarbenen Trauben. Als Kosuke sich auf die Tatami legte, wehte ihm der frische Duft der Früchte entgegen. Er freute sich darauf, sich nun dem Müßiggang hingeben zu können, und schlief glücklich und zufrieden ein.
Der Detektiv war nicht hier, um einen über zwanzig Jahre alten Fall wieder aufzurollen, und fühlte sich auch gegenüber Kommissar Isokawa nicht dazu verpflichtet. Natürlich hörte und sah er einiges, nahm es aber nur zur Kenntnis, wenn er es für relevant erachtete. Außerdem hatte er nicht die geringste Absicht, etwas über die Yuras und Nires herauszufinden. Er verbrachte die meiste Zeit in seinem Zimmer, las oder ordnete Fallnotizen und döste ansonsten den größten Teil des Tages vor sich hin. Wie eine Katze liebte Kosuke den Müßiggang mehr als alles andere. Deshalb ging er auf seinen morgendlichen und abendlichen Spaziergängen auch nur selten ins Dorf. Meistens schlenderte er einfach durch die Weinberge hinter dem Haus.
Dennoch hatte er seit seiner Ankunft im Schildkrötenbad einige Menschen kennengelernt und sich mit einem von ihnen besonders angefreundet. Auch wenn es im Augenblick keine anderen Gäste gab, bot das Gebäude nämlich einen Aufenthaltsraum, der jedem offenstand und der der Dorfjugend als Treffpunkt diente. Das große Bad gehörte ebenfalls dazu.
Der Erste, den Kosuke darin zufällig kennenlernte, war Hoan Tatara. Am Tag seiner Ankunft wollte er lieber das große Gemeinschaftsbad nutzen als das Bad, das zu seinem Zimmer gehörte. Dort begegnete er Herrn Tatara.
Das große Bad war durch einen Korridor mit dem einstöckigen Gemeinschaftshaus verbunden, aber es führte auch ein Weg durch den Garten dorthin. Es handelte sich um einen geräumigen Holzbau mit Giebeldach, der in zwei Bereiche – einen für Männer und einen für Frauen – unterteilt war. Eine Menge Bambuskörbe standen herum. Es gab zwar Spiegel an den Wänden, doch das Quecksilber hatte sich gelöst, so dass sie nahezu nutzlos waren. Am Ende befand sich eine Glastür, die in den verputzten Waschraum führte. Dahinter schwappte das große heiße Becken für Männer, aus dem ein kahler Kopf hervorragte.
Kindaichi nickte dem Mann kurz zu und stieg ins heiße Wasser. Er vermutete schon, dass es sich bei dem anderen Badegast um Hoan Tatara handelte. Er erkannte ihn an seinem rasierten Kopf und der selbstbewussten Miene.
»Entschuldigen Sie, Sensei«, sagte der Mann. »Sind Sie nicht der Herr mit dem Empfehlungsschreiben von Kommissar Isokawa?«
Der Kommissar hatte ihn offenbar als »Sensei« bezeichnet.
»Mein Name ist Kosuke Kindaichi. Freut mich, Sie kennenzulernen.«
»Ganz meinerseits. Ich heiße Hoan Tatara und führe hier eine Art Einsiedlerleben. Woher kennen Sie denn den Kommissar, Herr Kindaichi?«
»Er ist ein Bekannter von mir«, antwortete Kosuke Kindaichi ausweichend. Der andere schien es ihm nicht zu verübeln und stellte ihm ein paar Fragen nach seinem Woher und Wohin.
»Und was machen Sie beruflich, wenn ich fragen darf, Herr Kindaichi?«
»Man könnte sagen, ich schreibe«, antwortete Kosuke. Diese Antwort hatte er für solche Gelegenheiten immer parat.
»Aha, ich verstehe.« Herr Tatara nahm die Auskunft für bare Münze und fragte nicht weiter nach, was er denn schreibe.
Nachdem sie eine Weile geplaudert hatten, stieg Hoan aus dem Becken.
»Dann gehe ich mal. Nehmen Sie sich Zeit«, verabschiedete er sich.
