Die Spionin der Charité - Christian, Dr. Hardinghaus - E-Book

Die Spionin der Charité E-Book

Christian, Dr. Hardinghaus

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Beschreibung

Bern, 20. Juli 1974: Die 56-jährige Lily Kolbe zerreißt wütend die Zeitung, die über die heute stattfindenden Gedenkfeiern zum gescheiterten Attentat auf Hitler vor 30 Jahren berichtet. Sie kann es kaum ertragen, dass an ihren Mann Fritz Kolbe und ihren ehemaligen Chef Ferdinand Sauerbruch nie erinnert worden ist. Die acht Mitglieder der bis heute unbekannten Widerstandsgruppe "Donnerstagsclub" hatten sich nach dem Krieg geschworen, alles geheim zu halten. Lily will das Schweigen jetzt brechen. Sie greift zum Telefon und ruft Eddie Bauer, einen Journalisten der "New York Times", an: "Ich bin bereit zu reden. Kommen Sie in die Schweiz! Sofort!" Die einstige Chefsekretärin Sauerbruchs erzählt Bauer von den stillen Helden der Charité, die sich 1941 dazu entschließen, Nazi-Patienten auszuspionieren und ihren Tod, wenn nötig, zu beschleunigen. Als Lily 1943 beauftragt wird, den Mitarbeiter des Außenministeriums Fritz Kolbe zu bespitzeln, verliebt sie sich und kann ihn für den Widerstand gewinnen. Eine Zeit geht alles gut, doch bald häufen sich Besuche der Gestapo in der Klinik. Gibt es einen Verräter innerhalb der Gruppe? Die Lage spitzt sich nach dem 20. Juli 1944 dramatisch zu. Der Chef des Sicherheitsdienstes Ernst Kaltenbrunner überwacht persönlich die Charité. Als er versteckte Juden aufspürt, droht der Club endgültig aufzufliegen ... Journalist Bauer kann nicht fassen, welch brisante Informationen er bekommt. Bald jedoch interessieren sich auch andere dafür. Als Lily eine Wanze in ihrem Telefon entdeckt, kann sie selbst Bauer nicht mehr trauen.

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Kathrinschroeder

Gut verbrachte Zeit

"Die Spionin der Charité" von Christian Hardinghaus Genre: Historischer Roman 3. Reich Lily Kolbe erinnert sich für einen amerikanischen Journalisten an die Ereignisse, die sie als Sekretärin von Sauerbruch, Geliebte und spätere Ehefrau von Fritz Kolbe und Mitglied des Donnerstagskreises im Widerstand gegen das 3. Reich an der Charité erlebt hat. Der Autor hat zum selben Thema zu dem sich der Roman entfaltet ein Sachbuch geschrieben, er kennt sich also mit dem Geschehen rund um Sauerbruch und die Nazis gut aus. Aus den Hintergrundinformationen entnehme ich, dass die Person der Ehefrau von Fritz Kolbe umbenannt wurde, wie genau das Buch mit den historischen Details umgeht, kann ich also nicht feststellen. Die Geschichte ist atmosphärisch dicht und erzählt aus hautnaher Sicht die Situation im geheimen Widerstand. Auch in der - aus Sicht des Buches - heutigen Zeit (die Grundgeschichte spielt in den Siebzigern mit den Rückblicken in die Vierziger) leidet Lily an Alpträumen und Angstzustä...
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CHRISTIAN HARDINGHAUS

DIE SPIONINDERCHARITÉ

Roman

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

1. eBook-Ausgabe 2019© 2019 Europa Verlag GmbH & Co. KG,Berlin · München · Zürich · WienUmschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,unter Verwendung von Fotos von © Lambert /Getty ImagesRedaktion: Claudia SchlottmannLayout & Satz: BuchHaus Robert Gigler, München

Konvertierung: BookwireePub-ISBN: 978-3-95890-266-4

Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

INHALT

Prolog

1. Ein trauriges Jubiläum

2. Der überraschte Amerikaner

3. Ein redseliger Chef

4. Margot, der Dicke und ein widerspenstiger Franzose

5. Nervenarzt in Uniform

6. Das linke Gesicht

7. Peterchens Fahrt

8. Mörderische Trostbriefe

9. Der erste Donnerstag

10. Operation Hühnlein

11. Touché

12. Fritz Kolbe

13. Von Liebe und Vertrauen

14. Der Neue

15. Kurierdienste

16. Tiefschlaf

17. George Wood

18. Der Führer lebt

19. Das Trompeterschlösschen

20. Kalter Whisky

21. Verbindungsstörung

22. Der totale Krieg

23. Die Unvergleichlichen

24. Der letzte Donnerstag

PROLOG

Lily ringt nach Luft, ihr Puls hämmert gegen ihre Schläfen. Sie rennt so schnell wie nie zuvor in ihrem Leben. Das Gesicht verschmiert von Schweiß und Tränen, hastet sie durch den zerbombten, dunklen Tiergarten. Nur der helle Schein des Mondes weist ihr den Weg zwischen den Bombenkratern und umgestürzten Bäumen hindurch. Obwohl Lily längst am Ende ihrer Kräfte ist, hört ihr Kopf nicht auf zu rattern. Sie will nicht glauben, dass Fritz hier nie wieder entlanglaufen wird. Nicht einmal den Mond wird er je wiedersehen. Und sie ist schuld daran, sie hat ihren Freund angeworben für den Widerstand. Den Widerstand, den Graf von Stauffenberg heute Mittag verpatzt hat. Warum hat er nicht auf Professor Sauerbruch gehört? Der hatte ihm doch klar genug gesagt, dass man Hitler nicht töten kann, wenn man dafür nur ein Auge und einen Arm zur Verfügung hat. Jetzt würde nicht der Führer sterben, sondern all diejenigen, die ihn hatten umbringen wollen. Fritz, ich komme! Bestimmt ist Stauffenberg die Aktentasche, in der sich die Bombe befand, einfach runtergefallen. Wie sollte er die auch festhalten, mit nur drei gesunden Fingern? Wie hatten sie alle so blöd sein können?

Lily erkennt das Licht der Straßenlaternen nur verschwommen. Sie rennt durch den Parkausgang auf die Friedrich-Wilhelm-Straße. An der nächsten Ecke steht das Krad, genau wie angekündigt. Der Motor läuft, die Scheinwerfer sind eingeschaltet.

»Sie sind Fräulein Hartmann?«, fragt der Fahrer, als Lily in den Beiwagen steigt.

»Ja«, keucht Lily, die kaum noch Luft zum Sprechen hat. »Fahren Sie los!«

Der Soldat in grünem Gummimantel, mit Stahlhelm auf dem Kopf und Schutzbrille vor den Augen, tritt zweimal ruckartig das Pedal und dreht am Gashebel. Aus dem Auspuff knallt es, der Motor heult auf. Beim scharfen Anfahren wird Lily mit voller Wucht in den Korbsitz gepresst. Sie muss sich mit beiden Händen an den Metallgriffen festklammern, um nicht hinausgeschleudert zu werden. Das Krad rast die Admiral-von-Schröder-Straße entlang. Zu beiden Seiten der Straße stehen kerzengerade Soldaten mit geschulterten Gewehren. Das sind Hunderte, Tausende, denkt Lily, als sie an der Graf-Spee-Brücke vorbeifahren.

Vor dem Haupttor des Reichskriegsministeriums halten zwei Panzer mit laufenden Motoren. Das Motorrad biegt dahinter ab, ein Soldat mit Schirmmütze und umgehängter Maschinenpistole winkt den Fahrer mit einer Kelle heran. Als sich das Tor öffnet, rollen sie in den Innenhof. Sie sind im Bendlerblock.

»Aussteigen!«, befiehlt der düstere Chauffeur. Lily hat gerade das zweite Bein aus dem Beiwagen gehievt, da rast das Krad schon wieder los.

Was jetzt? Es ist stockfinster, Lily kann nichts erkennen.

»Hallo?«, fragt sie laut und streckt die Arme nach vorne, in der Hoffnung, etwas ertasten zu können.

»Lily! Lily!« Es ist Fritz, der sie ruft.

Wie aus dem Nichts springen Scheinwerfer an und erleuchten den Hof. Das grelle Licht blendet so stark, dass Lily für einen Moment die Augen schließen muss. Als sie sie vorsichtig wieder öffnet, bemerkt sie etwa zwanzig Meter von sich entfernt ihren Freund. Er steht in seinem dunkelblauen Kreidestreifen-Anzug auf einem aufgeschütteten Sandhaufen.

»Fritz!« Lily will loslaufen, doch in dem Moment packt sie jemand von hinten am Arm.

»Wir gehen zusammen«, sagt der Mann, den sie vorher gar nicht bemerkt hatte. Sie hat nur Augen für Fritz.

»Lily, es tut mir so leid«, ruft er zu ihr herüber.

»Alles ist gut.« Lily streckt den freien Arm nach vorne. »Halt durch, ich bin ja da.«

»Immer mit der Ruhe«, brummt der Mann hinter ihr. Lily dreht sich um und starrt auf ein Ritterkreuz am Kragen der Uniform. Als sie den Blick hebt, erkennt sie Generaloberst Friedrich Fromm. »Sie haben zwei Minuten, um Ihrem Freund den letzten Wunsch zu erfüllen«, sagt der Befehlshaber des Ersatzheeres. »Kolbe ist der Vorletzte. Ich will diese Verräter hier nicht mehr auf dem Hof sehen.«

Was hat denn Fromm, denkt Lily verwundert. Soweit sie weiß, ist er doch einer von ihnen: ein Verschwörer! Da ist etwas völlig aus dem Ruder gelaufen, offenbar hat der Generaloberst die Seiten gewechselt.

»General Ludwig Beck, einer der Anführer der feigen Bande, sitzt oben und versucht seit einer halben Stunde, sich zu erschießen, sein letzter Wunsch«, sagt Fromm mit einem angewiderten Ausdruck im Gesicht. »Aber er schafft es nicht, hat sich die Schädeldecke weggeknallt, lebt immer noch und kriegt die Waffe nicht mehr hoch.« Fromm zuckt mit den Schultern. »Kolbes Wunsch ist hoffentlich sinniger.«

Der General zieht Lily zu dem Sandhügel, auf dem vier uniformierte Leichen mit verdrehten Armen und Beinen liegen. Der Sand ist mit Blutspritzern gesprenkelt. Fritz lächelt.

»Gehen Sie zu ihm und hören Sie sich an, was er zu beichten hat. Dann sagen Sie, was Sie zu sagen haben, und dann war’s das.« Fromm löst seinen Griff, und Lily steigt auf den Hügel. Etwas oberhalb von ihr steht Fritz mit ausgebreiteten Armen, er blutet aus der Nase. Lilys Herz ist so voller Sehnsucht und Schmerz, dass sie nicht auf ihre Schritte achtet. Als sie auf etwas Weiches tritt, verliert sie fast das Gleichgewicht. Sie schaut nach unten und erkennt Stauffenbergs schwarze Augenklappe.

»Nicht hinsehen, Lily«, sagt Fritz. »Komm zu mir!«

Lily fällt ihrem Freund in die Arme, umklammert ihn, will ihn nie wieder loslassen. Er schluchzt laut auf. Nur einmal. Sie hat ihn nie weinen gesehen, und auch jetzt weint ihr tapferer Fritz nicht.

»Es war richtig, was wir getan haben, hörst du?«, sagt er und streichelt ihr übers Haar.

»Ich weiß, Fritz«, antwortet Lily. Sie kann die Tränen einfach nicht unterdrücken. »Was ist denn nur passiert?«

»Das wirst du erfahren«, erklärt Fritz ruhig. »Es ist schiefgegangen, was nur schiefgehen konnte.« Er küsst Lily auf den Mund und schaut ihr dann tief in die Augen. »Es war egoistisch von mir, dich als meinen letzten Wunsch herbringen zu lassen.«

»Oh nein, Fritz«, flüstert Lily. »Nein, war es nicht. Ich bin dir sehr dankbar dafür.«

»Das ist gut, meine kleine Spionin«, antwortet er leise. »Ich wollte dir das hier erst geben, wenn Hitler tot ist. Es sollte meine erste Tat in unserem neuen geheimen Deutschland werden. Bitte nimm es aus meiner Jackentasche. Unauffällig.« Er schiebt Lilys Hand nach unten, und sie greift in die Tasche. Sie nimmt den losen Ring in die Hand, schließt sie darüber zur Faust.

»Du musst jetzt sterben, nicht wahr?«

»Ja, das muss ich.«

»Runterkommen, es ist genug!«, brüllt Fromm.

»Geh jetzt, Lily«, sagt Fritz. »Alles wird gut. Ich liebe dich, und wir sehen uns auf der anderen Seite wieder.«

»Ich liebe dich auch.« Lily antwortet mit flacher Stimme. Sie hat das Gefühl, dass die Stiche, die sie in ihrem Herz spürt, ihren Brustkorb zerreißen. Sie will noch etwas sagen, aber ihr Hals ist wie zugeschnürt. Sie küsst ihren Freund ein letztes Mal, lässt ihn los und dreht sich um. Die schwerste Entscheidung ihres Lebens. Sie macht einen Schritt, dann zuckt sie zusammen. Mit den Schüssen hat sie nicht gerechnet. Fritz stößt einen Schrei aus. Hinter Fromm erkennt Lily sechs Soldaten, drei stehen, die anderen drei knien vor ihnen. Sie laden ihre Gewehre nach und geben eine weitere Salve ab. Sie hört die Kugeln zischen.

»Nein!« Sie dreht sich um. Fritz ist auf die Knie gesunken, hält sich die Brust. Dann lächelt er sie kurz an und fällt vornüber. Lily schlägt die Hände vor die Augen.

»Frau Hartmann!«, ertönt Fromms Stimme in einem fürchterlich aggressiven Ton. »Frau Hartmann!«

Dieser miese Kerl, denkt Lily. »Ich komme ja schon! Kann ich nicht mal eine Minute trauern?« Als sie die Hände von den Augen nimmt, erschrickt sie abermals. Die Soldaten zielen auf sie.

»Dazu werden Sie jetzt eine Ewigkeit Zeit haben, aber nicht mehr in dieser Welt«, höhnt Fromm. »Sie glauben doch nicht, dass wir eine Verräterin wie Sie verschonen?«

»Was?« Instinktiv hebt Lily die Hände über den Kopf.

»Ich weiß, dass Sie wissen, was Kolbe wusste«, ruft der Generaloberst.

»Was soll das heißen?« Lily ist außer sich. »Ich weiß gar nichts!«

Fromm hebt die rechte Hand. »Feuer!«

Die Schüsse treffen Lily direkt ins Herz. »Neiiiiin!«

Lily prustet und schluckt. Nicht schon wieder dieser Albtraum, ich halte das nicht mehr aus!

Sie liegt am Boden und versucht, den nach Wodka stinkenden Russen, der auf ihr liegt, wegzudrücken.

Schon wieder eingeschlafen. Warum wacht sie nicht auf?

Der Soldat fasst ihr fest in den Schritt. Sie ekelt sich wie damals.

Wo bleibt denn der Schuss? Es dauert jedes Mal länger!

Dann hört sie endlich den Knall und spürt das warme Blut des sowjetischen Soldaten auf ihr Gesicht tropfen. Sie stößt ihn von sich herunter, dreht den Kopf in die Richtung, aus der der Schuss gekommen ist, und sieht den vertrauten weißen Kittel. Aber wer ist dieser Mann? Was will er von ihr?

»Am Tag, als Conny Kramer starb …«

1. EIN TRAURIGES JUBILÄUM

Bern, 20. Juli 1974

»Mir bleiben nur noch die Blumen auf seinem Grab … Am Tag, als Conny Kramer starb …«

Die Diamantnadel des Tonabnehmers hatte die letzte Rille der Schallplatte abgetastet, stockte und zog dann quer über das Vinyl zum silbernen Metalldorn in der Mitte des Plattentellers. Das Quietschen, das sie dabei verursachte, ließ Lily Kolbe von ihrer Couch hochschrecken. Ihr Herz raste. Mehrmals atmete sie tief ein und aus, bevor sie nach dem Martiniglas griff, das auf dem Couchtisch stand.

Sie trank das Zeug in einem Zug aus und verzog dann das Gesicht. Anschließend stellte sie das Glas zurück, schob sich mit beiden Händen die braunen Haarsträhnen hinter die Ohren und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Vor ihr lag der Anlass für die zwei Gläser, die sie wieder einmal zu viel getrunken hatte. Fett und in Großbuchstaben stand es quer über einer Doppelseite der ausgebreiteten Zeitung: 20. Juli 1944.

Heute. Vor dreißig Jahren.

Die Zigarettenasche, die der surrende Tischventilator aufgewirbelt hatte, wischte sie mit dem Handrücken von dem bedruckten Papier.

»Conny Kramer ist doch ein Scheiß dagegen«, schimpfte sie vor sich hin, obwohl sie wusste, dass Juliane Werding ihren Hit für einen Freund geschrieben hatte, der seiner Drogensucht zum Opfer gefallen war.

Lily überflog den Artikel in den Basler Nachrichten, den sie, bevor sie eingeschlafen war, bereits zweimal gelesen hatte. Die Redaktion hatte hier neben den vielen, von prominenten Personen ausgesprochenen Ehrungen auch eine Rede des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Klaus Schütz, im Wortlaut abgedruckt. Tags zuvor hatte er sie im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes der ehemaligen deutschen Hauptstadt gehalten:

Verehrte Anwesende,

wir sind hier in Berlin zusammengekommen, um an die Frauen und Männer des 20. Juli 1944 zu erinnern … Unter uns sind Beteiligte von damals, die Zeugen also des Attentats auf Hitler und damit dieses Versuchs, die Terrorherrschaft des Nationalsozialismus zu beenden … Wir ehren die Männer, die damals versuchten, den letzten Rest eines Ansehens für unser Land zu retten und einen Neubeginn zu ermöglichen. Wir denken an ihre Frauen und ihre Kinder …, die verfolgt und verfemt wurden.

»Von wegen, nur Männer haben versucht, Deutschland zu retten. Auch Frauen waren im Widerstand! Und warum dreht sich eigentlich immer alles um den zwanzigsten Juli? Selbst in meinem Albtraum vermischt sich das, dabei hatten wir mit dem Attentat auf Hitler gar nichts zu tun. Da war doch so viel mehr! Da waren wir!« Lily blaffte die Zeitung an, als erwartete sie, dass ihr der Berliner Bürgermeister direkt daraus antwortete. Als er stumm blieb, riss sie die Doppelseite heraus, zerknüllte sie und warf den Ball auf den Plattenspieler, der sich immer noch drehte.

»Denkt auch mal einer an uns? Weiß irgendjemand, was ich im Krieg riskiert habe?« Sie nahm die Martiniflasche und schüttete das Cocktailglas erneut bis zum Rand voll. »Nein, wie auch?«, sagte sie resigniert. »Wenn die Welt noch nicht mal über die geheime Mission meines Mannes Bescheid weiß.«

Lily bemerkte das vertraute Stechen in ihrem Brustkorb, das sie Ungerechtigkeitsschmerz nannte. Sie wusste, kein Arzt könnte es je kurieren. Ihr geliebter Mann hatte sich, wie sie alle, an den Schwur der mutigen Männer und Frauen ihrer Widerstandsgruppe an der Charité gehalten, niemals über das zu reden, was sie getan hatten. Sie hatten Nazis bespitzelt und massiv unter Druck gesetzt, Fritz hatte für die Amerikaner spioniert. Sauerbruch war am Ende des Krieges schlau genug gewesen, ihnen zu raten, diese Dinge für sich zu behalten. Sonst wäre es ihnen wohl allen wie Fritz gegangen, man hätte sie als Verräter beschimpft oder verjagt. Lily dachte an die anderen Mitglieder der Gruppe. Die acht stillen Helden der Charité, zu denen sie sich auch zählte. Und das war die Krux, denn sie hatte ebenso geschworen, die Existenz der Gruppe auf ewig geheim zu halten.

Lily war überzeugt davon, dass Fritz vor drei Jahren nicht an Gallenkrebs gestorben war, sondern an einem gebrochenen Herzen. Das Schweigen über die Gründe fiel ihr immer schwerer. Wie oft hatte sie seit seinem Tod darüber nachgedacht, alles aufzuschreiben. Ihre Erinnerungen. Zunächst nur für sich selbst. Das stille Heldentum, so hätte sie diese Aufzeichnungen nennen können. Hätte sie nach Fritz’ Tod nicht sofort seine Schreibmaschine auf dem Sperrmüll entsorgt, vielleicht hätte sie sich irgendwann getraut. Nachdem sie sich Mut angetrunken hatte. Je schwerer ihr das Schweigen fiel, desto mehr trank sie auch.

Lily hatte von 1940 an fünf Jahre als Privatsekretärin von Professor Sauerbruch in der Charité gearbeitet, bis zum bitteren Ende. Danach hatte sie nicht mehr tippen wollen. Die Sekretärin für jemand anderes als für Sauerbruch zu sein, hatte sie sich nie vorstellen können. Das Kapitel war nach 1945 abgeschlossen. Vielleicht war das ihre Art der Vergangenheitsbewältigung, des Vergessens. Doch auch wenn sie nie mehr eine Schreibmaschine bedient hatte – wann immer sie die Erinnerung an den schrecklichen Krieg einholte, sah sie die Tastatur vor ihrem inneren Auge deutlich aufblitzen und formulierte dann ihre Gedanken in getippten Buchstaben. In ihrem Kopf konnte sie fast so schnell tippen wie denken. Das war schon irre. Sie verfasste ganze Geschichten aus der Sicht einzelner Personen ihrer Verschwörergruppe. Wie bei einem Diktat. Schreibdenken nannte sie das. Vielleicht war es aber eher ein Trauma, denn auch über sich selbst dachte sie dann häufig in der dritten Person nach. Insofern wäre es möglicherweise einfacher, ein Buch zu schreiben, als jemandem von ihrer Vergangenheit zu erzählen.

Lily trank einen Schluck Martini, drehte den Kopf nach links und schaute auf die mintgrüne Uhr, die in der Mitte ihrer mit orangefarbenen Punkten verzierten Wand hing. Die silbernen Zeiger zeigten zehn Minuten vor Mitternacht an. Zu spät, um Eddie Bauer anzurufen. Der Journalist der New York Times hatte sich in den vergangenen Wochen zweimal telefonisch bei ihr gemeldet und ihr danach einen langen Brief geschrieben. Über irgendeine Recherche war er auf den Namen Kolbe gestoßen und hatte Fragen, viele Fragen. Er hatte herausgefunden, dass Fritz während des Krieges mit dem amerikanischen Geheimdienst zusammengearbeitet hatte. Was und wie viel er wusste, hatte Lily nicht erfragt, denn sie hatte beschlossen, sich ahnungslos zu stellen, und dem Reporter erklärt, sie wisse nichts von Spionage, besitze keine Akten über ihren Mann, und all das wäre sowieso nicht in seinem Sinne. Immerhin schien Bauer aber so viel zu wissen, dass er ihr nicht glaubte und nicht locker gelassen hatte.

Sollte sie jetzt sprechen? Sich alles von der Seele reden? Hatten die anderen es nicht genauso verdient wie sie selbst und Fritz, ob sie wollten oder nicht? Lily trank den letzten Schluck aus ihrem Glas und schraubte dann die Flasche zu. Genug für heute!

Einen Augenblick verharrte sie, hatte den Gedanken verloren. Ach ja, New York: die Zeitverschiebung! Sie könnte Bauer doch noch anrufen. Bei ihm war es ja erst achtzehn Uhr. Termine und Uhrzeiten brachte sie sonst nie durcheinander. Warnend sprach sie in ihren Schreibgedanken zu sich selbst: »Wenn Lily sich entschließen sollte, zu reden, dann wird sie alles auf den Tisch legen. Das sollte ihr klar sein. Will sie das?«

Sie wägte ab. Fritz und Sauerbruch hatten immer davor gewarnt, dass die Offenbarung ihrer Widerstandsaktivitäten vielen Menschen nicht schmecken würde. Vor allem denen nicht, die während der NS-Zeit zu den Tätern gehört hatten und danach trotzdem unbehelligt weiterleben und auf ihren Posten bleiben konnten. Für sie waren alle, die gegen das Naziregime gearbeitet hatten, Verräter. Auch die Amerikaner hätten keinerlei Interesse daran, dass jemand an der offiziellen Geschichtsschreibung über ihre Kriegsführung rüttelte. Was Fritz gekonnt hätte. Während Lily völlig egal war, ob man sie als Verräterin beschimpfen würde, sorgte sie sich doch darum, dass sie womöglich einem der anderen Überlebenden aus der Gruppe schaden könnte. Vielleicht sollte sie ihnen einfach andere Namen geben? Ja, das könnte funktionieren.

»Trotzdem, nein, sie ist nicht bereit!« Lily schraubte die Martiniflasche wieder auf und goss sich nach. Andererseits, dachte sie, ist das vielleicht meine einzige Gelegenheit. Die Angst darf mich nicht lähmen, denn im Grunde will ich ja reden. »Ja, sie ist bereit«, korrigierte sie sich. »Ganz sicher ist sie das!«

Sie sprang von der Couch auf und lief ins Arbeitszimmer. Wie immer fiel ihr Blick zuerst auf das gerahmte Bild, das sie vor dreiundzwanzig Jahren im mittleren Fach des Bücherregals aufgestellt hatte. Es zeigte sie mit Fritz, hinten aus dem Planwagen ihrer Kutsche in die Kamera lächelnd. Der Tag ihrer Hochzeit, der 12. März 1948. Wie schön sie damals gewesen war, so schlank und ohne eine einzige Falte. Das schönste Mädel Danzigs hatte man sie während ihrer Schulzeit in ihrer Heimatstadt gerufen.

Lily drehte sich zur anderen Seite des Zimmers, wo ein Gemälde ihres ehemaligen Chefs hing – jenes, das sein jüdischer Freund Max Liebermann 1932 von ihm angefertigt hatte. Öl auf Leinwand. Lilys Kunstkopie besaß die Originalmaße von 117,2 mal 89,4 Zentimetern. Sauerbruch saß im Arztkittel auf einem Stuhl, die Beine übereinandergeschlagen, und schaute mit ernster, nachdenklicher Miene den Betrachter direkt an.

»Zeit zu lächeln, Chef«, sagte sie und setzte sich auf den Drehstuhl an ihrem Schreibtisch. »Ihr beide seid jetzt tot. Sturheit zählt nun nicht mehr!«

Lily zog eine Zigarette aus der Schachtel, die vor ihr auf der Nussbaumplatte des Schreibtisches lag, pustete auf den Filter und zündete sie dann mit einem Streichholz an. Sie inhalierte hektisch, hielt einen Moment die Luft an, blies den Rauch in den Raum. Danach öffnete sie die oberste Schublade, entnahm ihr den Brief Bauers und suchte darin nach der Telefonnummer. Sie zog das mit grünem Häkelmuster überzogene Telefon zu sich heran, nahm den Hörer ab und steckte den kleinen Finger in die Wählscheibe, sodass sie die Zigarette beim Wählen nicht ablegen musste. An dem helleren und leiseren Tuten bemerkte sie, dass sie in die USA durchgestellt worden war. Ihr Herz klopfte vor Nervosität. Während sie die Töne zählte, versuchte sie langsam ein- und auszuatmen.

»Hello?«

Lily schluckte, bekam den Mund nicht auf. Kurz überlegte sie, wieder aufzulegen.

»Who is there?«

Sie erkannte die freundliche Stimme des Journalisten und nahm all ihren Mut zusammen. »Mister Bauer, können wir auf Deutsch sprechen?« Bauers Vater war Deutscher gewesen, das hatte er ihr beim letzten Telefonat erzählt, und er sprach, obwohl er nie in Deutschland gelebt hatte, akzentfrei.

»Frau Kolbe? Sind Sie es?« Bauer klang erstaunt und erfreut zugleich.

»Ja«, flüsterte Lily.

»Na, damit habe ich ja nicht mehr gerechnet«, sagte er. »Nachdem Sie auf meinen Brief nicht geantwortet haben. Ich muss sagen …«

»Schon gut«, antwortete Lily. »Ich will gleich zur Sache kommen. Ich habe nämlich gelogen.«

»Ich weiß«, entgegnete Bauer und verschluckte ein Lachen.

»Ich …« Lily stockte erneut.

»Sie wollen mir meine Fragen zu Fritz Kolbe beantworten?«

»Ich muss!« Lily schrie fast in den Hörer. »Es quält mich, über all das nie gesprochen zu haben. Vielleicht ist es die letzte Chance für mich.«

»Jetzt? Also, ich meine, hier am Telefon?«, fragte der Journalist.

Fast ärgerte sie sich über diese naive Frage. »Nein, Mister Bauer. Das, was ich Ihnen erzählen möchte, ist so umfangreich und wichtig, dass ich darüber ein ganzes Buch schreiben könnte. Erstens würde es mich Unsummen kosten, wenn ich es Ihnen telefonisch diktieren würde, und zweitens geht das einfach nur persönlich. Es ist zu emotional.«

»Ich verstehe«, sagte Bauer in beschwichtigendem Tonfall. »Na, dann machen Sie das doch einfach.«

»Was?«

»Ein Buch schreiben, wenn es so viel und so wichtig ist.« Bauer räusperte sich. »Oder lassen Sie mich das Buch schreiben.«

»Ich weiß nicht.« Lily fühlte sich einerseits geschmeichelt und bestätigt, wollte andererseits aber eine solche Sache nicht unüberlegt zusagen. »Sie meinen veröffentlichen? Ein ganzes Buch? Ich dachte, sie wollen einen Artikel über … Ich denke, dass ich …«

»Frau Kolbe«, unterbrach sie Bauer. »Ich habe verstanden. Sorgen Sie sich nicht. Was wir daraus machen, können wir gemeinsam vor Ort besprechen. Ich werde einfach zu Ihnen fliegen. Ich möchte nur, dass Sie mir vertrauen. Tun Sie das?«

»Ich denke schon, also, bis jetzt. Im Moment.«

»Das ist gut. Ich werde Ihr Vertrauen nicht missbrauchen. Sie kennen die New York Times, wir sind nicht die Chick, oder wie das heißt, dieses Boulevardblatt da bei Ihnen.«

»Quick heißt das«, sagte Lily. »Wann wollen Sie denn kommen?«

»Morgen?«

Lilys Puls, der sich gerade etwas beruhigt hatte, nahm wieder Schlagzahl auf. »Das ist sehr spontan.«

»Stimmt, aber Sie haben mich gefragt.« Bauer machte eine kurze Pause. »Außerdem habe ich Sorge, dass Sie es sich, wenn Sie zu lange nachdenken, wieder anders überlegen.«

Lily lachte. »Die Sorge ist wohl berechtigt.«

»Also?«

»Dann machen Sie das, kommen Sie her.«

»Great decision«, sagte Bauer. »Ihre Adresse habe ich. Ich werde gleich nach Flügen schauen und Sie anrufen, wenn es bei Ihnen Morgen ist. Sind Sie normalerweise um acht Uhr schon wach?«

»Natürlich«, log Lily, die seit dem Tod ihres Mannes zu einem Nachtmenschen mutiert war und für gewöhnlich bis mindestens elf Uhr schlief – manchmal ihren Rausch aus. Sie würde sich seit Langem mal wieder einen Wecker stellen müssen.

»Können Sie mir spontan ein Hotel empfehlen in Ihrer Nähe?«, fragte Bauer.

»Na gut«, sagte Lily. »Dann also bis morgen früh.«

»Ein Hotel?«

»Wie bitte?«

»Ich hatte gefragt, ob Sie mir eine Unterkunft empfehlen können.«

»Ach«, antwortete Lily. »Entschuldigung.« Sie war in Gedanken schon mit der Kleiderauswahl für das anstehende Treffen beschäftigt gewesen. »Da gibt es viele. Hier in meiner unmittelbaren Nähe ist das Hotel Bristol. Etwas teurer, aber wunderschöne Zimmer mit einem tollen Blick auf die Alpen.«

»Der Preis spielt keine Rolle«, sagte Bauer. »Auf die Berge freue ich mich.«

»Schön, dann …«

»… bis morgen früh!«

»Bis morgen, gute Nacht«, sagte Lily, legte den Hörer zurück auf den Apparat und atmete tief aus. Sie beschloss, noch eine zu rauchen und dann ins Bett zu gehen.

2. DER ÜBERRASCHTE AMERIKANER

Keine achtundvierzig Stunden später saß Eddie Bauer, nachdem er sich im Bristol eingerichtet hatte, Lily an ihrem Schreibtisch gegenüber. In der Küche hatten sie bei einem Kaffee ein paar Belanglosigkeiten ausgetauscht und waren dann direkt in ihr Arbeitszimmer gegangen. Beide wussten, dass jede Verzögerung Lilys Entschluss gefährden konnte.

Bauers Hände umklammerten die Armlehnen des lederbezogenen Klubsessels, mit dem er nervös vor und zurück wippte.

»Sie möchten sicher noch so einiges wissen«, sagte der Journalist, den Lily auf Anfang, höchstens Mitte dreißig schätzte. Seine in natura viel heller klingende Stimme passte doch eher zu einem Schuljungen als zu diesem durchtrainierten Körper. Bauer trug eine grüne Cordhose mit gemäßigtem Schlag. Darüber ein bis zum Hals zugeknöpftes, zu enges weißes Hemd mit Kragen und eine geschmacklose Krawatte in Bananengelb.

»Eigentlich habe ich nur eine Frage«, sagte Lily. »Nein, genauer gesagt, zwei.«

»Tun Sie sich keinen Zwang an.« Bauer fuhr mit der rechten Hand durch die langen Haare an seinem Hinterkopf. Sein Pony war kurz und gerade geschnitten. Die getönte Sonnenbrille mit den faustgroßen Gläsern hatte er nicht abgenommen. Lily stellte sich ihren Fritz in seinen immer akkurat sitzenden, stahlblauen Kreidestreifen-Anzügen und dem eleganten Filzhut daneben vor. Er hätte über Bauers Aufzug gelacht.

»Was wissen Sie über Fritz und den Donnerstagsclub?«, fragte Lily.

»Donnerstagsclub?«

»Also nichts«, antwortete Lily und verspürte eine gewisse Erleichterung.

»Ich hoffe, Sie werden mir davon erzählen«, sagte Bauer, der, seit er angekommen war, fortwährend ein leichtes Lächeln auf den schmalen Lippen hatte. Lily konnte sich noch nicht entscheiden, ob sie es mochte oder nicht. War es echt oder gespielt? Insgesamt erschien ihr Bauers glattrasiertes Gesicht zu makellos. Ein richtiger Ken, dachte sie und ärgerte sich ein wenig, dass sie mit ihren sechsundfünfzig Jahren heute optisch von einer Barbiepuppe so weit entfernt war wie ein Kaktus von einer Seerose.

»Reden wir über George Wood«, sagte Bauer und rieb sich entschlossen die Hände.

Lily runzelte die Stirn. »Ich möchte eines klarstellen. Wenn wir über meinen Mann reden, dann heißt er Fritz Kolbe. Sein amerikanischer Deckname hat mir nie gefallen.«

»In Ordnung.« Bauer hob beschwichtigend die Hände. »Ich wollte Ihnen damit nur erklären, wie alles anfing. Zuerst habe ich über ihn als George Wood gelesen, und es hat wirklich eine Weile gedauert, bis ich hinter seine wahre Identität gekommen bin.«

»Darauf bezieht sich meine zweite Frage«, antwortete Lily. »Erzählen Sie mir, Mister Bauer, wie sind Sie auf meinen Mann aufmerksam geworden?«

»Sie müssen wissen, ich arbeite an einer Biografie über den CIA-Gründer und späteren langjährigen Direktor desselben, Allen Welsh Dulles. Zwischen zweiundvierzig und fünfundvierzig war er Leiter des CIA-Vorgängers Office of Strategic Services und hat hier in Bern gelebt und gearbeitet.«

»Ach was?« Lily zuckte mit den Schultern. »Etwa in der Herrengasse dreiundzwanzig?«

Bauers seltsames Grinsen wurde breiter.

»Hören Sie«, sagte Lily, »Sie brauchen mir nichts, aber auch rein gar nichts über diesen Dulles zu erzählen.«

»Oh, okay.«

»Ich nehme dann mal an, dass Dulles in irgendeinem Papier den Namen meines Mannes erwähnt hat?«

»In einem Brief an einen Freund bezeichnete er George Wood – also Ihren Fritz Kolbe – als den mit Abstand wichtigsten Spion des Zweiten Weltkriegs.«

»Damit hatte er recht«, sagte Lily und zündete sich eine Zigarette an. »Das hat er aber zu schnell vergessen nach dem Krieg. Da wollte er Fritz einfach nur noch loswerden.«

»Ohne zu wissen, was genau dahintersteckt: Es tut mir aufrichtig leid. Dulles war ein sehr umstrittener und sicher kein einfacher Mann.« Er war ein fürchterlicher Egoist, dachte Lily und sagte dann: »Sie müssen mir das nicht weiter erklären. Als Geheimdienstagent konnte er nicht öffentlich darüber sprechen, insofern haben wir auch keine großen Dankesreden erwartet. Vielleicht hätte er meinem Mann einfach besser zuhören sollen, als das besonders wichtig war. Erkläre ich Ihnen später!«

»Gut«, sagte Bauer. »Immer der Reihenfolge nach. Ich bin bei meinen Recherchen auf geheime Dokumente gestoßen, die wohl auf Ihren Mann zurückzuführen sind. Fritz Kolbe muss sie in die Schweiz geschmuggelt haben, das geht aus Dulles’ Aufzeichnungen hervor. Ich weiß allerdings nicht, was drinsteht, komme als Journalist natürlich auch nicht an Geheimdienstunterlagen heran. Bei den Dokumenten handelt es sich um Verschlusssachen. Bis zum Jahr zweitausend sind die top secret.«

»Und so lange wollen Sie nicht warten?«, fragte Lily, die ihre Zigarette in der Hand drehte, auf die Glut schaute und sich vorstellte, ein Miniatur-Dulles würde darin brennen. »Tausendsechshundert«, sagte sie.

»Bitte? Ich verstehe nicht.«

»Die CIA hält tausendsechshundert Dokumente unter Verschluss, sofern keine verloren gegangen sind. Das ist die Anzahl, die mein Mann geliefert hat. Ich habe sie selbst gezählt.« Lily ließ den Rauch aus ihren Nasenlöchern ziehen. »Jedes Einzelne haben wir im Donnerstagsclub besprochen. Fritz hat die Akten in die Charité gebracht, Professor Neumann hat sie abfotografiert. Die Kopien gingen an Dulles.«

»Das ist Wahnsinn«, sagte Bauer nach einer langen Pause. »Einfach unglaublich, dass davon nie etwas an die Öffentlichkeit gelangt ist.«

»Es könnte die Story Ihres Lebens werden, nicht wahr?«, fragte Lily und aschte ab.

»Damit wir uns richtig verstehen …«

Bauer hatte sich aufrecht in den Sessel gesetzt. »Sie können mir demnach sagen, was in diesen Dokumenten stand? Tatsächlich?«

»Und ob!« Lily lachte. »Aber dazu müssen Sie sich schon die ganze Geschichte anhören. Ich habe nämlich kein Interesse an einer Dulles-Biographie, sondern daran, dass endlich unsere Widerstandsgruppe bekannt wird. Dazu habe ich mich vorgestern entschlossen.«

»Und darüber freue ich mich sehr«, sagte Bauer.

»Haben Sie keine Angst vor Sanktionen der CIA, wenn Sie darüber schreiben?«

»Nein«, sagte Bauer und leckte sich über die Lippen. »Ich werde das schon richtig anstellen. Und auch Sie müssen keine Angst haben, denn …«

»Sorgen Sie sich nicht um mich. Ich erzähle Ihnen die Geschichte für mein Land, nicht für Ihres. Und von der CIA habe ich nichts zu befürchten, da habe ich mich abgesichert.« Lily seufzte. »Ich bin bereit. Wie wollen wir es machen? Schreiben Sie mit?«

Bauer bückte sich und griff in die Ledermappe, die er sich zwischen die Füße geklemmt hatte. »Ich würde unser Gespräch lieber mitschneiden und später transkribieren. Haben Sie etwas dagegen?« Er legte ein schwarzes Diktiergerät auf den Schreibtisch.

»Nein, habe ich nicht«, sagte Lily. »Ist das ein Grundig Stenorette?«

Bauer strich sich verlegen über den Hinterkopf. »Meine Güte, Sie kennen sich aus.«

»Ich war Sekretärin. Ich meine, ich wurde es, obwohl es nie mein Plan war. Und nun bin ich es immer noch. Klingt kompliziert, Sie werden es bald verstehen. Jedenfalls bin ich Sekretärin geblieben. Nicht beruflich, aber im Kopf. Und man kann sagen, ich habe ein außerordentliches Talent dafür, Diktate aufzunehmen oder auch selbst etwas zu diktieren.«

»Da habe ich ja großes Glück«, sagte Bauer, drückte den roten Knopf an dem Handgerät und drehte mit dem Daumen am Lautstärkeregler.

Lily beobachtete, wie sich die Spulen in Bewegung setzten. »Hoffentlich haben Sie genug Kassetten dabei.«

Bauer nickte, schaute auf seine Armbanduhr, beugte sich dann über den Tisch und sprach deutlich in das Mikrofon: »Edward Bauer für New York Times. Wir schreiben den zweiundzwanzigsten Juli neunzehnhundertvierundsiebzig. Es ist neunzehn Uhr zweiunddreißig mitteleuropäischer Zeit. Es folgt ein Interview mit Lily Kolbe in Bern.« Er nickte ihr zu und streckte seinen Daumen in die Luft. Lily tat es ihm nach.

»Frau Kolbe. Sie sind die Ehefrau des vor drei Jahren verstorbenen Fritz Kolbe, der zwischen zweiundvierzig und fünfundvierzig für das Office of Strategic Services wichtige, möglicherweise kriegsentscheidende Informationen geliefert hat. Ist das korrekt?«

»Korrekt.« Lily zog ein Streichholz an der Schachtel entlang, pustete auf den Filter der nächsten Zigarette und zündete sie an.

»Frau Kolbe, ich möchte, dass Sie uns alles von Anfang an erzählen. Die Geschichte des Donnerstagsclubs.«

»Ja.« Sie verspürte plötzlich einen leichten Schwindel, der nicht vom Nikotin herrühren konnte. Sie verhaspelte sich innerlich. Unaufhörlich reihten sich Textbausteine in ihrem Kopf aneinander. Doch sie fand den Anfang nicht.

»Bitte«, sagte Bauer und nickte ein weiteres Mal.

»Sie weiß nicht«, stammelte Lily, »wo sie anfangen soll. Oh, Entschuldigung, ich spreche von mir in der dritten Person. Dumme Angewohnheit. Ich bin etwas durcheinander. Es ist so viel, was ich erzählen könnte. Komisch, eben war noch alles da. Das passt gar nicht zu mir.«

»Sie sind nervös«, sagte Bauer. »Völlig normal. Versuchen Sie, sich zu sammeln. Fangen Sie vorne an. Wie und wann haben Sie Fritz Kolbe kennengelernt?«

Lily überlegte. »Das ist nicht der richtige Anfang. Es beginnt früher. Es fing in der Charité an – es begann mit Sauerbruch. Ich war seine Privatsekretärin, Fritz kam erst später.«

»Na gut«, sagte Bauer und legte seine Finger über dem Schreibtisch zu einer nach oben gerichteten Raute zusammen. »Halten Sie wie ich Ihre Fingerspitzen zusammen, schließen Sie für einen Moment die Augen und sagen Sie mir, was Sie sehen. Dann werden Sie den passenden Anfang finden. Lassen Sie Bilder statt Buchstaben zu.«

Lily faltete die Hände und spürte ihren Puls in den Fingerkuppen. Sie schloss die Lider, und ihre Augäpfel bewegten sich schnell hin und her. Sofort schossen ihr Bilder in den Kopf. Russische Panzer, blutüberströmte Menschen auf dem OP-Tisch. Sauerbruch im weißen Kittel, Fritz in seinem blauen Anzug. Sie atmete tief ein und aus.

»Ich sehe die vielen Winkel und Türmchen, Efeu auf roten Ziegelsteinen«, sagte sie nach einer Weile, als ihr Herz wieder gleichmäßig und ruhig schlug. »Ein Turm mit der Aufschrift Charité. Ich habe mich beworben, als Krankenschwester.«

»Sie sprechen von dem Tag, als Sie zum ersten Mal in der Charité waren?«, fragte Bauer. »Können Sie mir sagen, wann genau das war?«

»Selbstverständlich kann ich das«, antwortete Lily und öffnete die Augen. Es war so weit. »Ich vergesse niemals Daten. Fluch und Segen zugleich. Das war am frühen Nachmittag des achtzehnten Juli neunzehnhundertvierzig. Da hatte ich mein Bewerbungsgespräch, ausgerechnet an diesem historischen Tag, bei so viel Tumult.«

»Erzählen Sie!«

3. EIN REDSELIGER CHEF

Berlin, 18. Juli 1940

Nachdem Lily den Karlplatz überquert und die Polizeistation Mitte hinter sich gelassen hatte, konnte sie den in goldenen Lettern gefassten Schriftzug auf dem imposanten, mit Efeu bewachsenen roten Turm entziffern. Natürlich hatte sie schon vorher gewusst, was dort stand: Krankenhaus Charité.

Sie war fast da. Jetzt erkannte sie auch die hinter dem Haupteingang liegenden prächtigen Backsteingebäude mit den vielen kleinen Giebeln und Loggien. Aus Dutzenden Schornsteinen zog weißer Dampf in den hellblauen Sommerhimmel. Lilys Herz klopfte fast im Takt der Trommeln, die sie immer noch hinter sich hörte, wie auch das monotone »Heil! Heil!«, das aus Tausenden Berliner Kehlen ertönte, die jetzt auf der Chaussee Unter den Linden den heimgekehrten Soldaten zujubelten und auf den Auftritt des Führers warteten. Ein in jeder Hinsicht historischer Tag.

Frankreich war geschlagen, und Lily hatte ausgerechnet heute ihr Vorstellungsgespräch an der Charité – und das bei ihrem allerersten Besuch in der Hauptstadt. Warum Professor Sauerbruch nicht selbst am Brandenburger Tor war, um Adolf Hitler zu sehen? Lily musste schmunzeln bei dem Gedanken, dass er sie dem Führer vorzog.

Als sie auf das Pflaster der Schumannstraße trat, schaute sie sich instinktiv nach beiden Seiten um. Gemusst hätte sie das nicht, denn die Feldpolizei hatte alles abgeriegelt. Kein Fahrzeug in Sicht. Das passierte sicher nicht oft an dieser Stelle.

Rechts neben dem breiten Haupttor der Charité gab es eine separate Auffahrt für Sanitätskraftwagen und links einen Fußgängereingang. Als sie durch das rostige Eisentor spazierte, öffnete sich schon das schmale Fenster des Pförtnergebäudes. Dahinter saß ein Mann mit blauer Schirmmütze, der sie von oben bis unten musterte. Sie kannte diese lüsternen, durchdringenden Männerblicke und hasste sie. Zumindest, wenn der Besitzer der Augen nicht ihr Format hatte.

»Na, wo juckt’s dem Frollein denne?«, fragte der Pförtner in scharfer Berliner Mundart. »Wie in Umständen seen se ja nich aus, oder irr ick mir?« Aus dem kleinen Raum entwich ein unangenehmer Geruch. Abgestandener Pfeifentabak und irgendwas in Richtung Wurststulle, dachte Lily und sagte: »Nee, dit bin ick nich.« Sie wollte den hiesigen Dialekt gleich mal ausprobieren. Da das aber albern und nicht echt klang, fuhr sie in ihrem sauberen Hochdeutsch fort: »Ich bin überhaupt nicht krank, zum Glück. Ich habe um fünfzehn Uhr einen Termin zur Vorstellung bei Professor Sauerbruch.«