Die Spur des Bären - Martin Cruz Smith - E-Book
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Die Spur des Bären E-Book

Martin Cruz Smith

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Beschreibung

»›Die Spur des Bären‹ zeigt Cruz Smith in Bestform: grandios erzählt, mit lakonischen Dialogen und einem zwar leicht ergrauten, aber mutigen Helden.« Financial Times

Der legendäre Moskauer Ermittler Arkadi Renko ist in größter Sorge um seine ehemalige Geliebte Tatjana. Die mutige Enthüllungsjournalistin ist nicht planmäßig aus Sibirien zurückgekehrt. Dort wollte sie den politischen Dissidenten Kusnezow porträtieren – einen charismatischen, aber auch skrupellosen Mann, der das ehrgeizige Ziel verfolgt, die Dauerherrschaft Putins zu brechen. Getrieben von bösen Vorahnungen, aber auch rasender Eifersucht, begibt sich Renko auf eine riskante Reise. Er merkt schnell, dass in der unwirtlichen, eisigen Natur Sibiriens ganz eigene Gesetze herrschen. Doch erst eine grausame Bärenjagd, von der er sich wichtige Insider-Informationen verspricht, führt ihm vor Augen, in welche gefährlichen politischen Fänge Tatjana geraten ist …

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»Die Spur des Bären zeigt Cruz Smith in Bestform: grandios erzählt, mit lakonischen Dialogen und einem zwar leicht ergrauten, aber mutigen Helden.« Financial Times

Der legendäre Moskauer Ermittler Arkadi Renko ist in größter Sorge um seine ehemalige Geliebte Tatjana. Die mutige Enthüllungsjournalistin ist nicht planmäßig aus Sibirien zurückgekehrt. Dort wollte sie den politischen Dissidenten Kusnezow porträtieren – einen charismatischen, aber auch skrupellosen Mann, der das ehrgeizige Ziel verfolgt, die Dauerherrschaft Putins zu brechen. Getrieben von bösen Vorahnungen, aber auch rasender Eifersucht, begibt sich Renko auf eine riskante Reise. Er merkt schnell, dass in der unwirtlichen, eisigen Natur Sibiriens ganz eigene Gesetze herrschen. Doch erst eine grausame Bärenjagd, von der er sich wichtige Insider-Informationen verspricht, führt ihm vor Augen, in welche gefährlichen politischen Fänge Tatjana geraten ist …

Martin Cruz Smith, 1942 in Philadelphia geboren, gelang mit dem Thriller Gorki Park ein Weltbestseller, der auch in der Verfilmung mit William Hurt und Lee Marvin ein Millionenpublikum begeisterte. Seither hat der russische Ermittler Arkadi Renko eine große Fan-Gemeinde. Die Spur des Bären ist der 9. Roman in der erfolgreichen Thriller-Reihe.

»Martin Cruz Smith kennt sich so gut aus, dass er bis in die innersten Albträume der russischen Gesellschaft vordringt.« Tobias Gohlis, arte

»Martin Cruz Smith seziert die russische Seele. Tiefgründig und doppelbödig.« 3 Sat Kulturzeit

»Cruz Smith zeigt sich als Meister der mörderisch spannenden Dramaturgie.« Spiegel online

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MARTIN CRUZ SMITH

DIE SPUR DES

BÄREN

EIN ARKADI-RENKO-THRILLER

Aus dem Englischen

von Rainer Schmidt

C. Bertelsmann

Die Originalausgabe erschien

unter dem Titel The Siberian Dilemma

bei Simon & Schuster, New York 2019.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © der Originalausgabe Titanic Productions 2019

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021

C. Bertelsmann in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Lektorat: Susanne Aeckerle

Karte: Copyright © 2021 Peter Palm

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagabbildung: Getty Images/Baac3nes

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-26283-9V001

www.cbertelsmann.de

Für Em

Von Anfang bis Ende

MOSKAU

1

Saschas Augen saßen in einem dicken Kopf, der rund war wie ein Topf, und er musterte Arkadi wie jemanden, der an seinem Elend Anteil haben könnte. Der Bär war eine turmhohe Bestie, aber sein gewohntes Brüllen war geschwächt durch Alkohol. Sein Weibchen, Mascha, saß auf dem Hintern und drückte eine halb leere Champagnerflasche an die Brust. Auf einer Plakette am Geländer des Zoogeheges stand: »Sascha und Mascha. Amerikanische Braunbären (Ursus arctos horribilis)«. Das klang halbwegs richtig, fand Arkadi.

Jemand hatte die Bären befreit und ein Plakat hinterlassen, das verkündete: »Wir sind auch Tiere.« Arkadi hatte nicht vor zu widersprechen.

Um vier Uhr morgens verwandelte die Dunkelheit all das Märchenhafte des Parks in etwas Groteskes. Aus Statuen wurden Ungeheuer, Schatten bekamen Flügel. Löwen knurrten leise, und Eisbären tappten stumpfsinnig hin und her.

Arkadi war Ermittler für Spezielle Fälle, und wenn ein Bär, der im Herzen Moskaus frei herumlief, kein spezieller Fall war, wusste er nicht, was einer war. Viktor, sein Partner, war ein ausgezeichneter Detektiv, wenn er nüchtern war.

Als sie ankamen, hatte die Zoodirektorin Sascha und Mascha bereits mit barbituratgefüllten Betäubungspfeilen beschossen, die in Kombination mit dem Champagner einen berauschenden Cocktail ergaben, selbst für einen Ursus arctos horribilis.

Mascha war gegen eine Mauer gesackt. Jeder Rülpser von Sascha war eine faulige Luftblase, jedes Schnarchen dröhnte wie eine kaputte Trommel. Er hockte gerade noch träge da, zuckte dann im nächsten Augenblick hoch und fuhr mit einer massigen Pranke durch die Luft. Ein halbes Dutzend junge Zoowärter hielten Stangen wie Lanzen vor sich und umringten die Bären aus gebührendem Abstand.

Arkadi und sein Partner wurden von Viktors Schwester Nina begrüßt, der Zoodirektorin, einer zupackenden Frau in Mütze und Mantel aus Schaffell und mit einem Betäubungsgewehr.

Sie schüttelte Arkadi kräftig die Hand.

»Haben Sie weitere Hilfe gerufen?«, fragte er.

»Ich will nicht, dass die Polizei auf dem Gelände herumrennt«, sagte sie. »Deshalb habe ich euch gerufen.«

»Ich bin die Polizei«, sagte Viktor.

»Ha!«

So schätzte Nina ihren Bruder ein.

Dreißig Meter weit entfernt schwankten Sascha und Mascha auf den Karren eines Eisverkäufers zu. Gemeinsam schüttelten sie ihn, bis der Griff abbrach, dann wippten sie den Karren hin und her, bis er umfiel. Entmutigt kehrten sie mit schwerfälligem Schritt zu ihrer Mauer zurück und ließen sich zu Boden fallen.

Arkadis Vater, General Renko, hatte Bären gejagt. Er hatte ihn davor gewarnt zu glauben, man könne ihnen laufend oder kletternd entkommen. »Solltest du einem begegnen, lauf nicht weg. Ein Bär ist schneller«, sagte er. »Wenn er dich erwischt, stell dich tot.«

Arkadi hoffte, dass diese jungen Zoowärter gelernt hatten, mit Bären umzugehen. Er hatte den Eindruck, Sascha könne sie alle umwerfen wie Kegel.

»Erzählen Sie mir von gestern Abend«, sagte Arkadi.

»Wir hatten eine Benefizveranstaltung für die Förderer des Zoos in der Haupthalle, und es wurde viel getrunken und gefeiert. Wir verköstigen sie, servieren Champagner, und wenn sie in freigiebiger Stimmung sind, veranstalten wir eine Auktion. Die Putzkolonne wirft nachher alle leeren und halb leeren Flaschen in Tonnen, die morgens abgeholt werden. Anscheinend haben Sascha und Mascha sie gefunden.«

»Wie sind sie denn überhaupt aus ihrem Käfig gekommen?«

»Es gab in letzter Zeit eine Menge Agitation von Tierrechtsaktivisten. Für mich sieht es aus, als hätte sich ein idealistischer Tierfreund eingeschlichen, nachdem alle gegangen waren. Er hat die Bären freigelassen und sein Protestplakat aufgehängt. Es muss jemand gewesen sein, den die Bären kannten.«

Ein klassischer Insiderjob, dachte Arkadi.

»Anscheinend ist einer eurer Wärter durchgeknallt«, sagte Viktor.

»Was versteigert man in einem Zoo?«, fragte Arkadi.

»Die Meistbietenden gewinnen die Ehre, dass ein Giraffenbaby auf ihren Namen getauft wird, oder einen Privatbesuch bei einem Koalabären. Solche Sachen eben.«

»Mit anderen Worten, es ist eine krasse Zurschaustellung von Reichtum«, sagt Viktor.

»Wir sind darauf angewiesen, dass reiche Leute in hohen Positionen den Zoo unterstützen.«

Nicht übel, dachte Arkadi. War Präsident Putin selbst auch dabei gewesen? Man wusste ja, dass er Fototermine mit Löwenbabys liebte.

»Erzählen Sie mir von den Bären«, sagte er.

»Das Weibchen, Mascha, ist ganz zahm, aber Sascha, das Männchen, kann aggressiv sein.«

»Die armen Biester. Wahrscheinlich wird man sie mit dem Schlauch abspritzen«, sagte Viktor. »Wenigstens machen sie das mit mir immer in der Ausnüchterungszelle. Bären sollten in ihrer ganzen Pracht durch die Wildnis von Kamtschatka streifen, Lachse aus den Bächen fischen und den Campern einen Heidenschrecken einjagen. Stattdessen sind sie eine Peinlichkeit für die Natur.«

»Tiere leiden nicht unter dem Leben im Zoo«, sagte Nina. »Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein als soeine Annahme. In Gefangenschaft leben Bären länger als in freier Wildbahn. Es macht ihnen nichts aus.«

»Und wenn du eine Laborratte kitzelst, wird sie kichern«, sagte Viktor. »Kann man einen Bären damit töten?« Er deutete mit dem Kopf auf das Betäubungsgewehr.

»Selbstverständlich nicht«, sagte Nina. »Das Gewehr dient zum Schutz des Bären.«

»Weiß der Bär das?«

»Es besteht nur aus Druckluft und Barbituraten.« Sie zog einen Pfeil mit einem rosa Puschel am Ende aus der Tasche. »Wir sprechen von ›chemischer Immobilisation‹.«

»Mascha haut ab«, rief ein Wärter.

Mascha wollte mit der Sache nichts mehr zu tun haben. Sie stand auf, drehte sich betrübt um und watschelte zur offenen Tür ihrer Käfighöhle. Die Champagnerflasche entglitt ihr und rollte weg. Sie seufzte. Der kurze Ausflug war genug Aufregung für sie gewesen.

»Ihr gefällt’s in ihrer Höhle«, stellte Arkadi fest.

»Das ist ein Habitat«, korrigierte Nina ihn.

»Das ist ein verdammter Zirkus«, sagte Viktor.

Maschas Verrat brach Sascha das Herz. Er stand stöhnend auf und schwenkte den Kopf hin und her.

»Und jetzt?«, fragte Viktor.

Nina senkte die Stimme. »Kommt darauf an, ob er Mascha folgt oder einschläft. Da können wir nur warten.«

»Wie intelligent sind sie?«, fragte Arkadi.

»Ich würde schätzen, so intelligent wie Dreijährige. Aber das ist eine sehr unwissenschaftliche Schätzung.«

»Ein dreijähriger Riese mit Krallen«, sagte Viktor.

»So ungefähr.«

»Hoffen wir, er braucht ein Nickerchen«, sagte Arkadi. »Sind Bären Ihr Spezialgebiet?«

»Nein, Primatologie.« Sie strich sich das Haar aus der Stirn. »Ich studiere Affen.«

»Ich auch«, sagte Arkadi.

»Als Junge hattest du Tiere, oder?«, fragte ihn Viktor.

»Ein paar.« Arkadi hatte keine gewöhnlichen Haustiere wie Hunde oder Katzen gehabt. Er hatte Geckos und Schlangen gesammelt – alles, was er in der mongolischen Steppe sammeln konnte.

»Ich hörte, Sie haben Erfahrung als Bärenjäger«, sagte Nina.

»Ich?«

»Viktor hat gesagt, Sie waren ein richtiger Großwildjäger.«

Arkadi sah Viktor an. »Das hast du gesagt?«

»Vielleicht habe ich übertrieben.«

»Nein, ich habe nie einen Bären geschossen. Vielleicht mal ein Kaninchen.«

»Dann bin ich falsch informiert worden, wie immer.«

»Das fürchte ich auch.«

Arkadis Vater war an verschiedenen gottverlassenen Orten mitten in Sibirien stationiert gewesen. Im Winter engagierte er einen eingeborenen Führer und zog hinaus in die Taiga, und Arkadi folgte in den Spuren ihrer Schneeschuhe. Die Einheimischen verdienten ihren Lebensunterhalt damit, dass sie Zobel in Fallen fingen oder sie mit einem Schuss durch ein Auge erlegten, um den Pelz glatt und unversehrt zu erhalten. General Renko war ein fast so guter Schütze wie sie. Arkadi hatte Glück, wenn er mit dem Gewehr einen Baum traf.

»Sie haben also noch nie einen Bären geschossen oder markiert …« Ninas Stimme wurde leise.

»Nein«, sagte Arkadi.

»Vielleicht sollten wir ihn einfach abschießen«, schlug Viktor vor.

»Einen Bären abschießen ist das Letzte, was wir wollen«, sagte Nina. »Du hast keine Ahnung, wie schwierig und kostspielig es wäre, einen neuen Bären mit einem einwandfreien Gesundheitszeugnis zu finden. Außerdem könnte Mascha ein neues Männchen ablehnen.«

Das war durchaus möglich, dachte Arkadi.

Das Funkeln in Saschas Augen wurde zielgerichtet. Als er sich zu voller Höhe aufrichtete, verströmte er einen ranzigen Gestank. Lautes Quaken und prasselndes Geflatter erhob sich vom Teich. Sascha hob den Kopf und sah zu, wie ein Geschwader von Enten und Gänsen aufflog, dann richtete er den Blick auf Arkadi. Verschlagen machte er einen Schritt vorwärts und streckte die Pranke aus, als wollte er sagen: »Hier entlang zu Ihrem Tisch, monsieur.« Es folgte ein Brüllen, das die Erde erbeben ließ.

Die Zoowärter senkten ihre Stangen wie Lanzen und rückten langsam vor.

»Stopp!«, schrie Viktor. »Bleibt, wo ihr seid!«

Die jungen Männer stolperten über ihre eigenen Füße, als sie zurückwichen.

Nina hob das Betäubungsgewehr. Sie drückte ab, aber der Pfeil flog zu kurz.

Sie holte einen neuen Pfeil aus der Tasche, schob ihn in die Kammer und drückte wieder ab. Inzwischen war Sascha nicht mehr als zehn Meter weit von ihnen entfernt. Wieder flog der Pfeil nicht weit genug. Ein Blindgänger. Ninas Hände zitterten. Sie drückte Arkadi das Gewehr in die Hand.

Er lud nach und schoss. Ein pinker Puschel wie eine Kunstblume erschien auf Saschas Stirn. Der Bär schlug einmal, zweimal danach und war eingeschlafen, bevor er auf dem Boden landete.

2

Als er den Zoo verlassen hatte, kaufte Arkadi einen Blumenstrauß und ging zum Jaroslawski-Bahnhof, um Tatjana vom Zug abzuholen. Der Bahnhof war ein byzantinisches Konstrukt, furchterregend wie der Albtraum eines Kindes. Er erhob sich mitten in Moskau wie ein Kobold, die Fenster waren seine Augen, und ein dunkles, schräges Dach überschattete einen riesigen Eingang, der jeden Eintretenden verschlingen wollte.

Der Transsibirische Express fuhr ein, und Fahrgäste der Dritten Klasse, die keine Zeit zu verlieren hatten, stürmten aus dem Zug und ließen die Schweineställe zurück, die sie aus ihren Abteilen gemacht hatten. Alles voll von zerknülltem Einwickelpapier, Wurstzipfeln, fettglänzendem Käse, Bierpfützen und leeren Chipstüten. Ölarbeiter, Spieler und Bergleute – die Sorte, die niemals den Dreck unter ihren Fingernägeln entfernte – suchten ihre Ehefrauen. Babys heulten vor Missbehagen, und größere Kinder rieben sich den Schlaf aus den Augen.

Reiche Touristen entstiegen ihren Luxuswaggons und wurden von Gepäckträgern empfangen, die ihre Koffer und Taschen voller Souvenirs in Obhut nahmen. Tatjana würde in einem Wagen der Zweiten Klasse reisen, weder hart noch luxuriös, aber perfekt geeignet für diejenigen, die im Neuen Russland Geschäfte machten.

Hunderte von Reisenden schwärmten durch die große Halle oder tauchten hinab in die Tunnel der Metro. Arkadis Blick wanderte über die Menge und suchte nach Tatjana, während er erwartete, jeden Moment das energische Klackern ihrer Absätze auf dem Marmorboden zu hören. Er stolperte über Roma, die hingestreckt am Boden lagerten wie ruhende Paschas. Babuschkas verteidigten ihre süß duftenden Brote und Gläser mit selbst gemachten sauren Gurken vor Polizeihunden. Jungen verteilten Werbezettel von Bars, Cafés und Stripclubs der Umgebung.

Statt mit Arkadi über die Risiken zu diskutieren, die sie einging, verschwand Tatjana oft einfach, ohne ihm zu sagen, wohin sie wollte. Zwei Monate zuvor hatte sie ihre Wohnung verlassen und nur einen Eisenbahnfahrplan auf dem Küchentisch liegen lassen, in dem die Strecke Moskau-Sibirien unterstrichen war, als wollte sie sagen: »Fang mich, wenn du kannst.« Den 14. November, 13 Uhr 45, hatte sie mit einem Kringel als Rückkehrtermin markiert.

Als Investigativjournalistin war Tatjana eine natürliche Zielscheibe für Gangster – ein Stich ins Bein mit einer vergifteten Schirmspitze oder auch ein Schuss in den Hinterkopf. Sie kümmerte sich nie um solche Gefahren. Sie war fatalistisch und – seltsam genug – unbeschwert. Wenn er mit ihr zusammen war, hielt er stets Ausschau nach Individuen, die ihr vielleicht etwas antun wollten. Die eine zu straff zusammengerollte Zeitung bei sich trugen oder zu schnell oder zu langsam gingen.

Arkadi lief von einem Tunnel in den anderen, hin und her zwischen den Ständern mit Modezeitschriften und der elektronischen Anzeigetafel für Abfahrts- und Ankunftszeiten. Keine Tatjana, nirgends. Er warf seine Blumen in einen Blechmülleimer und ging.

Vom Bahnhof aus fuhr Arkadi geradewegs zum Büro der Staatsanwaltschaft, wo Staatsanwalt Surin sich über seine kürzlich durchgeführte Reise nach Kuba verbreitete. Vier Stellvertreter im blauen Serge mit Messingknöpfen hatten ihre Stühle herangerückt und schenkten Surin ihre hingerissene Aufmerksamkeit. Sein weißes Haar wurde allmählich dünner und seine Züge runzlig vom Alter, aber noch immer genoss er den Klang seiner eigenen Stimme.

»Ich habe unseren Partnern in Havanna unser tiefempfundenes Mitgefühl zum Tod unseres Genossen Fidel Castro übermittelt.«

Arkadi erinnerte sich an »Havana Club«-Rum und einschmeichelnde Musik. Es war zwölf Jahre her, dass er den Tod eines Kollegen, der in der Bucht von Havanna trieb, untersucht hatte.

Surin sah, wie der Ermittler, den er von allen am wenigsten leiden konnte, durch den Korridor schlich.

»Renko, warten Sie – warten Sie, ich will mit Ihnen reden. Nicht hier. In Ihrem Zimmer.«

In Arkadis Büro war es eng wie in einer Sardinenbüchse. Schreibtisch, Stuhl, Schrank, Garderobenständer und Aktenschränke drängten sich zusammen. Auf den Schreibtischen anderer Ermittler standen Fotos ihrer Frauen und Kinder wie eidesstattliche Bekundungen ihrer Tugend. Sein Tisch war im Vergleich dazu leer.

Surin schloss die Tür hinter sich. »Ich war da, wissen Sie – bei Fidels Gedenkfeier.«

»Das wusste ich nicht.« Arkadi hoffte, der Staatsanwalt werde merken, dass hier nur für eine Person Platz zum Sitzen war.

Surin machte ein nachdenkliches Gesicht. »Das erinnert uns daran, dass die Revolution stets wachsam beschützt werden muss. Unseren statistischen Erfolg in der Bekämpfung von Gewaltverbrechen dürfen wir nicht als selbstverständlich ansehen.«

Die hohe »Aufklärungs«rate der russischen Mordermittler verdankte sich einem Rechtssystem, das sich weniger auf Beweise und mehr auf Geständnisse verließ. Aus einem unschuldigen Betrunkenen ein Geständnis herauszuprügeln, war einfacher, als es einem nüchternen Mörder zu entlocken. Doch Renko hatte das Talent, die schwierigsten Fälle aufzuklären, ohne Gewalt anzuwenden.

»Die jährliche Revision steht bevor. Was soll ich über Sie sagen?«, fragte Surin.

»Sagen Sie ihnen, ich könnte ein größeres Büro gebrauchen.«

»Ich habe daran gedacht, Ihre mangelhafte Bereitschaft zu kollegialer Zusammenarbeit zu erwähnen. Finden Sie kollegiale Zusammenarbeit nicht wichtig, Renko?«

»Doch, absolut.«

»Warum sind Sie dann nicht dazu bereit? Ihre Kollegen sagen, manchmal konterkarieren Sie ihre harte Arbeit sogar.«

»Wenn das Beweismaterial nichts taugt, ja.«

»Wenn jemand gestanden hat, was wollen Sie dann noch mit Beweismaterial? Ich habe Ihnen schon hundertmal gesagt, der beste Beweis der Welt ist ein Geständnis. Und die Zusammenarbeit unter Kollegen. Alle ziehen an einem Strick.« Dann überraschte Surin ihn. »Sie waren schon in Kuba?«

»Vor langer Zeit.«

»Dann sprechen Sie natürlich Spanisch.«

»Ganz schlecht.«

»Na, ein Mann mit Ihren Fähigkeiten – Spanisch, Russisch, vertraut mit den Einheimischen, Kenntnisse im Recht – wäre im neuen Kuba gut zu gebrauchen. Wenn er die richtige Einstellung hätte.«

»Das werden wir nie erfahren.«

»Man müsste Sie motivieren. Das verstehe ich.«

Arkadi stellte sich ein Leben unter einer Palme vor, wo er den herabfallenden Kokosnüssen auswich und auf einer Gitarre herumklimperte.

»Zu schön. Klingt nicht nach mir.«

»War nur ein Gedanke. Misstrauen wäre zu erwarten. Bei Ihnen gibt es immer eine Wolke des Misstrauens.« So plötzlich, wie Surin in eine Richtung abgebogen war, schwenkte er jetzt in eine andere. »Was denken Sie über Sibirien?«

»Es ist groß, und es ist kalt«, sagte Arkadi.

»Ich habe einen Auftrag für Sie. Nichts könnte einfacher sein. Nächste Woche fahren Sie nach Irkutsk, holen einen Möchtegern-Mörder namens Aba Machmud ab und bringen ihn in ein Transitgefängnis, wo Sie ein Verfahren gegen ihn eröffnen und dafür sorgen, dass er eine gute, lange Verurteilung bekommt.«

»Ein Möchtegern-Mörder?«

»Er ist Tschetschene, ein Terrorist. Er hat versucht, einen Staatsanwalt umzubringen.«

»Von dem Fall habe ich noch nichts gehört.«

»Er ist frisch.« Surin warf ein Dossier auf Arkadis Tisch. »Steht alles hier drin.«

»Um welchen Staatsanwalt handelt es sich?«

»Zufällig um mich. Sie sind mein Ermittler, und ich will, dass Sie für eine schnelle und ordentliche Verurteilung sorgen.«

»Warum ich?«

»Weil Sie dafür bekannt sind, schwierig zu sein. Niemand würde behaupten, Sie seien jemand, der sich beeinflussen oder steuern lässt.«

»Und wenn ich den Fall ablehne? Oder zu falschen Schlussfolgerungen komme?«

»Werden Sie nicht. Ich habe Sie endlich durchschaut, Renko. Sie halten sich für so unabhängig, aber Sie sind eine Geisel des Schicksals wie wir alle.«

»Soll heißen?«

»Ich höre, Ihr Stiefsohn ist ein ziemlich guter Schachspieler.«

»Schenja?« Surin hatte ihn noch nie erwähnt.

»Ja. Er sieht aus wie ein Traumtänzer, aber am Schachbrett ist er anscheinend ein echter Dynamo.«

Arkadis Gesicht fing an zu glühen. Gerade als er dachte, er sei der Schlange entkommen, verschluckte sie ihn ein kleines Stück weiter. Verschluckte ihn und lächelte dabei, denn wenn die Staatssicherheit die Zähne in Schenja geschlagen hatte, hatten diese Zähne auch ihn gepackt.

Surin nahm das Dossier und legte es Arkadi in die Hände. Es war mit einer roten Kordel zugebunden. »Ich glaube, hier erwartet Sie eine faszinierende Lektüre.« Zufrieden kehrte Surin zurück zu seinen Stellvertretern und seinem Besuch bei Fidel.

3

Am nächsten Morgen machte Arkadi einen Besuch bei Sergej Obolenski, dem Verleger des Nachrichtenmagazins Russland Heute. Mit stahlgeränderter Brille und hochgekrempelten Ärmeln war er der Inbegriff eines journalistischen Kreuzritters, und Tatjana war seine führende Autorin.

Auf den Regalen waren Urkunden und Preise ausgestellt, und Zeitungen stapelten sich auf dem Boden. Ein Gummibaum schmachtete in seinem Topf. In einem Aquarium lauerte ein Putzerfisch.

»Sie waren also gestern am Bahnhof, um Tatjana abzuholen, und sie war nicht im Zug. Und deswegen machen Sie sich Sorgen? Ich muss mich über Sie wundern, Arkadi. Sie hat einen Tag Verspätung. Ich sage Ihnen aus Erfahrung, Tatjana hat schon jede Menge Deadlines verpasst. Sie hatten offensichtlich noch nie mit Autoren zu tun. Wie sagt man noch gleich? ›Lass sie laufen, und sie kommt schwanzwedelnd nach Hause.‹«

Arkadi war so frustriert, dass er kaum sprechen konnte. »Ist es ein so feiner Unterschied für Sie, ob jemand lebt oder tot ist?«

»Gesprochen wie ein echter Ermittler.« Obolenski starrte in das trübe Aquarium, als wäre es eine Kristallkugel. »Ich gebe zu, inzwischen hätte sie sich melden müssen. Ich habe nichts mehr von ihr gehört, seit sie weg ist.«

»Haben Sie sie nicht beauftragt?«

»Sie beauftragt sich selbst. Das macht sie so einzigartig. Ich glaube, jetzt geht es um die Oligarchen in Sibirien. Haben Sie denn von ihr gehört?«

»Ich habe nur das hier.« Arkadi zog Tatjanas Fahrplan heraus und zeigte auf die unterstrichene Verbindung Moskau-Irkutsk. »Ich glaube, das war ihr Zug.«

»Da haben Sie es doch. Dann hat sie ihn gestern verpasst. Sie wird mit dem nächsten kommen, heute oder morgen.«

Arkadi wusste, dass Obolenski Tatjana liebte; deshalb fiel es ihm umso schwerer, dem Mann seinen Gleichmut abzukaufen. »Ist sie in letzter Zeit bedroht worden?«

»In letzter Zeit? Wissen Sie, wie viele Morddrohungen Tatjana in einer Woche hier bei der Zeitschrift bekommt?« Obolenski zog eine Schreibtischschublade auf und nahm einen Stapel Briefe heraus. »Suchen Sie sich einen aus. Das sind die Drohungen, die sie diese Woche aus Kaliningrad bekommen hat, weil sie die Radioaktivität der Ostseeflotte aufgedeckt hat. Und aus Moskau wegen einer Spalte über die neue Datscha des Präsidenten. So etwas macht sie zur Zielscheibe. Ein ehrlicher Reporter schwebt in größerer Gefahr als ein unehrlicher Polizist, würden Sie das nicht auch sagen?«

»Aber Sie machen sich keine Sorgen um sie?«

»Ich würde nur sagen, Sie leiden an der Paranoia eines Ermittlers.«

»Das kann sein.«

Die Tür zu Obolenskis Büro stand offen, und seine Mitarbeiter fanden Gründe, im Vorbeigehen einen Blick hereinzuwerfen. Sie waren jung und hatten ein ernsthaftes Interesse an der Wahrheit, aber sie waren misstrauisch, wenn es um polizeiliche Ermittler ging. Arkadi konnte es ihnen nicht verdenken.

»Sie würden also sagen, diese Briefe haben nichts zu bedeuten«, sagte er.

»Ganz recht.«

Arkadi raffte Briefe und Fahrplan zusammen und stopfte alles in seine Manteltasche. »Dann brauchen Sie die ja auch nicht mehr.«

4

Es entwickelte sich zum ersten echten Schneefall des Jahres. Unzählige Flocken senkten sich sanft wie Bettfedern auf Statuen und Fußgänger gleichermaßen. Männer zogen die Köpfe ein, Frauen mit Pelzmützen hielten sich kerzengerade.

Schenja war ein großer dünner Junge, hatte aber trotzdem ständig neue Freundinnen. Sie saßen bewegungslos in den Cafés und sahen ihm beim Schachspielen zu, während der Schnee draußen an den Scheiben kleben blieb. Seine neueste Eroberung war Sosi, ein armenisches Mädchen mit lila Haaren und dramatisch gebogenen Augenbrauen, und sie beobachtete sein Spiel so konzentriert, dass sie kaum zu atmen schien. Sie hatte sich ihren Schal dreimal um den Hals gewickelt und trug Handschuhe mit abgeschnittenen Fingern.

Im Café standen verschlissene Sofas statt Sitzbänken und narbige Tische, und es gab genug Spieler der Oberklasse, um dem Lokal Authentizität zu verleihen.

»Möchtest du was trinken?«, fragte Arkadi und sah Sosi an.

»Schh.« Sie deutete auf das Schachbrett, wo Schenjas Gegner am Rand der Vernichtung taumelte. Der Mann erkannte die Hoffnungslosigkeit seiner Lage, kippte seinen König um und schlich sich davon.

Schenja konnte ein spöttisches Grinsen nicht restlos unterdrücken.

»Das war großartig«, sagte Sosi.

»Ihr beide wart füreinander geschaffen«, sagte Arkadi.

Es war nicht klar, ob Schenja mit seinen siebzehn Jahren ein Wunderkind oder ein Betrüger war. Seit Jahren war Arkadi für ihn verantwortlich; damals hatte Arkadi ihn für einen Tag aus dem Kinderheim geholt, dann für noch einen und einen dritten. Schon mit fünf Jahren hatte sich Schenja ausschließlich für Schach interessiert, und seitdem hatte er sich einen Ruf als eine Art Schachpirat erworben.

Schenja zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich zurück. »Das waren leicht verdiente hundert Dollar. Siehst du, was Sosi mir gemacht hat?« Er schob das Geld in den neuen doppelten Boden seines Rucksacks. Mit Klettband und Samt konnte man alles verschwinden lassen.

»Du könntest das Doppelte an Preisgeld gewinnen, wenn du an einem Turnier teilnehmen würdest«, sagte Arkadi. »Und du müsstest es nicht verstecken.«

»Klar. Aber so, wie ich es mache, spiele ich, wann ich will.«

»Und mit wem du willst. Dir werden die Opfer ausgehen.«

Das Einzige, womit man Schenja kränken konnte, war anzudeuten, er drücke sich vor den besten Spielern.

»Jeder, mit dem ich spiele, entscheidet das selbst für sich. Ich kann nichts dazu, wenn ich besser bin als sie. Manchmal gebe ich gleich zu Anfang einen Turm oder einen Läufer ab. Kann man noch fairer sein?«

»Sie wissen nie, was ihnen gerade passiert ist«, sagte Sosi, und ihre Augen wurden so rund wie zwei Monde. Sie sah aus wie eine Fanatikerin, die andere dazu bringen konnte, in einen Vulkan zu springen. Sie rollte einen Turm auf der Kunststofftischplatte hin und her, als speichere sie eine elektrische Ladung. »Schenja kann jedes Spiel in ein Gemetzel verwandeln.«

Das war wie ein Besuch bei den Macbeths, dachte Arkadi. Er wischte über seine beschlagene Windschutzscheibe und beobachtete, wie eine Straßenbahn eine Nebenstraße hinauffuhr. Die Wand gegenüber war gelb. Ganz Moskau war gelber Dunst.

5

Die Schwalben schwirrten vor der Kremlmauer hin und her, der Himmel wurde violett und dann schwarz, und Tatjana hatte sich immer noch nicht gemeldet.

Arkadi rief Viktor an.

»Wir mussten jedes verschissene Tier zählen, angefangen bei ›Aardvark‹«, sagte Viktor. »Meine Schwester hat sich nicht geändert. Wusstest du, dass das süße kleine Schnabeltier einen Giftzahn hat?«

»Das weiß jeder. Wie geht’s deiner Schwester?«

»Der Dschungel-Queen? Ich würde mich vorsehen, wenn ich du wäre. Sie mag dich.«

»Hast du rausgefunden, wer die Bären freigelassen hat?«

»Glaubst du, das interessiert mich? Du lieber Gott, hoffentlich sehe ich in meinem ganzen Leben nie mehr einen Bären.« Viktor legte auf, bevor Arkadi es tun konnte.

Die Scheibenwischer klatschten hin und her, und Arkadi fühlte sich wie ein Pilot auf der Suche nach einer Landebahn.

Zurückverfolgung klang gut. Er wusste, im Jaroslawski-Bahnhof würde er nicht weiterkommen. Die Zugbegleiter des Sibirien-Express waren inzwischen sicher schon auf halbem Weg zurück nach Irkutsk.

Fünf Uhr war die Zeit, zu der viele russische Männer Durst bekamen, vor allem Männer, die das Ruhestandsalter von 65 Jahren erreicht und wenig anderes zu tun hatten. Natürlich waren sie nicht komplett im Ruhestand. Sie wuschen Autos, sammelten Flaschen und Dosen oder unterrichteten undankbare Studenten. An den Feiertagen holten sie ihre guten Anzüge und Mützen und Orden heraus, kuschelten sich mit der Katze zusammen und tranken. Mitunter tranken sie schwarzgebrannten Sprit, der so scharf war, dass man davon blind wurde. Es gab aber Ausnahmen. Bereitschaftspolizisten konnten schon mit 45 in Pension gehen, und in Anerkennung dessen, dass der Staat ohne ihn zusammenbrechen würde, gab es für den Präsidenten die Option, ewig zu leben. Das musste man sich vorstellen. Ewig leben mit Putin. Als Arkadi in der Nähe des Jaroslawski-Bahnhofs war, betrat er einen Lebensmittelladen und kaufte eine Flasche Wodka.

Während er an der Kasse wartete, hörte er ein abschätziges Schnauben von der Frau hinter sich. Ganz in Rosa von der Pelzmütze über den Mantel bis zu den pelzgefütterten Stiefeln, sah sie aus wie ein Stück Zuckergebäck.

Sie beäugte Arkadis Flasche. »Ist der für eine weibliche Bekanntschaft?«

»Ehrlich gesagt, ja«, sagte Arkadi

»Dann tun Sie sich einen Gefallen und halten Sie sich an die Erste Klasse. Nicht ›Stolichnaya‹. Sie brauchen ›Russian Standard‹-Wodka.«

»Wirklich?«

»Nehmen Sie eine Flasche mit einer Schleife. Glauben Sie mir. Langfristig zahlt sich das aus.«

»Gut zu wissen.« Arkadi tauschte seinen Wodka um.

Die Kassiererin winkte ihn heran. »Wenn Sie eine fundierte Meinung hören wollen, ist Swetlana Maximowa die richtige Person. Sie hat die Welt gesehen.«

»Das stimmt«, pflichtete die Frau bei.

Arkadi nahm noch eine Schachtel Pralinen dazu und bezahlte. Draußen wurde der Schnee dichter. Männer schlurften gebeugt vorbei, doch Swetlana glitt dahin wie auf einem Magneten. Aber Probleme hatte sie auch. Eine ihrer Plastiktüten zerriss und drohte, ihren Inhalt aus Konserven, Trockenobst und Instantnudeln zu verlieren.

»Wo wollen Sie hin?«, fragte Arkadi. »Vielleicht kann ich Sie mitnehmen.«

»Ich soll zu einem Fremden mit einer Flasche Wodka ins Auto steigen?«

»Tja, das müssen Sie wissen.«

»Ich müsste blöd sein.«

»Im wievielten Stock wohnen Sie denn?«

»Im sechsten.« Das gab den Ausschlag. »Also gut. Aber ich habe Sie im Auge.«

Die Treppe in ihrem Wohnhaus war schmal, und das Licht flackerte. Swetlana war vor Arkadi, als eine Dose aus ihrer zerrissenen Tüte fiel und bedrohlich die Treppe herunterkullerte, bis er sie mit dem Fuß aufhielt. Noch eine Dose rollte heraus, und er stoppte sie mit dem anderen Fuß.

»Ausgezeichnet«, sagte sie. »Aber jetzt können Sie nicht weiter.«

Arkadi hörte ein Miauen und sah eine Katze oben auf der Treppe. Sie schnurrte und kam mit fließenden Bewegungen die Treppe herunter.

Was jetzt? Arkadi musste lachen.

»Hau ab!«, schimpfte die Frau mit Nachdruck, und die Katze flitzte davon. »Ich heiße Swetlana«, sagte die Frau.

»Arkadi.«

»Arkadi, ich glaube, Sie sind jetzt höher gesprungen als die Katze.«

»Ganz sicher sogar.«

»Na, ich will nicht verantwortlich sein, wenn Sie kollabieren. Kommen Sie herein und setzen Sie sich.«

Arkadi schätzte Swetlana auf ungefähr vierzig. Ihr Benehmen war halb kokett, halb gebieterisch. Ihre Wände waren tapeziert mit Reiseplakaten: Omsk, Nowosibirsk, Irkutsk, lauter sibirische Städte. Auf den Sesseln lagen rote Paschmina-Tücher, und es duftete schwer nach Parfüm.

»Wer ist denn die Glückliche, für die Sie diesen Wodka gekauft haben?«, fragte sie, während sie ihre Einkäufe wegräumte. In einem Schrank standen zwei Flaschen des ansonsten verschmähten Stolichnaya. »Ein Frauchen zu Hause?«

»Nein.«

»Sie sind also nur ein geheimnisvoller Mann, der herumläuft und gestrandeten Frauen kostenlose Fahrten anbietet?«

»Das fasst es gut zusammen.«

»Ritterlichkeit ist nicht tot.« Sie schraubte den Deckel von einer Flasche Stolichnaya ab und schenkte zwei Gläser ein. »Cheers!«

Während Arkadi trank, sah er Stapel von Liebesromanen in Apfelsinenkisten, CDs, hauptsächlich Opern, Fotos von Freunden und vor allem Freundinnen. Sie war entspannt und eindeutig daran gewöhnt, das Kommando zu haben.

»Sehen Sie, das hier sind meine Freundinnen Olga und Jacqueline beim Tauchen in Griechenland. Prowodnizas, genau wie ich. Wir halten zusammen.«

»Ich habe so ein Gefühl, dass wir uns schon mal begegnet sind.«

»Ich bitte Sie, das muss der älteste Spruch der Welt sein.«

»Trotzdem. Arbeiten Sie am Bahnhof?«

»Ja, allerdings.« Sie richtete sich auf.

»Als Prowodniza?«, fragte Arkadi. Eine Prowodniza war jemand mit einer gewissen Machtbefugnis. Prowodnizas fuhren in allen Fahrgastwaggons mit; sie kontrollierten die Fahrkarten, heizten den Ofen, versorgten den Samowar, schlichteten Streitigkeiten und hielten die Fahrgäste der Dritten Klasse aus der Ersten fern. Das alles erforderte eine Unerschrockenheit, wie Arkadi sie bei Swetlana im Lebensmittelladen gesehen hatte.

»Die Leute glauben, der Lokführer ist der Chef im Zug«, sagte Swetlana. »Unsinn. Im Zug ist es die Prowodniza mit dem Samowar. Wodka und Tee, das ist der Treibstoff für den Sibirien-Express. Und Sie sind … lassen Sie mich raten: ein Musiker? Ich liebe Musiker und Basketballspieler. Mit den Gründen dafür verschone ich Sie.«

Sie ließen die Gläser klingen und kippten den Wodka in einem Zug herunter. »Jetzt sagen Sie mir, Arkadi, was sind Sie?«

»Ich bin bei der Staatsanwaltschaft.«

»Oh.« Sie war enttäuscht. Bis jetzt hatte sie diesen Mann gemocht.

»Ich suche eine vermisste Person«, sagte Arkadi. »Ich denke, bei allem, was passiert, im Zug oder im Bahnhof – Sie sind jemand, der darüber Bescheid weiß.«

Das war doppelt schlecht. Sie schraubte die Flasche zu.

»Ich glaube nicht.«

»Werfen Sie einen Blick auf sie.« Er zeigte ihr Tatjanas Foto. Es war ein graues, etwas verschwommenes Bild, aber das Gesicht war hinreißend, ein wenig schräg – ja, kokett –, als gebe es da einen Witz zwischen ihr und dem Fotografen. Er erinnerte sich, dass er es auf einem Jahrmarkt aufgenommen hatte. Ein Karussell hatte immer wieder »Moskauer Nächte« gespielt.

Swetlana zuckte die Achseln. »Wenn man in einem Bahnhof arbeitet, sieht man im Laufe eines Tages tausend Gesichter.«

»Ich rede von den Fahrgästen aus dem Sibirien-Express. Der Zug kam aus Beijing, machte Halt in Irkutsk und endete in Moskau. Irgendwo zwischen Irkutsk und Moskau ist Tatjana verschwunden.«

»Nicht in einem Zug, mit dem ich gefahren bin.«

»Sie sollte am 10. November um 15 Uhr 57 in Irkutsk einsteigen und wurde am 14. um 13 Uhr 45 in Moskau erwartet.« Arkadi stand auf und kritzelte etwas auf eine Visitenkarte. »Vielleicht haben Sie von ihr gehört: Tatjana Petrowna.«

»Ist sie ein Filmstar?«

»Nein.«

»Dann habe ich nie von ihr gehört.«

»Sie ist Journalistin.«

»Tut mir leid, mein Lieber, meine Schuhe sind völlig durchnässt. Ein andermal. Ich wäre nicht mehr lange Prowodniza, wenn ich anfangen wollte, Wellen zu schlagen. Wiedersehen.«

Damit schob sie ihn praktisch zur Tür hinaus.

Russen waren für ihre gefährliche Fahrweise berühmt. Sie neigten dazu, quer über drei oder vier Spuren zu kreuzen und so dicht aufzufahren, dass sie einander praktisch im Nacken saßen. Schwarze Limousinen schlängelten sich durch die breiten Straßen, fuhren durch die Tunnel unter den Häusern und versteckten sich in dunklen Hinterhöfen.