Ferdinand Sauerbruch und die Charité - Christian, Dr. Hardinghaus - E-Book

Ferdinand Sauerbruch und die Charité E-Book

Christian, Dr. Hardinghaus

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Beschreibung

Ungeachtet seiner medizinischen Verdienste zählt Ferdinand Sauerbruch zu den umstrittensten Ärzten der Zeitgeschichte. In den Jahrzehnten nach dem Krieg dominierte in den Medien ein positives, fast heroisches Bild des Menschen und Mediziners, der ab 1928 als Professor für Chirurgie an der Berliner Charité arbeitete. Dafür gesorgt hat er selbst durch seine mit fiktionalen Inhalten angereicherte Biografie "Das war mein Leben", in der er sich überwiegend als "Halbgott in Weiß" darstellen lässt. Erst seit Beginn dieses Jahrhunderts wird dieses Bild erschüttert, wirft man ihm Sympathie, ja sogar Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten vor. Christian Hardinghaus hat für "Ferdinand Sauerbruch und die Charité" neue unveröffentlichte Quellen erschlossen – darunter das bisher geheime Tagebuch von Sauerbruchs Assistenten Adolphe Jung – und zahlreiche Berichte, Briefe, Interviews und persönliche Erinnerungen von Mitarbeitern und Freunden studiert. Herausgekommen ist dabei nicht nur die erste umfassende Biografie des bedeutenden Chirurgen, sondern auch seine Rehabilitation: Ferdinand Sauerbruch unterstützte eine Widerstandsgruppe um den Spion Fritz Kolbe, die sich an der Charité gebildet hatte, und war auch in die Attentatspläne Stauffenbergs eingeweiht. Bis Kriegsende behandelte er nicht nur "verbotenerweise" Juden, sondern versteckte sie und andere Verfolgte des Naziregimes in der Charité vor der Gestapo. Aufgrund dieser neuen Erkenntnisse muss die bisherige Beurteilung von Sauerbruchs Haltung gegenüber dem NS-Regime neu bewertet werden.

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CHRISTIAN HARDINGHAUS

FERDINAND SAUERBRUCH UND DIE CHARITÉ

OPERATIONENGEGEN HITLER

Bildnachweis: Thule Art Gallery Italien, S. 33; Genschorek, Wolfgang: Ferdinand Sauerbruch. Ein Leben für die Chirurgie (S. Hirzel Verlag, Leipzig 1979), S. 43, 46, 133; Photo12/Getty Images, S. 50; WikimediaCommons, 1932 Liebermann Der Chirurg Ferdinand Sauerbruch anagoria, S. 77; Sauerbruch-Visite-1943, S. 119, Ferdinand Sauerbruch – Mutter Erde S. 212; Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo, S. 82; Peter Endersbee, Sammlung Peter Kolbe, Sydney, S. 148; Die Memoiren des großen Chirurgen. Von Ferdinand Sauerbruch. Vorabdruck Zeitschrift Revue 1952, S. 170, 202; Bildarchiv des Instituts für Geschichte der Medizin, Berlin, S. 195.

Wir danken allen Rechteinhabern für die freundliche Abdruckgenehmigung der Fotografien. Leider konnten nicht alle ermittelt werden. Wir bitte Sie, sich gegebenenfalls mit dem Verlag in Verbindung zu setzen.

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

1. eBook-Ausgabe 2019© 2019 Europa Verlag GmbH & Co. KG,Berlin · München · Zürich · WienUmschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,unter Verwendung eines Fotos von © ullstein bild/Franz H. GrainerLayout & Satz: BuchHaus Robert Gigler, München

Konvertierung: BookwireePub-ISBN: 978-3-95890-269-5

Alle Rechte vorbehalten.www.europa-verlag.com

INHALT

VORBEMERKUNG

PROLOG

EINLEITUNG

EIN CHIRURG MIT CHARAKTER

EINE STEILE KARRIERE

Kindheit und Jugend im Kaiserreich

Studium und erste Praxis

Durchbruch unter Druck

Im Großen Krieg

Blutbäder in München

Begegnungen mit Hitler

DIE CHARITÉ – VOM PESTHAUS ZUR MODERNSTEN DEUTSCHEN KLINIK

EIN START MIT SKANDALEN

Der jüdische Antisemit im Hörsaal

Neubeginn ohne Bier

Die Galle des heimlichen Kaisers

Zu Tode gehetzt

Wo ist die Million vom König?

IM SCHATTEN DES NATIONALSOZIALISMUS

Gleichschaltung und Ausschluss in der Charité

Hindenburg und der Staatsrat

Der Preis des verrücktesten Kriminellen der Geschichte

Reichsforschungsrat und Generalarzt

WIDERSTAND

Wowo das Phantom

Adolphe Jung und die Résistance

Der Spion Fritz Kolbe

Spionageapparat im Krankenhaus

Die Mittwochsgesellschaft

Das Attentat vom 20. Juli

Tiergartenstraße 4

Die Hinrichtung der Bonhoeffers

Hilfe für weitere Verfolgte

TOTALER KRIEG IN DER CHARITÉ

ENTNAZIFIZIERUNG

EIN ENDE MIT AUTOBIOGRAFIE

NACHWORT

QUELLEN

ANMERKUNGEN

REGISTER

LESEPROBE

VORBEMERKUNG

»Zwölfeinhalb Jahre lang hat das deutsche Volk hinter Gefängnismauern gelebt. Was in Wirklichkeit hinter diesen Mauern vor sich ging, ist fast nie an die Öffentlichkeit gedrungen. Es gab viele Nazi-Gegner in Deutschland. Sie, die seit Beginn des Regimes als Nichtjuden gegen Partei und Hitlertum standen […] Freiwillig blieben sie im Lande. Sie ahnten, was kommen würde […] Und weil sie es wußten und ahnten, fühlten sie sich verpflichtet, an Ort und Stelle ihre Kräfte einzusetzen, damit wenigstens nicht jedes Unrecht, das geplant war, zur Auswirkung käme. […] Unzählige Untergetauchte und Verfolgte hätten ohne fremde Hilfe nicht bis zum Ende durchhalten können […]«

RUTH ANDREAS-FRIEDRICH (1901–1977)

Als Mitglied der Widerstandsgruppe Onkel Emil hat Andreas-Friedrich ihre Erlebnisse und Beobachtungen in Deutschland zwischen 1938 und 1945 penibel in Tagebüchern festgehalten und sie 1946 in ihrem Buch Der Schattenmann zusammengefasst.

PROLOG

»Unter der Laterne vor der Reichskanzlei

hängen alle Bonzen, der Führer hängt dabei.

Und alle Leute bleiben steh’n,

sie wollen ihren Führer seh’n!«

Der Mann in abgewetzter grauer Uniformjacke mit herausgeschnittenem Wehrmachtsadler und Hakenkreuz singt laut, damit er die eigenen Worte versteht. Draußen vor den Gefängnismauern donnert die russische Artillerie seit Tagen. Kaum mehr zu hören ist ein deutsches Maschinengewehr. Das ist Albert Schwerdtfegers einzige Freude, der zusammen mit 26 weiteren sogenannten Defätisten, Deserteuren und Verrätern in Wehrmachtuntersuchungshaft im Zellengefängnis an der Lehrter Straße 3 in Berlin-Moabit einsitzt. Wenn es doch den Russen noch gelänge, dieses eine Gebäude einzunehmen, bevor man ihn hinrichten wird, denkt der Gefreite. Dummerweise hat er dieses Lied, das der Grund für seine Verhaftung war, immer schon recht laut gesungen. Daher hatten es auch zwei Feldpolizisten gehört und ihn in der halbzerstörten Likörfabrik erwischt, in der er bleiben und so lange Zitronenschnaps trinken wollte, bis der Krieg aus war. Dass es sich nur noch um Tage handeln konnte, war für ihn abzusehen. Heute ist der 29. April 1945, aber noch immer wird gekämpft.

»Warum tun die Kameraden sich das noch an?«, fragt Schwerdtfeger laut, aber die anderen Soldaten, die hier im Dunkeln auf ihren Matratzen liegen, antworten ihm nicht. »Verdammte Kettenhunde«, schreit Schwerdtfeger, bevor er wieder sein Lied anstimmen will. Doch gerade als er seine Lippen öffnet, katapultiert ihn die Druckwelle einer gewaltigen Explosion durch den Raum. Mit dem Kopf schlägt Schwertfeger gegen einen Gitterstab, hält sich benommen die Hand vor die Stirn. Als er sie runternimmt, kann er seinen Augen kaum trauen – sie werden von Feuer geblendet. Heller Rauch schießt durch ein breites Loch, das sich in der Mauer abzeichnet, mitten hinein in die Zelle. Schwerdtfeger hört seine Mithäftlinge husten und schreien.

»Das gibt es doch nicht«, ruft der Soldat laut und läuft, ohne eine weitere Sekunde zu zögern, auf die unverhoffte Öffnung zu, schlüpft hindurch und ist: frei!

Draußen sucht er kurz Schutz im nächsten Hauseingang. Mit dem Ellenbogen klopft er gegen seine Hose, die leicht Feuer gefangen hat. Schwerdtfeger blickt sich um. Aus dem Loch kriechen weitere Soldaten, einem fehlt der Arm. Er dreht sich angewidert weg, ihn hält hier nichts mehr. Ohne zu wissen, wohin, rennt Schwerdtfeger los, ignoriert Schüsse und Kugeln, die aus allen Richtungen an ihm vorbeipfeifen. Nur weg, nur weg!

Der Gefreite läuft zwischen brennenden Trümmern hindurch und an Leichen vorbei, die auf der Straße liegen. Er rennt so schnell er kann, über irgendeine Brücke, die auf die andere Seite der Spree führt. Er hastet weiter, lässt die Schweizer Botschaft und das Brandenburger Tor hinter sich. Als er auf Höhe des Tiergartens ankommt, passiert er einen russischen T-34 Panzer, aus dem schwarzer Rauch emporschießt. Sein Herz rast, die Knie zittern, allmählich verlässt ihn seine Kraft. Nur mal kurz durchschnaufen, nur für einen Moment. Schwerdtfeger bleibt stehen und erkennt einen großen Gebäudekomplex mit Hunderten Fenstern, wovon keines mehr eine Scheibe besitzt. Die Betonwände sind von Kugeln durchsiebt. Einige Mauern sind eingekracht. Wo bin ich hier? Schwerdtfeger läuft weiter, vielleicht kann er hier ein Versteck finden.

Als er einen kleinen Einmannbunker entdeckt, läuft er darauf zu. Ist da jemand drin? Nur keine Feldpolizei bitte, keine Gestapo oder SS. Er wagt es, schaut durch den kleinen Schlitz ins Innere.

»Weg!«, schreit eine weibliche Stimme.

»Hallo?«, ruft er zurück.

»Hier drin ist kein Platz mehr«, antwortet die Frau, die er jetzt schemenhaft erkennen kann. Sie trägt einen weißen Kittel.

»Krankenschwester?«, fragt Schwerdtfeger. »Wie heißen Sie?«

»Lily, und was soll ich denn sonst sein?«, entgegnet sie ruppig. »Ich war hier mal Sekretärin, doch jetzt sind wir alle Schwestern der Charité.«

»Ach, ich bin an der Charité?«

»Meine Güte.« Ihre Stimme klingt genervt.

Irgendwo in der Nähe hat eine Flak angefangen, Granaten abzufeuern. Schwerdtfeger kennt das Geräusch genau. Er muss lauter schreien: »Wer ist hier der Chef? Ich muss ihn dringend sprechen!«

»Das ist Professor Sauerbruch«, brüllt die Schwester zurück. »Der ist im Operationsbunker. Fünfhundert Meter nach rechts, hinter der II. Medizinischen lang und dann immer weiter bis zur Chirurgischen.« Lilys rosafarbene Hand ragt aus dem Schlitz, mit dem Zeigefinger deutet sie eine Richtung an. »Aber die ist eingestürzt, der Bunker ist unter der Erde. Die Treppe suchen. Beeilen Sie sich, wenn Sie dort lebend ankommen wollen.«

Die Frau verschwindet aus Schwerdtfegers Blickfeld, der daraufhin den beschriebenen Weg entlangläuft. Professor Sauerbruch, ja richtig, denkt er. Der kann mir helfen, der ist ein Antinazi wie ich. Er erinnert sich daran, dass Sauerbruch nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler im Juli letzten Jahres wochenlang verhört worden ist, sich hinter Juden gestellt hat und auf Hitler geschimpft hat – wie er selbst.

Im Bunker stinkt es bestialisch nach Eiter, Blut und dem Diesel, der aus einem Motor zieht, der hier die einzige Deckenleuchte mit Strom versorgt. Schwerdtfeger hat sich auf eine freie Bank gesetzt, beobachtet die unheimliche, fast schon surreale und ohne Zweifel abartige Szenerie, die sich vor ihm auftut. Er kommt sich vor wie in einem Gruselkabinett. An vier Tischen stehen acht Ärzte, beugen sich über Menschen mit geöffneten Bäuchen oder Brustkörben. Überall auf dem Boden liegen Verwundete. Soldaten, Frauen, Kinder. Sie schreien, bluten, sterben. Wie lange er hier sitzt, weiß Schwerdtfeger später nicht mehr. Er nutzt den Moment, als Sauerbruch an ihm vorbeigeht. Ihn hat er sofort ausgemacht, kennt ein Zeitungsfoto, das ihn mit Kriegsverdienstkreuz am Halsband zeigt. Er ist größer, als Schwerdtfeger gedacht hat, und sieht mitgenommen aus.

»Verzeihen Sie, Herr Geheimrat«, ruft Schwerdtfeger. »Ich hätte Sie gerne gesprochen wegen einer ganz dringenden Sache.«

»Na, bitte«, sagt Sauerbruch mit ruhiger Stimme. »Sprich doch einfach!«

»Nicht hier. Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«

Der Chef der Chirurgischen Klinik schaut ihn mit weit geöffneten Augen durch seine runden Brillengläser an. Er zieht die linke Augenbraue hoch, dann lächelt er. »Na dann komm mal mit!«

Sauerbruch führt den unerwarteten Gast in den Keller der Röntgenabteilung, den er schon seit zwei Wochen mit seiner Frau Margot und einer Freundin, Fräulein Thomas, bewohnt. Sie setzen sich auf einen Stuhl. Schwerdtfeger beginnt, aufgeregt seine Geschichte zu erzählen. Der Arzt hört ihm erstaunlich geduldig und verständnisvoll zu. Als Schwerdtfeger fertig ist, sagt Sauerbruch: »So, jetzt bleibst du hier bei uns! Wir brauchen sowieso einige Leute. Du wirst jetzt bei mir als Pfleger eingestellt, bis die Sache vorbei ist.«

Schwerdtfeger erhält einen weißen Kittel und eine helle Hose und wird, bis die Sache am 8. Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht endgültig beendet ist, und sogar noch vier Tage länger, an der Charité bleiben und dabei helfen, wo er kann. Er trägt Hunderte von Verwundeten in den OP, legt selbst Verbände an. Hier erfährt er vom Tod Hitlers, sieht die russischen Soldaten in den Operationsbunker einfallen und beobachtet hilflos und entsetzt, wie deutsche Krankenschwestern unter vorgehaltener Maschinenpistole vergewaltigt werden. Und er registriert, wie und mit welchen Mitteln sein neuer Chef es schließlich schafft, die schlimmsten Ausnahmezustände zu beenden. Was dieser Mann in jenen Tagen leistet, wie vielen Menschen er das Leben rettet, wie er jeden zu beschützen versucht und mit dem Feind verhandelt, das imponiert Schwerdtfeger zutiefst. Die Arbeit bei Sauerbruch macht ihm nach der Kapitulation sogar Spaß, als man allmählich anfängt, gut mit den Russen zusammenzuarbeiten. Schwerdtfeger hat, bevor er eingezogen worden ist, in der Anzeigenabteilung einer Zeitung gearbeitet.

Die Anstrengungen der ungewohnten Krankenpflege unter Extrembedingungen machen sich bemerkbar. Schwerdtfeger bekommt Fieber, wird krank. Sauerbruch befiehlt seinem Schützling am 12. Mai 1945, nach Hause zu gehen und sich auszuruhen. Er bedankt sich für die Hilfe und stellt ihm ein Schreiben aus, das er in Schwerdtfegers Beisein von einem hochdekorierten russischen General unterzeichnen lässt. Schwerdtfeger kennt den Namen noch nicht. Er nimmt es entgegen und nickt nach Sauerbruchs Worten, er solle es vorzeigen, wenn er in Konflikt mit russischen Soldaten gerate. Dann läuft er hustend zu Fuß nach Berlin Lichterfelde. Er weiß nicht, ob sein Elternhaus noch steht, in dem er seit 30 Jahren lebt, die letzten zehn davon ohne Eltern und Geschwister. Als er an der Wilhelmstraße 12 ankommt, erscheint es ihm wie ein Wunder. Während fast alle Häuser rund herum eingestürzt und die Straßen meterhoch von Trümmerteilen bedeckt sind, ist sein Haus völlig unbeschädigt. Nur etwas verschmutzt. Nicht nur von außen. Als er eintritt, empfangen ihn vier russischen Soldaten mit gezogenen Pistolen. Er versteht sie nicht, erkennt aber, dass er hier unerwünscht ist. Schon will er wieder losrennen, als ihm das Schreiben einfällt. Er zieht es mit zittriger Hand aus seiner Brusttasche und hält es den Männern entgegen, deren Augen plötzlich aufleuchten. Sie schauen ihn jetzt ganz freundlich an. Einer sagt laut einen russischen Namen, den Schwertfeger nicht versteht. Ein anderer sagt: »Sauerbrucha«, klopft ihm auf die Schultern und bringt ihn in sein Schlafzimmer. Erschöpft fällt der müde Soldat in sein Bett. Einige Stunden später weckt ihn der gleiche Mann, der ihn hierherbegleitet hat, und bedeutet Schwerdtfeger, ihm zu folgen. Der staunt nicht schlecht. Sein Wohnzimmer ist aufgeräumt, kein Müll mehr da, nicht mal Schmutz macht er aus. So sauber wie zu Mutters Zeiten. Der Russe bedeutet ihm, in die Küche zu kommen, auch die ist blitzeblank. Auf dem Tisch stehen Brot, Käse, Wodka, eine Schale mit bunten Bonbons und ein paar Äpfeln. Auf einem Teller liegt ein riesiges Stück gebratenes und dampfendes Rindfleisch. Schwerdtfeger läuft das Wasser im Munde zusammen. Der Russe sagt: »Hier du essen, du gesund werden, du guter Mann, du gute Dokumente.« Dann reicht er ihm die Hand und geht.

Schwerdtfeger ist bald wieder auf den Beinen und gesund. Auch er muss sich nach den Kriegswirren neu orientieren, wieder Fuß fassen. Er findet zurück in seine Arbeit in der Verlagsbranche, versucht wie so viele, den Krieg und das Grauen zu vergessen.

Als er aber zwei Jahre später in der Zeitung einen Artikel liest, der ein Entnazifizierungsverfahren gegen Ferdinand Sauerbruch ankündigt, holt ihn alles wieder ein. Das mag er nicht glauben. Sauerbruch? Sofort greift Schwerdtfeger zu einem Briefbogen und setzt ein Schreiben an den Professor auf. Er will unbedingt helfen, bedankt sich bei Sauerbruch, dass dieser ihm am Ende des Krieges das Leben gerettet hat, und bietet an, als Entlastungszeuge in seinem Prozess aufzutreten. Vier Tage nachdem er den Brief abgeschickt hat, erhält er ein Antwortschreiben des Chirurgen:

Mein lieber Schwerdtfeger,

Ich freue mich, dass du wohlauf bist. Komm mich doch mal bei Gelegenheit im Grunewald besuchen. Du warst mir ein ausgezeichneter Pfleger, aber als Entlastungszeugen brauche ich dich nicht. Wie alle wissen, bin ich kein Nazi. Es gibt also nicht das Geringste zu entnazifizieren!

Sauerbruch1

EINLEITUNG

Albert Schwerdtfeger wird Sauerbruch kurz nach seinem Entnazifizierungsverfahren, das ihn als unbelastet einstufte, dazu überreden, seine später umstrittene Autobiografie Das war mein Leben1A von Ghostwriter Hans Rudolf Berndorff aufschreiben zu lassen. Er ist nur einer von Dutzenden Verfolgten, denen der Chirurg während der Zeit des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkrieges geholfen hat.

Doch wie kommt es, dass unter anderen sogar der renommierte Medizinhistoriker Wolfgang Uwe Eckart dem bedeutendsten Chirurgen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorwirft, ein Befürworter des Naziregimes gewesen zu sein? Wie ist es zu erklären, dass der Mann, der mit seinen Kriegsprothesen und dem von ihm entwickelten Druckdifferenzverfahren, das überhaupt erst Operationen am offenen Brustkorb ermöglichte, Geschichte geschrieben hat, 1937 vor Hitler als dem größten Kriminellen warnt, den die Welt je gesehen hat? Und dass er sich im gleichen Jahr trotzdem von Hitler mit dem Nationalpreis für Kunst und Wissenschaft auszeichnen lässt? Ritterkreuzträger, Generalarzt des Heeres und gleichzeitig ein dringend Verdächtiger der Attentäter des 20. Juli 1944? Wie kommt es, dass er eine öffentliche Loyalitätsbekundung für Hitler abgibt, aber bis Kriegsende Juden und andere Verfolgte versteckt und ihnen zur Flucht verhilft? Ist das alles unter einen Hut zu bringen?

Und wie kann man sich erklären, dass die einen, die mit dem Meisterchirurgen arbeiteten, ihn als wütenden Tyrann im OP in Erinnerung behalten, während die anderen jedoch von ihm als den einzigen Fels in der Brandung des Terrorregimes sprechen?

Ernst Ferdinand Sauerbruch ist nicht nur einer der bekanntesten und erfolgreichsten Chirurgen der Weltgeschichte, er war und erscheint immer noch als ein Mensch voller Gegensätze.

Obwohl Sauerbruchs ärztliches Wirken große Bedeutung für die moderne Medizin hatte, ist es erstaunlich, dass bis heute weder eine wissenschaftliche noch eine umfassende Biografie über ihn verfasst worden ist. Überhaupt ist die gesamte Sauerbruch-Forschung ziemlich dünn, wenngleich sich jedoch verschiedene Mythen und Anekdoten über diesen häufig als »Halbgott in Weiß« Bezeichneten bis heute gehalten haben.

Wurde Sauerbruch in den ersten Jahrzehnten nach seinem Tod 1951 noch als Arzt gewürdigt, der Meilensteine in der Chirurgie gesetzt, und als Held gefeiert, der in den letzten Kriegswochen selbstlos unter den Trümmern der Charité ausgeharrt und- noch über 2700 Schwerverwundete operiert hat, so änderte sich dieses Bild spätestens seit 2009. In der Presse bezeichnete man ihn seitdem erst als einen Dulder, dann als einen Befürworter der Nazis. Heute nennt man ihn bereits einen NS-Täter. Nicht nur eine Verleumdung, sondern eine historische Verklärung! Doch wie konnte es dazu kommen?

»100 Schulen nach Nazis benannt« titelte die deutsche Presselandschaft2, nachdem 2009 ein schmales Büchlein von Geralf Gemser3 über zweifelhafte Schulbenennungen erschienen war. Der Fall der Umbenennung des Berliner Erich-Hoepner-Gymnasiums hatte drei Jahre zuvor für einen Eklat gesorgt. General Erich Hoepner war nicht nur am Attentat des 20. Juli beteiligt, sondern auch an der Exekution russischer Kommissare an der Ostfront. So dachte sich Gemser, es müssten sich doch zahlreiche ähnliche Fälle auftun lassen, und kündigte an, 33000 deutsche Gymnasien unter die Lupe zu nehmen. Dabei ließ er sich vor interessierten Journalisten zu der Prognose hinreißen, dass etwa noch 100 Schulen nach Nazis benannt seien. Jedes Bundesland sollte durchkämmt werden und einen eigenen Band in einer Reihe bekommen. Publiziert wurde dann nur eine Auflistung sächsischer Schulnamen auf 78 Seiten. Darunter befinden sich acht »Hauptverdächtige« aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der NSDAP. Journalisten konnten einen neuen Skandal nicht abwarten, belagerten betroffene Schulen, zwangen Direktoren zu einem Statement. Da riefen sie es schon mal aus, mit Panik in den Augen, wie einst ihre Väter 1945: »Davon haben wir nichts gewusst!« Schulleiter versprachen, sich unverzüglich mit der Geschichte ihrer Lehreinrichtung auseinanderzusetzen und eine Umbenennung in Betracht zu ziehen. Doch hinzugezogene Historikerkommissionen fanden: nichts!

Große Erleichterung auch am Wernher-von-Braun-Gymnasium. Obwohl der Raketeningenieur Waffen für Hitler schmiedete, reichte es nicht zu einer späten Verurteilung.

Einzig und allein in Großröhrsdorf, am Ferdinand-Sauerbruch-Gymnasium, ließ man sich nicht beruhigen. Da stand es doch in Gemsers Buch, schwarz auf weiß: »Als Mitglied des Hauptausschusses der DFG bewilligt er 1942 finanzielle Mittel für med. Versuche an KZ-Häftlingen.«4 Und außerdem »behandelt er nach 1933 (…) DAF-Chef R. Lay [Gemeint ist Robert Ley, Leiter der Deutschen Arbeitsfront]« und hat von Hitler den »Nationalpreis für Wissenschaft und Kunst [Gemeint ist der Nationalpreis für Kunst und Wissenschaft]«5 angenommen.

Voreilig, aber einstimmig beschlossen Schüler, Eltern, Kollegium und Direktor, dem Spuk ein Ende zu setzen und sich des Schulnamens zu entledigen. Doch hatten sie nicht mit dem Protest des Stadtrates gerechnet, der das verbot. Und so heißt das Ferdinand-Sauerbruch-Gymnasium heute immer noch so. Doch jedes Mal, wenn wieder etwas Negatives in den Medien über den Chirurgen erscheint, bekommen Lehrer und Schüler Bauchschmerzen.

Aber woher stammen denn eigentlich die Vorwürfe gegen Sauerbruch? Quellen dazu hat der Autor nicht angegeben.

Heute lässt sich allerdings daraus schließen, dass sich Gemser auf drei kurze kritische Texte und einen Lexikonartikel bezieht, die zu diesem Zeitpunkt existierten.6

Wolfgang Eckart verfasst 2016 eine 50-seitige Schrift, die man schon fast als Generalabrechnung mit dem Chirurgen bezeichnen muss. Sie ist erschienen unter dem Titel: Ferdinand Sauerbruch – Meisterchirurg im politischen Sturm. Eine kompakte Biographie für Ärzte und Patienten7. Sie wiederholt Gemsers Einwände und bringt noch ein paar mehr. Doch keine neuen Quellen tun sich auf. Was hilft da den Patienten die kompakte Information, dass Sauerbruch ein »Nazi-Bejaher« war, wie Eckart ihn nennt, obwohl er es nicht belegen kann?

Damit aber nicht genug. In diesem Jahr (2019) könnte die Stadt Hannover, die sich auf die Empfehlung ihres einberufenen Beirates Wissenschaftliche Betrachtung namensgebender Persönlichkeiten in Hannover trotz heftiger Bürgerproteste verlässt, für den 1959 so getauften Sauerbruchweg in der niedersächsischen Hauptstadt einen neuen Namen suchen. Zehn Personen stehen auf dem Index des elfköpfigen »Expertenteams«. Die Begründung ist immer die gleiche: eine »aktive Mitwirkung in einem Unrechtssystem«. So traf es schon einige andere prominente Persönlichkeiten, die das Unglück teilten, in der Zeit des Dritten Reiches gelebt zu haben. Am 20. 8. 2018 beschloss der Bezirksrat Hannover auf Antrag der SPD, drei Jahre nach Empfehlung des »Beirates«, auch die Hindenburgstraße umzubenennen. Ein »politisch korrekterer« Name wird noch gesucht.8

Die einseitige »Begründung« des »Beirates« für die Umbenennung auch des Sauerbruchweges legt zwar wieder keine Beweise offen, aber die Anklagepunkte decken sich weitestgehend mit denen, die Sauerbruch bei seinem Entnazifizierungsverfahren 1947 schon erfolgreich widerlegen konnte und die auch Eckart allesamt aufgreift.

Im Wesentlichen handelt es sich dabei um Sauerbruchs öffentliches Bekenntnis deutscher Hochschullehrer für Adolf Hitler und den nationalsozialistischen Staat (1933), die Annahme des Titels Staatsrat durch Hermann Göring (1934) und der von Hitler gestifteten Auszeichnung Nationalpreis für Kunst und Wissenschaft (1937), seine Tätigkeit als Fachspartenleiter Medizin im Reichsforschungsrat (1937–1945) und Generalarzt des Heeres (1941–1945) und um einen ausgebliebenen Protest bei einer Fachtagung für Militärärzte (Mai 1943) über Sulfonamid-Versuche an KZ-Häftlingen.

Allen Vorwürfen wird in diesem Buch penibel nachgegangen!

Es scheint, je länger das Dritte Reich untergegangen ist, desto eifriger suchen die Deutschen nach möglichen Nazis. Den Gipfel der Verleumdung leistet sich der Tagesspiegel vom 10. Juni 2018. Er titelt:

Sauerbruch und Bonhoeffer Weg: Aktivisten überkleben nach NS-Tätern benannte Straßen und fordern von der Charité-Leitung mehr Engagement.9

Hier wird Sauerbruch nun zum Nazi gemacht, sein Kollege Bonhoeffer, dessen Söhne und Schwiegersöhne als Widerstandskämpfer von den Nazis hingerichtet wurden, gleich mit. Der Tagesspiegel begründet seinen Artikel mit den Erkenntnissen des »Beirates« in Hannover. Also wieder voneinander abgeschrieben, ohne jegliche Beweislage. Aktivisten der Studierendengruppe »Kritische Mediziner*innen Berlin«, die zuvor die beiden Straßennamen auf dem Charité-Gelände überklebten, fordern: »Ein Umdenken darüber, welche Persönlichkeiten als Vorbilder für zukünftige Ärztinnen und Ärzte dienen können.« Das ist sicherlich ein wichtiger Anspruch. Im Falle Sauerbruchs allerdings urteilen sie falsch und öffnen damit Missverständnissen und Vorurteilen Tür und Tor. So schreibt der Medizinstudent Marinus Fislage am 7.12.2018 in der Studierendenzeitschrift UnAufgefordert der Humboldt-Universität zu Berlin, Sauerbruch habe nationalsozialistische Gräueltaten »offen befürwortet«. Dieser Verleumdung wird im Artikel regelrecht hetzerisch eine Grafik vorangestellt, die eine Sauerbruch-Prothese in Stellung eines Hitlergrußes zeigt. Bedenkt man, dass eben diese Prothesen Tausenden von verstümmelten Menschen ein würdevolles Weiterleben ermöglicht haben und diese nicht im Geringsten etwas mit dem Nationalsozialismus zu tun hatten, erweist sich das als besonders beschämend.9A

Es zeigt sich, dass die Diskreditierungen gegenüber Sauerbruch kontinuierlich an Schärfe zunehmen. Deshalb wird es Zeit, genau aufzuschlüsseln, ob sich der Chirurg Vergehen schuldig gemacht hat, die es rechtfertigen könnten, ihm eine politische Nähe zum Nationalsozialismus vorzuwerfen. Dies soll nun umfangreich wie nie zuvor und ein für alle Mal geklärt werden.

Bisher nicht beachtete Quellen – veröffentlichte und unveröffentlichte – werden das verzerrte Bild des Ferdinand Sauerbruch gänzlich neu beleuchten und aufzeigen, wie aktiv dieser gegen die Nazis »operierte«, kämpfte und wer ihn dabei unterstützt hat.

So soll dieses Buch eine umfassende Darstellung des Menschen und Arztes in seiner Rolle im NS-System vorlegen, Lücken im Lebenslauf Sauerbruchs schließen und füllen sowie eine Menge Irrtümer und Missdeutungen beseitigen. Das funktioniert nur, wenn sämtliche zeithistorischen Umstände berücksichtigt und kontextualisiert werden, um so Sauerbruchs Handeln, seine Einstellungen und Motive nachvollziehen und erklären zu können.

Die wichtigsten Informationen liefern uns diejenigen Menschen, die Sauerbruch am besten kannten, die jahrelang Tag und Nacht mit ihm arbeiteten, lebten und sprachen.

Die wertvollste veröffentlichte Quelle stellt die Biografie Helle Blätter, dunkle Blätter10 des jüdischen Chirurgen Rudolf Nissen dar, der zwölf Jahre in Sauerbruchs Kliniken gearbeitet hat, und davon sieben Jahre lang als sein engster Assistent. Außerdem das Buch Fritz Kolbe – der wichtigste Spion des Zweiten Weltkrieges11 von Lucas Delattre. Kolbe ist als Freund und Patient Sauerbruchs sowie als Verlobter seiner Sekretärin Maria Fritsch häufig in der Nähe des Chirurgen und weiß dessen Gesprächigkeit in effizienter Weise auszunutzen.

Die imponierendste und bedeutendste aller Quellen stellt das exklusiv für dieses Buch zur Verfügung stehende Tagebuch des elsässischen Chirurgen Adolphe Jung dar. Als Volksdeutscher zwangsverpflichtet, wird er Sauerbruch zwischen 1942 und 1945 als Privatassistent zugeteilt. Jung macht gemeinsame Sache mit Kolbe und spioniert seinerseits für die französische Résistance; dabei beschreibt er seinen Chef, mit dem er nicht nur jeden Tag am Operationstisch steht, sondern dem er auch freundschaftlich verbunden ist, sehr genau. Er fertigt ein Tagebuch an, das er Un Chirurgien dans la Tourmente (Ein Chirurg im Sturm) nennt. Er wird es nie veröffentlichen und auch nie jemandem zeigen. Seine Familie findet es erst 2000, acht Jahre nach seinem Tod, und legt es weitere 18 Jahre später dem Autor dieses Buches vor. Einige Einblicke für ihre Recherchen erhielten zuvor lediglich Delattre sowie die beiden Drehbuchautorinnen der Serie Charité Sabine Thor-Wiedemann und Dorothee Schön, die anhand der dort enthaltenen Beschreibungen die Figur Sauerbruch für die 2019 erscheinende zweite Staffel der Serie Charité zeichnen konnten.

Ein dritter Mann spioniert in unmittelbarer Nähe von Sauerbruch vermutlich für den russischen Geheimdienst. Wolfgang »Wowo« Wohlgemuth stand in einem Interview Rede und Antwort und kann eine genaue Einschätzung zu Sauerbruchs politischer Gesinnung abgeben. Ferner werden Interviews mit Ehefrau Margot und mit den Sauerbruch-Kollegen, den Oberärzten Dr. Beckmann, Gustav Schimert und Karl Stompfe, der Operationsschwester Hildegard, Albert Schwerdtfeger sowie die Erinnerungen von Oberpfleger Josef Schmidt in das Buch einfließen. Die Interviews wurden 1961 von Journalisten des Magazins Quick geführt und lagern in transkribierter Form im Archiv des Institutes für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin an der Charité in Berlin.12 Soweit daraus zitiert wird, erfolgt dies mit entsprechender Seitenangabe. Der besseren Lesbarkeit halber wurden Rechtschreib- und Tippfehler, die bei der Übertragung der Audio-Files entstanden sind, korrigiert und die Texte an die aktuelle Rechtschreibung angepasst. Seitenangaben für Zitate aus dem Jung-Tagebuch anzugeben ist nicht möglich, da sie dort fehlen. Nach aktuellem Stand ist seitens der Familie Jung angedacht, das Tagebuch in näherer Zukunft über das Universitätsarchiv der Charité in Form eines eigenständigen Werkes zu veröffentlichen. Sofern aus dem unveröffentlichten Buch zitiert wird, können von Jung selbst angelegte Kapitelüberschriften angegeben werden, unter denen sich die jeweiligen Inhalte befinden; dadurch sollten diese auch bei einer späteren Veröffentlichung zu finden sein.

Außerdem kommen Monografien und Aufsätze von vielen Kollegen und Freunden Sauerbruchs zur Sprache. Darunter: Bildhauerin Yrsa von Leistner13, Sanitätsoffizier und Sauerbruch-Vorgesetzter im Krieg Werner Wachsmuth14, Frauenarzt der Charité Walter Stoeckel15, Herzchirurg Werner Forßmann16, Urologe des jüdischen Krankenhauses in Berlin Paul Rosenstein17 und Krankenträger Werner Podszus18. Weiterhin die Tagebücher des Diplomaten, Widerstandskämpfers und Sauerbruch-Freundes Ulrich von Hassel19 sowie die Erinnerungen des oppositionellen Schriftstellers Paul Fechter.20 Außerdem weitere Artikel und Briefe von Kollegen und Freunden wie der Pathologin Else Knake, dem dänischen Chirurgen H. Wulff sowie die unveröffentlichten Memoiren Fritz Kolbes21.

Von großer Bedeutung sind natürlich Sauerbruchs eigene Biografie Das war mein Leben, die allgemeine Abhandlung von Wolfgang Genschorek22, ein Bericht seines im Widerstand aktiven Sohnes Peter Sauerbruch23 oder die speziellen Betrachtungen von Jürgen Thorwald24, Hans Rudolf Berndorff25 und Gerhard Jaeckel26. Weitere ergänzende und hier zitierte Literatur ist im Quellenverzeichnis aufgeführt.

Zunächst soll Sauerbruch als Mensch fernab politischer Einstellung charakterisiert werden. Es folgen Kapitel über sein berufliches und privates Wirken vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten, zur Geschichte der Charité und zu Sauerbruchs schwierigem Einstieg in das Berliner Krankenhaus, dessen Ruf kurz zuvor durch einige Skandale gelitten hatte, die sich direkt oder indirekt auf Sauerbruch auswirken mussten. Anschließend erfolgt peu à peu eine genaue Aufschlüsselung der gegen Sauerbruch angebrachten Kritikpunkte und danach eine Übersicht über seine Widerstandstätigkeiten. Die abschließenden Kapitel behandeln die aufreibenden letzten Kriegswochen im Operationsbunker der Charité, Sauerbruchs Entnazifizierung und die dramatische Posse um seine Autobiografie.

Letztendlich wird höchster Wert darauf gelegt, dass der politische und gesellschaftliche Zeitkontext, der Sauerbruchs Leben umfasst, genauso beleuchtet wird wie seine direkte Umgebung – die Vorgänge in der Charité, insbesondere in der NS-Zeit. Zeitgenössische Fotos und Abbildungen, ein umfangreicher Anhang mit Quellenverzeichnis und Anmerkungen sowie ein Register runden das Buch ab.

EIN CHIRURG MIT CHARAKTER

Um Sauerbruchs Verhalten in den folgenden Kapiteln, insbesondere in der Zeit des Nationalsozialismus, besser nachvollziehen zu können, erscheint es an dieser Stelle angebracht, sein Wesen, sein Auftreten, seine privaten wie beruflichen Eigenarten zu beschreiben, bevor der Schwerpunkt auf sein politisches Handeln und Umfeld gelegt wird. Nachfolgend ist der typische Sauerbruch charakterisiert, wie ihn Mitarbeiter und Freunde während seiner besten und friedlichsten Zeit Mitte der Dreißigerjahre in der Charité erleben.

Der 60-jährige Sauerbruch zieht im OP alle abkömmlichen Blicke auf sich. Er ist groß, kräftig und breitschultrig. Sein Gesicht wird dominiert von einer hohen Stirn. Auf der langen Nase sitzt eine Nickelbrille, hinter der scharfe hellblaue Augen hervorblicken. Der Schnurrbart ist so ergraut wie die lichten Haare auf seinem Hinterkopf.

Doch es ist nicht nur seine Erscheinung, die Eindruck macht. Es sind besonders die routinierten, eleganten und vor allem schnellen Bewegungen, mit denen er das Messer schwingt, fast wie der Dirigent eines Orchesters. Zwei Schwestern stehen neben ihm. Eine hauptverantwortliche und eine zusätzliche, die der ersten zuarbeitet. Denn die Operationstechnik des Chefarztes der Chirurgischen Klinik zeichnet sich zuallererst durch eine fulminante Geschwindigkeit aus. Das bleibt allen Ärzten in Erinnerung, die mit ihm gemeinsam operiert haben. Karl Stompfe sagt: » (…) Sein [Sauerbruchs] großartiges Können lag darin, dass er mehr oder weniger blitzartig den Krankheitsherd anging und freilegte.«27

1935 verfügt die Charité als das modernste Krankenhaus Deutschlands und eines der angesehensten Europas über 1427 Betten. 1682 Mitarbeiter verrichten in dem riesenhaften roten Ziegelsteinbau ihren Dienst in 13 Kliniken. Sauerbruch leitet seit 1929 die Chirurgische Klinik, wo in Friedenszeiten bis zu 60 Ärzte beschäftigt sind. Für eine größere Operation am Thorax oder im Bauchraum kann der Chef, wie ihn alle – selbst seine Frau – nennen, im Normalfall fünf Oberärzte einplanen. Wenn er selbst operiert, assistieren ihm davon drei, ein vierter macht die Narkose, ein fünfter kümmert sich um technische Belange wie etwa die Beleuchtung. Hinter jedem der Oberärzte steht ein sogenannter »Affentisch« – ein Beistelltisch mit Operationsbesteck. Diesen bedient auf Kommando jeweils ein dem entsprechenden Oberarzt zugeteilter, meistens junger Assistenzarzt.

Im Sauerbruch’schen OP stehen drei Operationstische, und meistens wird gleichzeitig operiert. Der Chef arbeitet so schnell und konzentriert, dass er an allen drei Tischen mitschneidet und kommandiert. Er betreut auf diese Weise zwischen 12 und 20 Operationen täglich, die von 7 Uhr morgens bis manchmal 21 Uhr abends stattfinden. Sauerbruch ist der Einzige im OP, der ohne Kopfbedeckung operiert. Er ist der Meinung, dass er mit Gummihandschuhen nicht das nötige chirurgische Gespür für seine feine Technik aufbringen kann. So können alle seine großen Hände beobachen, aus denen breite Muskelstränge hervortreten. Oberarzt Wohlgemuth sagt, »dass die Sauerbruch’sche Operationstechnik die eleganteste und schnellste Technik ist, die ich überhaupt je gesehen habe«.28

Wohlgemuth wird oft als Beleuchter eingesetzt, was dazu führt, dass er sich zur Freude des Chefs selbst den Namen Armleuchter zulegt und ihn auf die Operationstafel schreibt. Wohlgemuth steht dann mit einer zusätzlichen Leuchte hinter Sauerbruch, weil das Licht des Deckentiefstrahlers für die schnellen Bewegungen des Professors nicht ausreicht. »Und da habe ich also diese Technik beobachten können, und ich muss sagen, ich war vielleicht damals noch gar nicht reif genug, um das in dem Ausmaß [Gesehene] an Genialität und Großlinigkeit [sic!] richtig zu erfassen.«29

Es gibt etwas, das Sauerbruch überhaupt nicht duldet. Selbst der kleinste Fehler eines Mitarbeiters kann ihn in heftige Wutausbrüche versetzen.

Jeder, der einmal einer Operation zugeschaut hat, weiß, dass allgemein unter Chirurgen ein rauer, fast schon militärischer Ton herrscht. Bei Sauerbruch ist dieser ausgeprägt wie bei keinem anderen. Einem Assistenten, der nicht aufpasst, haut er schon mal mit einer Operationszange auf die Finger oder pfeffert ihm ein Handtuch ins Gesicht. Macht ein untergebener Arzt einen Fehler, schmeißt ihn der wütende Professor noch während der OP aus dem Saal, nicht ohne ihm mitzuteilen, dass dieser dem Ruf eines Arztes nicht mehr würdig sei, sein Vater sich für ihn schämen solle und er ohnehin bald entlassen werde. Da sich diese Rausschmisse häufig ereignen, halten sich bei Sauerbruchs Operationen immer Ersatzassistenten in voller Bekleidung im Vorraum bereit, um sofort einspringen zu können. Das OP-Personal nennt diese Kuriosität ihres Chefs »Maskenball«. Werner Forßmann erinnert sich, dass es Tage gegeben hat, an denen Sauerbruch sein gesamtes Ärzteteam bis zu dreimal verbrauchte. Was dazu geführt hat, dass ein aus dem OP entfernter »Idiot« sich im Vorbereitungsraum gleich wieder sterilisiert und in die Reihe der nächsten Ersatzassistenten eingereiht hat.30 Der Chefchirurg wählt den »Sündenbock des Tages« und macht sich über erschöpfte Ärzte lustig. Einen Volontär macht er zur Schnecke, weil dieser es wagt, nach einer 18-Stunden-Schicht sechs Stunden zu schlafen. Forßmann hört, wie ihn Sauerbruch anfährt: »Liegen Sie sich eigentlich nicht wund?«31

Den schwersten Stand bei Sauerbruch haben zweifelsohne die Anästhesisten. Wenn nämlich ein Patient bei einer örtlichen Betäubung nur die Anzeichen eines Schmerzempfindens zeigt, schickt Sauerbruch den Anästhesisten raus. Wohlgemuth erinnert sich:

Das war ein schwerer Schlag, und man zitterte und man redete dem Patienten gut zu, er möchte doch möglichst still sein, auch wenn es weh tut, da man ja für seine eigene Existenz und für seine eigene Karriere fürchtete.32

Sauerbruchs Forderungen nach der tiefsten nur möglichen Narkose gehen letztendlich so weit, dass, wenn ihm sein Oberarzt Forßmann assistiert, dieser immer ein Tropffläschchen des zu dieser Zeit strikt untersagten Mittels Chloroform dabei hat. Er wendet es heimlich an, sobald die Narkose in entscheidenden OP-Phasen nachlässt.33

Nur wenn Sauerbruchs zweite Ehefrau Margot, die selbst Ärztin ist, bei einer OP mitarbeitet, ist der Chef ruhiger. Sie übt im Privaten wie in der Klinik immer eine besänftigende Wirkung auf ihn aus.

Wohlgemuth fühlt sich nie von Sauerbruch beleidigt, weil er seinen versteckten Humor und den Sarkasmus begreift. Andere zerbrechen daran, so wie der Chirurg Konrad Middeldorf, der mit geöffneter Oberschenkelschlagader in seinem Dienstzimmer gefunden wird. Forßmann erinnert sich, dass Sauerbruch bei dessen Beerdigung lauthals und bitterlich geweint hat. Daraufhin habe ihm eine Charité-Putzfrau zugeraunt: »Jaja, Herr Geheimrat, nu könn’ Se flennen, jetzt, wo et zu spät is.«34