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In einer Welt, die Kriege lange hinter sich gelassen hat, scheint alles perfekt zu sein. Doch die zwei Schüler Sylvester und Aurora erfahren schlagartig, dass dem nicht so ist und ihre Welt aus Lügen besteht. Die beiden sind die Einzigen, die die Menschheit aus einer Katastrophe retten können. Nur eine Künstliche Intelligenz steht ihnen zur Seite.
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Seitenzahl: 202
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Die Handlung und die Personen in diesem Buch sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlich lebenden, realen Personen ist zufällig.
Kapitel EINS
Kapitel ZWEI
Kapitel DREI
Kapitel VIER
Kapitel FÜNF
Kapitel SECHS
Kapitel SIEBEN
Kapitel ACHT
Kapitel NEUN
Sylvester Pinkerton betritt das Gelände seiner Schule. Heute ist der erste Schultag des neuen Jahres.
Die Sonne brennt heiß am Himmel. Schon jetzt, um neun Uhr früh. Leichte Böen machen die Hitze erträglich. Der Geruch nach frisch gemähtem Gras weht aus der Parkanlage herüber.
Sylvester folgt einem zentralen Weg und blickt dem weißen Betonpalast entgegen, in dem sich jetzt wieder fast sein gesamtes Leben abspielen wird. Über der Tür prangen groß Uhrzeit und Datum. Die ganze Fassade scheint von einer Art Display überzogen zu sein - sie wirkt organisch. Als würde ein undefinierbares Etwas atmen, bewegen sich kleine Formen durcheinander, verschwinden und tauchen an anderer Stelle wieder auf. Erst bei genauerer Betrachtung wird erkennbar, dass es digitale Berechnungen auf Milliarden Pixeln sind. Trotzdem irgendwie echt, findet Sylvester.
Die Eliteschule, die er besucht, ist die beste in ganz Pangea, dem letzten bewohnbaren Stück Erde. Sie ist vernetzt, modern und in nichts zu übertreffen.
Er wendet seinen Blick wieder nach vorne und zieht ein letztes Mal seine Uniform zurecht. Ein graues Jackett mit Stehkragen und eine Stoffhose in derselben Farbe bilden die Schuluniform. Über beide Kleidungsstücke ziehen sich zwei etwa fingerbreite Streifen, die den Nähten auf der linken Schulter entspringen und senkrecht nach unten verlaufen. In jeder Klassenstufe haben die Streifen eine andere Farbe. So beginnt man mit Rot im ersten Jahr und verlässt die Schule mit Weiß. Pinkertons Uniform trägt weiße Streifen.
Durch die große Fensterfront sieht er Dutzende von Schülern. Viele tragen die beliebte Uniform, einige aber auch normale Anzüge.
Mit seinem Tablet unter dem Arm betritt er die riesige Aula. Massive graue Säulen stützen die mindestens sechs Meter hohe Decke. Von ihr hängen Kunstwerke und LEDs herab. Im hinteren Teil des Raumes beginnen links und rechts Gänge, die zu den Klassenzimmern führen.
Die Aula ist voller als Sylvester sie je gesehen hat. Überall wird gedrückt und geschoben. Auf der Empore an einer Seite der Aula lehnen einige Schüler und sehen dem regen Treiben unter ihnen gelangweilt zu.
Sylvester lehnt sich gegen einer der Säulen. Er denkt darüber nach, was ihn dieses Jahr wohl erwarten wird. Vielleicht wieder einer der Mathematik- oder Physikwettbewerbe, bei denen er bisher sehr gut abgeschnitten hat? Besonders hofft er allerdings auf ein Konzert. Die letzten Jahre war das Musikfestival immer ein Höhepunkt. Niemand wusste vorher welche Band auftritt, nicht einmal die Lehrer.
Gerade als er dabei ist, sich das alljährliche Schulfest vorzustellen, entdeckt er zwei ihm sehr vertraute Mädchen. Es sind Aurora und Cindy. Er reißt seinen Arm in die Höhe, um auf sich aufmerksam zu machen. Aurora und ihre Freundin kämpfen sich durch die Menge bis zu ihm durch. Die drei Schüler begrüßen sich nach den langen Ferien fröhlich. Sie erzählen wild durcheinander, was sie in den letzten Wochen so gemacht haben.
Die Stimmen und Geräusche werden für Sylvester jedoch immer leiser und leiser - seine gesamte Aufmerksamkeit gilt in diesem Moment nur einer einzigen Person: Aurora, dem schönsten Mädchen der Klasse. Ihr Gesicht ist so schön wie tausend Rosen. Ihre Lippen sind so rot wie die wertvollsten Rubine. Ihr welliges rotbraunes Haar ist so fein wie Millionen seidener Fäden. Was Sylvester jedoch am meisten an ihr beeindruckt, ist nicht ihr athletischer Körper, sondern die Farbe ihrer Augen. Etwas dergleichen hat er bei noch niemandem sonst gesehen. Ihre Iris sind weiß und setzen sich kaum vom restlichen Weiß der Augäpfel ab. Nur ein dünner Rand aus blutroten Adern macht sie deutlich. Was die anderen Jungs abschreckt, zieht Sylvester an. Er hat bemerkt, dass dieser rote Rand ein bisschen deutlicher wird, wenn sie aufgeregt oder nervös ist. Ausgerechnet dieses beeindruckende Mädchen hat ein Auge auf ihn geworfen.
Er hingegen kann seine Gefühle nicht offen zeigen. Wird er gefragt, so erzählt er immer, es hätte etwas mit seinen Eltern zu tun. Geöffnet hat er sich darüber bisher noch niemandem. Seine Mitschüler sehen ihn als Sherlock Holmes. Er schreibt ausnahmslos gute Noten, findet aus jeder Situation einen Ausweg, bemerkt sofort neue Beziehungen zwischen anderen. Die Geschwindigkeit, mit der er Zusammenhänge erkennen und einen Nutzen daraus ziehen kann, ist beeindruckend. Gegen seine Rhetorik kommen selbst Lehrer selten an. Die meisten seiner Mitschüler finden das unnötig arrogant. Er selbst meint nur, dass man stets einen kühlen Kopf bewahren sollte.
Ins Gespräch vertieft begeben sich die drei zu ihrem Klassenzimmer. Selbst die Gänge und Räume besitzen eine perfekte Kombination aus organischen und architektonischen Akzenten. Die hölzernen Sitzmöbel und Tische - die sicher von einem teuren Designer stammen - verwandeln das sonst klinische Weiß in eine Umgebung, in der man sich wohlfühlen kann und gerne lernt. Überall finden sich Displays und zeigen die verschiedensten Informationen: Die Uhrzeit, die Zimmeraufteilung der Klassen, den Stundenplan oder Kurs.
Die Klassenleiterin kommt pünktlich um neun Uhr ins Klassenzimmer und setzt sich lässig auf den Stuhl hinter dem Pult. Es ist die Lehrerin, die sie letztes Jahr in dem Fach Rechtswesen hatten und eigentlich befürchteten, nie wieder zu sehen. Sylvester kann sie gut leiden, obwohl er sich an ihrer Schlagfertigkeit und Wortgewandtheit die Zähne ausbiss.
Stunde um Stunde vergeht, langsamer als jeder andere Tag im Jahr. Ein Punkt der Tagesordnung nach dem anderen wird abgearbeitet - als hätten sie die ganzen Formalitäten nicht schon mindestens tausend Mal gehört. Einwände werden vorgebracht, nur um direkt wieder zurückgeworfen zu werden.
Ein lautes Klopfen an der Tür holt einige aus ihren Tagträumen zurück in die Realität. Der Schulleiter betritt das Zimmer und kündigt die alljährliche Biometrie-Sicherheitsbestätigung an. Er bittet die Klasse, sich draußen auf dem Gang zu versammeln und ihm zu folgen. Aurora geht hinter Sylvester. Mit den Schülern im Schlepptau begibt sich der Rektor in die Aula.
Die Schlange kommt vor einigen Tischen zum Stehen, die an diesem Morgen noch nicht hier standen. Auf dem mittleren ist ein Gerät aufgebaut, das aus zwei schwarzen Platten auf der Tischfläche und mehreren Kameras sowie einem Spiegel auf Augenhöhe besteht.
Sylvester greift mit seiner Hand in die Innentasche seines Jacketts und zieht einen dünnen Handschuh hervor. Aurora bemerkt das und wundert sich, fragt aber nicht.
Aurora hat das von ihren Eltern übernommen. Ihre Mutter und ihr Vater sind ständig unterwegs und meistens nur an den Wochenenden wirklich zuhause. Aurora hat keine erstklassige Erziehung genossen, auch wenn sich die Frau, die sie während der Abwesenheit ihrer Eltern und Großeltern erzogen hat, das gerne einredet. Alles was sie von dieser Haushälterin gelernt hat, sind Regeln, sonst nichts. Wenn ihre viel beschäftigten Eltern Aurora jedoch eines beigebracht haben, dann dass man immer erstmal abwarten und beobachten sollte, bevor man Schlüsse zieht oder den anderen konfrontiert.
Sylvester nimmt den Handschuh und zieht ihn über seine linke Hand. Er massiert seine Handfläche und seine Finger bis zu den Kuppen. Anschließend zieht er ihn aus und wiederholt das Ganze mit seiner rechten Hand.
Als er den Handschuh wieder in seiner Tasche verschwinden lässt, fragt Aurora ihn über seine Schulter, was er gerade getan hat. Statt einer Antwort bekommt sie jedoch nur einen ratlosen Gesichtsausdruck von ihm. Etwas, dass sie bei ihm noch nie gesehen hat. Wie kann es sein, dass er für etwas derart Seltsames keine schlagfertige Ausrede parat hat?
»Hey, Pinkerton! Du bist dran.« Der Schüler vor ihm reicht Sylvester ein Tablet. Darauf muss er seinen Namen und seine Zugangsdaten eingeben.
Diese Maßnahme zur Identifikation der Anwesenden ist mittlerweile eine bekannte Prozedur für die Abschlussklasse und geht daher ziemlich zügig. Die Schüler müssen sich mit ihren Händen flach auf den schwarzen Platten abstützen und in den Spiegel blicken. Währenddessen werden von den verschiedenen Kameras und Sensoren hinter dem Spiegel mathematische Gleichungen von ihrem Gesicht erstellt. Diese werden zusammen mit den Abdrücken der Hände mit einer Zentraldatenbank verglichen. Was passiert, wenn die Daten nicht übereinstimmen, hat bisher noch niemand erlebt.
Sylvester ist an der Reihe. Die Prozedur dauert nur wenige Sekunden. Der Nächste wird aufgerufen. Sylvester geht zu den Toiletten. Jedoch nicht um sich zu erleichtern. Er schubst die Tür auf und wäscht sich gründlich die Hände. So gründlich, als wolle er etwas Klebriges, Unsichtbares von seinen Handflächen schrubben. Als sich kleine Fetzen lösen, die aussehen wie Haut, spült er diese unter dem Wasserhahn ab und greift nach einem Papierhandtuch.
Als Sylvester die Aula wieder betritt, sind die anderen bereits fertig und schon auf dem Rückweg zum Klassenzimmer. Dort sprechen die frisch gewählten Klassensprecher noch ein paar unwichtige Themen an.
Endlich, der Gong ertönt und beendet den ersten Schultag. Alle Schüler stürmen gleichzeitig aus dem Gebäudekomplex. In der Hoffnung, nach Hause zu kommen, bevor das Verkehrschaos losbricht. Sylvester hat keine Eile. Er lässt sich Zeit und geht mit Aurora zusammen gemütlich Richtung Parkplatz.
»Du wirst immer von einem schwarzen Oldtimer abgeholt, oder?«, fragt Aurora unsicher.
»Hast du mir letztes Jahr nachspioniert?« Natürlich ist Sylvester nicht wirklich aufgebracht, sondern möchte sie nur ein bisschen necken.
»Ich… also…«, stottert Aurora.
»Dir ist es einfach aufgefallen. Alles gut«, beruhigt er sie. Er überlegt, weshalb sie bei dieser Frage sofort nervös geworden ist. »Aber du hast Recht. Ich wohne etwas außerhalb, deswegen kommt keine Buslinie zu mir.«
»Wieso wohnst du nicht in der Stadt? Immerhin ist hier alles total modern und es gibt unbegrenztes Internet.«
»Meine Eltern wollten mich zwar auf der besten Schule sehen, sie fanden es jedoch zu unsicher, mich allein in der Stadt wohnen zu lassen. Deshalb haben sie ein eigenes Anwesen für mich an der Stadtgrenze gebaut.«
Aurora ist begeistert, die anderen Jungs langweilen sie nur. Sie möchte ihn am liebsten mit noch viel mehr Fragen löchern. Was mit seinen Eltern denn sei?
Die Frage ist ihm unangenehm, er lässt sich jedoch nichts anmerken. »Ich wohne allein.«
Seine Klassenkameradin möchte schon die nächste Frage stellen, da unterbricht er sie und verabschiedet sich. Auf dem Parkplatz wartet bereits sein Chauffeur mit dem Wagen. Genauso wie jedes andere Auto fährt es mit einer Wasserstoff-Brennzelle und trägt vorne und hinten die verchromten Buchstaben Corevisk.
Sylvester setzt sich auf die Rückbank und macht etwas Musik an. Er lehnt sich entspannt zurück und überlegt, was es heut wohl zum Mittagessen geben wird. Er hofft, etwas mit Nudeln oder Fleisch. Zum Nachtisch würde ihm ein Zitronenpudding gefallen. Doch er weiß, dass seine Haushälterin seine Gedanken nicht lesen kann. Jedenfalls hofft er das.
Sie fahren durch eine Landschaft aus modernen Betonbauten mit symmetrischen Parks und Geschäften mit Nahrungsmittel- und Medizinautomaten. Währenddessen denkt Sylvester über seine Eltern nach und warum sie so viel Macht haben wollen. Ob er sie wohl mal wieder anrufen sollte? Vielleicht sollte er sie auf ein Essen einladen. Schließlich ist die Familie nur zu Weihnachten und seinem Geburtstag zusammengekommen, seit er weggezogen ist. Manchmal malt er sich aus, wie es wäre, normale Eltern zu haben, die einen normalen Job haben und am Abend nach Hause kommen. Es ist keinesfalls normal, eine riesige Firma zu leiten und so viel Geld zu haben, dass kein Scheck der Welt für die Anzahl der Nullen ausreichen würde.
Er döst vor sich hin und bemerkt gar nicht, dass der Wagen schon auf dem Hof seiner Villa angekommen ist. James weckt ihn auf. Er begibt sich zur Haustür und wird auf dem Weg dorthin bereits vom Sicherheitssystem erkannt. Die Tür lässt sich ohne Probleme öffnen. Diese Technik ist schon komfortabel, aber seiner Meinung nach haben seine Eltern es mit Sicherheitspersonal rund um die Uhr definitiv übertrieben. Aber sie mögen ihre Gründe haben.
Nachdem er seine Schuhe und sein Jackett ausgezogen hat, begibt er sich ins Ess- und Wohnzimmer. Eine Seite des Raumes besteht einzig und allein aus Glas. Das längliche Haus liegt so, dass die längere Seite Richtung Stadt zeigt. Entlang dieser Seite verläuft eine ununterbrochene Glasfront, die sich an einigen Stellen öffnen lässt.
»Das riecht aber lecker! Was gibt’s denn heute?«, fragt er gespannt.
Sein Platz an dem großen Holztisch ist bereits gedeckt. Sylvester setzt sich und blickt auf den Tisch. Vor ihm steht ein gläserner Teller und daneben ein Weinglas mit Traubensaft, der aus der Weinflasche in der Mitte des Tisches stammt. Seine Haushälterin lädt ihm eine Portion auf seinen Teller - tatsächlich Nudeln mit Fleischsoße. Er bedankt sich für das Essen und genießt es.
An dem Ausblick über die Wiesen und die Stadt kann er sich nicht sattsehen. Er liebt den Unterschied zwischen Natur und den modernen Beton- und Glasbauten. Die Kinder heutzutage wachsen in gepflegten Parks auf und kennen eigentlich gar keine natürliche Natur mehr. Da es außerhalb der Städte kein Internet gibt, kommen die selbstfahrenden Autos nur bis zu den Stadtgrenzen. Und obwohl es mittlerweile möglich ist, jede Krankheit zu heilen, trauen sich die Eltern nicht mit ihren Kindern in die Natur. Alles ein Plan, um die Einwohner unter Kontrolle zu halten. Eigentlich gibt es zwar eine Regierung, die aus gewählten Volksvertretern besteht, jedoch ist sich Sylvester sicher, dass jeder Volksvertreter von Corevisk gekauft wurde. Corevisk bringt einen Gesetzesentwurf hervor und die Regierung ist nur noch dafür zuständig, diesen umzusetzen. Vor dieser Firma gibt es in der heutigen Welt so gut wie kein Entkommen, sie hat keinerlei Beschränkungen. Niemand stört sich daran, weil es die Gründer von Corevisk waren, die die Menschheit vor ungeheuren Gefahren aus den unbewohnbaren Gebieten beschützt und einen Schutzwall gebaut haben. Innerhalb dieses Walls liegen bloß ein paar große Städte. Das Habitat ist von Wald umgeben, von dem niemand genau weiß, welche Kreaturen dort zu Hause sind. Schon den Kindern wird so früh wie möglich beigebracht, den Wald zu meiden. Sie lernen ebenfalls schon früh, dass Corevisk die Menschheit vor dem Aussterben gerettet hat.
Die große Fensterscheibe kann auch als Display benutzt werden. Später am Abend liegt Sylvester auf der Couch und sieht sich eine Show von Corevisk an. Während der Präsentation wird eine neue Technik vorgestellt: Die HyperBrain Gehirnimplantate. Sie werden in einen bestimmten Teil des Gehirns implantiert und können angeblich über ganz leichte, elektrische Impulse den Alltag der Menschen erleichtern. Wie Sylvester weiß, experimentiert die Firma aber gerne.
Kurz nachdem die Livesendung beendet wurde, ruft Aurora an und auf der gigantischen Glasfront von Sylvesters Wohnzimmer erscheint ein Bild von ihr. Er steht von der Couch auf, stellt sich vor die Scheibe und nimmt den Anruf entgegen. Das Video von Aurora wird so dargestellt, als würde sie lebensgroß vor ihm stehen.
»Hallo, Aurora.«
»Hi, Sylvester. Du hast doch sicher auch gerade die Show von Corevisk gesehen, oder? … Warum stehst du so mitten im Raum?«, fragt Aurora.
»Ja, das habe ich. Und ich stehe hier, weil ich das neue Vision-Glass eingebaut habe«, erzählt Sylvester prahlend. »Es ist sogar stabiler als normales Glas, sieht aber trotzdem genauso aus.«
»Ah, schön. Aber ich rufe an, weil ich deine Meinung zu den Implantaten hören möchte.«
»Ich denke, dass diese Technik noch nicht ausgereift ist und die noch experimentieren wollen«, meint Sylvester abfällig.
»Also soll ich mir lieber keins einsetzen lassen?«, schlussfolgert Aurora aus seiner Antwort.
Sylvester antwortet mit Nachdruck: »Nein, auf keinen Fall! Wir werden uns, solange es geht, davor drücken, okay? Lieber ohne Implantat als ohne Kopf. Man weiß ja nie.«
Aurora nickt verunsichert: »Wenn du meinst, dann warte ich noch.«
Bevor Sylvester schlafen geht, liest er sich auf einem Tablet einige Akten von Corevisk über zukünftige Projekte durch. Er nutzt einen alten Zugang zu einem schlecht gesicherten Server. Dort liegen zwar nicht alle Dateien - vor allem nicht die wichtigen - aber er findet es von Zeit zu Zeit sehr interessant, ein bisschen zu stöbern. Dabei stößt er auf ein Projekt, bei dem ein Netzwerk aus Algorithmen die Forschung vorantreiben soll. Es soll anscheinend auch mit HyperBrain kompatibel sein. Das Projekt wurde entweder fallengelassen oder hochgestuft, denn der letzte Eintrag ist schon einige Zeit her. Sylvester legt sich hin und denkt nicht weiter darüber nach.
Mittlerweile hat Sylvester das halbe Schuljahr bereits hinter sich und Aurora immer mal wieder zu sich eingeladen.
»Wow! Das ist ein neues Auto, oder?«, fragt Aurora beeindruckt. Vor ihr steht ein dunkelgrüner Aston Martin. Ein Auto, das keinem gleicht, das sie je gesehen hat. Viel sportlicher als die Fahrzeuge, die hier sonst so herumfahren.
Er antwortet gelassen und prahlt: »Ja, den habe ich ein Jahr lang restaurieren lassen. Und musste ihn auf Wasserstoff umrüsten. Endlich ist er fertig!« Wie es sich gehört, öffnet Sylvester ihr die Tür und bittet sie einzusteigen.
Als sie beide hinten auf der Rückbank sitzen, sagt Sylvester zu seinem Chauffeur: »Nach Hause bitte.«
Aurora ist beeindruckt davon, dass Sylvester eigenes Personal hat.
Der Fahrer des Wagens startet den Motor und setzt damit den dunkelgrünen Aston Martin in Bewegung.
Kurz nachdem sie losgefahren sind, fragt Aurora: »Warum hast du außer mir noch nie jemanden zu dir eingeladen? Nicht letztes Schuljahr und auch nicht dieses.«
Sylvester muss einige Zeit über diese Frage nachdenken, denn er weiß selbst nicht, warum. Es hat sich einfach so ergeben, dass Aurora mal mit zu ihm gekommen ist. Ihm hat es gefallen, jemanden anderen bei sich zu haben, außer seinen Bediensteten und der Haushälterin.
»Ich schätze, weil mich vorher noch nie jemand gefragt hat.«
Aurora ist sichtlich verwundert über diese Aussage, da sie ihn wirklich sympathisch findet. »Aber ist das nicht eigentlich schade? Fragst du dich nicht manchmal, warum niemand mit dir befreundet sein will?«
»Vielleicht bin ich den anderen zu angeberisch. Du weißt schon, mit dieser Sherlock Nummer.« Er zuckt mit den Schultern. »Aber ob ich es schade finde, dass keiner etwas mit mir anfangen will? Nein, bei jedem anderen außer dir ist es mir egal, denn du gehörst für mich schon fast zur Familie.«
Bei diesen Worten wird Aurora direkt ein bisschen rot im Gesicht, da sie sich mehr als eine normale Freundschaft mit Sylvester wünscht.
Plötzlich werden sie von einer großen Menschenansammlung vor einem Corevisk Store aufgehalten. Der Fahrer muss anhalten und entschuldigt sich für die Unterbrechung. Er wählt umgehend eine andere Route und erwähnt, dass es sich vermutlich um die letzten Menschen ohne Gehirn-Implantat handelt, welche nun ausgestattet werden sollen. Corevisk hat für die Implantation extra ein neues Gerät entworfen, das den Eingriff schnell und zuverlässig durchführt. Dabei werden kleinste Kabel und Dioden mit Neuronen und Nerven verbunden. Über diese kann der eingesetzte Chip elektrische Impulse geben.
Sylvester weist darauf hin, dass auch er und Aurora noch keine besitzen und bisher das neue Gesetz ignoriert haben, welches jeden Menschen zwingt, ein Implantat im Gehirn zu tragen. Angeblich erfordern zukünftige Projekte und Dienstleistungen der Regierung ein solches und die hohen Kosten für die Implantation werden nur jetzt aus der Regierungskasse bezahlt.
Zu Hause angekommen gehen die beiden zuerst in das große Wohnzimmer mit Esstisch und Sylvester holt etwas zu Essen. Er stellt beiden einen Teller hin und sagt selbst leicht verwundert: »Wow, T-Bone-Steak. Ich hatte nicht gedacht, dass meine Haushälterin das so gut hinbekommt!«
Sie probiert einen Happen und freut sich über dieses saftige, medium gegrillte Steak.
Als die beiden fertig gegessen haben, fragt Sylvester, ob sie nicht virtuell an den Strand reisen möchten. Aurora lacht und fragt, wie er das denn anstellen wolle.
Er antwortet angeberisch: »Naja, ich kann die Beleuchtung und das Bild im Vision-Glass so ändern, dass es aussieht, als wären wir in einer Villa am Strand.«
Herausfordernd meint Aurora: »Ja, bitte!«
»Also, ab geht’s auf die Malediven!«, sagt Sylvester, Stimmung aufbauend.
Er tippt an einer Seite der Scheibe Befehle ein. Die Beleuchtung wechselt und das Vision-Glass zeigt eine Animation, die aussieht, als wären sie wirklich auf einer Südseeinsel und würden aus dem Fenster schauen. Aurora nutzt diese romantische, paradiesische Stimmung, um es sich mit Sylvester auf dem Sofa gemütlich zu machen.
Nach einigen Annäherungsversuchen seitens Aurora, einem alten Filmklassiker aus dem letzten Jahrhundert und dem Abendessen wird ihre Zweisamkeit von einer Anzeige auf dem Vision-Glass unterbrochen. Auf diesem zeigt Sylvesters Künstliche Intelligenz Drohnenaufnahmen und fasst nebenbei die wichtigsten Fakten zusammen.
»Sylvester, ich habe ungute Neuigkeiten: Vor drei Sekunden ist die gesamte Bevölkerung einfach in Ohnmacht gefallen. Egal wo, überall wirkt es wie ausgestorben. Leblose Körper liegen auf dem Boden, sitzen auf Parkbänken und in Büros oder schwimmen in öffentlichen Gewässern und Bädern. Bisher konnte ich keine Erklärung finden. Ich habe bereits sämtliche Vitalwerte und Wärmebildkameras geprüft, das Ergebnis ist: bis auf die ertrunkenen Menschen in Gewässern oder Becken, sind noch alle am Leben. Sie scheinen sich in einer Art Koma zu befinden. Außer dir sind nur deine Eltern und Aurora Kollens noch bei Bewusstsein. Ihr vier Überlebenden seid übrigens die einzigen Menschen ohne ein HyperBrain-Implantat. Möchtest du mehr Informationen?«
Sylvester antwortet bestürzt: »Nein, das reicht. Danke, Marx. Trenn bitte jegliche Verbindungen unseres Systems zu Corevisk und installiere dich als Software-Update auf meinen Servern Alpha und Bravo.«
Er springt auf und bittet Aurora, hier auf ihn zu warten. Eine Minute später kommt er mit zwei vollgepackten, schwarzen Sporttaschen wieder. Mit ernster Miene gibt er eine Tasche Aurora und reicht ihr noch eine seltsam aussehende Pistole hinterher.
Aurora erschrickt und fragt ihren Freund besorgt: »Sylvester, was ist in diesen Taschen?«
»Unsere Kleidung und ein paar Extras.«
Die Computerstimme meldet sich erneut: »Datentransfer abgeschlossen. Ich operiere nun von Alpha aus. Freier Speicherplatz auf Server Alpha: 74 Exabyte. Freier Speicherplatz auf Server Bravo: 98 Exabyte. Kommt zum Bunker. Ich trenne jegliche Verbindungen hierher.«
Sylvester ist schon auf dem Weg nach draußen und zerrt Aurora hinter sich her. »Das ist unser Stichwort!«
»Aber Sylvester, was…«
Sie wird von ihm unterbrochen: »Komm schon! Ich weiß nicht, was hier gerade passiert ist. Aber wir sollten uns in Sicherheit bringen.«
Er packt sie an der Hand und rennt mit ihr zusammen nach draußen. Auf den zwei Stufen vor der Haustür liegt James. Sylvester überprüft dessen Puls und schickt Aurora zu seinem älteren Wagen. Sie soll das Tracking einschalten - damit kann der fahrerlose Wagen dem Ersten folgen und selbstständig Hindernissen ausweichen. Als sie dies getan hat, sitzt Sylvester bereits im restaurierten Aston Martin und lässt den Motor an. Aurora sprintet zu der offenen Beifahrertür und lässt sich in den Ledersitz fallen. Während Sylvester ein Stück zurückfährt, um wenden zu können, werfen sie einen letzten Blick auf das verlassene Haus und fahren anschließend, mit dem zweiten Auto im Schlepptau, in Richtung Stadt.
Auf halber Strecke fängt Sylvester an zu lachen und meint, dass es jetzt doch passen würde, wenn, wie in einem der alten Filme aus dem 21. Jahrhundert, das Haus hinter ihnen explodieren würde. Aurora sieht ihn verständnislos an, denn sie kennt keine alten Filme und weiß auch nichts über das Leben im 21. Jahrhundert.
Leider wurden Informationen zu der Welt vor der Revolution von der Exekutive verboten und größtenteils entsorgt, um ihre Lüge, dass dies die Welt sei, wie sie schon immer war, nicht auffliegen zu lassen. Kriege, Aufstände und Zweifel sind bei der Regierung gar nicht gerne gesehen, darum haben sie die Auslöser direkt vernichtet. Es gibt nur ein paar Wenige, die wissen, dass die jetzige Weltordnung auf einer Lüge aufgebaut wurde, und dieses Geheimnis gut hüten. Zum Glück weiß niemand außer Sylvester von dem Bunker, zu dem sie gerade fahren, sodass dort noch alle Dokumente der damaligen Zeiten vorhanden sind.
Aurora muss an ihre Familie, ihre Freunde und ihre Verwandten denken. Ihre Stimmung sinkt während der Weiterfahrt immer weiter. Sylvester bemerkt das und schließt daraus, wie es ihr wohl geht. Er versucht sie zu beruhigen, indem er seine rechte Hand in ihre Richtung streckt und ihr mit einem Blick signalisiert, dass sie ihre in seine legen soll.
Die ersten Straßen und Lichter. Die Häuser der Vorstadt mit ihren großen Gärten sehen friedlich aus. Hier wohnen nur die Reichen und Schönen. Die Gärten sind gut gepflegt. Trotz der vielen Körper wirkt alles so leer. Oder genau wegen ihnen? Es sieht sehr befremdlich aus, wenn reglose Menschen auf Sonnenliegen in Gärten oder Parkbänken am Straßenrand liegen.
Ein paar Straßen weiter bittet Aurora Sylvester anzuhalten, um sich etwas umzusehen. Das macht er zwar nur widerwillig, möchte ihr aber ein wenig Freiraum lassen, nach diesem Schock.