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In einer Stadt, die nicht gefunden werden kann, findet die Diebin Kei ein neues Zuhause. Dort angekommen stellt sie fest, dass der geheimnisvolle Ort viele Überraschungen bereithält. Eine aggressive, neue Bande hat sich dort angesiedelt und erlangt schnell Einfluss. Auch Kei und ihre neuen Freunde werden in die gefährlichen Machenschaften der Bande involviert und bald steht die Verborgenheit des Tuelmer Viertels auf dem Spiel. Gemeinsam fassen sie den Entschluss, das empfindliche Gleichgewicht der Stadt zu retten und müssen den wichtigsten und gefährlichsten Coup ihrer Karriere planen: Eine gesamte Stadt zurück zu stehlen.
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Seitenzahl: 537
Veröffentlichungsjahr: 2020
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
1 Alles, was sie immer angetrieben hatte, war die Gier nach Freiheit. Momente wie dieser zeigten ihr, dass sie den richtigen Weg gegangen war.
Kei Fez saß auf der Motorhaube ihres alten, feuerroten Ford Escort und genoss die ersten Strahlen der Morgensonne. Unter ihr erstreckte sich ein Tal, noch halb im Nebel verborgen. Die Sonne glitzerte auf den Dächern der Häuser und der Fluss schlängelte sich als goldenes Band durch die Landschaft und schnitt die Stadt in zwei Hälften. Das Silber des Nebels nahm nach und nach eine wärmere Farbe an.
Entspannt holte sie tief Luft und nippte an ihrem dampfenden Kaffee. Seufzend lehnte sie sich noch etwas weiter zurück.
Alles zurücklassen. Ja, das hatte sie bereits getan.
Kei lachte und streckte die Beine von sich. Die kalte Luft biss ihr in die Haut und vertrieb die Erschöpfung der letzten Nacht. Die Sonne spähte über die Berge und verwandelte den Nebel in Feuer.
Ihr ganzes Leben hatte sie nicht dazu gepasst. Hatte sich nicht so wohl gefühlt wie alle anderen, die sie Freunde nannte. Niemand konnte ihr geben, was sie brauchte. Also nahm sie es sich.
Sie begann zu stehlen. Als Kind hatte sie hier und da etwas mitgehen lassen und der Kitzel daran hatte sie nie losgelassen. Zwar verließ sie den Freundeskreis ziemlich bald, der sie schlecht beeinflusste, doch ihre diebische Seite behielt sie bei.
Die Objekte wurden größer, gefährlicher in der Beschaffung.
Und das war alles, was sie brauchte. Sie finanzierte ihr Studium auf diese Weise, brach nach zwei Jahren ab, kaufte sich dann ihren Ford und rüstete sich für ein neues Leben. Sie reiste durch die Gegend, genoss das Leben. Alles, was sie dafür brauchte, passte in ihren fahrbaren Untersatz.
Die letzten Jahre waren die besten gewesen. Sie hatte Menschen kennengelernt, die wie sie fühlten, die wie sie einfach nur reisen wollten. Lernte Diebe kennen, Trickbetrüger, Fälscher und andere Ganoven.
Ehrlichere Menschen hatte sie nie getroffen.
Und nun hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben ein klares Ziel vor Augen. Eine Stadt mit einem Stadtteil, der gar nicht existierte, glaubte man den Karten, die auf ihrem Beifahrersitz lagen. So viele hatten ihr davon erzählt, hatten geschworen, dass sie dort gewesen waren.
Die Stadt der Diebe wurde sie genannt, niemand nannte sie bei ihrem echten Namen. Nicht einmal sie hatte ihn gekannt, bis sie die Karten gekauft hatte.
Kei richtete sich auf, leerte den Kaffee und sprang behände von ihrem Wagen. Ein letzter Blick zum Horizont, ein letzter Atemzug.
In wenigen Stunden wäre sie dort. Sie konnte kaum glauben, dass sie sich wirklich niederlassen wollte. Kopfschüttelnd stieg sie in ihren Wagen und schnappte sich die Karte, die neben ihr lag.
Kei stieg wieder aus und entfaltete sie auf dem Wagendach. Mit einem nachdenklichen Brummen suchte sie ihren jetzigen Standort. Es war nicht mehr weit, dachte sie zufrieden. Sie blickte ins Tal hinab zu ihrem Zielort. Die goldene Stadt funkelte verheißungsvoll und erwachte langsam zum Leben.
Aufregung brandete in ihr auf und sie lächelte. Sie war gespannt, was sie dort erwartete. Welche Menschen sie dort treffen würde.
Als eine laue Brise aufkam, hob sie den Kopf und atmete die frische Luft ein. Es roch bereits herbstlich, wie sie fand. Rasch prägte sie sich die restliche Strecke ein und kippte den letzten Rest Kaffee aus, ehe sie die Tasse mit einem Tuch trocken wischte.
„Auf geht’s“, sagte sie sich. Sie war seit mehr als dreißig Stunden wach, doch spürte sie davon wenig. Die Aufregung weckte ihre Lebensgeister. Und der Kaffee tat sein übriges.
Kei stieg wieder in ihren Ford, kurbelte das Fenster herunter und fuhr vom Rastplatz auf die Hauptstraße zurück.
Während die Sonne immer höher stieg, kamen ihr immer mehr Fahrzeuge entgegen. Sie sah auf die Uhr.
Halb neun – die meisten begannen jetzt ihren geregelten Tagesablauf in ihrem geregelten Job. Schnaubend überholte sie einen der langsamen Pendler und musterte kurz das müde Gesicht hinter dem Steuer.
Wer wollte so aussehen, wenn er zur Arbeit ging? Sie hatte immer ein Grinsen im Gesicht.
Nach einer halben Stunde wechselte sie die Hauptstraße und folgte den Schildern. Mit jedem Kilometer, den sie zurücklegte, wurde sie aufgeregter.
Kei trommelte unruhig auf dem Lenkrad herum und zwang sich, sich an die Geschwindigkeitsbegrenzungen zu halten.
Wo sollte sie zuerst hingehen?
Sie kannte niemanden. Sie hatte keinen Ansprechpartner. Keine Adresse. Sie fuhr einfach auf gut Glück in die Stadt hinein und hoffte, dass sie das Viertel finden würde.
Die Stadt ist nicht unendlich groß, beruhigte sie sich. Außerdem gab es immer Geschichten. Gemunkel, Legenden – welcher Stadt fehlte es schon daran?
Es faszinierte sie, dass niemand davon wusste. Wie konnten sich hunderte Kriminelle an einem Ort sammeln, ohne dass jemand misstrauisch wurde?
Organisiert waren sie scheinbar.
Würde sie dann überhaupt hinein kommen?
Kei schüttelte unwirsch den Kopf. Natürlich würde sie hinein kommen. Sie hatte bisher jedes Schloss geknackt, das ihr den Weg versperrt hatte.
Trotzdem nagten Zweifel an ihr. Sie war so weit gekommen, nur um dann vor verschlossenen Türen zu stehen? Sicher nicht.
Seufzend hielt Kei an einer Ampel. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie schon angekommen war.
Etwas enttäuscht musterte sie den Verkehr, die Menschen, die Häuser.
Sieht aus wie überall, dachte sie mürrisch. Nicht besonders schick, nicht besonders hässlich … einfach …
Kei hielt inne. Sie spähte an eine Hausecke zu ihrer Rechten. Ein altes Backsteinhaus.
Hatte sie sich das eingebildet?
Nein!
Direkt über dem Bogen über der Haustür war ein Symbol in den Stein geritzt. Für ungeschulte Augen würde es wie ein Kratzer aussehen, doch Kei erkannte das Zeichen sofort: Ein senkrechter Strich, der von drei horizontalen Linien gekreuzt wurde.
Zinken.
Davon hatte ihr ein Mann erzählt. Früher hatte das wandernde Volk über Zinken kommuniziert. Andere Diebe oder Vagabunden konnten so darauf aufmerksam gemacht werden, ob Gefahr drohte oder ob man sicher war.
In diesem Haus lebte scheinbar ein Polizist.
Als sie ein Hupen hörte, zuckte sie zusammen. Kei warf der wild gestikulierenden Frau im Rückspiegel einen entschuldigenden Blick zu, ehe sie losfuhr.
Wohin nun?
Unschlüssig folgte sie dem Strom ins Zentrum, las nichtssagende Schilder und bog schließlich ab, als ein Parkplatz ausgeschildert wurde. Es war egal, wo sie anfing. Ein Ort war so gut wie der nächste.
Zuerst musste sie Anschluss finden. Herausfinden, ob jemand wusste, wovon sie sprach.
Und dann, sagte sie sich, würde sie sich ein Hotelzimmer suchen und ausgiebig duschen.
Der mürrisch aussehende Kerl warf ihm den Umschlag beinahe zu. Genervt bückte Kilian sich und wischte ein wenig Dreck vom Papier. Der Kerl zuckte nicht einmal mit der Wimper. Stattdessen glotzte er weiterhin gelangweilt ans Ende der Sackgasse, als würde es außer der Hauswand und dem Unrat noch etwas Interessantes zu sehen geben.
„Ich danke vielmals“, spottete Kilian und verdrehte die Augen.
Ein Brummen, das nach: Jaja, und jetzt verpiss‘ dich klang, folgte. Kilian seufzte und verließ die Sackgasse. Er spähte in den Umschlag und musterte die CDs darin.
Als er wieder in die belebte Innenstadt trat, stieß er ein erleichtertes Stöhnen aus. Wie oft hatte er sich vorgenommen, nicht mehr mit so zwielichtigen Typen Geschäfte zu machen? Hundert Mal? Tausend Mal?
Kopfschüttelnd schlängelte Kilian sich durch die Flut an fleißigen Geschäftsmännern. Unbewusst hielt er Ausschau, doch niemand folgte ihm. Probeweise hielt er vor einem Schaufenster an und betrachtete sein Umfeld.
Neben ihm erschien eine Frau, die träumerisch den Schmuck betrachtete, der in der Auslage präsentiert wurde. Kilian spähte hinab und sah ihre geöffnete Umhängetasche.
Er wandte sich ab und ging.
Zu einfach.
Außerdem hatte er einen anderen Job zu erledigen. Kilian schlenderte durch die Einkaufspassage und blieb dann stehen. Die Sonne prickelte in seinem Nacken und er betrachtete die glänzenden Glasfassaden der Gebäude. Die Restaurants, Imbisse und Cafés waren alle bereits gut mit Mittagsgästen gefüllt.
So sollte es für ihn einfacher sein, in die Firma zu gelangen.
Abschätzig musterte er die Glastür auf der anderen Straßenseite und rückte sein Hemd zurecht. Er drehte sich um, band sich eine Krawatte um und setzte eine falsche Brille auf. Sein braunes Haar hatte er heute Morgen ordentlich zurückgelegt. Er erkannte sich kaum wieder – wie sollten ihn dann erst Fremde erkennen? Kilian eilte über die Straße und sprintete die wenigen Stufen hinauf. Ehe die Tür wieder ins Schloss fallen konnte, warf er sich dazwischen und hastete in die Eingangshalle. Mürrisch fluchte er über ein kurzfristig verschobenes Meeting. „Ist denn das zu fassen?“, zischte er. Genervt nahm er einen imaginären Anruf an und lief eilig die Stufen ins nächste Stockwerk hoch.
Als ihm niemand mehr entgegenkam, wurde er langsamer und bog dann gemächlich in den IT-Bereich ab.
Niemand beachtete ihn.
Die Männer und Frauen saßen gelangweilt vor ihren PCs, einige spielten irgendein Minispiel im Internet. Ein paar Frauen lachten und bogen gerade mit ihren Imbisstüten um die Ecke. Kilian machte auf dem Absatz kehrt, wandte sich zur Küchenzeile und nahm eine Tasse heraus. Er goss sich einen Kaffee ein und wartete, bis die Frauen an ihm vorübergeeilt waren.
Kilian nutzte die Zeit, um die Zimmernummern zu prüfen. Er musste noch zwei Türen weiter. Erleichtert bemerkte er, dass die Tür geschlossen war. Durch das schmale Fenster konnte er niemanden darin erkennen. Trotzdem klopfte er höflich an. Niemand antwortete, niemand konnte ihn sehen.
Er hatte Glück. Lächelnd drückte Kilian die unverschlossene Bürotür auf und schlüpfte hinein.
Viel zu einfach. Doch er hatte schon andere Jobs erlebt ... er würde sich hüten, sich zu früh zu freuen.
Seufzend betrachtete der Dieb das Büro.
Das hier war trotzdem unter seiner Würde.
Als er sich in den Stuhl fallen ließ, musterte er die grauen Wände mit den Diplomen und Fotos. Der Schreibtisch quoll beinahe über, war aber dennoch ordentlich. Die Blumen waren alle frisch und die Minibar aufgefüllt.
Vorbildlich, Marius Hemke, dachte Kilian amüsiert, als er die Visitenkarten bemerkte.
Er musste nicht einmal suchen. Der Schlüssel zum Schrank lag in der obersten Schublade neben den Filzstiften und Textmarkern. Kilian zog die CDs aus dem Umschlag und schloss den Schrank hinter dem Schreibtisch auf. Nach einigen Sekunden fand er die richtige Box und zog sie heraus.
Er wusste nichts genaues über diesen Auftrag – musste er auch nicht. Er erledigte ihn und bekam das Geld. Ende der Geschichte.
Kilian war hier, um archivierte Überwachungsaufnahmen auszutauschen. Der Prozess, in dem sie als Beweismittel gelten würden, begann in diesem Jahr und jemand musste aus dem Band geschnitten werden.
Tim hatte versucht, ihm zu erklären, wie so etwas funktionierte, aber er hatte nicht zugehört. Wenn Tim erst einmal anfing zu reden ... Er seufzte beim Gedanken daran.
Schließlich fand er die richtigen CDs, glich das Datum ab und legte statt der alten die neuen in die Box. Als alles wieder so war, wie es sein sollte, huschte Kilian aus dem Büro. Immer noch war niemand am Geschehen interessiert, sodass er es riskierte und den Aufzug nahm.
Auch in der Eingangshalle war alles ruhig. Er grüßte den Sicherheitsdienst neben der Tür und bedankte sich, als ihm eine schöne Pause gewünscht wurde.
Draußen angekommen nahm er die Brille ab und genoss die wärmende Sonne. Obwohl es noch angenehm warm war, roch es nach Herbst. Die ersten Blätter färbten sich gelb und Kilian beobachtete eine Frau, die das Schaufenster einer Parfümerie der Jahreszeit entsprechend umdekorierte.
Wieder ein Job erledigt. Also konnte er heute Abend sogar etwas essen.
Kilian grinste, zufrieden mit sich und der Welt.
Er war keine fünfzig Meter weit gekommen, als er einen seiner Schleicher bemerkte, der ihn heranwinkte. Mit zusammengezogenen Brauen überquerte er die gepflasterte Straße hinter einem Bus und ließ sich neben der Frau nieder, die vor einem Bistro saß und Zeitung las. Gerade brachte die Kellnerin einen Kaffee und Kilian nahm die Speisekarte in die Hand.
„Ich bin ganz Ohr“, sagte er gut gelaunt. Linda, seine zuverlässigste Schleicherin, blätterte müßig die Zeitung um. Ihr blondes Haar war zurückgebunden und sie trug wie immer ihre schweren Stiefel, die gar nicht zu ihrem sommerlichen Kleid passten. Die Ärmel ihrer Jeansjacke waren hochgekrempelt. Linda schien nie zu frieren, eine Tatsache, die ihn immer wieder erstaunte.
„Jemand fragt herum.“
Kilian schnalzte mit der Zunge und lehnte sich auf dem Holzstuhl zurück. Er folgte einer jungen Frau mit den Augen. Fasziniert musterte er ihr kurzes, silbern gefärbtes Haar, bis sie um die Ecke bog.
„Ein bisschen mehr Infos wären nicht schlecht“, sagte er langsam.
Die Zeitung wurde zusammengeklappt und Linda sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Eine Frau. Scheint neu hier zu sein. Sie sucht nach dem Dom.“
Sie suchte also das Viertel der Diebe. Das Tuelmer Viertel, genauer gesagt. Kilian runzelte die Stirn. „So etwas kam schon öfter vor. Es verirrt sich eben mal ein neugieriger Bürger ... oder ein Journalist hierher.“
Gerüchte ließen sich nicht immer vermeiden, auch wenn bestimmte Druckmittel bisher jedes Schweigen erkauft hatten.
„Sie sucht intensiv danach“, wies Linda ab. Sie beugte sich vor und deutete auf einen Artikel. Kilian nahm die Zeitung und tat, als würde er interessiert nachlesen. „Sie stellt die richtigen Fragen, aber an den falschen Orten. Einer meiner Männer hat sie in die richtige Richtung gelotst, damit es keinen Ärger gibt.“
„Also soll sie den Dom finden?“
„Sie ist kein Tourist.“
Nun ergab das ganze Sinn. Wenn ein neuer Dieb oder Betrüger in die Stadt der Diebe kam, musste er den Rätseln selbst folgen und das Tuelmer Viertel eigenständig finden. Nicht, dass es gut versteckt wäre. Es war ein Stadtteil wie jeder andere auch. Allerdings führte kein Weg hinein.
Kilian schmunzelte. Durch den Schilderwald, all die Einbahnstraßen und Baustellen, hatte es noch niemand geschafft, der nicht wusste, welche Schilder falsch waren.
„Es ist lange her, seit das letzte Mal ein Neuer hier war.“, stellte er fest.
Linda nickte. „Es wäre niemandem aufgefallen, wenn sie nicht alles und jeden gefragt hätte. Sie hat einen ganz schönen Aufruhr verursacht.“
Kilian zuckte mit den Achseln. „Du hast das unter Kontrolle.“
„Dafür bin ich hier“, stimmte Linda zu. Als Kilian sich nicht rührte, begann sie zu lachen. „Schon wieder pleite?“
Kilian wurde rot. „Ich habe gerade einen Job erledigt. Ich ... ich gebe dir das Extrageld, wenn Zahltag ist.“
Abwehrend verschränkte er die Arme vor der Brust, als Linda weiterlachte.
Er war ein Betrüger, ein Dieb und einer der besten in der Stadt. Er bekam die meisten Aufträge, nahm aber nur die wenigsten an. Das nahm er sich heraus.
Außer, wenn er wie jetzt, pleite war. Leider war er immer pleite.
Wenn er Geld stahl, hielt es nie lange. Sein bester Freund, ein Computergenie namens Tim, hatte einen Teil seiner Beute bereits geschickt angelegt – davon durfte er sich allerdings nicht bedienen.
Er wusste nicht, was er falsch machte. Jeder seiner Schleicher bekam seinen Lohn pünktlich und bis zum letzten Cent am ausgemachten Tag. Nie hatte er einen Zahltag ausfallen lassen.
Irgendwie schaffte er es immer. Und wer nicht an morgen dachte, musste auch nicht an die morgige Mahlzeit denken.
„Sonst noch etwas?“, fragte Kilian. Linda neigte den Kopf und schlug die Zeitung wieder auf.
Also nichts Neues mehr. Sehr gut.
Kilian stand auf und tauchte wieder in der Menge unter.
Er hatte einen ruhigen Tag vor sich. Hoffte er jedenfalls.
2 Obwohl sie seit drei Tagen unterwegs war, gestern den ganzen Tag durch die Stadt gelaufen war und insgesamt wahrscheinlich weniger als zehn Stunden geschlafen hatte, hatte Kei die ganze Nacht wachgelegen. Vorfreude und Neugier hielten sie wach und so wälzte sie sich von einer Seite des Hotelbettes auf die andere. Um fünf Uhr schließlich sprang sie aus den Federn, duschte und schlüpfte in frische Kleidung.
Kei rümpfte die Nase. Sie musste dringend waschen. Seit zwei Wochen war sie schon mit ihrem Gepäck unterwegs – und langsam wurde die saubere Wäsche knapp. Seufzend stopfte sie alles in ihren Seesack zurück und rubbelte sich ihr kurzes, silbernes Haar trocken.
Sie war entspannt, wach und zu allem bereit. Das hatte sie nicht erwartet. Nachdem sie gestern todmüde ins Bett gefallen war, hatte Kei gedacht, würde sie heute kaum aufstehen können.
Sie dankte ihrem Adrenalinspiegel im Stillen und raufte ihr weniges Hab und Gut zusammen. Ausnahmsweise gönnte sie sich ein kleines Stück Luxus und fuhr mit dem Fahrstuhl in die Lobby hinunter. Ein langer Kerl erwartete sie hinter dem Tresen. Man sah ihm die Nachtschicht deutlich an und Kei gab ihm ein gönnerhaftes Trinkgeld, während sie auscheckte.
Es dämmerte gerade, als sie auf die Straße hinaus trat. Die Straßenlaternen wurden gedimmt und sie hielt kurz inne. Die kalte Luft schmeckte nach Neuanfang und Frieden. Perfekt für einen Tag wie diesen, dachte sie. Grinsend ging sie um das Hotel herum auf den Parkplatz und warf ihr Gepäck in den Kofferraum. Dann lief sie eilig zur gegenüberliegenden Bäckerei und kaufte sich einen Kaffee und ein Croissant.
Heute würde sie das Tuelmer Viertel erreichen. Heute würde sie neu anfangen. Heute würde sie all das sehen, wovon sie immer geträumt hatte.
Es war schwer gewesen, die richtigen Leute zu finden und sie war sich ziemlich sicher, dass alle wichtigen Personen des Viertels mittlerweile wussten, dass sie kommen würde.
Wie würden sie sein?
Sie war so aufgeregt, dass sie ihren Ford absaufen ließ, als sie losfahren wollte. Kichernd sah sie sich um. Keiner in der Nähe vor dem sie sich blamiert hatte. Kei stopfte sich ein Stück Croissant in den Mund und fuhr dann gemächlich aus der Parklücke heraus. Bedächtig bog sie um die Ecke und fuhr in Richtung Westen.
Im Rückspiegel konnte sie die Sonne aufgehen sehen, während sie das Zentrum verließ und schließlich links abbog. An einem Stoppschild hielt die Diebin an und sah sich aufmerksam um.
Tatsächlich, dachte sie überrascht. An der Ampel zu ihrer Rechten war ein stilisierter Pfeil in ein faustgroßes Graffiti eingearbeitet. Mit klopfendem Herzen folgte sie den weiteren Pfeilen, die überall verteilt schienen: in Plakaten und Postern, in Hausnummern, ja sogar auf Autos und Schildern!
Kei schlängelte sich auf Umwegen durch die Stadt. Immer wieder musste sie umkehren, da sie in einer Sackgasse landete. Sie fiel auf die falschen Ziffern herein, vor denen sie gewarnt wurde und schüttelte über ihre Einfältigkeit den Kopf. Nach einer Stunde schließlich fand sie die kopfstehende Statue: ein Kulturschild mit einer Abbildung eines römischen Soldaten, das auf dem Kopf hing.
Ein Grinsen legte sich auf ihr Gesicht und sie war sich nur allzu bewusst, wie lächerlich sie aussehen musste. Kei folgte dem Straßenverlauf und fuhr dann in die dritte Einfahrt. Vor ihr befand sich ein ordentliches, leer stehendes Haus, das zum Verkauf angeboten wurde. Schotter knirschte unter den Reifen ihres Wagens.
Wer auch immer diese Route geplant hatte, musste ein Genie oder verrückt gewesen sein. Die Einfahrt ging um das Haus herum und führte auf der anderen Seite wieder vom Grundstück herunter. Von dort aus gelangte man in eine schmale Gasse zwischen zwei Häusern. Vorsichtig manövrierte sie sich durch die etwa fünfhundert Meter lange Gasse und gelangte schließlich auf eine Hauptstraße.
Überrascht blieb sie stehen.
Keine Menschenseele war zu sehen. Die Häuser waren gepflegt, aber trostlos. Manche Haustüren waren vernagelt, andere mit einer knalligen Farbe angemalt. Bandenfarben, schätzte Kei.
Die Laternen gingen gerade aus und Kei zuckte erschrocken zusammen. Die hohen Häuser schirmten den Blick zur Stadt beinahe gänzlich ab. Kei hatte erfahren, dass niemand auf geradem Weg in das Viertel gelangen konnte. Nur Einbahnstraßen führten heraus – und selbst diesen Weg fanden nur die, die schon sehr lange hier lebten. Hinein führte keine Straße. Nach ihrer kilometerlangen Reise glaubte sie den Geschichten aufs Wort. Sie würde auch nicht mehr zurückfinden.
Sie verstand immer noch nicht, wie ein ganzes Viertel geheim bleiben konnte, doch sie war sich sicher, dass Geld eine große Rolle dabei spielte.
Kei schluckte. Obwohl die aufgehende Sonne alles in warmes, rosa Licht tauchte, wirkte die Straße unheimlich. Hastig fuhr sie weiter. Sämtliche Ampeln waren ausgeschaltet. Anfangs hielt sie immer pflichtbewusst an, doch als ihr nie jemand entgegen kam, fuhr sie einfach weiter.
Scheiß auf die Regeln, dachte sie. Hier lebten nur Ganoven – als ob die sich darum scheren würden.
Als Kei einen Mann sah, schlug ihr Herz höher. Also war sie richtig! Und es lebten tatsächlich Menschen hier! Erleichtert fuhr sie weiter. Langsam bemerkte sie überall um sich herum Lebenszeichen: Ein Rollladen, der hochgezogen wurde, Licht hinter den Scheiben, eine Bäckerei und ein Café, in dem Menschen standen und sich unterhielten.
Also gut, dachte sie, hier gibt es Leben. Sie war am Zielort angekommen. Und nun?
Kei biss sich auf die Unterlippe und hielt an. Ein Wagen kam ihr entgegen, mit zwei zwielichtig wirkenden Typen darin. Instinktiv duckte sie sich, als sie angestarrt wurde.
Nicht viel Verkehr, in dem sie untertauchen könnte.
Hatten die Diebe hier keine Wagen?
Seufzend betrachtete sie ihre Umgebung. Mittlerweile wirkte alles wie eine ganz normale, morgendliche Stadt. Und sie mittendrin.
„Ich sage es dir jetzt zum letzten Mal, Tim, ich habe alles!“ Genervt blickte Kilian zu seinem Kumpel hinüber, der nur mit den Augen rollte. Dann nahm Tim seine rahmenlose Brille ab und rieb sich die müden, dunklen Augen, dann strich er sich abwesend durch das kurze, blonde Haar.
„Ich will nur sichergehen“, meinte er und wedelte beschwichtigend mit der Hand, in der er einen sehr mitgenommen wirkenden Notizzettel hielt.
„Jetzt leg‘ das Ding endlich weg! Ich weiß genau, dass du alles im Kopf hast“, murrte Kilian und schnappte nach dem Zettel. Tim war schneller und stopfte das Papier in seine Hemdtasche.
„Erst wenn ich dein Equipment sehe. Vollständig“, fügte er an, nachdem Kilian ein weiteres Mal genervt geseufzt hatte. Der Dieb fuhr aggressiv durch die leeren Straßen und schnitt dann eine Kurve. Nach stundenlangem Planen und keinem Schlaf war seine Geduld nun am Ende.
Tim holte zischend Luft und klammerte sich am Türgriff fest. Er nahm es mit einer bösen Zufriedenheit hin, die selbst ihm kindisch vorkam. „Du kannst froh sein, dass das Viertel so leer ist.“
„Ach, sei still.“ Genervt funkelte Kilian die Straße vor sich an und raste um eine weitere Ecke. Dann bog er in eine Einbahnstraße ab.
Von wegen ruhiger Tag, dachte er mürrisch. Jetzt wollte er einfach nur etwas essen und noch wichtiger: Schlafen.
„Ich meine ja nur ...“
„Ich sagte, du sollst“, weiter kam er nicht. Mit einem Fluch trat Kilian mit aller Kraft auf die Bremse. Tim schrie erstickt auf, als er nach vorne geworfen wurde und prallte dann mit einem leisen „Uff“ wieder zurück. „Was denn jetzt?“, fuhr der Dieb auf.
Er kochte.
Tim ließ sich vorsichtshalber tiefer in den Sitz sinken. Von diesem Zorn wollte er nicht getroffen werden. Lieber brachte er sich schnell aus der Schusslinie. Er hatte seinem Freund genug Pulver gegeben. Gut für ihn, wenn er woanders explodierte.
Im selben Augenblick begann Kilian zu hupen. Dann schrie er frustriert auf und schlug mit der Hand ein letztes Mal auf die Hupe. „Siehst du das?“, rief er aus und warf Tim einen Blick zu.
Es war kaum zu übersehen, was er meinte. Das rote Auto stand ihnen gegenüber mitten in der Einbahnstraße.
Kilian deutete auf den Fahrer des anderen Wagens. „Siehst du das? Schon wieder hat sich irgendeine alte Schachtel hierher verirrt und kann keine Schilder lesen!“
Tim musterte das graue Haar. „Ich denke nicht, dass sie eine alte ...“ Kilian unterbrach ihn, indem er fluchend aus dem Wagen sprang. Mit in die Hüften gestemmten Händen schritt er auf den roten Wagen zu.
Wenn er vorher gekocht hatte, dachte Tim, was tat er nun? Seufzend stieg er ebenfalls aus.
„Können Sie keine Schilder lesen, Lady?“, blaffte der Dieb, während er auf den Ford zu stapfte. „Ein-bahn-straße!“ Er wies auf das blaue Schild am Ende der Straße. „Das hier ist eine Einbahnstraße! Fahren Sie gefälligst außen herum! Ich weiß, dass das Leben zu kurz ist, aber zweihundertfünfzig Meter haben noch keinen umgebracht.“
Kei öffnete die Wagentür und starrte den Mann, der vor Wut kochte, einfach nur an. Die Entschuldigung, die ihr auf der Zunge gelegen hatte, war verschwunden.
„Vielleicht sollten Sie den Führerschein lieber abgeben, bevor Sie noch jemandem wehtun. Am Ende sich selbst!“
„Halt mal die Luft an“, schnitt ihm Kei das Wort ab. Abrupt hielt Kilian inne. Er starrte die Frau an. Dann blickte er zu Tim zurück, der nur mit den Achseln zuckte. Er konnte die Tatsache nicht verbergen, dass ihn diese Situation köstlich amüsierte.
„Oh, du … also, ich dachte … die grauen Haare …“, stotterte der Dunkelhaarige und lief knallrot an. Er räusperte sich. „Ich … es tut mir leid. Heute ist nur so ein … eigentlich bin ich nicht …“
„Doch, ist er“, rief Tim nickend zu ihnen hinüber. Er lehnte mit den Ellbogen auf der geöffneten Beifahrertür und grinste. „Aber das hast du wahrscheinlich schon selbst bemerkt.“
„Das ist nicht hilfreich.“ Kilian warf ihm einen bösen Blick über die Schulter zu.
„War auch nicht meine Absicht.“
Kei unterdrückte ein Lachen. Sofort fiel Kilians Aufmerksamkeit wieder auf sie. Er nahm eine wachsame Haltung an, trotz seiner Scham. Um die Situation zu entschärfen trat er einen Schritt zurück.
Er musterte Kei aufmerksam. Dabei behielt er seine peinlich berührte Attitüde bei.
Sie wirkte nicht älter als er, schloss er. Mitte zwanzig wahrscheinlich. Ihre Finger waren gut gepflegt, obwohl sie von einigen alten Narben gezeichnet waren. Sie arbeitete mit ihren Händen und musste dennoch darauf achten, dass sie geschmeidig blieben.
Genau wie er es tat.
Statt sich zu entspannen fühlte er, wie er konzentriert weiter forschte.
Sie war sportlich, wirkte fit. In ihren braunen Augen blitzten Intelligenz und Wachsamkeit auf. Er realisierte, dass auch er taxiert wurde.
„Sorry, ich dachte nicht, dass hier irgendwelche Regeln gelten. Es war niemand unterwegs.“ Sie zuckte mit den Achseln und lächelte entschuldigend.
Sein Ärger war verpufft und er lenkte ein. „Das geht den meisten so, die ...“ Er hielt inne.
„Ich weiß, wo ich bin“, sagte sie ruhig. „Ich bin absichtlich hier.“
Kilian sah ihr schweigend in die Augen, fand kein Zeichen einer Lüge. Erst dann entspannte er sich endlich. Sie sah ihn neugierig an.
Die Neue. Hier stand sie also vor ihm – diejenige, die alle in Schrecken versetzt hatte. Er musste gestehen, dass er etwas anderes erwartet hatte. Jedoch war er positiv überrascht.
Langsam stieß er die angehaltene Luft aus. „Nun, auch, wenn in diesem Außenbezirk nur selten Autos unterwegs sind, muss man sich trotzdem an die allgemein bekannten Verkehrsregeln halten. Wir sind vielleicht eine Stadt mit Leuten, die es mit dem Gesetz nicht so ernst nehmen, aber das heißt nicht, dass Anarchie herrscht.“
Das brachte sie zum Lachen.
Grinsend lehnte er sich vor. „Dann heiße ich dich herzlich Willkommen im Tuelmer Viertel, der Stadt der Diebe. Hier ist jeder willkommen, der sonst kein Zuhause findet.“
Ihr Lächeln wurde eine Spur bitterer, doch er achtete nicht darauf, sondern reichte ihr die Hand: „Ich bin Kilian. Das da hinten ist Tim.“ Er verschwieg ihre Nachnamen – eine alte Angewohnheit. Kurz zögerte er. Sie wirkte nicht gefährlich.
„Kei“, stellte sie sich vor und schüttelte seine dargebotene Hand. Auch kein Nachname, dachte er. Das machte die Entscheidung leichter. „Und nochmal: Entschuldige.“
„Dito.“
„Jetzt, wo die Formalitäten beendet sind“, meldete sich Tim winkend zu Wort, „können wir dann bitte dort weiter machen, wo wir aufgehört haben?“
„Sofort“, meinte Kilian. „Wenn du so freundlich wärst, uns vorbeizulassen?“
„Selbstverständlich!“ Kei errötete und biss sich peinlich berührt auf die Unterlippe. „Einen Moment ...“ Damit stieg sie ein und legte den Rückwärtsgang ein. Während Kilian schmunzelnd zu seinem Wagen zurücklief, machte Kei den Weg frei. Gelassen fuhr er durch die Einbahnstraße und hielt dann mit seinem Fenster direkt neben Kei auf der Hauptstraße. Sie kurbelte ihres ebenfalls herunter und musterte ihn abwartend.
„Folge der Straße und bieg‘ die zweite links ab. Dort ist eine Kneipe, das Nirgendwo. Alle neuen landen dort – früher oder später. Dort gibt es Zimmer und etwas zu essen. Wir kommen nach.“ Er winkte und gab Gas, noch ehe Kei etwas erwidern konnte.
Früher oder später? Was sollte das bedeuten?
Sie zögerte und wartete, bis Kilians schwarzer Wagen aus ihrem Rückspiegel verschwand.
Das alles lief zu glatt. Kein Misstrauen? In einer Stadt voller Langfinger und Verbrecher? Wieso hatte er ihr sofort gesagt, wo sie war? Kilian schien ziemlich aufgebracht gewesen zu sein, als er dachte, sie wäre eine Fremde, die sich verfahren hatte. Andererseits bestätigte das nur ihre Ahnung: Sie war erwartet worden.
Und jetzt sollte sie einfach seiner Anweisung folgen? Wurde man nach erfolgreicher Suche so schnell als Teil der Stadt gesehen und willkommen geheißen?
Seufzend legte sie den Gang ein.
Es gab nur einen Weg das herauszufinden. Lieber früher als später.
Schlagartige Stille empfing sie, als die Tür hinter Kei ins Schloss fiel. Sie schluckte hart und setzte ein, wie sie hoffte, freundliches, unverfängliches Lächeln auf. Das Nirgendwo war eine umgebaute Reihenhaushälfte. Die bestehenden Räume waren teils vergrößert worden, um einen großen Schankraum zu gewährleisten und teilweise verkleinert worden, um dunkle Ecken zu schaffen, in denen ebenso dunkle Geschäfte abgewickelt werden konnten. Die Wände waren in jedem Zimmer andersfarbig, soweit sie erkennen konnte, behielten jedoch alle denselben gräulichen Farbton bei.
Kei ging zwischen den Tischen hindurch, auf die weite Bar zu. Sie spähte die Treppe hinauf, durch das Eisengeländer konnte man gut ins zweite Stockwerk hochschauen, und bemerkte eine weitere Bar. Sie spürte die Blicke der etwa zehn Anwesenden auf sich, während sie sich auf einen mit grünem Leder bezogenen Barhocker fallen ließ. Einige der Diebe – sie hoffte jedenfalls, dass es Diebe waren – wirkten, als hätten sie hier übernachtet.
An den Wänden standen Sofaecken mit bequemen Decken und Kissen, sodass ihr der Gedanke gar nicht so abwegig schien. Sie hatte sich sofort willkommen gefühlt. Grünpflanzen standen auf den Fenstersimsen und an den Wänden hing ein wildes Durcheinander von Fotos. Auf allen war irgendein Verbrechen zu sehen.
Der Barkeeper wandte sich von seinem eingeschlafenen Gespräch ab und kam zu ihr herüber. Seine dunkle Haut glänzte im warmen Deckenlicht und er grinste sie freundlich an: „Guten Morgen, meine Schöne. Was kann ich dir bringen?“
Kei lächelte etwas breiter. „Ein Cappuccino bitte. Und ...“ , sie schnupperte genüsslich, „die Pfannkuchen.“
Der Mann lachte so laut, dass die Diebin erschrocken zusammenzuckte. Er haute mit der Hand auf den Tresen und deutete dann mit dem Geschirrtuch auf sie: „Eine ganz Clevere! Lass mich raten: Informant?“
„Auch das“, meinte Kei schulterzuckend. Beruhigt bemerkte sie, dass die Gespräche in ihrem Rücken wieder ihrem gewohnten Gang folgten. „Ich arbeite meistens allein, da lässt es sich nicht vermeiden.“
„Ah, ein Langfinger also.“ Der Barkeeper drehte sich um und rief ihre Bestellung einer jungen Frau zu, die nickend aus dem Zimmer ging, vermutlich in Richtung Küche. Kei betrachtete den Alkohol hinter dem Tresen und bemerkte den Griff einer Waffe, knapp unter dem Tresen.
Nicht sonderlich überraschend. Sie wandte dem Mann wieder ihre Aufmerksamkeit zu, als der Cappuccino fertig war. „Ich brauche außerdem ein Zimmer, falls eines frei ist“, sagte sie und rührte den Schaum in den Kaffee hinein.
„Kein Problem. Für wie viele Nächte?“
Das ließ sie zögern.
Wie lange würde sie hier wohnen müssen? Gab es Wohnungen? Und wie fand sie eine? Oder brach man hier einfach in irgendein Haus ein, das einem gefiel und nistete sich dort ein?
Sie biss nervös auf ihrer Unterlippe herum.
„Ich ... ähm ... ich denke, zwei Nächte sollten erst einmal genügen.“, stotterte sie letztendlich. Bis dahin hatte sie hoffentlich Anschluss gefunden und jemand konnte ihr sagen, wie man hier lebte.
„Gern. Ich bin übrigens Jim“, sagte der Mann grinsend und fuhr sich durch das kurze, schwarze Haar.
„Kei“, stellte sie sich vor.
„Du bist neu hier.“ Es war eine Feststellung, also sagte sie nichts. „Wie hast du ins Nirgendwo gefunden?“
Sie nippte an ihrem Cappuccino. Er war ausgezeichnet, wie sie zufrieden feststellte. „Ein Kerl namens Kilian hat mir den Weg erklärt.“
Wieder lachte Jim bellend auf: „Kilian, der alte Weiberheld! Lässt nichts anbrennen!“ Hinter Kei erschallte ebenfalls Gelächter und sie spürte, dass sie rot wurde.
„Lass dich nicht von ihm täuschen. Der hat’s faustdick hinter den Ohren“, grinste der Mann zu ihrer Linken und sah von seiner Zeitung auf.
Wo war sie hier nur hingeraten?
Um das Thema zu wechseln, deutete sie auf eines der Fotos, das einen Hacker zeigte, der stolz vor seinem Computer stand, auf dessen Bildschirm ein dunkles Gebäude zu sehen war. „Was hat es mit den Fotos auf sich?“ Sie kniff die Augen zusammen, als sie den blonden Haarschopf erkannte: Tim.
Jim folgte ihrem Blick. „Ach, das ist eine lustige Geschichte.“ Er wartete, bis die Pfannkuchen vor Kei standen und wischte währenddessen einmal über den Tresen. „Einer meiner guten Freunde wurde einmal geschnappt und hat so dreist in die Kamera gegrinst, dass das Foto zu gut war, um es nicht aufzuhängen.“ Kei folgte seinem Blick und musterte den Schnappschuss direkt neben der Eingangstür. Unwillkürlich musste sie lächeln. „Daraufhin haben wir eine Art Spiel daraus gemacht: Während des Verbrechens wird ein Schnappschuss gemacht, egal, ob es erfolgreich verläuft, oder nicht.“
Jim verstummte und kicherte leise in sich hinein. In der entstandenen Pause kostete sie ihre Pfannkuchen. Erst jetzt bemerkte sie, wie hungrig sie eigentlich war. Der luftige Teig, die frischen Blaubeeren und der Puderzucker… sie musste sich zusammenreißen, nicht nach jedem Bissen erneut zu verkünden, dass das die besten Pfannkuchen waren, die sie je gegessen hatte.
„Gibt es auch ein Foto von Kilian?“, fragte sie mit vollem Mund.
„Der hat es dir schon angetan, was?“, lachte Jim.
Missmutig zog sie eine Grimasse: „Unser erstes Treffen war nicht gerade freundlicher Natur. Ein Missverständnis.“
„Glaube ich gern“, witzelte Jim.
„Lass das arme Ding doch in Frieden!“ Eine rundliche Frau trat neben den Barkeeper und schlug ihm mit dem Geschirrtuch gegen die breite Brust. Ihr braunes Haar war schlampig zurückgebunden und die grauen Augen blitzten wütend, aber amüsiert. Kei schätzte sie auf etwa vierzig, genau wie Jim. Als sie die identischen Ringe sah, musste sie schmunzeln. Als die Frau gepackt wurde, kreischte sie auf und fand sich in einer widerspenstigen Umarmung wieder. Der Wirt lachte und drückte ihr einen Kuss auf den Mund. „Darf ich vorstellen: Helena, meine Herzensdame.“
Lachend entwand sich Helena ihrem Mann. „Freut mich sehr. Hast du dich schon eingelebt?“
„Ich bin gerade erst angekommen.“, erwiderte Kei kopfschüttelnd und verschlang den letzten Bissen beinahe wehmütig.
„Wir haben deine Ankunft schon erwartet“, sagte Helena schmunzelnd. „Du hast für ganz schönen Aufruhr gesorgt.“
Überrascht zog sie die Augenbrauen hoch: „Warum denn?“
„Du hast die falschen Leute gefragt, deshalb. Neue sind nicht immer gern gesehen, in unserer kleinen Stadt.“
Ein ungutes Gefühl überkam Kei. Als hätte sie es vorausgeahnt, kam ein Mann die Treppe herunter gepoltert. Sein langes, schwarzes Haar hing ihm ungekämmt und feucht ins Gesicht. Er war unrasiert und trug eine ausgewaschene, dunkle Jeans über einem T-Shirt.
„Auch schon aufgestanden, Dennis?“, begrüßte Helena den gähnenden Kerl, der sich lässig an den Tresen lehnte. Wasser tropfte von seinen Haarspitzen auf seine Schultern und er rollte mit dem Kopf, sodass die Wirbel knackten.
Kei runzelte die Stirn.
„Lange Nacht“, meinte er mit noch rauer Stimme. „Gib mir einen Kaffee. Einen großen!“
„Willst du das Übliche essen?“
Er nickte. Dann fiel sein Blick auf Kei. Er verspannte sich sichtlich, gab sich aber weiterhin gelassen. Seine hellen Augen bohrten sich in ihre, dann wanderten sie weiter über ihren Körper, was Kei mehr als jedes gesprochene Wort verärgerte. Sie musterte ihn ebenfalls.
Er war mindestens zwei Meter groß, schloss sie, und gut gebaut. Er war nicht kräftiger als er sein sollte. Drahtige Muskeln an seinen Armen ließen darauf schließen, dass er einen Sport machte, der Ausdauer und Kraft forderte. Vielleicht Boxen, dachte sie.
Sie wurde vorsichtig. Sie selbst hatte nur wenige Jahre geboxt, gerade so lange, dass sie wusste, wann sie wie zuschlagen musste.
„Du musst die Neue sein, über die jeder spricht.“
„Angenehm“, sagte sie kühl. Ein Lächeln flackerte über Dennis‘ Züge.
„Ich hätte keine so ... zauberhafte Person erwartet.“
Kei schnaubte bloß.
„Trotzdem sehe ich es nicht gern, wenn Unruhe ausbricht. Egal, wer sie verursacht.“ Bei seinem plötzlich kühlen Ton überlief Kei ein Schaudern. Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. Jim räusperte sich warnend, wurde jedoch ignoriert. Dennis‘ Wolfsaugen blieben ohne Unterlass auf Kei gerichtet, die sich immer weiter verspannte.
Sie schluckte und richtete sich auf. Schwäche würde sie hier niemandem zeigen. Sonst wäre sie von Anfang an als Weichei gebrandmarkt. Gelassen schlug sie die Beine übereinander und drehte ihren Stuhl auf Dennis zu. Stumm zog sie die Augenbrauen hinauf.
„Das Chaos, das du verursacht hast, mussten meine Leute beseitigen. Das heißt: es wurde mein Chaos. Und wenn ich ein Problem habe, das gelöst werden muss, werde ich pissig.“
Dennis baute sich vor ihr auf, die Arme locker an den Seiten, doch nichtsdestotrotz einschüchternd. Stille folgte seinen Worten. Niemand sprach mehr.
„Dennis“, sagte Jim schließlich, doch er hielt inne, als der Angesprochene ihm einen giftigen Blick zuwarf. „Das geht dich nichts an.“, schnappte er zurück.
Kei holte tief Luft. Adrenalin ließ ihr Herz schneller schlagen.
Sie hatte geahnt, dass sie niemals ungesehen hierher kommen würde. Aber dass deswegen so ein Theater ausbrach, hätte sie nicht gedacht. Es mussten wirklich selten ungefragte Gäste erscheinen.
Ihr Gedanke bestätigte sich noch, als Dennis sagte: „Wer schickt dich?“
„Niemand. Ich reise allein“, sagte sie mit erstaunlich fester Stimme. Sie reckte das Kinn in die Höhe, um Dennis in die Augen schauen zu können.
„Bullshit!“, rief er so laut aus, dass Kei erschrocken zusammenfuhr. „Wem gehörst du an?“, schrie er.
Irritiert von diesem Ausbruch blieb sie stumm. Angst flackerte in den grauen Augen auf und ihre pampige Antwort blieb ihr im Halse stecken. Eine Gänsehaut überzog ihre Arme.
Wurde sie hier als Feindin gesehen? Warum?
„Ich ... ich reise immer allein“, verteidigte sie sich. „Ich weiß nicht, welchem Gerücht du zugehört hast, aber ...“
Grob packte seine Hand ihren Unterarm. Kei keuchte auf, als der stählerne Griff noch fester wurde. Das würde blaue Flecken geben, dachte sie noch, dann wurde sie vom Barhocker gezerrt.
„Ich will wissen, wer dein Boss ist!“, blaffte Dennis weiter. „Hier ist kein Platz für deine Bande. Und jetzt mach, dass du verschwindest!“
Kei sah seine Linke auf sich zukommen und duckte sich instinktiv. Wut flackerte in ihr auf. Mit einem Schrei rammte sie ihm ihre Schulter in den Magen und riss sich los. Noch während Dennis zurückstolperte, ging sie in die Knie und ließ einen rechten Haken folgen. Dann noch eine Linke und der Schwarzhaarige fiel ächzend zu Boden.
Schwer atmend blieb Kei stehen, ehe sie einen Schritt zurücktrat. Dennis blinzelte benommen und stöhnte. Helena kam hinter dem Tresen hervor und kniete sich neben ihn.
„Wie ich sehe, hast du schon Freunde gefunden.“ Kei fuhr herum und blickte in Kilians grinsendes Gesicht.
3 Mit zusammengepressten Lippen kühlte Kei ihre Knöchel und mied jeden Blickkontakt. Stur starrte sie auf das blaue Geschirrtuch, das das Eis enthielt und seufzte abermals. Als Helena Kilian, Tim und ihr jeweils ein Bier hinstellte, schielte die Diebin zu Dennis hinüber, der mürrisch am anderen Ende des Raumes saß, flankiert von drei anderen.
„Tut mir leid, wenn ich euch Umstände bereitet habe“, murmelte Kei schuldbewusst. Helena lächelte gutmütig: „Wenn du glaubst, dass das unsere einzige Schlägerei bisher war, täuschst du dich gewaltig. Das war bisher wahrscheinlich die harmloseste.“
Darüber musste Kilian lachen. Tim verkniff sich ein Grinsen und nippte rasch an seinem Bier.
„Du hast jedenfalls Eindruck geschunden“, versuchte er sie aufzumuntern.
„Ich wollte nicht als Weichei dastehen.“ Kei lehnte sich auf dem Sofa zurück und zog ein Bein unter sich.
„Das ist dir gelungen.“
Sie brummte nur.
„Wie geht es der Hand?“, fragte Tim. Er schob die Brille hoch und nahm nach kurzem Zögern Keis Finger. Er drückte vorsichtig die Handknöchel und musterte die leicht blaue Verfärbung. „Es ist nichts geprellt und nichts gebrochen, soweit ich es erkennen kann.“
„Ich habe schon lange nicht mehr zugeschlagen ... ich bin scheinbar etwas aus der Übung. Ich habe ihn falsch getroffen.“
„Für mich sah das nach einem Volltreffer aus.“ Kilian lachte abermals, als er die Szene erneut vor sich sah. Er saß neben Kei auf dem braunen Sofa und klopfte ihr auf die Schulter. „Mach dir keine Gedanken. Dennis wird sich nicht mehr mit dir anlegen. Seine Ehre verbietet es. Wenn jemand einen Kampf verliert, gesteht er sich seine Niederlage ein. Ansonsten würde hier alles im Chaos versinken.“
„Ich würde gerne mehr über das Tuelmer Viertel erfahren“, sagte sie neugierig. „Wie läuft alles ab? Wie kann das ganze Viertel unbekannt bleiben?“
„Dank Korruption, Bestechungen, Drohungen und einer Menge anderer Druckmittel“, meinte Tim trocken.
Kilian musste über Keis ernüchterten Blick schmunzeln.
Ja, es war ein dreckiges Geschäft. Aber es funktionierte. Und jeder musste seinen Teil dazu beitragen. Auch Diebe mussten Steuern zahlen. Wer es nicht tat, musste das Tuelmer Viertel verlassen. Meistens in einem zugeschnürten, schwarzen Sack.
„Es ist nicht alles verkommen“, gab Kilian zu. Er strich sich das braune Haar zurück und sah kurz durch den Raum – eine alte Angewohnheit, um sicher zu gehen, dass niemand lauschte. „Wir, also unsere Hacker, wie beispielsweise Tim, manipulieren die Karten der Stadt, kurz bevor sie gedruckt werden. So werden Straßen umgeleitet oder herausgenommen, die ins Viertel führen.“
„Und das fällt niemandem auf? Was passiert, wenn jemand von der anderen Seite in die Stadt will?“
„Es gibt eine Umleitung. Baustellen ... du verstehst?“ Der Dieb grinste. Baustellen veränderten sich manchmal jahrelang nicht. Umleitungsschildern wurde einfach gefolgt. Wer dachte schon darüber nach? Kameras sorgten dafür, dass Fußgänger früh genug gesehen wurden und eine falsche Streife fing ungebetene Besucher ab.
„Unglaublich.“ Staunend schüttelte Kei den Kopf und ihr silbernes Haar warf das helle Licht zurück.
Kilians Züge hellten sich auf, als er sich an das Treffen mit Linda erinnerte. Er hatte sie bereits gesehen. Schicksal?
Ach was, sagte er sich. An so einen Humbug hatte er noch nie geglaubt.
„Also Kei, sag: Was führt dich hierher?“ Interessiert lehnte Tim sich auf die Knie und musterte Kei mit seinen braunen Augen genau. Kilian wusste, dass seinem Blick nichts entgehen würde.
Sie ließ sich Zeit mit ihrer Antwort, als würde es ihr schwer fallen, darüber zu sprechen. Er konnte es ihr nachfühlen. Verschwiegenheit war ihr Lebenselixier. Umso überraschter war er, als sie schließlich antwortete. „Ich möchte mir ein Zuhause aufbauen, glaube ich.“ Sie senkte den Blick und begann, das Etikett der Bierflasche abzuzupfen. „Ich bin seit Jahren unterwegs. Ich lebe in meinem alten Ford, darin befindet sich alles, was ich habe und alles, was ich brauche. Ich wollte immer nur Freiheit – nicht zu wissen, wo ich morgen sein würde.
Als ich von der Stadt der Diebe hörte, wusste ich, dass ich, falls ich jemals irgendwo leben wollte, hier einen Rückzugsort finden würde. Also bin ich noch ein, zwei Jahre weitergereist wie bisher. Aber der Gedanke an diese Stadt ließ mich nicht los.
Und jetzt bin ich hier.“
„Was hoffst du, hier zu finden?“, fragte Tim geradeheraus.
Kei lächelte. „Ich weiß es nicht. Ich will es nicht wissen. Ich lasse es einfach auf mich zukommen.“
„Was hast du bisher so getrieben?“, wollte nun Kilian wissen.
Ihre braunen Augen wanderten zu ihm und blitzten auf. „Ich erzähle von mir, wenn ihr von euch erzählt. So läuft das doch, oder?“
Kilian runzelte die Stirn, gab jedoch nickend nach. „In Ordnung. Fang an.“
Sie hatte es eben doch faustdick hinter den Ohren, bemerkte er stumm. Wie passend.
„Kurz gesagt: Ich bin eine Diebin. Da ich alleine arbeite, muss ich jedoch weit mehr sein. Ich bin mein eigener Informant – jedenfalls die meiste Zeit über. Ich bin ein Trickbetrüger, wenn es die Umstände erfordern, und Fälscher.“
„Ein guter?“
Sie verzog das Gesicht und schien ihre Coups abzuwägen. „Passabel.“
„Dafür haben wir Reno“, entgegnete Tim. „Konkurrenz sieht er nicht gern. Er ist ein bisschen eigen. Aber der beste Fälscher weit und breit. Wenn die Bezahlung stimmt“, fügte er leise an.
„Was stiehlst du?“ Neugier brandete in Kilian auf. Wie immer, wenn er jemanden kennenlernte, wollte er ein möglichst umfassendes Bild in möglichst kurzer Zeit haben. Als Kei nur abwinkte, seufzte er beinahe enttäuscht.
„Geld, Diamanten, Schmuck, Papiere, Fahrzeuge, Elektronik, Kunstgegenstände ...“, zählte Kei auf. „Einfach alles, was nicht niet- und nagelfest ist.“
Genau wie er. Wenn er sich seine Jobs selbst aussuchte. Kilian nahm einen großen Schluck Bier und bemerkte missmutig, dass es bitter schmeckte.
Die Aufträge, mit denen er sich über Wasser hielt ... nein, das war einfach lächerlich.
Er spürte Tims Blick auf sich und sah kurz auf. Der wissende Ausdruck ließ ihm die Schamesröte ins Gesicht schießen.
Er war brillant. Leider lebte er es viel zu selten aus. Vielleicht ... er sah zu Kei hinüber, die entspannt mit Tim über einen ihrer vergangenen Jobs plauderte. Vielleicht änderte sich das jetzt. Er wusste nicht warum, doch ihn ließ der Gedanke nicht los, dass ihn mit Kei etwas verband.
Dabei war er sonst so rational. Wenn er nicht gerade wütend auf irgendetwas war.
Als er seinen Namen hörte, sah er verwirrt auf: „Was?“
„Du bist dran.“, wiederholte die Diebin. „Wer bist du, Kilian?“
„Ich bin ein Dieb, wie du. Außerdem führe ich gelegentlich Aufträge für andere aus. Ich bin also nicht so unabhängig wie du.“
„Macht das jeder so?“
„Nein. Es gibt viele, die nur ihre eigenen Coups planen. Ob zusammen mit anderen, oder allein, ist egal. Aber andere, wie ich, nehmen von anderen Aufträge an. Sie sind gut bezahlt und meist leichtes Geld.“ Er rechtfertigte sich für sein Verhalten. Als er es bemerkte, beendete er seine Ausführungen sofort und wies stattdessen zu Tim. „Ich arbeite viel mit Tim zusammen. Er ist Informant und Hacker. Außerdem ein Fälscher im Bereich Technologie.“
Der Angesprochene neigte zustimmend den Kopf.
„Wie lange kennt ihr euch schon?“ Als Tim überrascht die Brauen hochzog, lächelte Kei. „Man merkt es euch an.“ Ein wehmütiger Ausdruck schlich über ihr Gesicht, so schnell, dass Kilian sich nicht sicher war, ob er es sich nur eingebildet hatte.
Er dachte zurück. „Müssten so um die zehn Jahre sein.“
„Länger.“, meinte Tim. Er schürzte die Lippen. „Eigentlich kennen wir uns seit der Grundschule. Aber Kilian war ...“
„Ein Rowdy“, gab der Dieb zu. „Und du ein willkommenes Opfer.“
Kei grinste: „Kaum vorstellbar.“
Tim verdrehte die Augen: „Was kann ich dafür? Ich war einfach immer schlauer, als all die Spätzünder.“
„Ich war kein Spätzünder!“, rief Kilian empört aus. „Ich war einfach anders als du.“
„In vielerlei Hinsicht, du Weiberheld.“
„Du warst doch immer nur neidisch.“
„Du träumst!“ Tim stellte die leere Bierflasche energisch auf den Tisch. „Ich brauchte nur keine weibliche Aufmerksamkeit, um mein Ego aufzupolieren.“
Kilian schnaubte und wollte eben zu einer unhöflichen Erwiderung greifen, als ihn Keis Kichern innehalten ließ. „Die Geschichte muss ich hören!“
„Ganz einfach: Der Rowdy gerät immer in Schwierigkeiten. Ich gebe zu, ich habe Tim und die anderen Schlaumeier nicht immer ...“, er suchte händeringend nach dem richtigen Wort, „... fair behandelt.“
„Entschuldigung angenommen“, warf Tim ein.
„Wie gnädig. Jedenfalls geriet ich ständig in Schwierigkeiten, bis ich einmal zu weit ging.“
„Was ist passiert?“, fragte Kei neugierig.
Kilian musste lachen. Sowohl über seine Plumpheit von damals und die Dummheit, die hinter seiner Aktion gestanden hatte. „Ich wollte meine Schulakte stehlen, um die Verweise zu reduzieren und konnte der Versuchung nicht widerstehen, mich in die Computer einzuloggen und ein wenig Unfug zu stiften. Ich kannte mich ziemlich wenig mit Technik aus und nun ja ... Sie haben es natürlich herausgefunden und wollten mich von der Schule werfen – und wer hätte mich nach dieser Aktion schon noch an seiner Schule geduldet?“
„Wenn du überhaupt noch an eine öffentliche Schule gedurft hättest.“, bemerkte Tim trocken.
Der Dieb nickte. „Also wendete ich mich an den einzigen, der mir einfiel: Tim, das Genie. Ich wusste, er konnte gut mit Computern umgehen und bat ihn um Hilfe.“
Kei beugte sich staunend vor. „Und du hast einfach ja gesagt?“
„Natürlich nicht. Besonders nicht, da ein Halbstarker, der mich immer nur beleidigte, plötzlich von mir abhängig war. Und besonders freundlich hat er auch nicht gefragt.
Ich schlug ihm einen Deal vor“, erzählte der Informant, „ich würde ihm helfen, wenn er mich in Zukunft in Ruhe lassen würde. Sonst würde ich all seine Noten und Zeugnisse manipulieren.“
„Der kleine, drahtige Kerl drohte mir!“, empörte sich Kilian. Seine grünen Augen funkelten amüsiert. „Das hat mir ganz schön Angst gemacht.“
„Ich sagte ihm, dass ich immer wisse, wo er sein würde und was er täte. Wenn ich also noch einmal wegen ihm leiden müsste, würde ich sein Leben zur Hölle machen.“ Zufrieden verschränkte Tim die Hände und musterte Kilian schmunzelnd. „Er hat mir geglaubt.“
„Während ich hinter Tim stand und er meine digitalen Spuren verwischte, dachte ich, dass wir ein ziemlich gutes Team abgeben würden. Ich hatte uns unbemerkt in die Schule und die Räume gebracht und er erledigte den Computerkram. Der Gedanke ließ mich nicht los, also sprach ich ihn darauf an.“
„Wir waren beide kein unbeschriebenes Blatt mehr, mit unseren fünfzehn Jahren.“
„Glaube ich gern“, meinte Kei.
„Wir freundeten uns also an, drehten einige krumme Dinger zusammen ... und heute sitzen wir hier.“, schloss Kilian. Er dachte gern an ihre ersten Jobs zurück. An das berauschende Gefühl, wenn sie erfolgreich nach Hause gegangen waren und die Beute in ihren Händen gehalten hatten. Die Überlegenheit, die Unantastbarkeit, all diese Gefühle hatten ihn beinahe süchtig gemacht.
Ihre Coups wurden immer komplexer, ihre Fähigkeiten wuchsen und irgendwann waren sie in aller Munde gewesen.
„Möchtest du die Stadt sehen?“, fragte Tim plötzlich.
Keis Gesicht hellte sich auf. „Gerne!“
„Nimm deine Sachen mit“, schlug Kilian vor. „Hier kannst du nicht bleiben. Nicht nach deinem glanzvollen Auftritt. Jim würde dir das Zimmer zwar geben, aber ...“
„Nicht, solange Dennis noch hier wohnt“, beendete Kei seinen Satz. Sie nickte. „Ich verstehe.“
„Du kannst bei mir unterkommen. Ich habe ein Gästezimmer“, bot Kilian ihr an. „Morgen finden wir eine eigene Bleibe für dich. Sofern du hier bleiben möchtest.“
„Natürlich will ich“, sagte sie hastig. „Vielen Dank. Ich wüsste nicht, wo ich sonst hin sollte.“
Kilian winkte ab, stand auf und legte einen mehr als ausreichenden Geldschein auf den Couchtisch. „Keine Ursache. Lass uns gehen, es gibt viel zu sehen.“
Sie kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Obwohl das Tuelmer Viertel genau wie tausend andere Viertel aussah, die sie bereit gesehen hatte, gab es so viel mehr zu sehen. Es begann damit, dass sie dachte, die herbstlichen Bäume würden bunter strahlen, der Himmel wäre weniger grau und die Häuser würden nicht ganz so dreckig wirken.
Sie lernte jedoch weit interessantere Dinge über die Stadt der Diebe. Am Ende ihrer kurzen Tour erkannte sie Informanten, Dealer und Schleicher an den Ecken und in den Cafés.
Wie sie erfuhr, waren Schleicher so etwas wie Informanten. Sie sammelten Gerüchte, Geheimnisse und Fakten entweder, um sie zu verkaufen oder um sie an ihren Boss weiterzuleiten. Oder sie streuten falsche Informationen oder ließen Gerüchte ersterben. Wollte man etwas in Erfahrung bringen, sollte man zuerst einen Schleicher besuchen. Kilian nannte ihr die Namen von zuverlässigen Schleichern, um ihr Ärger zu ersparen.
Sie nahm sich vor, wie Kilian einen eigenen Schleicher anzustellen, sobald sie sich einen Ruf erarbeitet hatte. Wie sie jedoch schnell erkannte, war ihr Ruf ihr vorausgeeilt. Viele Menschen erkannten sie, trotz ihrer mittlerweile kurzen, gefärbten Haare, und sprachen sie auf einige ihrer berühmtesten Coups an. Die meisten bewunderten ihre Vorgehensweise, andere gaben ihr Ratschläge und einige wenige zeigten ihren Hohn über Keis Ankunft in der Stadt offen.
Es gab immer die, die sich für besser als andere hielten, dachte Kei.
Kilian zeigte ihr die wichtigsten Routen aus dem Viertel hinaus und wieder hinein. Er wies sie auf kaum sichtbare Zeichen auf den Schildern hin, die die direkten Wege verbanden. Für sie hatte es ausgesehen, als wären die Schilder rostig gewesen. Sie schalt sich für ihre Naivität und bewunderte zugleich die unauffälligen Kommunikationswege.
Neben dem Nirgendwo gab es zahllose Kneipen, die jedoch allesamt kleiner und spezialisierter waren. In den meisten hielten sich die Banden auf, und Kilian riet ihr, diese zu meiden, besonders, da ihre Ankunft für solchen Aufruhr gesorgt hatte.
Als es Abend wurde, schwirrte Kei der Kopf und sie saß erschöpft auf dem Beifahrersitz. Kilian hielt neben dem Nirgendwo und Tim kletterte von der Rückbank. „Ich habe noch etwas zu erledigen“, meinte er nach einem Blick auf seine Uhr. „Warte nicht auf mich. Wir besprechen den Rest morgen.“
Kei wusste, dass diese Worte an Kilian gerichtet waren und schwieg. Sie beobachtete Tim, der in der Reihenhaushälfte neben dem Nirgendwo verschwand. „Wo ...“, setzte sie an, doch Kilian kam ihr zuvor: „Die Zimmer sind im Haus gegenüber. Man erreicht sie auch über eine Tür im zweiten Stock im Nirgendwo. So jedoch wird man nicht gesehen.“
„Hier ist wirklich alles auf irgendeine Art und Weise durchdacht worden“, bemerkte sie. Ungläubig schüttelte sie den Kopf.
„Wir sind nicht nur ein dreckiges Volk, sondern auch durchtrieben. Sonst hätten wir es nicht solange hier ausgehalten“, gab Kilian zurück. Sein Blick fiel auf den roten Ford im Rückspiegel. „Das ist all dein Hab und Gut?“
Kei drehte sich um und betrachtete ihren Wagen mit einem wehmütigen Lächeln. „Ja, das ist alles.“
„Wo ist deine Beute?“
„Gut versteckt oder angelegt. Oder hast du deine Trophäen etwa Zuhause unter dem Teppich, wo sie jeder finden kann?“
„Nein“, gestand er. „Kann ich es sehen?“
„Was?“, fragte sie verwirrt. Sie begegnete seinem offenen Blick.
„Dein Zuhause.“
„Klar“, meinte sie überrascht.
Er grinste spitzbübisch. „Folge mir in deinem Wagen zu mir, dort kleben nicht so viele Gesichter an den Scheiben.“
Kei fuhr herum und bemerkte einige neugierige Besucher im Nirgendwo, die interessiert zu ihnen hinaus spähten. Kopfschüttelnd stieg sie aus.
Sie musste vorsichtiger sein. Ohne Kilian wäre ihr das nie aufgefallen. Seufzend ließ sie sich in ihren Wagen fallen und scherte hinter dem Dieb aus, um ihm zu folgen.
Sie war es nicht gewohnt, da sie sich sonst keine Gedanken darüber machen musste, erkannt zu werden. Sie war einfach nie lange genug an einem Ort geblieben.
Es gab vieles, das sie ändern musste, dachte sie. Kei packte das Lenkrad fester und bog in eine Seitenstraße ab. Vor einem Haus mit einer eisernen Treppe an der Front hielt Kilian an. Er fuhr weit genug in die Einfahrt hinein, dass sie hinter ihm parken konnte. Grünpflanzen und kleine Büsche säumten den Eingang zur Treppe und sie musterte die weiße Fassade neugierig.
Kilian kam beinahe lautlos auf sie zu und sie riss sich aus ihren Gedanken los. Mit unverhohlenem Stolz klopfte sie auf das Wagendach. „Willkommen in meinem bescheidenen Zuhause. Alles selbst umgebaut.“
Anerkennend zog Kilian die dunklen Brauen hoch und ging einmal um den Ford Escort herum. Er musterte die Karten, die noch auf dem Beifahrersitz lagen und die zusammengelegte Decke auf dem Rücksitz.
Kei öffnete währenddessen den Kofferraum und zog ihr Bett heraus: ein einfaches ausklappbares Bettgestell, mit einer dünnen, aber umso weicheren Matratze. „So schlafe ich unter den Sternen. Im Winter kann ich einfach die Sitze umklappen, aber meistens habe ich dann in einem Hotel geschlafen. Ist einfach zu kühl“, fügte sie schulterzuckend an.
Interessiert öffnete Kilian den kleinen Schrank, in dem sich eine ebenfalls ausziehbare Herdplatte und Geschirr befanden. Daneben befand sich ein sehr kleiner Kühlschrank mit den kläglichen Resten ihrer Reise. Dann fiel sein Blick nach oben und er lächelte. „Clever!“ Er zog ein Buch aus einer schmalen Lücke, die sich unter dem Wagendach befand – ein sehr behelfsmäßiges, schmales Regalfach. Darin hatte sie auch ihren Laptop und einige Dokumente verstaut.
„Und ... kleidungstechnisch?“ Kilian wies auf den Seesack, der vor dem Beifahrersitz auf dem Boden lag. „Ist das alles?“
„Nicht ganz.“ Kei öffnete die Seitentür und klappte dann die Sitzbank nach oben. Darunter befanden sich neben Kleidung auch Handtücher, ihre Kosmetikartikel, Schuhe und eine zweite Decke. Ihre Werkzeuge waren in versteckten Fächern in den Rückenlehnen verborgen.
„Wahnsinn“, platzte es aus Kilian heraus. Der Dieb wirkte beeindruckt. Er trat einen Schritt zurück. „Wie lange hast du so gelebt?“
„Seit ich zwanzig bin. Es dauerte eine Weile, ihn umzubauen und mir alles nötige beizubringen. In die Werkstatt kann ich damit nicht.“
„Ach ...“, grinste Kilian. „Warum nicht?“
Kei schmunzelte, als sie seine Zähne im Zwielicht aufblitzen sah. Erst jetzt fiel ihr auf, dass es schon dunkel wurde. Sie waren den ganzen Nachmittag und Abend unterwegs gewesen. Auch Kilian schien es zu bemerken, denn er winkte sie heran. „Lass uns reingehen. Wir bestellen uns was. Ich bin am Verhungern.“
Kei sammelte rasch ihre wenigen Dinge ein, die sie diese Nacht brauchen würde, einschließlich ihres Laptops – sicher war sicher. Kilian sprang die Stufen leichtfüßig hinauf und sie folgte dem drahtigen Dieb hinauf. Er ließ ihr den Vortritt und sie trat in einen großen Wohnbereich. Achtlos warf sie ihren Seesack neben das Sofa und sah sich um.
Eine große, schwarze Sofagarnitur dominierte den Raum, von der aus man auf einen ziemlich großen Fernseher sehen konnte. Kei musterte das Ambiente neidisch.
Plötzlich wünschte sie sich, auch ein solches Reich zu besitzen. Der Stich, der durch ihr Herz fuhr, überraschte sie und sie lenkte sich ab, indem sie durch das Wohnzimmer schlenderte. Regale säumten die Wand zwischen zwei deckenhohen Fenstern, ansonsten waren nur Wandregale im Zimmer zu sehen. Ein dunkler Tisch mit dazu passenden Stühlen stand in der Ecke gegenüber des Sofas.
Durch einen offenen Durchgang gelangte man in die kleine Küche, die ganz in Grün gehalten war. Sie lächelte, überrascht von diesem farbenfrohen Raum. Das Wohnzimmer wirkte dagegen regelrecht trist, obwohl zwei Wände in einem satten Rot gestrichen waren.
Kilian führte sie durch einen schmalen Flur zum Gästezimmer. „Beachte das Chaos bitte nicht“, fügte er entschuldigend an und wies auf einen überquellenden Schreibtisch.
„Ihr plant einen neuen Auftrag, nicht wahr?“, sagte sie, während sie den Raum in Augenschein nahm. Über dem Bett hing ein großes Gemälde. Sie ging darauf zu und musterte die Pinselstriche und die dicken Farbschichten.
„Das ist ein Pollock. Und ein echter noch dazu“, stellte sie fest.
Grinsend lehnte Kilian am Türrahmen und nickte, als sie ihm einen Blick über die Schulter zuwarf. „Gut erkannt.“
Nur mühsam konnte sie aufhören, das Gemälde anzustarren und folgte Kilian dann seufzend zurück in den Flur. Die Geschichte dahinter interessierte sie brennend. Aber nun wollte sie nicht allzu neugierig erscheinen.
„Da hinten findest du das Bad.“ Kilian deutete auf eine Tür zu ihrer Linken. „Daneben ist mein Schlafzimmer und das Büro, in dem ich meine Schandtaten plane.“
„Es ist sehr gemütlich“, murmelte Kei. „Danke nochmal.“
„Ach was, keine Ursache.“ Kilian fegte seine Stiefel in eine Ecke und ließ sich dann mit einem Seufzen aufs Sofa plumpsen. Er sprang jedoch sofort wieder auf: „Wo sind nur meine Manieren?“, stöhnte er. „Möchtest du etwas trinken? Noch ein Bier?“
„Gern.“
Kei wartete geduldig, während sie auf das Klappern in der Küche lauschte. Jetzt fiel ihr auf, dass Kilians Wohnung ein wenig unaufgeräumt war und sie musste zugeben, dass es zu dem Dieb passte. Es wirkte einladend und bewohnt und sie fühlte sich sofort wohl. Zufrieden machte sie es sich etwas bequemer auf dem weichen Sofa und streifte ihre Sneakers ab. Im Gegensatz zu Kilian stellte sie die beiden Schuhe jedoch ordentlich nebeneinander und schob sie beiseite, sodass niemand darüber stolpern konnte.
Ihre Mutter wäre stolz auf sie, dachte sie mit einem Grinsen.
Sie hatte nie Schwierigkeiten gehabt, neue Leute kennen zu lernen. Dass es ihr diesmal jedoch so schnell gelang, ließ sie innehalten. Nie hatte sie zu jemandem so schnell einen Draht gefunden.
Früher hatte sie sich immer zurückgehalten. Hatte nie gesagt, was sie wirklich dachte, weil sie sich stets unverstanden gefühlt hatte. Und dann war sie so viel gereist, dass sie nie wirkliche Freunde gefunden hatte. Sicher, sie hatte einige gute Bekannte, mit denen sie auch weiterhin Kontakt pflegte, aber als Freunde würde sie niemanden bezeichnen.
Vielleicht würde sich das nun ändern. Jetzt, wo sie einen festen Platz finden wollte. Jetzt, da die Menschen, die sie traf, auch Teil ihres Lebens werden konnten.