Die Sprottenkönigin - Arnd Rüskamp - E-Book

Die Sprottenkönigin E-Book

Arnd Rüskamp

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Beschreibung

Humorvoll, spannend, tiefgründig. Bei einem Brandanschlag in einem Eckernförder Fitnessstudio kommt ein Mensch ums Leben, und eine Frau wird vermisst. Kurze Zeit später wird sie in einem Ofen der Alten Fischräucherei gefunden – geräuchert wie eine Sprotte. Hängen die beiden Verbrechen zusammen? Auf der Suche nach Antworten stößt Kommissarin Marie Geisler auf bedrückende Details und erfährt, wie ein Plan, der eine Reise ins Glück werden sollte, in Eckernförde tödlich endete.

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Arnd Rüskamp ist am südlichen Rand des Ruhrgebietes am Baldeneysee geboren. Er hat Publizistik studiert, war Reporter und Moderator, Soldat und Biker, Autor und Verleger. Heute verdient er sein Geld noch immer in den Medien, hat aber erkannt, dass sein berufliches Glück zwischen zwei Buchdeckeln liegt. Er lebt im Ruhrgebiet und in seiner Wahlheimat zwischen Schlei und Ostsee.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2021 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Ashraful Arefin/Arcangel.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Hilla Czinczoll

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-741-5

Küsten Krimi

Originalausgabe

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There is a crack, a crack in everything.

That’s how the light gets in.

Leonard Cohen

Prolog

10.Juli 2006

Liebes Tagebuch,

ich habe endlich das Kleid gefunden. Gerade noch rechtzeitig. In vier Tagen sind schon die Sprottentage. Das Kleid hing in Mamas Schrank. Jetzt liegt es unter der Erde.

Deine Leni

14.Juli 2006

Liebes Tagebuch,

es war ein schöner Tag. Annika war Sprottenkönigin.

Auf Augenhöhe

»Unsere letzte Besprechung –« Marie schluckte. »An diesem Tisch haben wir gesessen. Genau hier.« Sie tippte mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte. »Dr. Holm und ich.« Sie senkte den Kopf. »Seine Hände, ich kann seine Hände nicht vergessen. Seinen Händen habe ich den Tod angesehen.«

Astrid schob Salzkörner hin und her. »Ich … ich kannte ihn ja nicht.«

»Du hättest ihn gemocht. Er war so – gerecht.« Marie vermisste ihren alten Chef beim LKA, dem sie in dessen letzten Lebenswochen sehr nah gekommen war. An Tagen voller Melancholie traf sie ihn für ein stilles Zwiegespräch im Begräbniswald an der Eckernförder Bucht.

Nun saß Marie mit Holms Nachfolgerin Astrid Moeller vor der Frittenbude im Eckernförder Hörst. Die Kellnerin kam raus an die Picknickbank. Lächelnd stellte sie die Teller vor den beiden Frauen ab. »Lasst es euch schmecken, Mädels.«

»Mädels!« Astrid lachte kurz auf. »Schön wär’s.« Sie griff nach dem Besteck, hielt inne und sah Marie an. »Dass du mich zu deinem und Dr. Holms Treffpunkt gelotst hast, tut gut. Danke. Und jetzt guten Hunger.«

Marie richtete sich auf und atmete tief ein. Dann schnitt sie die Currywurst in mundgerechte Stücke.

»Marie, die wird doch kalt.«

»Eben. Empfindliche Lippen. Mädchenlippen. Aber sag’s nicht weiter bei den Jungs. Wann kommt unser Neuer eigentlich aus dem Urlaub?«

Marie freute sich auf die Zusammenarbeit mit Gregor Sachse, dem ehemaligen Streifenpolizisten aus Busdorf. Sie hatten einander zufällig kennengelernt und einige Male gut zusammengearbeitet. Jetzt hatte sich Gregor auf seine alten Tage beim LKA beworben, und sie hatten ihn genommen.

»Nächsten Mittwoch, Marie Geisler. Steht so im Dienstplan.«

»Jetzt hab dich nicht so. Als wir letzten Sommer in Sehestedt besprochen haben, wie wir uns den Abteilungsleiterinnenjob teilen können, da habe ich sofort gesagt, dass ich mich auf meine Stärken konzentrieren möchte. Dienstpläne zu lesen gehört definitiv nicht dazu.«

»Ist ja gut. Ich Moneypenny, du Bond, Jane Bond.« Astrid schob sich Pommes mit reichlich Ketchup in den Mund.

»Ich mag ja keinen Ketchup. Aber Pommes ohne Mayonnaise, das ist wie Matjes ohne Zwiebeln.«

Die Frauen lachten und stießen an. Die Maisonne hatte Kraft. Endlich zischte das Alster wieder.

»Was macht eigentlich dein Knie?«, fragte Astrid und zog ihre Fahrradjacke aus.

Marie knurrte. »Ich fürchte, dass irgendwann eine OP ansteht. Bin jetzt seit drei Wochen nicht mehr bei meinem Physio, sondern ackere in dessen Fitnessstudio, damit der Oberschenkelmuskel zulegt.«

»Fitnessstudio, oha. Hast du auch schon Selbstbräunungscreme gekauft?«

»Ja, so dachte ich auch, aber tatsächlich trainieren da eher Versehrte wie ich, richtige Sportler halt. Eisenfresser gibt’s da kaum.«

»Aber Testosteronampullen, oder?« Astrid nahm noch einen Schluck Alster.

»Hat ja jede ihre Droge.«

»Jede, soso. Wurdest du vom Innenminister zur Genderbeauftragten ernannt?«

»Damit macht frau keine Scherze. Noch ein Bier für dich?«

Sie tranken und kauten, schauten einander ins Gesicht. Sie waren ein Team und waren es auch nicht. So jedenfalls fühlte es sich für Marie an, die zwischen den Sätzen dachte, Gedanken abbrach, nach Gefühlen tastete, die sie selbstverständlicher mit Astrid Moeller hätten verbinden können.

Sie beide teilten sich inzwischen den Chefposten. Im letzten Sommer, nur wenige Wochen nach dem Rocker-Fall, hatte sich der Gedanke festgesetzt, dass etwas Neues geschehen musste, und so hatte sich Marie mit der Kieler Behördenleitung und Astrid darauf verständigt, die Abteilung gemeinsam zu führen. Die Rechtsmedizinerin Ele Korthaus war damals schwanger gewesen. Ele hatte sich nach langem Ringen entschieden, ihr Kind zur Welt zu bringen, sich auf ein Leben mit Trisomie 21 einzulassen, doch dann hatte sie das Kind verloren. Auf dem Weg zu ihrer Frauenärztin hatte sie sich mit dem Auto überschlagen. Als sie nach über einer Woche aus dem Koma aufgewacht war, war sie wieder allein gewesen. Sie hatte sich von Kai getrennt, die Stelle als Rechtsmedizinerin gekündigt, die Wohnung aufgelöst, und dann war sie mit unbekanntem Ziel abgereist. Sanglos, klanglos. Die beste Freundin. Mehr als das, wenn Marie ehrlich war. Sie war noch nie so enttäuscht gewesen.

Nach dreiundneunzig Tagen hatte eine Postkarte im Briefkasten gelegen. »Ich hab dich lieb«, hatte Ele geschrieben. Die Postkarte war in Punta del Este in Uruguay gestempelt worden. Auf der Vorderseite war »La Mano« abgebildet. Fünf Riesenfinger ragten aus dem Sand. Wie die Hand eines Ertrinkenden, hatte Marie gedacht. Und sie hatte sich gewünscht, Ele die Hand zu reichen. Sie hatte geweint und geflucht. Wie konnte sie ihr ein Lebenszeichen schicken, wie konnte sie ihr einen Hilferuf schicken ohne die Chance, Kontakt mit ihr aufzunehmen?

In ihrer Not hatte Marie Mayr vom BKA angerufen. Der hatte seine Beziehungen spielen lassen. Aber außer einem Flug nach Montevideo auf Eles Namen hatte auch er nichts herausgefunden. Ele war verschwunden und hatte sich bis heute nicht mehr gemeldet. Marie hatte versucht, Abschied von ihr zu nehmen. Aber sie dachte beinahe jeden Tag an sie. Wut und Trauer hielten sich die Waage. Alles konnte plötzlich anders sein.

Chefin war sie auch noch nicht gewesen. Sie hatte sich gesagt, dass sie das einfach mal ausprobieren sollte, bevor sie ein Tsunami, ein Schlaganfall oder eine Kugel aus dem Leben risse.

»Ich muss jetzt los«, sagte Astrid. »Um sechzehn Uhr schaue ich mir ein Apartment an der Seebadeanstalt in Holtenau an. Nur ein Steinwurf von meiner Wohnung, aber Erdgeschoss und ein kleines Stück Garten. Ich war ein paarmal in Gregors Schrebergarten hier in Eckernförde. Ich glaube, das ist was für mich.«

Sie teilten sich die Rechnung, wie sie sich auch die Arbeit teilten. Dr. Holm hatte es sich nie nehmen lassen, Marie einzuladen. Wenn sie mit Ele unterwegs gewesen war, hatte gezahlt, wer näher zum Ausgang saß. Mit Andreas an ihrer Seite war klar, dass Marie zahlte. Ihr Mann vergaß sein Portemonnaie fast immer.

»Für den Hinweg über Schwedeneck habe ich fast zwei Stunden gebraucht. Zurück nach Kiel fahre ich ein Stück am Kanal entlang.« Astrid stand schon, war in die Fahrradjacke geschlüpft, griff nach ihrem Helm, hielt in der Bewegung inne, schaute verlegen.

»Darf ich mal?« Sie streckte die Hand nach Maries Kopf aus.

Marie beugte sich vor. Astrid berührte mit nur einem Finger sanft eine Stelle links über dem Ohr. Ihr Blick war fragend.

»Komm, trau dich. Guckt ja keiner.«

Astrid strich nun mit der ganzen Hand über Maries Kopf und strahlte. »Das wollte ich schon immer mal. Es kitzelt. Ein bisschen wie ein Dreitagebart, aber weicher. Warum hast du das gemacht? Du hast doch tolle Haare.«

»Weil ich das schon immer mal wollte. Kennst du Sinéad O’Connor? Das muss Anfang der Neunziger gewesen sein. Ich fand sie so unfassbar cool mit ihrer Glatze, und dann dieses Lied.«

Astrid legte den Helm zur Seite und sang: »I can eat my dinner in a fancy restaurant. But nothing, I said nothing can take away these blues. ’cause nothing compares, nothing compares to you …«

»Beim Klabautermann. Astrid! Du singst wie ein Engel.«

»Sechs Jahre Kinderchor. Und ich liebe dieses Lied. Diese Frau, dieser schwarze Mantel. Darf ich noch mal?«

»Nein, jetzt ist Schluss. Ich wuschle meinem Sohn immer durch die Haare. Er hasst das.«

»Und wie fühlt sich das an, so nackt?«

»Pur. Schwimmen ohne Haare ist super. Apropos. Du hast ja die Walhupe noch.« Marie tippte auf die blaue Plastikkugel an Astrids Lenker.

»Schön finde ich die nicht. Aber es war so ein Zeichen, als ich neu zu euch kam. Hat mir geholfen.« Astrid umfasste den Wal und drückte. Der Wal machte – Geräusche.

»Ui, Walgesänge hat sich der Hupenkonstrukteur nicht zum Vorbild genommen. Klang die Hupe schon immer so? Vielleicht habe ich das gar nicht ausprobiert, als ich sie gekauft habe.«

Astrid stieg auf ihr Rad. »Hauptsache, man registriert mein Kommen. Wir sehen uns Montag in der großen Runde, und am Nachmittag treffen wir uns wieder zum Kellerschnack, richtig?«

Marie nickte. Seit letztem Herbst gab es den Kellerschnack im LKA. Marie hatte die Gesprächsrunde initiiert, weil sie wichtige Themen jenseits rein dienstlicher Besprechungen diskutieren wollte. Polizei war mehr als Ermittlungsarbeit auf der Grundlage von Gesetzen. Polizistin zu sein bedeutete für sie auch, eine Haltung zu haben, gegebenenfalls zu überdenken.

Der Kellerschnack hatte seinen Namen vom alten Schießkeller, in dem sich die Kolleginnen und Kollegen abteilungsübergreifend jeden ersten Montag im Monat zusammensetzten. Es war der einzige Raum gewesen, den die Hausverwaltung ohne Auflagen freigegeben hatte. Inzwischen hatten sie es sich gemütlich eingerichtet, der zuvor muffige Keller glich einem coolen Club. Allein die Floskeln, die sich eingebürgert hatten, erinnerten an die ursprüngliche Nutzung. Mit Maries Ansage »Feuer frei« begann jeder Kellerschnack, rief jemand »Streifschuss«, musste der Redner seine Argumente präziser formulieren. Als Marie Andreas von diesen Ritualen erzählt hatte, hatte er das nur mit »Zeltlager« kommentiert. Marie war kurz beleidigt gewesen, aber es traf die Atmosphäre ganz gut.

Von hinten, dachte Marie, als Astrid im Kreisverkehr vor Lidl links Richtung Schulzentrum abbog, von hinten konnte man Astrid trotz ihrer sechsundvierzig Jahre durchaus für ein Mädel halten. Sie hatte so eine kecke Art, den Kopf zu bewegen.

Astrid winkte nicht. Marie hätte gewinkt.

***

Wenige hundert Meter entfernt schloss Siggi die Tür zu seinem Fitnessstudio auf. Die abgestandene Luft verschlug ihm den Atem. Caro hatte nach dem Zumbakurs am Abend wieder nicht gelüftet. Die Anlage mit Frischluftzuführung und Wärmerückgewinnung war seit über einer Woche defekt. Drei Kunden hatten sich beschwert. Der Kostenvoranschlag für die Reparatur hatte Siggi umgehauen.

Im Briefkasten Werbung, Post vom Finanzamt, vom Verband und ein Umschlag, den Siggi sofort als Schreiben des Bauamtes erkannte. Er stellte seine Tasche ab, legte die restliche Post auf eine Treppenstufe und riss den Umschlag auf. Er las, verstand nicht, las erneut, senkte den Kopf, setzte sich auf die Treppe und schlug sich mit der rechten Hand ins Gesicht. Er würde nicht heulen. Dann heulte er. Tränen fielen und zerplatzten auf seinem Unterarm, dessen beeindruckender Umfang das Ergebnis ungezählter Curls war.

Das Bauamt verlangte allen Ernstes weitere Änderungen, damit der Anbau genehmigt werden konnte. Der Anbau für die Sauna, die die Attraktivität seines Studios erhöht, das Überleben seiner Firma vielleicht ermöglicht hätte. Toni Paxner hatte auch eine Sauna. Die Leute schwärmten von Paxners Studio, und ihm liefen die Kunden davon. Das war nicht gerecht. Die Raten für das Haus an der Schiefkoppel würden sie allein mit Jennis Gehalt nicht bezahlen können.

Siggi konnte fühlen, wie etwas in ihm durcheinandergeriet. Er kannte das aus dem Boxring, wenn der Ringrichter ungerechte Entscheidungen traf. Aus Mut wurde Wut.

***

»Steht Ihnen sehr gut.«

Der Fachverkäufer bei Sport Teichmann in der Kieler Straße klang glaubwürdig. Marie drehte sich vor dem Spiegel, schaute über die Schulter und fand, dass der junge Mann recht hatte. Das enge Shirt zeigte, dass die Sit-ups der letzten Monate nicht ohne Wirkung geblieben waren. Ihrem Sixpack konnten auch die Pommes nichts anhaben. Die lange Hose verbarg die Operationsnarben am Knie. Sie sah ziemlich gut aus; für Anfang vierzig sah sie sogar verdammt gut aus. Ein bisschen peinlich war es ihr, dass sie eigens für dieses Promi-Event bei Toni Paxner nach einem neuen Outfit Ausschau hielt. Aber die Konkurrenz schlief nicht.

»Okay, ich nehme beide Teile.«

Kaum dass sie auf dem Weg zum EMO, ihrem Ermittlungsmobil, ein paar Schritte gegangen war, traf sie auf die Grande Dame der eleganten Ermittlung. Die Brix verließ schwer beladen die Räume der Buchhandlung Liesegang. Sie trug zwei Stofftaschen und musste nachfassen, als sie sich in den Strom der Passanten einreihte.

»In unserer Welt ist niemand ein Versager, der einem anderen seine Bürde erleichtert.« Marie trat neben die pensionierte Amtsrichterin und streckte die rechte Hand aus.

»Charles Dickens?«

»Ebender. Sie versorgen das gesamte Ykaernehus mit Büchern, wie mir scheint?«

Die Brix wohnte im Seniorenwohnheim jenseits des Hafens.

»Nicht mit Büchern. Wohl aber mit der Weisheit, die ich zu erlangen trachte.«

Marie schaute fragend. Die Brix sah sich um und steuerte die Bank vor der Kirche an. Die Frauen setzten sich, und die Brix zog eines der Bücher aus der Stofftasche mit dem Aufdruck »Green Screen Festival«. »Hier. Gedächtnistraining für Senioren.«

»Frau Brix, mit Verlaub, als hätten Sie das nötig? Und die anderen Bücher?«

»Themenverwandt. Wir müssen uns ranhalten. Wenn die Personaldecke in Pflegeheimen noch dünner wird, kann mir irgendwann niemand mehr sagen, wo meine Stützstrümpfe liegen.«

»Sie tragen Stützstrümpfe? Ich dachte, Sie laufen noch Wasserski.«

»Fragen Sie Ihren Mann.«

»Sie sind Patientin von Andreas? Hat er mir nicht erzählt.«

»Er ist ein exzellenter Arzt, ein attraktiver Mann, und verschwiegen ist er zudem. Leider dreißig Jahre zu jung.«

Die Frauen sprachen über flache Bäuche und kluge Köpfe. Sie sprachen über den Kampf um Positionen im Beruf und über den Kampf um Anerkennung, Zuneigung, Liebe. Und sie sprachen darüber, was es braucht, um geliebt zu werden. Marie sagte: »Nichts. Andreas liebt mich um meiner selbst willen, und Karl tut das auch.«

Die Brix lächelte. »Und die neuen Klamotten von Teichmann? Sie sehen nicht so aus, als hätten Sie kein T-Shirt im Schrank.«

Ein ungefähr dreijähriges Mädchen stolperte und stürzte vor der Bank. Es begann gleich zu weinen, hatte sich wehgetan. Marie kniete sich neben den Blondschopf, sprach tröstende Worte, legte kurz die Hand an den Hinterkopf des Kindes, als die Mutter dazukam, das Mädchen auf den Arm nahm, sich bedankte und ging.

»Sehen Sie, es braucht immer etwas, damit wir uns kümmern«, sagte die Brix. »Wir müssen Aufmerksamkeit erregen, ob klug, hübsch, bemitleidenswert, hilfreich oder witzig. Verspricht sich unser Gegenüber keinen Nutzen, werden wir ignoriert.«

»Und welchen Nutzen hat der uneigennützige Helfer? Wohl keinen, weil er ja uneigennützig handelt.«

»Unsinn, wenn Sie mich fragen. Je uneigennütziger sein Tun erscheint, desto wahrscheinlicher, dass ihm die Herzen zufliegen.«

Marie seufzte. »Alles nur ein Geschäft?«

»Wäre das so schlimm?«

Marie wiegte den Kopf. »Ich habe keine Antwort. Hätten Sie Lust, mal an unserer Diskussionsrunde im LKA teilzunehmen? Kunterbunte Themen, die nicht unbedingt mit unserem Job zusammenhängen. Philosophische Diskussionen. Manchmal wird es albern. Aber es hilft über manche Klippe im Dienst hinweg.«

»Ich denke darüber nach.« Die Brix griff nach den Beuteln, schlang die Stoffschlaufen um ihre Handgelenke und stand auf.

»Ich würde Ihnen die Taschen eben rübertragen.«

»Um welchen Preis?«

»Eine Kugel Zitronensorbet von Veneto.«

»Okay, wir sind im Geschäft.«

Die Frauen kauften sich ein Eis, schlenderten die Frau-Clara-Straße entlang, überquerten die Holzbrücke und wirkten wie Mutter und Tochter.

***

27.März 2011

Liebes Tagebuch,

Mama hat gesagt, ich könnte wiederkommen, wenn ich nüchtern, clean und gewaschen bin. Ich bin froh, wenn ich diese Scheiß-Spießerfamilie nie wiedersehen muss. Bin jetzt in Hamburg. Auf der Bank neben mir liegt ein Typ, der hat einenCD-Player und einen Lautsprecher an eine Autobatterie angeschlossen und hört Lindenberg. Das nervt total. Aber Lindenberg hat auch irgendwie recht. »Mach mein Ding«, hat er jetzt ungefähr sieben Mal gesungen. Und genau das mach ich jetzt, ihr Luschen.

Deine Leni

***

Als Astrid Moeller das Rad die Fährstraße zum Anleger in Sehestedt hinunterrollen ließ, freute sie sich über den Windschatten des Geländes. Bis hierher hatte sie der Südostwind von links vorn viel Kraft gekostet.

Die Fähre lag weiß und orange leuchtend in der Sonne auf der Südseite des Nord-Ostsee-Kanals, und Astrid dachte an den Zugriff, der hier im letzten Jahr stattgefunden hatte. Ein Schiff aus Russland hatte Waffen an Bord gehabt. Der Anklage wegen Anstiftung zum Mord und verschiedener Straftaten im Rahmen organisierter Kriminalität hatte sich der Täter durch Selbsttötung in der Haftzelle entzogen. Wer ihm die Tabletten zugesteckt hatte, war bis heute ungeklärt. Aber man würde es mit großer Wahrscheinlichkeit herausfinden, irgendwann. Der Staat ließ nicht nach, wenn es darum ging, dem Gesetz Geltung zu verschaffen.

In ein paar Wochen fände oben neben dem Sehestedter Imbiss wieder das Bouleturnier statt. Die Einladung hatte Astrid schon erhalten. Sicher würde das erneut ein großer Spaß werden.

Knirschend legte die Fähre an, die Schranken öffneten sich. Einige Autos, ein grüner Schlepper und zwei Radfahrer hatte der Fährmann über den Kanal gefahren. Astrid hätte auch am nördlichen Ufer des Kanals Richtung Kiel radeln können, aber sie nutzte jede Gelegenheit, um Zeit an Bord eines Schiffes zu verbringen, und am Flemhuder See war sie schon lange nicht mehr gewesen. Würde sie eben ein bisschen unpünktlich sein.

Anderthalb Stunden später ging sie die Königstraße in Kiel-Holtenau entlang. Das Fahrrad hatte sie vor der eigenen Haustür abgestellt, sich einen blauen Blazer über das T-Shirt gezogen. Makler achteten sicher auf solche Äußerlichkeiten.

Hinter niedrigen Mäuerchen lagen gepflegte Rasenflächen, gediegene Bürgerlichkeit zu beiden Seiten der Straße. Eine Privatpraxis. An der Seelotsen-Versetzstation direkt an der Förde lässiges Geschiebe einer Schulklasse. Pubertierende Mädchen und Jungs, frische Haut, kieksendes Lachen. Sie mochte Kinder. Der Makler traf gleichzeitig mit ihr am Haus gegenüber der Seebadeanstalt ein. Die Heckklappe seiner Limousine schloss sich automatisch.

»Ups, die Polizei. Ich weiß gar nicht, ob ich hier stehen darf?«

Astrid ignorierte die Gesprächseröffnung und beließ es bei einem freundlichen Nicken. Sollte er ruhig Respekt haben.

Die Wohnung war der Hammer. Nur ein paar Schritte zum Wasser und ein Hochbeet direkt vor dem Küchenfenster. Wenige konnten sich das hier leisten. Sie konnte. Von A14 ließ sich als Single sehr gut leben, und ihr Opa hatte ihr eine Wohnung in Flensburg vererbt, die sie vermietete.

»Die Büsche versperren die Sicht«, hörte sie sich sagen.

»Eine Wohnung wie diese ist auch eine Visitenkarte. Jeder sieht, dass man es geschafft hat«, erwiderte der Makler.

Ein bisschen ekelte sich Astrid, aber sie unterschrieb. Mitte Juni zöge sie hier ein.

Feuer und Rauch

Zu Hause in Schleswig hatte Andreas Brot gebacken. Die Kruste trug ihren Namen zu Recht. Der Sauerteig war feinporig, saftig und schmeckte so gut, dass Marie eine Scheibe mit Holsteiner Schinken, eine mit Wikingerhonig, eine mit altem Gouda und, als Karl zum Telefonieren in seinem Zimmer verschwunden war, eine mit Nutella aus dem versteckten Glas gegessen hatte. Eier mit Speck hatte sie sich zudem gegönnt. Eine ihrer Achillesfersen hieß Essen, und Andreas wusste das. Es war Sonnabend, und er hatte sie abgefüllt, um sie milde zu stimmen, um gefahrloser damit herausrücken zu können, dass er eine Weiterbildung zum Palliativmediziner in Erwägung zog.

»Wie wäre es, ich würde ein Jurastudium nachschieben und versuchen, Staatsanwältin zu werden?« Marie leckte sich Nutellareste von den Lippen. »War es nicht Konsens, dass wir mehr Zeit füreinander haben wollen?«

Andreas zeigte auf seinen linken Mundwinkel. Marie wischte an ihrem rechten herum. Er lachte. »Das andere links.«

»Warum? Andreas, warum? Es ist doch alles gut so, wie es ist.«

»Weil die Menschen würdiger sterben sollten und weil ich neugierig bin. Ich bin als Mediziner nicht ausgelastet.«

»Kann sein. Aber du bist als Ehemann, Vater, Sohn und Freund ausgelastet. Du hast neuerdings Bluthochdruck. Schon vergessen?«

Andreas kam um den Tisch herum, setzte sich auf den freien Stuhl neben Marie und legte seine Hand auf ihre. So saßen sie und schauten auf die Fotos, die an der Wand neben dem Kühlschrank hingen. Fotos eines gemeinsamen Lebens, das glücklicher nicht sein konnte, und doch strebte Andreas nach mehr.

»Wann entscheidest du das?«

»Wenn wir damit klar sind. Ich entscheide das nicht gegen deinen Willen.«

»Danke. Bisschen Druck ist immer gut.«

»Kein Druck. Es ist mein Bekenntnis zu gemeinsamen Plänen.«

»Wir sprechen heute Abend darüber, okay? Ich muss jetzt zu dieser Veranstaltung in Tonis Fitnessstudio.«

Andreas zuckte mit den Schultern.

»Toni hat einen ehemaligen Spitzensportler engagiert, der einen Vortrag zum Thema Motivation hält. Außer der Reihe. Nur geladene Gäste. Und Toni ist erstens ein netter Kerl, zweitens sehr qualifiziert, und drittens haut er sich für den Laden und seine Leute voll rein. Also gehe ich dahin.«

Andreas zog seine Hand rasch zurück, ballte sie für einen Moment zur Faust, rieb fahrig den Daumen an den Fingern, ein Zeichen seiner Unzufriedenheit, und Marie wusste, dass er sich ein Gespräch gewünscht hatte. Kleine Gesten, die sie wahrnahm und an deren Deutung sie keinen Zweifel hatte.

Sie wendete ihm den Kopf zu, wartete Blickkontakt ab, machte die Augen größer, nur einen Hauch, spitzte die Lippen, nur ein wenig, deutete ein kleines Lächeln an und erkannte im Gesicht ihres Mannes, dass alles gut war. Andreas hatte die auf dem Tisch abgelegten Hände leicht geöffnet. Eine Geste der Versöhnung. Vertrautheit. Unbezahlbar. Beide atmeten hörbar. Beinahe gleichzeitig.

»Ich fahre dann mit Karl zum Training. Er ist einigermaßen aufgeregt, weil heute gesichtet wird. Ein Spielerbeobachter von den Störchen.«

»Er soll sich mal locker machen«, empfahl Marie und schaute sich um, bevor sie weitersprach. »Er macht das gut am Ball, technisch weit für sein Alter. Aber ihm fehlt die Athletik.«

»Er hat schon im letzten Sommer gesagt, dass er Profi werden will. Er sagt das immer noch.«

»Andreas, er ist zehn, und jetzt steht nach den Sommerferien erst mal der Schulwechsel an. Er wird irgendwann Lehrer oder Schreiner oder Arzt. Völlig egal. Aber eines wird er sicher nicht: Fußballprofi.«

»Marie, dein Vater trainiert Fußballprofis.«

»Eben. Ich muss meine Tasche noch packen.« Sie stand auf, ging in die Waschküche, nahm das neue Outfit von der Leine, rief: »Tschüs, liebe Familie« ins Treppenhaus und verließ das Heim der Geislers durch die Tür zum Garten.

Die Tasche warf sie auf den Beifahrersitz des umgebauten VW-Bullis, entschied sich für die aktuelle CD des Danish String Quartet und ließ sich von einer Bach-Fuge am Schleswiger Hafen entlangtragen, obwohl sie freihatte. Streichquartette hörte sie üblicherweise nur, wenn sie im Einsatz war. Das fiel ihr auf, als sie den Wikingturm umrundet hatte und Richtung Fahrdorf abgebogen war. Ob das ein Zeichen war? War sie zu nah dran an ihrem Job?

Sie wechselte die CD, und auf Höhe des Weltkulturerbes Haithabu dröhnte »When God Comes Back« von All Them Witches durchs Auto. Musik, die nach vorn ging, Musik, die Marie in der Kabine spielte, bevor sie mit ihrer Mannschaft auflief. Fleckeby kam und damit die Erinnerung an den Mord auf dem Feld am Ortsausgang, an die Waffeln im Café Matilda, das es zu Maries großem Bedauern nicht mehr gab. Sie hatte gehört, dass die Besitzerin jetzt in Schweden lebte.

Eine Viertelstunde später bog sie vom Domstag rechts ab und parkte direkt vor Toni Paxners Studio in Eckernförde. Neben dessen weißem Transporter hatte sie eine Lücke erspäht. Toni stand in der Eingangstür, und die Aufregung war ihm anzusehen.

Eine kurze Umarmung, dann sagte er: »Gleich kommt ein Team vom NDR. Die drehen ein Stück fürs Schleswig-Holstein Magazin. Hammer, oder? Wir haben gestern Abend noch mal jede Ecke putzen lassen. Unsere neue Putzfrau hat sich sogar noch jemanden zur Unterstützung dazugeholt.«

Eine Frau im Teamshirt des Studios ging am Empfang vorbei zum Treppenhaus. Sie trug einen Staubwedel, der an einer etwa drei Meter langen Stange befestigt war.

»Spinnweben unter der Decke«, erklärte Toni. »Alles schier jetzt.«

»Schier? Toni, du wirst noch ein richtiger Norddeutscher. Was sagt man denn bei euch im Schwabenland, wenn man porentief rein meint?«

»Brobber.«

Marie lachte. »Wie das klingt. Brobber. Süß irgendwie. Nicht nach scharfen Reinigern jedenfalls.«

Toni, der vor zwanzig Jahren im Norden hängen geblieben war, eigentlich Medizin studieren wollte, sich verliebt hatte und jetzt eine Physiotherapiepraxis führte, wechselte die Gesichtsfarbe. Ein Auto mit Dortmunder Kennzeichen fuhr vor. »Das isser.«

»Wer?«

»Der ewige Held, der Sportler des Jahres, der Zehnkämpfer, den ganz Deutschland ins Herz schloss, als er bei den Spielen in Atlanta Silber gewann.«

Marie fuhr herum. »Busemann, Frank Busemann, Held meiner Mädchenträume. Warum hast du das nicht gesagt, du Blödmann?« Marie war froh, dass sie das neue Outfit gekauft hatte.

»Geh einfach rein. Ihr könnt euer normales Programm durchziehen. Frank und ich kommen dann etwas später dazu.«

Toni wandte sich dem Auto zu, dessen Fahrertür sich öffnete. Marie schaute unauffällig über die Schulter. Hatte sich kaum verändert, der Kerl. Kein Gramm Fett. Da war jemand streng mit sich selbst.

Sie grüßte nach rechts zum Empfang, durchquerte den großen Raum mit all den modernen Trainingsgeräten und zog sich hinten gleich neben der Sauna um. Sie war gespannt, was jemand zu sagen hatte, der besser als viele andere wusste, was Disziplin bedeutete. Er war oft verletzt gewesen, daran konnte sich Marie erinnern. Aber aufgegeben hatte er nie. Ein harter Hund, der sich Ziele setzte. Sie schüttelte den Kopf. So wie Andreas mit seiner Weiterbildung. Maß halten, hatte ihre Mutter früher gesagt, wenn Marie nach dem Abendessen im Garten noch ein bisschen mit dem Ball übte, und ihr die Pille einfach weggenommen.

Sie setzte sich auf eine Bank und beschloss, ihrem Oberschenkel eine Pause zu gönnen. Insgeheim dachte sie darüber nach, sich ein Autogramm zu holen, und da wollte sie nicht verschwitzt sein. Wie albern das war, wusste sie, aber die Nähe von Frank Busemann machte sie nervös. Vor ein paar Jahren hatte er als sportlicher Leiter ein Gastspiel in der Rehaklinik Damp gegeben. Ab und zu hatte Marie ihn in Quizshows im Fernsehen gesehen. Was er jetzt nach der aktiven Karriere machte, wusste sie nicht. Bücher schreiben vermutlich.

Tonis Studio war gut besucht heute. Neben bekannten Gesichtern auch einige, die Marie hier noch nie gesehen hatte. Honoratioren der Stadt, soweit sie das tuschelnde Volk überblickte. Vor der großen Spiegelwand standen ein Stehtisch und eine Lautsprecheranlage, wie sie jetzt sah. Neben der Theke war ein Buffet aufgebaut. Toni ließ sich nicht lumpen. Er war die Nummer eins in Eckernförde und wollte es wohl auch bleiben. Nur wer es schaffte, sich den wechselnden Bedürfnissen der Menschen anzupassen, wer Highlights wie dieses inszenierte, würde überleben. Mit Gewichten allein war heute kein Staat mehr zu machen. Die Zeiten der reinen Muckibude waren zumindest hier vorbei.

Ein junger Mann hatte sich zu Marie gesellt. Er kam ihr bekannt vor. »Moin, wir haben uns schon mal kennengelernt. Ich bin Christian, der Zehner der A-Jugend. Du hast mal Schusstraining mit uns gemacht.«

Marie erinnerte sich vage. »Und was tust du hier?«

»Adduktoren.« Er griff sich an die rechte Leiste. »Ich bin auch bei Toni in Behandlung. Der beste Physio, den ich kenne. Aber ums Trainieren komme ich nicht herum, hat er gesagt.«

»Und warum sitzt du dann hier?«

»Dein Vater hat doch Bundesliga trainiert. Ich hätte Bock auf ein Probetraining.«

»Beim VfL Bochum?« Marie lachte. »Ganz schön forsch, mein Freund.«

»Ich spiele auf der Zehn.«

»Die Zeit der Großmäuler im Fußball ist vorbei. Selbst in der A-Jugend. Die werden nach Hause geschickt.«

»Es sei denn, man kann was.«

Aus dem hinteren Bereich des Studios war Tonis Stimme zu hören. Er sprach ein bisschen lauter als nötig. Mit Frank Busemann an seiner Seite tauchte er jetzt vor den Umkleiden auf. Er strahlte übers ganze Gesicht, als just in diesem Moment eine ohrenbetäubende Detonation aus Richtung des Empfangs ihn und alle anderen zusammenschrecken ließ.

Marie zog den Kopf ein. Trümmer und Splitter surrten wie Schrapnelle durch den Raum. Sie griff nach der Schulter des jungen Mannes und riss ihn an seinem Shirt zum Ausgang. Weitere Explosionen hinter ihnen. Links neben der Tür breiteten sich Flammen aus.

Marie prallte mit einem Mann zusammen, strauchelte, verlor das Gleichgewicht und krachte mit der rechten Körperhälfte auf ein Laufband. Sie rappelte sich auf, knickte um und stürzte auf das lädierte Knie. Christian trat auf ihre linke Hand, sie atmete Rauch ein. Drei Atemzüge, dachte sie. Drei Atemzüge und du wirst ohnmächtig. Jemand packte ihre linke Hand. Das tat höllisch weh. Ein Arm unter ihrer rechten Achsel.

Sie kam auf die Beine. Mit anderen stolperte sie zum Ausgang. Scherben, überall Scherben, und Frank Busemann fragte: »Alles okay?« Dann lief er zurück ins Studio. Hinein in den Rauch.

Siggi hockte vor seinem eigenen Studio beim Eckernförde TÜV. Er spitzte, nur einen guten Kilometer Luftlinie vom Flammeninferno entfernt, die Ohren und hatte sich nicht getäuscht. Martinshörner. Schon oft hatte er sich gefragt, ob das jeweilige Signal von einem Streifenwagen der Polizei oder von einem Feuerwehrfahrzeug kam.

Sein Herz schlug schnell. Nicht so schnell wie beim Boxtraining, aber schnell. Die Feuerwehr würde nicht mehr viel ausrichten können. Den Wellnessbereich hatte es unter Garantie erwischt. Dafür hatte er gesorgt. Als Nächstes nähme er sich das Studio auf der Carlshöhe vor. Er drehte den Verschluss der Flasche ab und leerte den Kleinen Feigling in einem Zug.

***

21.Dezember 2019

Liebes Tagebuch,

der Freier von vorhin hat mir gesagt, ich sei die tollste Frau, die er jemals getroffen hätte. Cool, oder? Die tollste Frau! Ich bin ziemlich sicher, dass er mir die Kohle gegeben hat. Aber dann konnte ich das Geld nicht finden, als der Eintreiber gekommen ist. Er wollte kassieren für drei Nächte Wohnmobilstellplatz. Aber ich hatte nichts. Keine Ahnung, wo die Kohle ist. Habe ihn vertröstet. Dann bin ich abgehauen. Stehe jetzt am Grünen Jäger kurz vor meiner alten Heimat. Einen Kaffee wollte ich mir kochen, aber die Gasflasche ist leer. Schweinekalt hier drin. Um mich rum nur diese Protzer-Wohnmobile beim Wintercamping. Alles Spießer aus Stuttgart, Berlin und so. Ich könnte kotzen. Muss Geld besorgen.

Lieb dich, Leni

PS:Ich habe den Producer der coolsten Dokusoap ever kennengelernt. Guter Typ, auf der Durchreise nach Kopenhagen. Ich habe ihm ein bisschen Leben eingehaucht ;) Er hat gesagt, ich hätte das Talent und den Body, um durchzustarten. Ich kann wohl dabei sein. »Hamburger Nächte« soll das Ding heißen. Fernsehen, Alter! Leni Börnsen, Promi-Bitch. Und Anna-Lena hängt im Spießerkaff Eck mit den Omis und Opis ab.

***

Marie drehte sich um. Dichter schwarzer Rauch quoll aus dem Eingang und einer der Fensteröffnungen ins Freie. Die Detonation hatte das Glas nach draußen auf den Parkplatz gedrückt. Dort lag es, geborsten in unzählige Splitter, durch die eine Frau auf Zehenspitzen zur Straße tippelte. Sie blutete am linken Ohr. Neben Marie kniete der A-Jugend-Fußballer, augenscheinlich unverletzt. Er starrte dorthin, wo Rauch und Flammen mit einer Kraft wüteten, der man sich nicht entgegenstellen konnte. Die Hitze war bis hinaus auf den Bürgersteig spürbar.

Sie richtete sich auf und lief zum EMO. Sie öffnete die Heckklappe, versuchte die Tür eines Seitenschrankes aufzuschieben, aber der Schmerz ließ sie die Hand zurückziehen. Schürf- und Quetschwunden am kleinen und am Ringfinger. Mit der anderen Hand gelang es ihr, den Verbandskasten zu fassen. Die Frau mit der blutenden Wunde war noch immer inmitten der Scherben unterwegs. Mit wenigen Schritten erreichte Marie die Verletzte, trat von schräg vorn an sie heran.

»Hallo, hörst du mich? Ich bin Marie. Komm, wir setzen uns kurz auf die Wiese. Du hast da eine Schramme am Ohr. Ich mach dir ein Pflaster drauf.«

Die Frau reagierte nicht. Ihre Haut war grau. Jetzt sah Marie, dass sie viel Blut verlor. Etwas hatte ein großes Gefäß hinter dem Ohr verletzt. Marie warf den Verbandskasten auf die Wiese, fasste den Arm der Frau und dirigierte sie raus aus dem Scherbenfeld. Wie hieß noch gleich der Junge?

»He, Zehner. Hol einen Hocker oder Decken oder so was. Los.« Sie erreichten den schmalen Streifen Rasen, der den Parkplatz vom Bürgersteig trennte. Die Frau wurde schwer, sackte plötzlich zusammen. Es gelang Marie, den Sturz abzumildern, den Kopf der Frau zu halten. Blut an Maries Armen, Blut an ihren Händen. Sie öffnete den Verbandskasten.

»Ich heiße Christian«, sagte der Zehner, stellte einen Küchenstuhl neben die Frau und lagerte deren Beine auf der Sitzfläche.

»Wo hast du den denn her?«

»Sperrmüll.« Er deutete hinüber auf die andere Straßenseite, wo verschiedene Möbel und ein Teppich abgelegt worden waren. »Du die Wunde. Ich Vitalfunktionen«, bestimmte er. »Ich bin bei der freiwilligen Feuerwehr. Die Frau hat einen Schock, so wie sie aussieht und reagiert.«

Marie betastete die Wunde. Keine größeren Glassplitter. Sie riss Mullbinden aus Zellophanhüllen und presste sie hinter das Ohr der Frau.

»Kaum Puls. Sie hat viel Blut verloren. Wir brauchen einen Notarzt. Jetzt.«

Marie hob den Kopf. Aus dem Rauch schälten sich Menschen. Toni und Frank Busemann trugen einen Körper. Kaum dass sie das Freie erreicht hatten, ließen sie ihn fallen und gingen gleichzeitig in die Knie. Ein Löschfahrzeug der Feuerwehr bog in die Seitenstraße. Zuckendes Blaulicht. Mit blockierenden Rädern stoppte ein Notarztwagen neben Marie, Christian und der jungen Frau. Türen flogen auf.

»Hierher«, schrie Marie. Ein Mann mit Koffer rannte an ihnen vorbei zum Körper, der zwischen Toni und Frank Busemann lag.

»Hierher. Sie stirbt«, brüllte Christian. Zwei Sanitäter bogen um die Fahrzeugfront des Notarztwagens. Marie und Christian machten Platz. Taschen wurden aufgeklappt, blitzende Instrumente, Kanülen. Eine Spritze wurde aufgezogen, ein älterer Mann, der Marie bekannt vorkam, legte einen Zugang. Marie hustete.

»Haben Sie Rauch eingeatmet?« Ein Feuerwehrmann stand neben ihr.

»Nein, also nur zwei oder drei Atemzüge. Mir geht’s gut.«

»Das wollen wir aber nicht nur hoffen, das wollen wir auch wissen. Folgen Sie mir unauffällig, Frau Kommissarin.«

»Sie kennen mich?«

»Ich war einer der Feuerwehrleute am Windrad in Sehestedt. Der Wirtschaftsminister. So was vergisst man nicht. Also, mit einer Rauchvergiftung ist nicht zu spaßen. Was ist mit dem Milchgesicht hier?« Er zeigte auf Christian, der den Infusionsbeutel hielt.

»Ich gebe dir gleich Milchgesicht. Ich bin Feuerwehrmann wie du, Opa.«

»Maul halten, ich habe vielleicht eine Rauchvergiftung.« Marie stand auf und folgte dem Feuerwehrmann. »Diese beiden Männer waren länger drin als ich.« Sie tippte Toni, der noch immer kniete, auf die Schulter. »Toni, alles okay mit dir?«

Toni starrte sie fassungslos an. »Alles okay? Dadrin liegt ein Toter, und mein Laden brennt gerade ab.«

»Ein Toter? Sicher?«

»Ganz sicher.« Frank Busemann nickte.

»Weißt du, wer es ist?«

»Noch nie gesehen. Aber wir haben eine Gästeliste.«

Marie bekam einen Schwall Wasser auf den Rücken, dann gab es eine weitere Explosion im Studio.

Zusätzliche Rettungsfahrzeuge trafen ein. Freiwillige Feuerwehren, Rotes Kreuz, ASB. Marie sah drei Streifenwagen. Großlage nannte man das. Dort, wo der Sperrmüll lag, stoppte ein weißer Bus des NDR.

»Hat die Frau mit Ihnen gesprochen?« Der Notarzt, der einen anderen Verletzten versorgt hatte, stand plötzlich neben ihr.

Marie dachte nach.

»Ob die Frau mit Ihnen gesprochen hat.«

»Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht erinnern.«

Der Notarzt ging weg, und Marie wurde wieder einmal klar, wie schwierig es war, taugliche Zeugenaussagen zu bekommen. Insbesondere in Ausnahmesituationen behielten Menschen wenig oder aber krauses Zeug. Ob sie mit der Frau gesprochen hatte. Warum wollte der Arzt das wissen?

»Marie, was machst du denn hier?« Ihr Kollege Bernd Stender stand da, wo vorher der Notarzt gewesen war.

»Das LKA. Sind wir überhaupt zuständig?«

»Möglich. Unser V-Mann Björn hat sich vor anderthalb Stunden bei mir gemeldet und behauptet, hier in Tonis Studio würde am Abend die Übergabe einer größeren Menge von nicht näher bezeichneten Drogen stattfinden.«

»Anabolika. Ja, das liegt nahe. Aber bei Toni? Kann ich mir nicht vorstellen. Egal. Dann wollen wir mal ran. Ich muss jetzt duschen.«

»Sie reden wirres Zeug, junge Frau. Duschen können Sie später. Wir fahren jetzt ins Krankenhaus.« Der Feuerwehrmann blickte streng, klang ungeduldig und schob sie mit der linken behandschuhten Hand vor sich her. »Und Ihre gequetschten Finger gucken die sich dann auch mal an.«

»Quatsch. Das macht mein Mann. Der ist Arzt.«

»Meine Frau ist Änderungsschneiderin, aber ich zieh trotzdem die Uniform hier an. Nun mal los, bevor es noch dunkel wird.«

Zwei Stunden später saß Marie im EMO auf dem Beifahrersitz.

»Wo hast du denn den Schlüssel her?«, fragte sie Andreas, der sie aufmerksam ansah.

»Aus deiner verkohlten Sporttasche. Dein Kollege Elmar Brockmann war so nett. Gegen die Vorschrift, hat er gesagt.«

»Und woher wusstest du?«

»Bernd Stender hat mich angerufen. Du bist ein bisschen durch den Wind, mein Wickielein.«

»Habe ich was?«

»Eine leichte Rauchvergiftung, Prellungen und eine Kapselverletzung am kleinen Finger. Nichts, worüber du dir Gedanken machen musst.«

»Wo ist Karl? Wart ihr beim Training? Gab es eine Sichtung?«

Andreas bog an der kleinen Kapelle in Windeby rechts ab. »Wie viel Prozent der grauen Masse ist bei dir eigentlich durch Fußball blockiert? Karl habe ich nach dem Training bei Merle abgesetzt. Der Typ von den Störchen hat gesagt, Karl sei interessant für sie, wenn er noch ein bisschen durchsetzungsstärker würde.«

»Habe ich es dir gesagt? Ich habe es gesagt.«

Die Landschaft war wellig. Sie war grün, lieblich. Gelbe Blüten auf weiten Wiesen. Rinder, stoisch wiederkäuend. Sanft glitten Marie und Andreas im EMO in eine Senke hinunter und reichten einander die Hand. Hier, wo auf einem grünen Schild »Frohsein« stand, machten sie das immer so. Es war hell und warm. Sonnenlicht auf der Oberfläche des Noores, die Silhouette von Eckernförde und dahinter die Ostsee bis zum Horizont. Ob es die Frau wohl schaffen würde, fragte sich Marie. Und wer war der Tote im Studio? Der Brand. Das war kein technischer Defekt gewesen. Ein Anschlag.

»Wo ist mein Handy? Ich muss Astrid anrufen. Das ist ja jetzt unser Fall.«

»Dein Handy liegt hinten in der Sporttasche. Ob es noch funktioniert, weiß ich nicht. Aber jetzt machst du erst mal Pause.«

»Ich bin eine der Abteilungsleiterinnen, und ich bin Zeugin.«

»Und du bist …« Andreas schaute Marie fragend an.

»Ein bisschen durch den Wind?«

Andreas nickte.

***

2.Januar 2020

Liebes Tagebuch,

eines ist ja mal sicher: Feiern können die. Sah ganz schön wild aus in Tonis Studio. Der ist voll nett. Er hat mir ein Zimmer gegeben und einen Job als Putze. Okay, nicht mein Niveau, eigentlich. Aber ohne Scheiß. Im Bus wäre ich wahrscheinlich erfroren.

***

Eine Lücke. Jedenfalls fühlte sich das so an. Marie saß im Strandkorb und schaute in den Garten. Das hier war ihr Lieblingsplatz in Schleswig. In der rechten Hand hielt sie einen Becher. Der Tee im Becher war kalt. Der kleine und der Ringfinger der linken Hand waren bandagiert. Über ihren Beinen lag eine Decke mit dem Logo des VfL Bochum. Weder konnte sie sich daran erinnern, wann sie sich den Tee geholt hatte, noch wusste sie, wie die Decke über ihre Beine gekommen war. Sie hatte einen Filmriss. War das wieder einer dieser Herzstolperer mit Sauerstoffmangel im Oberstübchen gewesen? Nein, dann wäre ihr wohl der Becher entglitten.

Sie gähnte. Keine Uhr hier auf dem Balkon. Kein Handy, kein Andreas. Sie stellte den Becher auf das Klapptischchen des Strandkorbes und zog die Decke zur Seite. Die Hand tat ein bisschen weh. Sie stand auf und ging ins Wohnzimmer. Andreas lag auf dem Sofa und las.

»Was liest du?«

»Ein Buch über mobile Palliativmedizin.«

»Mir ist komisch.«

»Ich habe dir ein Erzeugnis der pharmazeutischen Industrie gegönnt. Bisschen was zum Runterkommen.«

»Spinnst du? Ich nehme so was nicht.«

»Du Bulle, ich Doktor. Akzeptiere einfach mal, dass ich weiß, was ich tue.«

Marie ging in den Flur. »Wo ist mein Handy?«

»In deiner Sporttasche. Die habe ich in die Waschküche gestellt.«

Marie ging runter in den Keller. Es gab quietschende Geräusche auf der glatten Oberfläche der Holzstufen. Sie war barfuß. Der Anblick der verkohlten Tasche auf der Waschmaschine ließ sie schaudern. Sie war mittendrin gewesen. So wie die blutende Frau, wie Toni und Frank Busemann und so wie der Tote. Sie musste Astrid anrufen. Marie nahm das Handy aus der Tasche, war irritiert, roch daran. Das Gerät stank nach Rauch. Es war eingeschaltet. Sie wählte Astrids Handynummer.

»Moin, Marie. Andreas hat gesagt, du wärest –«

»Ein bisschen durch den Wind. Ja, was Ehemänner so reden. Berichtest du mir bitte?«

»Der Brand ist unter Kontrolle. Ein Toter. Männlich. Claus Weinhold, zweiundvierzig. Er stand nicht auf der Gästeliste. Kam als Begleitung einer Außendienstmitarbeiterin, die das Studio mit Geräten ausgestattet hat. Zum Zeitpunkt der ersten Explosion war er auf der Toilette, deren Tür durch eine umgestürzte Garderobe blockiert wurde. Ein Unfall gewissermaßen. So sieht es jedenfalls aus.«

»Was hat den Brand ausgelöst?«

»Kein technischer Defekt. Elmar hat Brandbeschleuniger und einen Funkzünder gefunden. Unversehrt. Es waren fünf Kanister mit brennbarer Flüssigkeit im Studio versteckt. Einer ist heil geblieben, weil der Tisch, auf dem das Buffet aufgebaut war, draufgekippt ist und den Kontakt unterbrochen hat. Elmar hat schon beides unter der Lupe.«

»Keine weiteren Opfer?«

»Verletzte. Rauchgasvergiftungen, so wie bei dir.«

»Ich bin okay.«

»Umso besser. Schnittwunden. Nichts Lebensgefährliches. Aber eine Frau wird vermisst. Toni Paxner ist sicher, dass er sie kurz vor der Explosion in Richtung der Sauna hat gehen sehen. Allerdings gibt es dort einen Notausgang. Vielleicht ist sie also einfach gegangen. Sie ist eine Putzkraft und gehörte nicht zu den geladenen Gästen. Sie war nicht angestellt. Hat sich ab und zu ein paar Euro dazuverdient. Schwarz. Sie hat sich ihm als Laura vorgestellt. Einen Nachnamen haben wir nicht. Sonja kümmert sich um den VW-Bus der Frau, der noch bei Paxner geparkt steht. Und nun ist erst mal gut. Genieß das Wochenende. Wir sehen uns Montag.«

»Okay. Vielleicht hast du recht.«

»Manchmal ist das so. Tschüs.«

Marie drückte auf den roten Hörer ihres guten alten Nokia 6310i. Jetzt hatte es sogar Explosionen und einen Brand überstanden. Nie würde sie dieses Handy gegen ein modernes Smartphone tauschen.

Sie ging hinaus in den Garten und machte unter dem Apfelbaum Stabilisierungsübungen für das Knie. Übungen, die sie kannte. Aber Toni hatte sie beobachtet und kleine Korrekturen im Bewegungsablauf empfohlen. Der Mann wusste Bescheid.

Andreas wusste auch Bescheid. Als er sich später neben sie ins Bett legte, sagte er: »Ich habe das Thema Palliativmedizin nicht vergessen. Angesichts der Lage schlage ich vor, dass wir das auf später verschieben.«

Marie hatte nicht genau verstanden, was er gesagt hatte. Aber der Klang seiner Stimme war beruhigend. Die Tür zum Tag schloss sich sanft und ohne jedes Geräusch.

Brandwunden

Die Sonne war noch nicht zu sehen. Aber ihr Licht tauchte den Himmel über der Schlei in einen makellos schönen Verlauf von beinahe weißem bis hin zu nachtschwarzem Blau, das Marie sah, wenn sie den Kopf in den Nacken legte. So stellte sie sich Perfektion vor. Kosmisch, ohne jeden Bezug zur Spezies Mensch. Unbeeinflusst durch Platon, Aristoteles oder Nietzsche. Kant, darüber hatten sie beim letzten Kellerschnack im LKA gesprochen, hielt Selbstvervollkommnung für eine ethische Pflicht. Marie dachte an die Sportkleidung, die sie gestern gekauft hatte, um ihr Äußeres zu optimieren. Was müsste sie wohl tun, um es zu vervollkommnen?

Sie ging raus auf den Fähranleger, von dem aus die Barkasse »Hein« nach Haithabu hinüberfuhr. Es war windstill. Vom Holm war ein Klappern zu hören, ein Scharren. Schritte vielleicht. Dann sprang ein Motor an. Vielleicht Matthias Nanz, einer der letzten Schleifischer. Im flachen Gebäude der »Burgermeisterin« knipste jemand das Licht an. Die Stadt erwachte früh. Marie dachte an die Frau, deren blutende Wunde sie gestern versorgt hatte. Ob deren Herz schlug, ob sie auch schon wach war?

***

12.Januar 2020

Liebes Tagebuch,

heute war ich ganz nah dran – lol!!! Habe durch mein altes Kinderzimmerfenster geguckt. Alles weg. Wo mein Bett stand, steht eine olle Couch, und an der Wand hängt ein Fernseher. Das Beste: Direkt vorm Fenster hat sie so ein Fitnessfahrrad hingestellt. Voll die Oma halt. Gammelfleisch. Tja und dann bin ich rüber zu meiner alten Praxis. Es war schon dunkel. Aber ich kenn mich aus. Die Tür zum Garagenhof haben sie nicht ausgetauscht und –ACHTUNG! – das Schloss auch nicht. Und wer hat den Schlüssel aufbewahrt? Ich mach mich nass. Zack, war ich drin. War schon komisch. Ich hatte plötzlich total Heimweh irgendwie. Es war ja auch nicht nur doof. Nur Dr. Eisenfuß, dieses miese Schwein von Sklaventreiber. Jedenfalls habe ich jetzt einen schönen Stapel Rezepte. Habe ich dir eigentlich schon erzählt, wozu ich die brauche? In Tonis Fitnessstudio sind auch so schnieke Jungscher. Mit dem Cabrio von Mutti fahren die vor und labern von Stress. Die haben keine Peilung. Egal. Die schmeißen was ein. Hatte ich noch nicht gehört. Ritalin. Das kriegen schon Kinder. Soll so gut kommen wie Speed. Morgen fahre ich nach Rendsburg in eine Apo, in der mich keiner kennt, hole das Zeug, und dann vertick ich das in Kiel. Geldsorgen waren gestern. Und noch was. Habe im Studio einen Kerl angebaggert. Der ist beim Fernsehen. Ich sage: Da geht was. Stay tuned.

Ich umarme dich, deine Leni

***

Den Vormittag hatte Marie damit verbracht, ein bisschen Ordnung in die Segelunterlagen zu bringen. Versicherung, Liegegebühren, Funkzeugnis. In diesem Sommer wollte sie mal wieder in die Dänische Südsee. Von Maasholm aus. Bei der Planung hatte sie immer wieder an Ele gedacht und ihren halsbrecherischen Törn vor zwei Jahren. Sie nahm sich vor, an etwas anderes zu denken, und drehte den Sauerbraten um. Es spritzte, es qualmte, er war angebrannt. »Mist, elender«, schimpfte sie.

Andreas trat von der Seite an den Herd. »Röstaromen. Ich liebe Röstaromen.«

»Brandwunden. Das sind Brandwunden.«

»Posttraumatisches Belastungssyndrom?«

»Du hast ja nicht gesehen, was ich gesehen habe. Ich habe heute Nacht von einem Scheiterhaufen geträumt.«

»Du lügst.«

»Das stimmt.« Befreiendes Lachen. Für einen Moment. Dann stürmte Karl in die Küche.

»Mama, das finde ich echt scheiße.« Mehr sagte Karl nicht, der auf dem Absatz kehrtmachte und die Küche verließ. Wenn er »Mama« und nicht »Marie« sagte, war es ernst.

Marie goss den Sud an, schloss den Deckel und folgte Karl in den Garten. Er hatte sich auf die Schaukel gesetzt und bewegte sich nur wenig von links nach rechts. Mühsam beherrschte Wut. Marie näherte sich, bemüht, Blickkontakt herzustellen.

Sie war noch drei Schritte von Karl entfernt, als dieser sagte: »Nein, ich möchte nicht mit dir darüber sprechen. Ich will nicht, dass wir Tiere essen. Ich will nicht, weil die Tiere gequält werden, und ich will nicht, weil es meine Zukunft versaut, wenn das Klima kippt, nur weil ihr nicht aufhören könnt mit dem Fleisch.«

Marie setzte sich in den Schneidersitz. Das Knie tat weh, die Hand tat weh. »Ich bin grundsätzlich deiner Meinung, Karl. Aber die Welt, so wie sie ist, basiert darauf, dass wir Kompromisse machen. Das Beste können wir nicht erreichen. Perfektion bleibt eine Illusion.«

Karl stand auf. »Ich weiß nicht, was du willst. Ich will jedenfalls nicht darüber sprechen. Aber das ist dir ja egal.« Er ging wieder ins Haus.

»Dreimal im Jahr ein Braten, das ist doch okay«, murmelte Marie und dachte an den Spruch ihrer Mutter, als sie fünfzehn war. »Ein bisschen schwanger gibt’s nicht«, hatte sie gesagt. Marie hatte das damals verstanden und Verhütung ernst genommen. Vielleicht hatten Karl und seine Mitstreiter bei Fridays for Future auch recht. Ein bisschen Klimaschutz würde nicht reichen. Aber ab und zu ein Sauerbraten. Schließlich machten sie keine Flugreisen. Perfektion war und blieb eine Illusion. Was war das überhaupt, Perfektion?

Ein technisches Geräusch störte das Rauschen des Windes in den Blättern. Von fern, wie Marie registrierte. Das Geräusch kam vom Telefon, und das lag im Strandkorb. Die Tür zum Balkon war geschlossen. Andreas hörte das Klingeln wahrscheinlich nicht. Sollte sie rennen? Sie rannte und ärgerte sich, dass sie rannte. Was wäre so wichtig, dass es nicht würde warten können? Warum konnte sie sich gegen den Impuls, verfügbar zu sein, nicht wehren?

»Marie Geisler.«

»Wolf Hagen, hallo, Marie. Du klingst gehetzt.«

Wolf war ein Freund aus Maries zweiter Heimat, dem Ruhrgebiet. Er war Schriftsteller und dachte viel nach. Warum er angerufen hatte, erfuhr Marie nicht, denn sie fragte ihn unvermittelt, was er von Perfektion halte. Er zitierte, ohne zu zögern, eine Textzeile von Leonard Cohen: »There’s crack in everything. That’s how the light gets in.«

Ein Lächeln breitete sich in Maries Körper aus. Das Rennen hatte sich mehr als gelohnt. »Danke, Wolf. War was Wichtiges?«

»Ja. Du hast das Licht hereingelassen.«

Das Lächeln wurde breiter. »Ich muss an den Herd.«

In Essen und in Schleswig sagten zwei Menschen gleichzeitig Tschüs und wussten einander verbunden, obgleich sie die Verbindung gerade beendet hatten.

Zurück in der Küche kontrollierte Marie den Bräter. Sie hatte Sud aufgefüllt, Möhren und Zwiebeln hinzugefügt, Rosinen, eine Printe und eine halbe Scheibe Pumpernickel. Das Wasser lief ihr im Munde zusammen.

»Kann ich zu Merle?« Karl stand in der Tür, schaute Marie aber nicht an.

»Du bist sauer?«

»Ja.«

»Wir reden, wenn wir sauer sind.«

»Über Fleisch haben wir tausend Mal geredet. Kann ich zu Merle?«

»Ja. Sei bitte um sieben wieder hier. Schöne Grüße.«

Marie hörte, wie die Haustür geschlossen wurde, und dachte an das Licht, das durch den Riss fiel. Es war das Licht einer Familie, in der Schatten kein Problem war. Umso unsolidarischer fühlte sich Marie. Andreas wollte sich fortbilden, Karl etwas Gutes für Tiere und das Klima tun. Dagegen konnte sie nichts haben. Aber es störte ihre gewohnten Abläufe. Sie wollte, dass ihr Körper wieder funktionierte, wie vor zehn Jahren. Sie wollte weiter auf gehobenem Niveau Fußball spielen. Allein der Aufwand, den sie betreiben musste, war hoch. Sie verbrachte viel Zeit mit Physiotherapie und Muskelaufbautraining. Wie konnte sie Andreas da die Weiterbildung miesmachen?

»Ich wäre so gern ein besserer Mensch«, seufzte Marie und holte ein Glas Rotkohl aus dem Vorratsraum.

Rauch

Marie trat das Bremspedal mit aller Kraft durch. Die Räder blockierten, kurze quietschende Geräusche, die zwischen Reifen und Asphalt entstanden. Dann stand das EMO halb auf der Straße, halb auf dem Bürgersteig, und Marie schaute durch die Windschutzscheibe in Astrids Gesicht. Ganz nah. Beinahe hätte Marie sie überfahren. Der Pförtner kam um die Schranke herum.

»Alles in Ordnung?«

»Fragen Sie das mal Hauptkommissarin Geisler«, rief Astrid ihm entgegen und schaute gleich wieder Marie an. Ein Blick, der das Spielerische des Vorwurfs nicht verbarg. »Sie hat es auf Fahrradfahrerinnen abgesehen, auf schwächere Verkehrsteilnehmer.«

Der Pförtner erreichte den Ort des Beinaheunfalls. »Glaube ich nicht. Außerdem kam Frau Geisler von rechts, während Sie die Straße überquert haben, ohne auf den rückwärtigen Verkehr zu achten, und Frau Geisler dann schräg über den Bürgersteig den Weg abgeschnitten haben.«

Er wandte sich Marie zu. »Sollten Sie einen Zeugen brauchen, Frau Geisler. Jederzeit.«

»Fängt ja gut an, die Woche. Ein Kartell, das mir nach dem Leben trachtet und sich gegen mich verschworen hat. Ich hetze euch den Personalrat auf den Hals.« Astrid grinste, trat in die Pedale und fuhr links an der Schranke vorbei.

Marie parkte, Astrid wartete vor dem Aufzug. Die Türen glitten zur Seite, die Frauen stiegen ein.

»Marie …« Astrid hatte den Namen mit doppeltem »ie« gesprochen, und Marie wusste, dass Astrid unangenehm war, was sie sagen wollte. »Marie, du musst heute nicht arbeiten.«

Die flapsige Antwort schluckte Marie runter. »Ich weiß, aber es ist nur die Hand, es sind nur Rippenprellungen, es ist nur das Knie. Im Oberstübchen greift ein Rad ins andere. Und, Frau Kollegin, ich bin ja auch schon groß. Danke, aber sei unbesorgt.«

Die Montagsrunde war infolge des Brandanschlags eine große Runde, an der auch Kriminaltechniker Elmar Brockmann teilnahm und erste Ergebnisse präsentierte. »Der Brandbeschleuniger, den wir gefunden haben, das war kein gewöhnliches Benzin, das man an einer Tankstelle kaufen kann.«

»Sondern?«, fragte Bernd Stender.

»Das wissen wir noch nicht. Gut Chemie will Weile haben.«

»Der Zünder?«, hakte Bernd nach. »Kannst du das inzwischen spezifizieren?«

»Ja, ein wenig jedenfalls. Eine Zwölf-Kanal-Funkzündanlage, wie sie Pyrotechniker zum Zünden von Feuerwerk verwenden. Kann man im Internet bestellen. Üblicherweise lassen sich die Zünder aus einer Entfernung von bis zu hundert Metern auslösen.«

Marie und Bernd saßen nebeneinander, machten sich Notizen. Marie schaute auf Bernds Block. Er hatte »Feuerteufel/Freiwillige Feuerwehr« notiert. Marie hatte »Sprottentage, Eck, Feuerwerk« aufgeschrieben. Gut, dass wir ein Team sind, dachte sie. Aus ein und derselben Information zogen ähnlich ausgebildete Kollegen nicht selten verschiedene Schlüsse. Die Wahrscheinlichkeit, den Fall zu lösen, stieg mit jeder neuen Assoziation.

»Der Tote«, wechselte Astrid das Thema, »da sind wir ziemlich sicher, ist ein Zufallsopfer. Der Täter konnte nicht wissen, dass er sich zum Zeitpunkt des Anschlags im Studio aufhalten würde. Er stand nicht auf der Gästeliste. Er begleitete seine Freundin, eine Außendienstlerin, und hat schlicht Pech gehabt. Was die Vermisste angeht, bemüht sich Sonja, den Halter des VW-Busses zu ermitteln. Da gibt es Ungereimtheiten. Jedenfalls müssen wir sie auftreiben. Vielleicht hat sie etwas beobachtet, was uns weiterbringen kann.«

Sonja Horstmann winkte ab. »Ungereimtheiten. Zunächst sah es so aus, als gäbe es den Bus nicht. Jetzt taucht er plötzlich doppelt auf. Da hat jemand ganz tief geschlafen, aber ich kläre das auf.«

Astrid berichtete, was Marie durch das Telefonat mit ihr schon wusste. Ein Anschlag mit weitreichenden Folgen. Ein Täter, der es nicht auf das Opfer abgesehen hatte. Welches Ziel könnte er verfolgt haben? Marie erinnerte sich an ein Gespräch mit Toni, in dessen Verlauf er von der angespannten Stimmung zwischen einigen Studiobetreibern erzählt hatte. Ein Konkurrent womöglich? Neben Tonis gab es in Eckernförde drei weitere Studios. Aber soviel Marie wusste, arbeiteten die Betreiber in Eck eher zusammen, als dass sie sich das Leben schwer machten. Sie würde sich mal umhören. Gleich heute. Dann fiel ihr ein, dass Bernd von einer angekündigten Drogenübergabe erzählt hatte. Das war ihr tatsächlich entglitten. Sie fragte nach.

»Die Kollegen der Ermittlungsgruppe Rauschgift haben vor einer Woche im Papierabfall bei Paxners Studio drei leere Arzneiverpackungen gefunden. Ritalin. Wir fragen am Nachmittag in der Nachbarschaft. Vielleicht gibt es eine plausible Erklärung. Es wohnen da ja einige Familien mit Kindern.«

Nach einer knappen Stunde endete die Besprechung. Alle verließen den Konferenzraum. Astrid und Marie hockten sich in Astrids Sitzecke und tranken Holunderblütensirup mit Wasser.

»Ein Hauch von Motiv wäre schön.« Astrid schlürfte.

»Elmar, Bernd und du die Fakten, also Zünder, Brandbeschleuniger, Arzneiverpackungen. Ich den Tratsch, also neidische Konkurrenten, sofern es welche gibt. Okay?«

Astrid nickte und machte sich an die Schreibtischarbeit. Marie ging zum Parkplatz.

***

Sein Spiegelbild war das eines schwer getroffenen Boxers. Siggi war gestolpert, die Treppe runtergefallen. Es waren nur drei Stufen bis zum Sideboard gewesen, das dem Treppenaufgang gegenüberstand. Auf dem Erbstück von Jennis Tante standen die Schale mit Schlüsseln und eine Vase, die seine Frau regelmäßig mit frischen Blumen bestückte. Mit beiden Armen hatte er versucht, sich abzufangen. Keine gute Strategie. Besser wäre es gewesen, er hätte sein Gesicht mit den Armen geschützt, denn auf dem Sideboard hatte ein Deckchen gelegen. Er war mit den Händen voraus abgerutscht und mit dem Gesicht ungebremst im Arrangement aus Keramikschale, Schlüsseln, Vase und Hundeleine gelandet. In der Ambulanz hatten Schnitt-, Platz- und Risswunden behandelt werden müssen. Ein Hämatom, groß wie ein Hühnerei, zierte die Stirn oberhalb der rechten Augenbraue.

Am Abend zuvor hatte der