Die Stadt der gläsernen Träume - Linda Rottler - E-Book
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Die Stadt der gläsernen Träume E-Book

Linda Rottler

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Beschreibung

Was ist Realität, was ist Traum? Nevyas Träume sind für sie so real wie das echte Leben. Mehr noch, dort fühlt sie sich zu Hause. Dort hat sie Freunde. Dort weiß sie etwas mit sich anzufangen. Anders als in der Realität. Doch plötzlich ist ihre Fantasie wie ausgelöscht. Jemand hat ihre Träume gestohlen und ihr den Weg zurück in die Traumwelt versperrt. Bei der Suche nach ihren Träumen gerät Nevya in einen Strudel aus Geheimnissen, Verrat und Verbrechen – und lernt auf schmerzhafte Weise, welche Macht Albträume haben.

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Linda Rottler

Die Stadtder gläsernen Träume

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Dieses Buch handelt nicht von Träumen.

Es handelt von der Fähigkeit zu träumen.

Prolog

Für andere endete der Tag im Schlaf. Für Nevya begann das Leben im Traum.

Nur dort fühlte sie sich wach, erst dann hatte sie wirkliche Kontrolle.

Ihre Hand schwebte allmächtig über dem kleinen Pflänzchen, das die Blätter hängen ließ.

»Nicht mehr lange«, sagte sie ihm und hob die Finger höher. Als würde der blassgrüne Stängel an Fäden hängen, erzitterte die Pflanze.

Seit sie klein war, spielte Nevya lieber mit Träumen statt mit Puppen. Lieber hauchte sie ihren Gedanken Leben ein, statt sie an die Realität zu verschwenden.

»Was immer du denkst, geschieht«, versprach eine tiefe Stimme hinter ihr.

Kurz ließ Nevya von dem Pflänzchen ab und sah über ihre Schulter. Die Flügeltür zum Balkon war geöffnet und draußen auf dem hellen Stein erstrahlte ihr Traumbild im Mondlicht. Wann immer Nevya ihn sah, blieb ihr die Luft weg und ein kleines Erdbeben erschütterte ihre Traumwelt.

Nevya schnaubte und ließ sich auf die Knie nieder, damit sie näher bei ihrer Pflanze sein konnte, dann erst antwortete sie Nikolai.

»Du musst nicht immer gleich alles aussprechen, was dir in den Sinn kommt.«

»Das sind deine Gedanken«, erkannte Nikolai und schoss einen Pfeil aus reinem Licht in den Himmel, »ich bin nur ihr Nachhall.«

»Du bist ein kryptischer Spinner.«

Sie lachte. Er lachte, weil sie lachte. Für einen Moment sah sie ihm zu, wie er immer wieder auf die gigantische Galaxie zielte und wie der Pfeil immer wieder in der Dunkelheit verschwand. Manchmal zeichneten Träume wirre Bilder.

Nevya schenkte ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Blume. Sie befahl ihr, sich aufzurichten. Eine blaue Blüte formte sich an der Spitze des Stängels, der in Windeseile wuchs, und schon bald entfaltete sie sich so stolz wie die Träumerin selbst.

Für andere bedeutete Schlaf Ohnmacht.

Für Nevya bedeuteten ihre Träume Macht. Sie war die Herrscherin über diese Blüte. Lächelnd stellte sie die Pflanze auf die Fensterbank und sah auf die Menschenmasse nieder, die ihr zu Ehren eine Parade feierte und auf die Königin wartete.

Dicht über dem Publikum flogen Drachen aus Perlmutt, zwischen ihnen schwebten Laternen aus Lava. Der Gesang von tausend Singvögeln drang an Nevyas Ohr. Sie stieß ihren heißen Atem aus und sah hinauf in den Nachthimmel. Nichts war unmöglich.

Durch den Gesang der feiernden Vögel zischte immer wieder ein Pfeil.

»Wird das heute noch was?«, wollte sie von Nikolai wissen und gesellte sich zu ihm auf den Balkon. Vor ihr kräuselte sich der Dachvorsprung der Pagode und legte den Blick auf das Farbenmeer frei.

»Ich bin unzuverlässig«, erklärte Nikolai und spannte den Bogen elegant. In seinen dunklen Augen spiegelte sich die Galaxie. »Manchmal treffe ich, manchmal nicht.« Mit einem Ächzen ließ er los – und traf nicht. Seufzend senkte er den Bogen.

»Lass mich mal.« Nevya stieß ihn Hüfte an Hüfte zur Seite und nahm ihm den Bogen ab. Sie sah auf ihre leere Hand, blinzelte und schloss die Finger um den Pfeil, der aus einem Gedanken entstanden war. Im wahren Leben wusste sie nicht, wie sie mit einem Bogen umgehen musste, um ihr Ziel zu treffen, doch hier war es egal. Die Gedanken fühlten sich richtig an, also würde es ihr gelingen.

Sie kniff ein Auge zusammen, zielte auf die glühende Mitte der Galaxie und schoss.

Es regnete Sterne.

Nevya trat in ihr Licht, lehnte sich auf die Balustrade und empfing den Jubel ihres Volkes.

Hier war sie zu Hause. Erhaben auf dem Balkon ihrer Pagode, mit Nikolai im Rücken und der Welt zu ihren Füßen. Sie streckte beide Hände aus und sandte Funken zu den Sternen, die sich glitzernd über ihre Welt ergossen. Knisternd wechselten sie ihre Farbe und explodierten wie ein Feuerwerk.

Mittlerweile röhrte die Menge so laut, wie Nevya es zuließ, und spiegelte die Freude wider, die Nevya beim Anblick all der Farben empfand.

Tanzt, befahl sie, tanzt für mich.

Und die Menge tanzte für ihre Königin.

Für die Göttin der Traumbilder.

1

»Guten Morgen!« Die hohe Frauenstimme holte Nevya aus dem Tiefschlaf. Ihre Lider schienen zu ächzen, als sie sie mühsam öffnete, während die Sensoren an ihrem Körper ziepten und ihr wieder bewusst wurde, wo sie war.

»Wir werden deinen Schlaf nun auswerten. Der Oberarzt kommt später persönlich vorbei.«

Die Schwester, die die Vorhänge aufriss und Nevya Frühstück anbot, war dieselbe wie am Abend zuvor. Nevya lehnte ab und war noch immer schlaftrunken, als die Schwester die Sensoren entfernte. Währenddessen ging ihr nur ein Gedanke durch den Kopf: Es war eine weitere traumlose Nacht gewesen.

»Wissen Sie etwas?«, flüsterte Nevya neugierig. Jetzt, wo die Ergebnisse feststanden und es nur noch galt, sie zu interpretieren, wurde sie nervös.

»Nein«, lachte die Schwester. »Du musst dich noch etwas gedulden.« Mit diesen Worten entfernte sie den letzten Sensor und verließ den Raum.

Geduld klang mittlerweile wie ein Fremdwort. In den letzten Wochen hatte Nevya brav auf ihre Träume gewartet. Nach der ersten traumlosen Nacht hatte die Sorge sich noch in Grenzen gehalten, doch mit jeder Nacht, die sie Nikolai vermisste, war die Sehnsucht größer geworden. Und mit ihr die Angst.

Nevyas Herz wurde schwer, also beschloss sie, sich umzuziehen und sich schon einmal auf die Abreise vorzubereiten. Viel einzupacken hatte sie zwar nicht, doch sie musste sich irgendwie die Nervosität aus dem Kopf schlagen.

Sie hatte auf eine Nacht im schlafmedizinischen Zentrum von Great Shell bestanden, auch wenn sie von sämtlichen Ärzten nur belächelt wurde. Es war ihr egal. Etwas stimmte nicht.

Nevya hatte sich Mühe gemacht, ihren Eltern zu verheimlichen, wo sie an diesem Wochenende übernachten würde, und eine Freundin erfunden, die sie zu einer Pyjamaparty eingeladen hatte. Ohne Umschweife hatten ihre Eltern es ihr abgekauft. Im schlimmsten Fall dachten sie, dass sie an irgendeinen Zwölftklässler mit lichter Oberlippenbehaarung ihre Jungfräulichkeit verlor. Aber diese Sorge würde ihre Eltern nur sanft im Nacken kitzeln, bevor sie sie über ihrem Papierkram wieder vergaßen. Ihre Eltern mochten Nevya nicht kennen, dafür kannte Nevya sie.

Als sie eben ihre fertig gepackte Tasche auf dem Bett abstellte, wagte sich der Oberarzt ins Zimmer.

»Guten Morgen.« Er schüttelte mit kräftigem Griff Nevyas Hand. Hinter ihm betrat ein junger Assistenzarzt den Raum und lauschte dem Gespräch.

»Nun denn, Miss …« Mit einem geübten Blick suchte er in ihrer Krankenakte nach ihrem Namen. »Miss Hale. Die Analyse hat ergeben, dass …« Er stockte und blätterte in der Akte herum. Waren drucksende Ärzte je ein gutes Zeichen gewesen?

»Was?«, fragte Nevya und bemerkte, dass auch der Assistenzarzt verwirrt von der Reaktion des Oberarztes war.

»Miss Hale«, verkündete dieser ernst und bedachte sie mit einem besorgten Blick, »wir konnten keine einzige REM-Phase in Ihrem Schlaf aufzeichnen.« Ein dumpfer Schlag in ihren Magen verhinderte, dass Nevya etwas sagen konnte. »Das ist ungewöhnlich. Wir könnten Sie eine weitere Nacht hierbehalten, um sicherzugehen.«

»Das wird nicht nötig sein«, unterbrach Nevya ihn. »Ich habe es mir schon gedacht.«

Als würde er es dadurch besser machen, erklärte der Arzt: »Wie Sie vielleicht wissen, geht der REM-Schlaf mit Träumen einher.« Erneut blätterte er wild durch ihre Akte und war so darin vertieft, dass seine Stimme zu einem Murmeln wurde. »Diese Aufzeichnungen sind sehr verdächtig. Ich wage zu behaupten, dass Sie nicht träumen, nicht im Geringsten. Das ist ein Jammer, ich habe eine solche Akte schon lange nicht mehr gesehen.«

Nevya nickte wie in Trance und spürte den dicken Kloß, der sich in ihrem Hals bildete. Sie würde nicht weinen.

»Sie haben …« Nevya musste sich räuspern, um ihre Fassung zu bewahren. »Sie haben schon mehrere solcher Akten gesehen? Dann können Sie es behandeln?«

Ihr Arzt starrte sie beunruhigend lange stumm an.

»Wir sprechen hier von Träumen.« Er ließ das Klemmbrett sinken und sah Nevya verständnisvoll an. Und doch wurde sie das Gefühl nicht los, dass er ihr noch immer nicht auf Augenhöhe begegnen wollte. »Wir können Ihnen kein Medikament gegen Traumlosigkeit verschreiben. Wir wissen nur, dass keiner unserer Patienten mit einer ähnlichen Akte je wieder geträumt hat. Aber wieso – das ist uns nach wie vor ein Rätsel. Trotzdem gibt es keinen Grund zur Panik. Sie sind völlig gesund.«

Nevya unterdrückte ihr Schluchzen und schnalzte nur müde mit der Zunge. Ihr Arzt hätte genauso gut gar nichts sagen können.

Gesund. Nevya war nur gesund, wenn sie in ihrer Pagode saß, sich mit Nikolai unterhielt und ihre Welt unter Kontrolle hatte.

»Wenn ich Sie fragen dürfte, Miss Hale …« Die hohe Stirn des Arztes lag in Falten. Nervös knetete er sein Klemmbrett. »Hatten Sie je Kontakt mit illegalen Substanzen?«

Sie wusste, worauf er hinauswollte. Hatte sie mit Drogen experimentiert und ihren Traumverlust selbst verschuldet?

Nevya hörte sich selbst lachen. Wie sollte sie schon auf die schiefe Bahn geraten? Ihre einzigen Freunde waren ihre Träume gewesen. Da war niemand, der sie in den Abgrund zerren konnte.

»Nein. Aber ich habe, verdammt noch mal, meine Träume verloren. Vielleicht sollte ich damit anfangen.«

Der Arzt holte tief Luft. Ein Atemzug, der Nevya alles verriet, was er dachte. Dass sie tatsächlich nur süchtig und seine Aufmerksamkeit an sie verschwendet war.

Völlig gesund.

Ihr Arzt schrieb Träumen längst keine so große Bedeutung zu wie Nevya. Keiner hier tat es, obwohl sie sich im schlafmedizinischen Zentrum von Great Shell befand. Wenn sie hier auf taube Ohren stieß, würde sie es überall.

»Im Moment können wir nichts für Sie tun, außer zu warten. Aber sobald ich mehr weiß …«

Nevya konnten dem Arzt nicht mehr zuhören. Nikolai war tot. An seiner Stelle würde sie für den Rest ihres Lebens nur diese Müdigkeit begleiten. Sie würde sich damit abfinden müssen, dass nichts mehr so sein würde, wie es gewesen war. Dass sprichwörtlich eine Welt – in Nevyas Fall sogar Millionen Welten – unwiederbringlich in der Versenkung verschwunden waren.

Sie bekam kaum mit, wie der Arzt sich von ihr verabschiedete.

»Dürfte ich dich nach draußen begleiten?«, fragte sie der Assistenzarzt.

Mit glasigen Augen, immer noch darauf bedacht, keine ihrer Tränen zu zeigen, zuckte Nevya die Schultern. Ungelenk griff sie nach ihrem Rucksack und folgte dem jungen Arzt auf wackeligen Beinen aus dem Patientenzimmer.

Auf dem Gang rauschten Menschen hektisch an ihr vorbei und bliesen ihren Fahrtwind in ihr Gesicht. Das hier war die Realität, in der sie feststeckte. Sie versuchte, gemütlich zu wirken, mit ihren honiggelben Wänden, aber letzten Endes war sie voller fleißiger Bienen, die zustachen, wenn man ihnen zu nahe kam.

»Wo kommst du her?«, fragte der Assistenzarzt freundlich.

Eine Schwester stieß versehentlich gegen ihre Schulter und nahm sich nicht die Zeit, sich zu entschuldigen.

»Great Shell«, antwortete Nevya und keuchte vom Zusammenstoß. All die Eindrücke überwältigten sie. Sie wünschte sich zurück in ihren Kopf zu der Parade aus Traumbildern, über die sie herrschte. Hier hatte sie nichts unter Kontrolle. Die Menschen berührten sie, redeten auf sie ein – und sie konnte nichts dagegen tun.

»Aus welchem Viertel von Great Shell?« Allmählich klang die Stimme des Arztes fern. Gleich würde der Schwindel sie zu Boden zerren. Erst als sie sich zwang, stehen zu bleiben und sich an die Wand zu lehnen, spürte sie ihren Puls in ihren Schläfen.

»Ich komme aus Brigestia«, antwortete sie und rieb sich die Stirn.

Das Murmeln einer Gruppe Patienten drang an ihr Ohr. Sprachen sie tatsächlich von verlorenen Träumen? Sie musste allmählich durchdrehen. Ihr entging dennoch nicht, wie der Arzt sie mit verschränkten Armen ansah.

»Sei so gut. Geh nach Prawnhill. Dort wirst du Hilfe finden.« Freundlich lächelte der junge Arzt sie an. Es war das erste nette Gesicht seit Langem. Und doch zischte sie nur abschätzig.

Sie war vielleicht jung, aber doch nicht dumm genug, sich in dem verrufenen und gefährlichsten Stadtviertel Great Shells herumzutreiben. Doch noch bevor sie ihm das an den Kopf werfen konnte, sprach er weiter: »Wenn du jemals wieder träumen willst, geh nach Prawnhill.«

2

»Ich bin wieder zu Hause«, verkündete Nevya.

Die Stille antwortete. Enttäuscht, aber keineswegs überrascht glitt ihr Blick durch die leere Wohnung. »Aber wen interessiert’s?«, murmelte sie vor sich hin.

Wie konnte eine Wohnung, in der drei Leute lebten, dermaßen leer aussehen? Noch nie waren ihr die vielen kümmerlichen Schränke aufgefallen, die keine Funktion hatten, außer hübsch auszusehen. Seufzend schlenderte sie in die Küche und füllte ein Glas mit Wasser, das sie in einem Zug trank. Auch hier waren die Schränke leer. Was immer man zum Leben brauchte, war zwar vorhanden, aber etwas Entscheidendes fehlte. Leben. Die ganze Wohnung war steril. Kein Wunder – ihre Eltern waren selten da. Aber auch Nevya verbrachte wenig Zeit hier. In ihren Träumen war es viel schöner gewesen. Das Glas drohte, aus ihrer Hand zu fallen, als die Gewissheit wieder in ihren Bauch boxte: Sie würde nie wieder träumen. Ihre Traumwelt war ihr manchmal so real wie das Leben erschienen und nun sah selbst der Staub auf den Regalen unecht aus. Wie gerne hätte sie jetzt in Nikolais Augen geschaut und ein Picknick im Schatten ihrer Pagode genossen.

Mit einem Kloß im Hals stürmte Nevya in ihr Zimmer, riss ihre Schublade auf und kramte alle Zeichnungen heraus, die sie finden konnte. Sie war eine miserable Zeichnerin und es gelang ihr nicht, die Gänsehaut auf Papier zu bannen, die ihre Träume ihr bescherten, aber in diesem Moment schenkte sie den amateurhaften Bleistiftstrichen ein Lächeln. Nikolais braune Augen blickten sie liebevoll an.

Nikolai, dieses klarste aller Fragmente ihrer Träume. Nevya hatte ihn zuerst gezeichnet, dann hatte sie ihn in ihren Tagträumen erscheinen lassen und schließlich – eines Nachts – war er in ihrem Traum aufgetaucht, als Personifikation ihres Unterbewusstseins. Das beste aller Werkzeuge, um klarzuträumen. Keiner hatte ihr je mehr über sich selbst beigebracht. Sie konnte ihren Träumen nicht einfach nachweinen und aufgeben. Sie musste eine Möglichkeit finden, zurück in ihre Traumwelt zu gelangen. Sie war es Nikolai schuldig.

Eine Träne fiel auf die Zeichnung und versickerte langsam, als es plötzlich an der Tür klingelte. Nevya zuckte zusammen und rieb sich über die Augen. Es klingelte ein weiteres Mal. Sie konnte jetzt keine Menschen ertragen und wartete darauf, dass der Eindringling verschwand. Aber das dritte Klingeln hallte dermaßen einsam durch die Wohnung, dass sie sich aufraffte und fluchend auf den Knopf der Gegensprechanlage drückte.

»Hier ist Ryan«, meldete sich eine gelangweilte Stimme. »Mister Olson will, dass ich dir die Hausaufgaben gebe und dich auf den neuesten Stand bringe. Du hast übrigens nicht viel verpasst. Nur dummes Geschwätz – aber dafür ist Mister Olson ja bekannt.«

Großartig. Von allen Menschen dieser Welt war es ausgerechnet ihr Chemiepartner Ryan.

Ryan, der Außenseiter, der sich zu Beginn des Schuljahres direkt neben sie gesetzt und sie einfach nicht in Ruhe gelassen hatte – wodurch sie zwangsweise zur Zusammenarbeit im Labor verdonnert waren.

»Woher hast du meine Adresse?«

Die drängendere Frage war wohl, warum Ryan Manzano hier auftauchte, obwohl ihm nichts lästiger war als Laborarbeit. Vielleicht suchte er nur wieder nach jemandem, dem er seine Märchen erzählen konnte. Märchen, von denen er überzeugt war, dass sie stimmten, und mit denen er nur zu gerne den Unterricht störte.

»Hab Lauren gefragt.«

Manchmal vergaß Nevya, über wie viele Ecken man sich auf der Highschool kannte. Bevor sie in ihre Träume verschwunden war, war Lauren ihre einzige Vertraute gewesen. Nun flanierte sie als beste Freundin von Ryans Verflossener Allison über den Schulhof.

»Jedenfalls«, fuhr Ryan fort, »darf ich reinkommen?«

Nevya trat von der Sprechanlage weg und drehte sich um. Sicher, es war hölzern hier drinnen. Aber es war immer noch ihre Festung. Außerdem war Ryan jemand, den man mied, denn um seine Vergangenheit kursierten die wildesten Gerüchte. Nevya schluckte.

»Wir haben Handwerker hier«, behauptete sie.

»Okay.«

Nevya konnte das Zucken seiner Schultern förmlich hören, als er sagte: »Bei einem Spaziergang lässt es sich ohnehin besser quatschen.«

Nevya biss fest die Zähne zusammen. Es war nur ein Spaziergang. Ein Spaziergang mit einem Mitschüler. Und dennoch verkrampfte sich ihr gesamter Körper bei der Vorstellung, hinaus auf die Straße zu treten und sich mit anderen Menschen zu unterhalten. Doch je unerträglicher die Stille in der Wohnung wurde, desto deutlicher spürte sie, wie schnell ihr Herz klopfte.

Vor Jahren war Ryan mit dunkel geschminkten Augen auf dem Schulhof herumgelaufen und ihre Mitschüler hatten erzählt, dass er sich mit zwielichtigen Gestalten in Prawnhill herumtrieb. Seit der Assistenzarzt ihr nicht mehr als diesen rätselhaften Hinweis gegeben hatte, kreisten ihre Gedanken immer wieder um das berüchtigte Stadtviertel.

Nevya holte tief Luft, denn was sie nun wagen würde, verlangte einen riesigen Schritt aus ihrer Festung hinaus auf den Asphalt.

Der Oktober peitschte kalt in ihr Gesicht, als sie aus der Tür trat. Sie strich sich die roten Locken aus den Augen und erwiderte Ryans Blick.

»Kaffee?« Ryan hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und wippte fröhlich auf den Sohlen. Er lächelte schief. Er lächelte immer schief. Nevya wusste nicht, was sie antworten sollte, aber immerhin hielt sie dem Blick seiner algengrünen Augen stand. So genau hatte sie ihn nie betrachtet, aber jetzt trübten ihre Tagträume die Sicht nicht mehr. Seine chaotischen braunen Haare und die karamellfarbene Haut waren nicht mehr zu übersehen.

Unwillkürlich kaute Nevya auf ihrer Unterlippe. Ausgerechnet jetzt wurde ihr klar, dass er recht ansehnlich war. Das würde die Sache noch schwieriger machen.

Eingeschüchtert sah Nevya nach links und rechts.

»Du hättest einfach anrufen können.«

»Ich habe deine Nummer nicht.« Lässig kickte er einen Kronkorken vom Bürgersteig.

»Du hättest eine Mail schicken können.«

»Das ist nicht mein Stil.« Ein leichtes Grübchen zeigte sich, als er lächelte.

Der Oktoberwind wehte ihr eiskalt ins Gesicht und Nevya gefiel der spärliche Abstand zwischen ihnen nicht.

»Also geht es um die Hausaufgaben?«, fragte sie.

»Sicher«, antwortete er.

Sie glaubte ihm nicht – und willigte dennoch ein, sich von ihm zu seinem Lieblingscafé am Soladesplatz führen zu lassen, von wo aus die romantischen Gärten des Shellparks nur einen Katzensprung entfernt waren. So machte man das doch, wenn man jemanden um Ratschläge bitten wollte?

Brigestias Straßen waren wie immer von Leben erfüllt und dennoch beherrschte das Viertel eine gewisse Ruhe. Nicht umsonst nannte man Great Shell die Stadt der Träume. Während New York die Stadt war, die nie schlief, galt Great Shell als das schlafende Gegenstück dazu.

Ryan bot an, ihren Kaffee zu bezahlen, doch sie lehnte ab. Statt sich ins Café zu setzen, beschlossen sie, einen Spaziergang im Park zu machen. Nevya suchte krampfhaft den richtigen Abstand zu Ryan und strich sich nervös die Ärmel über die kalten Hände. Sie betrachtete die hohen Fassaden der Häuser, deren Fensterfronten den grauen Himmel spiegelten. Schon bald machten die Gebäude einem gigantischen Stadtpark Platz. Das warme Farbenspiel des Herbstes beruhigte Nevyas Sinne. Neben ihnen rauschten die großen Brunnen mit ihren verspielten Fontänen und in der Mitte thronte das Wahrzeichen von Great Shell.

Ryan quasselte und zählte chemische Vorgänge auf, die auf Nevya allesamt gleich nichtssagend wirkten. Neugierig beobachtete sie ihn von der Seite, stellte ihn sich in Prawnhill vor. Aber sie sah nur das, was er war: der Außenseiter, der es irgendwie geschafft hatte, eine Cheerleaderin an Land zu ziehen.

Nevya musste sich für jedes einzelne ihrer Worte überwinden: »Ich habe gehört, du warst früher in Prawnhill unterwegs.«

Ryan nippte an seinem Kaffee und gab sich unbeteiligt. Gespielt ahnungslos blinzelte er sie an.

»Sie sagen, es sei eine verträumte Gegend. Ist das … ist das so?«, stammelte sie und wandte sich ab.

»Nevya, ich weiß, dass du mich seltsam findest.« Mitten auf dem Kiesweg hielt Ryan an und stellte sich vor Nevya, um auch sie zum Anhalten zu bewegen. »Das tut jeder.« Kampfeslustig kam er näher.

Nevyas Schultern hoben sich unwillkürlich. Obwohl sie allein waren, war seine Stimme ein leises Murmeln, als er verriet: »Aber ich habe in Prawnhill viel gelernt. Hauptsächlich habe ich gelernt, mich so weit wie möglich davon fernzuhalten.«

Nevya fröstelte, als sie sah, dass seine Hand zitterte. Die Leute erzählten sich immerzu von den vielen Verrückten, die in diesem Stadtviertel ihr Unwesen trieben. Der Hauch seines Parfums machte ihr bewusst, wie verdammt nahe er vor ihr stand. Räuspernd stolperte sie ein paar Schritte rückwärts und setzte sich auf eine der kühlen Parkbänke, von denen aus man direkt auf die Great Shell sehen konnte.

Stille legte sich über sie. Nicht die dröhnende Stille ihres jämmerlichen Apartments – eine brodelnde Stille. Dank Ryan waberte ein Geheimnis zwischen ihnen und Nevya geriet in Bedrängnis.

Gerne hätte sie etwas erwidert. Ihr war bewusst, wie unsicher sie wirken musste, aber die Worte steckten fest.

»Ich dachte, wenn wir schon einen Spaziergang machen, könnten wir uns ja auch näher kennenlernen«, sagte sie und schnappte nach Luft, weil sie nicht wusste, ob sie das wirklich wollte. Sie senkte ihren Kopf.

Auf ihren Schläfen spürte sie seinen stechenden Blick. Sekunden verstrichen.

»Schön«, unterbrach Ryan endlich die Stille. »Es gäbe da eine Sache, die du über mich wissen solltest: Ich bin nicht meine Vergangenheit.«

»Notiert.«

Sie hörte das sanfte Zischen seines Atems, als er seine Haltung lockerte und sich neben sie auf die Bank setzte. Ansonsten waren nur die fernen Straßen zu hören, die sich mit dem Rauschen der Springbrunnen vermischten.

Für eine Weile betrachteten sie beide nur das Wahrzeichen der Stadt, um das die Brunnenanlage aufgebaut war. Der gewundene Fels, der sich wie ein Schneckenhaus in den Himmel bohrte. Einhundert Meter hoch ragte der steinerne Strudel aus der Erde. Mit seiner außergewöhnlichen Form zog er seit Tausenden von Jahren die Faszination der Menschen auf sich. Nevya spazierte selten durch den Shellpark und noch seltener hielt sie inne, um der Great Shell Beachtung zu schenken. Etwas an ihrem Anblick beruhigte sie plötzlich. Sie holte tief Luft.

»Man sagt«, begann Ryan, »dass Alben das Ding gebaut haben.«

Nevya löste den Blick nicht von der Spirale. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Ryan seine Märchen auspackte.

»Alben?« Langsam fiel Nevya das Sprechen wieder leichter. »So etwas wie … Elfen?«

»Manche vergleichen sie mit Elfen, manche mit Kobolden.« Ryan zuckte die Schultern. »In ihrer Intelligenz sollen sie den Menschen in nichts nachgestanden haben. Ich meine, sieh dir die Great Shell an. An ihr ist nichts natürlich. Sie ist eine perfekte Spirale. Wie ein Relikt eines längst vergessenen Volkes.«

»Alben.« Nevya konnte nicht aufhören, die Windungen der steinernen Spirale mit ihrem Blick zu verfolgen. »Das klingt märchenhaft«, hauchte sie.

»Man sagt, die Albenkönigin hat die Alben aus der Sklaverei befreit.« Wie ein Großvater, der in Nostalgie schwelgte, erzählte Ryan von den Mythen. »Die Menschheit hatte die Alben versklavt. Für ihre Freiheit hat die Albenkönigin sich geopfert und ihr zu Ehren wurde die Great Shell gebaut.«

Nevya konnte sich nur mit Mühe davon abhalten, ihre Lippen zu lecken, so schmackhaft klangen die Märchen durch Ryans vibrierende Stimme.

Vorsichtig nuschelte sie: »Ich wette, das hast du in Prawnhill gelernt.«

»Kennst du die Geschichten über die Mahre?«, fuhr Ryan fort. Seine Stimme war tiefer, warnender.

Wie von einem kühlen Windhauch erfasst zuckte Nevya zusammen und schüttelte den Kopf.

»Nachtmahre sind finstere Alben. Quälgeister, die Albträume auslösen.«

Ryan hatte ein Bein angewinkelt und saß seitlich auf der Parkbank, ein Arm ruhte lässig auf der Rückenlehne. Als Antwort auf Nevyas verdatterten Gesichtsausdruck legte er den Kopf schief und zeigte seine Zähne, doch das Grinsen erreichte seine Augen nicht.

»Klingt unheimlich«, hauchte Nevya.

»Findest du? Dann solltest du dich wirklich von Prawnhill fernhalten.«

Sie hatte sich geirrt, mit seinen Märchen konnte Ryan ihr nicht helfen. Auf diese Weise würde sie nichts über Prawnhill lernen.

»Wieso interessierst du dich überhaupt für Prawnhill?«, fragte Ryan.

»Nur so«, sagte Nevya ausdruckslos.

»Suchst du etwa nach einer Ausrede, um dich mit mir zu unterhalten?« Sein forscher Annäherungsversuch raubte ihr die Worte. Nevya wurde warm. Automatisiert schüttelte sie ihre Haare über die hohen Wangenknochen, um die Röte zu verbergen. Selten wurde Nevya Aufmerksamkeit geschenkt, erst recht nicht auf so eindeutige Art und Weise. Das war Menschenkontakt auf hohem Niveau – sie war noch nicht bereit dafür.

»Von wegen«, lachte sie.

Eine Wand aus Tränen trübte ihren Blick. In ihrem Zuhause hallten ihre eigenen trostlosen Gedanken wider und hier draußen war sie schlichtweg überfordert. Als Ryans Handy klingelte, versuchte sie den Kloß in ihrem Hals herunterzuschlucken. Ryan nahm den Anruf entgegen, tauschte ein paar spanische Worte mit seinem Gesprächspartner aus und legte auf.

»Ich muss los«, sagte er und stand auf. »Eins noch.« Ryan hob einen Finger und hielt in seiner Bewegung inne. »Warum warst du heute nicht in der Schule?«

Nevya schluckte abermals.

»Ein Freund von mir ist gestorben«, krächzte sie tonlos.

»Scheiße«, murmelte Ryan scharf und schürzte entschuldigend die Lippen. Er ging wenige Schritte nach links und nach rechts, wirbelte mit seinen Schuhen den Staub auf dem Kies auf, nur um sich dann erneut neben sie fallen zu lassen. Er streckte eine Hand aus, als wollte er mit seiner warmen Handfläche ihre verkrampften Fäuste bedecken, doch noch bevor Nevya entscheiden konnte, ob sie das wollte, nahm er sie zurück. Der Schreck über seine kleine Bewegung kam erst im Nachhinein, als Nevyas Herz etwas schneller schlug.

»Wenn du jemanden zum Reden brauchst …«, begann er stattdessen. Unbeholfen kramte er in seiner Hosentasche und zog einen Zettel heraus, den er Nevya übergab. Ohne ihre Haut auch nur zu streifen.

Nevya entfaltete den Flyer und überflog die geschwungenen Buchstaben. Irgendeine Veranstaltung der Indigo Society, die am kommenden Wochenende stattfinden sollte, wurde darauf angepriesen.

Nevya grinste. Indigo war ihre Lieblingsfarbe.

»Ich brauche noch eine Begleitung, also, falls du Lust hast …«

Alles in Nevya wollte Nein sagen und weglaufen. Aber mittlerweile saß Ryan so nahe, dass sie die Wärme spürte, die durch seine Lederjacke nach außen drang.

»Ich werde es mir überlegen.«

3

Jetzt, da sie es aus ihrer Festung geschafft hatte, wagte Nevya sich nicht mehr hinein. Sie musste sich irgendwie von der Leere in ihrem Kopf ablenken und schlenderte durch Brigestia, bis die Sonne unterging.

Aber in der Kälte, die die Dunkelheit nach sich zog, fragte sie sich bloß, was sie hier eigentlich suchte.

Plötzlich nahm sie ein bläuliches Flimmern wahr. Es war das Türschild einer Bar und es leuchtete in ihrer Lieblingsfarbe. Nevya las den Schriftzug. Die Bar hieß Spectrum und die gedämpften Klänge aus dem Inneren klangen nach Ablenkung. Ohne zu zögern, trat Nevya ein und blinzelte in die Schwarzlichter an der Decke. Sie schob die Kapuze ihres Pullovers vom Kopf und schüttelte ihre rot gefärbten Haare aus.

Die Bar war rappelvoll. Nur einen Platz am Tresen konnte sie ergattern. Ein dicklicher Barkeeper fragte, was sie trinken wolle, und Nevya wagte, ein Bier zu bestellen. Zu ihrer Überraschung fragte er nicht nach einem Ausweis, stellte das Bier lächelnd vor ihr auf den Tresen, dann verschwand er wieder zu den anderen Gästen.

Unruhig trommelte Nevya mit den Nägeln auf ihrer Flasche und studierte die Blechschilder mit den Werbemotiven, die überall in der Bar verteilt an den Wänden hingen, als sich ein Mann mittleren Alters auf dem Barhocker neben ihr setzte. Er saß entschieden zu nahe und Nevya rückte zur Seite und sah ihn skeptisch an, doch er ging nicht auf Abstand.

»Wartest du auf jemanden oder kann ich dich entführen?«, lachte er.

»Ich …«, begann sie, als eine rauchige Stimme hinter ihr sie erlöste.

»Ich bezweifle, dass sie Interesse hat. Sieh zu, dass du Land gewinnst, Steve.« Nevya fuhr herum. Eine junge Frau mit dunkler Haut und schwarzen Haaren stand hinter ihr. In ihren braunen Augen meinte Nevya eine kleine Flamme lodern zu sehen.

»Ach, das ist eine von deinen?«, antwortete Steve spöttisch und kniff seine Augen bedrohlich zusammen. »Wenn das so ist …«

Nevya machte sich auf das Schlimmste gefasst, als Steve aufstand und auf die Schwarzhaarige zuging. »Mit diesem Pack will ich sowieso nichts zu tun haben.« Damit ging er an der jungen Frau vorbei und ließ sie in Frieden.

»Danke«, sagte Nevya.

»Was willst du hier?« Die Fremde kniff die Augen zusammen.

»Wer will das wissen?«

»Zed.« Lässig ließ sie sich auf den Barhocker fallen, den Steve eben verlassen hatte.

»Okay, Zed«, wiederholte Nevya und zog den Namen in die Länge. »Warum gehst du nicht zurück zu deinen Freunden und lässt mich allein?«

Ihre Traumbilder hätten ihr umgehend gehorcht. Zeds Nasenflügel jedoch kräuselten sich abgeneigt.

»Danke noch mal.« Nuschelnd beendete Nevya das Gespräch und griff ungelenk nach ihrem Bier.

»Hey Jungs«, rief Zed und übertönte das geschäftige Summen der Bar. »Ich glaube, die Neue hier mag euch nicht.«

In der Nische neben dem Tresen war ein Rascheln zu vernehmen und zwei Männer traten aus der Dunkelheit. Ein muskelbepackter Hüne mit stoppeligem blondem Haar und breiter Nase und ein unscheinbarer Kerl mit krausen braunen Locken und bequemer Figur. Neben dem Riesen sah er verdammt jung aus.

»Das sind Cee und …«

»Lass mich raten – Ypsilon?«, unterbrach Nevya, darauf bedacht, ihre Nervosität zu verstecken.

»Declan«, stellte sich der junge Mann vor. Überrascht blinzelte Nevya ihn an. Nicht nur war er der Einzige, der sich nicht mit einem Buchstaben vorgestellt hatte, er war auch der Einzige, der nett guckte.

»Also …«, begann Nevya, irritiert von Declans und Cees Anwesenheit. »Kann ich euch irgendwie helfen?«

»Hast du einen Namen?«, wollte Zed wissen und zeigte ihre strahlenden Zähne. Nevya lehnte sich unschlüssig zurück.

»Na ja …«, stammelte sie.

»Hast du einen Spitznamen?«, korrigierte Zed und ließ ihre Fingernägel ungeduldig auf dem Tresen trommeln.

Cee schlug sein Glas energisch auf den Tresen und bedachte Zed mit einem verurteilenden Blick, bevor er sich abwandte und genervt nuschelte: »Du bist unmöglich.« Dann verzog er sich in seine Nische. Zed sah ihm nur schulterzuckend hinterher.

Eine neue Identität mit neuem Namen gefiel Nevya besser. So konnte sie sich trotz Gesellschaft ein Stückchen Anonymität bewahren. »Du kannst mich Vy nennen.«

»Gut, Vy.« Triumphal klatschte Zed in die Hände. »Ich werde dir jetzt einen ausgeben und dann wirst du mir erzählen, was du hier suchst.« Voll Tatendrang streckte sie ihren Zeigefinger aus und deutete direkt auf Nevya. Diese schüttelte überrumpelt den Kopf.

»Danke, ich habe schon etwas«, sagte sie zwar, doch da war Zed schon von ihrem Hocker aufgesprungen und dem Barkeeper hinterhergelaufen, der am anderen Ende des Tresens beschäftigt war. Declan nutzte die Gelegenheit und trat betont langsam an sie heran. Er verschränkte die Arme auf dem Tresen und blickte starr an ihr vorbei. Durch geschlossene Zähne zischte er: »Du solltest verschwinden.«

Nevya legte die Stirn in Falten.

»Was immer Zed versucht – geh nicht darauf ein«, warnte er sie erneut.

Es war nicht zu übersehen, wie zwielichtig alle drei waren. Nevya war nicht blöd. Aber die Alternative hierzu war ein leeres Zimmer in einem leeren Apartment in einem leeren Leben.

»Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen.«

»Daran zweifle ich nicht.« Er suchte nach einem Argument, doch letzten Endes flüsterte er nur: »Geh nach Hause, Vy.«

Zed kam mit zwei Wodka mit Soda zurück und drängelte sich zwischen Declan und sie.

»Du wirst gehen und Cee helfen«, wies sie Declan kühl an.

»Zed, wie oft denn noch …?«

»Ich habe für heute genug von deinem Gejammer. Los jetzt.«

Ihre vielen Ringe klimperten, als sie Declan mit wedelnder Hand verscheuchte, nachdem sie Nevya gekonnt ein Glas zugeschoben hatte. Demonstrativ legte sie ihren tätowierten Arm auf dem Tresen ab und drehte sich zu Nevya um. Sie rollte verspielt mit den Augen. Hinter ihr formten Declans Lippen zum letzten Mal das Wort lauf, dann verschwand er vor die Tür.

Die ganze Situation war zu verlockend, um wegzulaufen. Im Moment siegte Nevyas Neugierde.

»Was ist sein Problem?«, fragte sie und deutete mit einem Kopfnicken auf die Tür, hinter der Declan verschwunden war.

Zed sah ihrerseits die Tür an, als könnte sie hindurchsehen und Declan von ihrem Barhocker aus weitere böse Blicke zuwerfen.

»Er kommt nicht damit klar, dass er für sein Geld arbeiten muss.« Schlürfend trank Zed aus dem Glas. »Also, Vy, was hast du hier verloren?«

»Wieso interessiert dich das?«

»Sieh dich doch um, Vy«, ächzte Zed und machte eine ausladende Bewegung. »Willkommen im Spectrum, der Auffangstation für Verzweifelte und verlorene Träume.«

Nevya griff unwillkürlich nach ihrem Glas mit der klaren Flüssigkeit.

Verlorene Träume.

Es war nur eine Ausdrucksweise, aber allein die Tatsache, dass Zed so beiläufig aussprach, was ihr fehlte, traf sie mitten ins Herz. Sie nippte und unterdrückte ein Würgen, dann nippte sie ein weiteres Mal. Der Alkohol schien ihren Hals zu verätzen. Unterdessen fuhr Zed fort: »Ich kenne die Klientel wie meine Westentasche. Und du passt ins Bild. Ich hab ein Näschen dafür.«

Mit der Fingerspitze kratzte Zed ihre Nase.

»Dein Näschen ist nicht so zuverlässig, wie du denkst.« Nevya nahm einen weiteren Schluck.

Feixend sah Zed ihr dabei zu, als wollte sie das Chaos beobachten, das sich durch den Alkohol in Nevyas Kopf entfaltete. Ein Rauschen fuhr durch Nevyas Körper. Die Welt geriet bei jeder Augenbewegung langsam ins Wanken. Fast schon schniefend holte Nevya Luft und stand auf. »Denn wenn das so ist, muss ich mich in der Tür geirrt haben.«

Nevya lief wie auf Sand und versuchte, sich durch die Menschenmenge nach draußen zu kämpfen. Verzweiflung hin oder her, dies war nicht der richtige Ort, um nach Ablenkung zu suchen.

»Vy!« Zeds Stimme krächzte, wenn sie laut rief. Nevya hielt in ihrer Bewegung inne.

»Komm bald wieder«, befahl Zed. »Ich habe die leise Vermutung, dass es dir guttun würde.«

Nevya konnte nur noch Zeds Profil und die blauen Schatten der Schwarzlichter, die auf ihren hohen Wangen tanzten, erkennen. Dennoch war ihre überlegene Haltung nicht zu übersehen. Leise schnaubend stolperte Nevya nach draußen.

Im Vergleich zu der Geräuschkulisse des Spectrums pfiff der Wind auf der Straße verdächtig leise. Dazwischen quetschten sich die Motorengeräusche ferner Straßen und zwei Stimmen, die sie bereits kennengelernt hatte und die durch einen nahen Hinterhof hallten.

Interessiert schlich Nevya sich an und spickte über eine Mülltonne in die Senke aus Backstein. Ihre Augen brauchten einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Erst dann sah sie die feuchten Mauern der Häuser, auf denen sich ein blaues Licht spiegelte und verheißungsvoll tanzte. Nicht irgendein blaues Licht – es war Indigoblau. Als Nevya direkt in die Lichtquelle blickte, beschleunigte sich ihr Herzschlag. Schluckend legte sie eine Hand auf ihre Brust und erforschte das Gefühl, doch sie konnte sich keinen Reim darauf machen.

Da waren nur Cee und Declan, der nervös tänzelte und mit einer hell erleuchteten Kugel spielte.

Blauer Nebel wirbelte durch das Glas.

4

»Ich verstehe dich nicht, Cee.«

Neben Declan, der nervös umhertrippelte, wirkte Cee wie ein Fels. Das genervte Knurren aus seiner Kehle konnte sie sich nur vorstellen, hören konnte sie es aus dieser Entfernung nicht.

»Sie stellt noch nicht einmal Fragen«, fuhr Declan fort. »Egal was Q-Lee sagt …« Declan klemmte die blaue Kugel unter die Achseln und schnipste mit einem Finger. »Sofort ist sie zur Stelle. Ohne Wenn und Aber.«

»Zed gibt ihr Bestes.« Sein ganzes Gesicht bestand aus Schatten und sein Tonfall ließ keine Interpretation zu.

»Davon sehe ich nichts.« Declan lachte, doch er klang nicht amüsiert. Plötzlich erwachte die grummelnde Statue neben ihm zum Leben. Cee griff nach Declans Kragen und riss ihn zu sich. Declan japste und umklammerte die Kugel erschrocken mit beiden Händen.

»Du hast das Privileg, meinen Bruder nicht zu kennen«, fauchte Cee. Von Declan vernahm Nevya ängstliches Schnauben. »Also halt den Ball flach, mein Freund.«

Genervt stieß Cee ihn von sich. Declan hustete und schüttelte seinen Kragen aus.

»Dein Bruder ist ein ganz schlimmer Finger, hm?« Declan gurrte. »Vielleicht hat Zed recht, vielleicht solltest du das Geschäft anführen und nicht Q-Lee. Eine Art Revolution …«

»Was sucht das Mädchen da?«

Nevya tauchte hinter die Mülltonne und stieß dabei gegen die Blechverkleidung, die donnernd aufschrie. Schritte näherten sich ihr, also tat sie so, als hätte sie etwas verloren.

»Mein Ohrring«, murmelte sie und tastete auf dem feuchten Asphalt. In ihrem Blickfeld erschien eine Hand. Zögernd hielt sie sich daran fest und ließ sich von Declan aufhelfen.

»Du trägst keine Ohrringe.« Er grinste wissend.

»Richtig. Ganz vergessen.« Sie war drauf und dran, einfach wortlos zu verschwinden, doch ihr Blick fiel auf die Kugel, die in seiner Hand funkelte.

»Wirklich hübsch«, sagte sie. Ihre Beine bewegten sich nicht. Declan packte sie bei der Schulter, sah sich nach links und rechts um und zog sie auf den Hinterhof, wo sie von Dunkelheit umhüllt wurden.

»Ich habe dir doch gesagt, dass du verschwinden sollst.« Allmählich klang er sauer – oder besorgt? Wie in Trance beobachtete sie das satte Blau, das in der Kugel lebhaft umherwaberte und knisternde Funken erzeugte, die beinahe blendeten. Sie glaubte, die Wärme des Lichts auf ihren Wangen zu spüren.

»Was ist das?«, fragte Nevya.

»Psst«, machte Cee und sah sich ebenfalls um. »Declan hat recht, das geht dich nichts an. Verzieh dich, Kleines.«

In diesem Moment kam ein Kerl um die Ecke, dessen Stampfen Nevya von der Kugel ablenkte. Seine Statur schüchterte Nevya bereits ein, als sie sie nur als verschwommene Silhouette wahrnahm. Durch ihn wurde der Hinterhof zu einer Sackgasse, doch da auch Cee nicht wie ein Schwächling wirkte, geriet Nevya nicht vollkommen aus der Ruhe.

»Das hast du nun davon«, zischte Declan und stellte sich schützend vor sie. »Verhalt dich einfach ruhig«, flüsterte er Nevya zu.

»Zeig her!«, rief der Mann schon von Weitem.

Mit zittrigen Fingern zeigte Declan ihm die Kugel, woraufhin der Unbekannte sie gierig von allen Seiten betrachtete. Das bläuliche Schimmern auf seinem Augenweiß verlieh seinem Gesicht einen wahnsinnigen Ausdruck. Nevya kauerte sich unbemerkt hinter Declans Rücken.

»Fabelhaft«, seufzte der Unbekannte lüstern.

»Für eintausend Dollar gehört sie dir«, sagte Cee.

Der Fremde kramte in seiner Jackentasche und zückte etwas silbern Glänzendes.

»Declan«, sprach Nevya aus Reflex und legte ängstlich eine Hand auf seine Schulter, denn der Mann richtete das Messer direkt auf Declan, welcher ihm ängstlich die Kugel überreichte.

»Bleib ruhig und gib mir die Sphäre zurück«, redete Cee auf den Mann ein.

»Ihr bleibt ruhig!«, rief der Kunde nervös. »Ihr bleibt ruhig und bewegt euch nicht, sonst werdet ihr es bereuen.« Er klang lächerlich und schwitzte. Es war faszinierend, wie schnell er sich von einschüchternd zu erbärmlich gewandelt hatte, und das nur, weil er diese Kugel so dringend haben wollte.

Behutsam ging er rückwärts und ließ die drei nicht aus den Augen. Dennoch wagte Cee es, ihn urplötzlich zu attackieren und ihm mit einer schnellen Handbewegung das Messer aus der Hand zu schlagen. Auch versuchte er nach der Kugel zu greifen, doch der Unbekannte hielt sie weiterhin eng umschlungen.

»Hol Zed«, brüllte Cee, woraufhin Declan umgehend loslief. Nevyas Hand griff ins Nichts, als sie von Declans Schulter rutschte.

Erst jetzt realisierte Nevya allmählich, was geschah, und wagte nicht, sich zu bewegen. Cee war es gelungen, seinen Gegner in die Knie zu zwingen und in den Schwitzkasten zu nehmen. Die Kugel fest umschlossen, versuchte dieser, sich zu befreien, doch dabei rutschte die Kugel aus seiner Hand – und flog. Entsetzt starrte Cee der fliegenden Kugel hinterher, woraufhin der Fremde sich losreißen und die Flucht ergreifen konnte. Nevya schrie auf, als die Kugel wenige Zentimeter neben ihr an der Hauswand zerbrach. Erschrocken schützte sie ihr Gesicht mit ihren Händen vor fliegenden Glasscherben, und als sie ihren Blick zurück auf das Geschehen richtete, konnte sie nur noch indigofarbenen Nebel wahrnehmen, der sie eingehüllt zu haben schien.

Er tanzte um ihre Finger, die sie nur noch bedingt sehen konnte, und sie konnte förmlich spüren, wie er sich um ihren Kopf legte. Ihr war, als würde der Nebel durch ihre Ohren und ihre Nase wandern und sich in ihrem Gehirn festsetzen.

Während sie zunächst glaubte, dass der Nebel geruchlos war, duftete er plötzlich nach allem, was sie je gemocht hatte. Selbst Ryans Parfum drang in ihre Nase.

Als der Nebel sich mehr und mehr verzog, wurde ihr Kopf immer schwerer. Schwindel überkam sie und sie schaffte es gerade so, sich an der Wand abzustützen. Nevya hatte das Gefühl, ihr Schädel würde platzen. Die Hand an ihrem Arm spürte sie beinahe nicht und sehen konnte sie sie schon gar nicht. Erst als Zed beunruhigt ihren Namen – ihren Spitznamen – rief, wusste sie mit Sicherheit, dass sie nicht mehr allein war.

»Vy, was ist geschehen?« Doch Nevya konnte nicht antworten.

»Cee!«, rief Zed. »Was ist hier los?«

»Der Deal ist geplatzt.«

»Geplatzt? Wo ist die Sphäre?«

Es folgte Stille. Eine Scherbe klirrte, als Zed sie hochhob und wieder fallen ließ.

»Ist sie in den Nebel getreten?« Zed schrie vorwurfsvoll.

»Ja. Es ging viel zu schnell. Ich konnte …«

»Du Idiot!«

»Beruhige dich.«

»Ich soll mich beruhigen? Du kannst froh sein, dass der Collins-Deal noch aussteht und dass der uns, verdammt nochmal, genug Geld einbringt, um deinen Scheißfehler auszugleichen!«

Langsam, aber sicher vergaß Nevya, wo oben und unten war. »Mir ist schwindelig«, warf sie daher ein.

»Ganz ruhig. Lass es einfach zu. Es wird gleich besser.« Mit erstaunlich sanfter Stimme redete Zed auf sie ein.

»Bist du sicher?«, hörte Nevya plötzlich Declans Stimme.

»Ich bin mir sicher. Sie ist das nur nicht gewohnt. Und, Cee …« Nevya spürte, wie Zed herumfuhr. »Dein Bruder interessiert sich sicher brennend dafür, was hier passiert ist.«

Stille.

»Es tut mir leid, Zed«, brachte er schließlich hervor.

Zed beendete das Gespräch an dieser Stelle und befahl Declan, Nevya zu helfen, ein paar Schritte zu gehen, doch Nevya spürte nicht, wie ihre Beine sich bewegten. Stattdessen flog und schwamm sie gleichzeitig durch eine verschwommene Welt.

Nach einer gefühlten Ewigkeit spürte sie, dass sie auf einer Matratze lag. In einer fremden Wohnung. Auch wenn ihr Herz sich nicht beruhigte, wurden ihre Augenlider immer schwerer. Bis sie sich ein letztes Mal umdrehte, bevor sie einschlief.

5

Nevya erwachte. Augenblicklich wusste sie, wo sie sich befand. Nur einen Blick auf den chinesischen Bau vor ihr genügte. Auf die geschwungenen Dachvorsprünge, die sich bis in den Himmel türmten.

Die Pagode.

Ein Rausch packte Nevya, ließ ihre Glieder kribbeln. Sie sah hinab auf ihren Körper, auf die glühenden Kleider, die sie noch nie getragen hatte – und lachte. Ihr Arzt hatte unrecht. Nevya träumte.

Sie stieg den kurzen Treppenabsatz empor, der in die Pagode führte.

Das Innere bestand aus einer einzigen Wendeltreppe, die ins Licht führte. Dahinter wartete eine unvollendete Geschichte. Mit heißem Verlangen trat sie durch den Türbogen.

Jeder Gedanke, mochte er im wachen Zustand auch noch so unbedeutend sein, wurde im Traum sofort durch ein Traumbild verkörpert. Es kostete Nevya enorme Gedankenkraft, falsche Gedanken zu unterdrücken oder umzulenken und die richtigen in passende Traumbilder umzuformen. Zweifel wurden zu Hexen, Freude wurde zu Sonnenschein. Deshalb brauchte sie ein Mantra. Ein Gedicht, das sie immer wieder aufsagen konnte, um die Kontrolle über ihre Gedanken zu bewahren. Als grelles Licht ihren Traum flutete, sagte sie zu sich:

Meine Träume gehören mir.

Ich bin die Göttin der Traumbilder. Ich erschaffe sie. Ich töte sie.

Nachts bin ich allein. Alles, was ich sehe, bin ich. Alles, was ich erschaffe, besteht aus mir.

Mein Unterbewusstsein gehört mir.

Was immer misslingt, ist selbst verschuldet.

Nevya atmete tief durch und rieb ihre Hände aneinander. Eine Geste, die sie beruhigte und im Traum verankerte. Wenige Augenblicke später verschwand das Licht und mit ihm die Pagode. Nevya fand sich umgeben von brüllenden Männern wieder, die Fracht auf eine mächtige Galeone luden, über Planken sprangen und an schmutzigen Tauen zogen. Einer von ihnen stach deutlich hervor. Dunkle Haare, dunkle Augen – Nikolai. Die ganze Umgebung wirkte neben ihm plötzlich wie unförmiger Ton, jegliche Schärfe war in ihm gebündelt. Er thronte auf dem Schiff und schrie Anweisungen umher. Als er Nevya entdeckte, hielt er inne – und mit ihm verstummte ihre gesamte Crew.

»Kapitän«, hauchte Nikolai. Mit wenigen Schritten hatte er den Landgang erreicht und war zu Nevya in den Hafen gestiegen. Alle Augen lagen auf ihnen, als er sie umarmte, sich dicht an sie schmiegte und mit ihr zu verschmelzen schien. Sie waren ein und dasselbe Geschöpf und doch hatte man sie einander qualvoll entrissen. Hier, in ihrem Traum, war sie endlich wieder mit ihrem Unterbewusstsein vereint. Ein paar Crewmitglieder applaudierten und jubelten.

»Der Kapitän ist zurück!«

Nikolai löste sich von ihr. Fürsorglich umschloss Nevya seine Wange mit ihrer Handfläche, doch eine Falte auf seiner Stirn wischte sein mildes Lächeln weg.

»Du weißt, was das bedeutet, Kapitän.«

Schnell ließ Nevya von ihm ab. Ihr Schreck setzte sich in ihrer Crew fort, sodass einer von ihnen eine Holzkiste fallen ließ, die scheppernd auf dem Boden zerbrach. Entschuldigend trat sie an den armen Mann heran und reparierte die Kiste mit nur einem Gedanken.

Nikolai hatte sie an die Realität erinnert, an die schäbige Matratze, auf der sie eingeschlafen war. An die blaue Kugel. Wenn er ahnte, was es damit auf sich hatte, so ahnte es auch Nevya.

»Ich verstehe es nicht«, klagte sie. »Aber im Moment interessiert mich die Wirklichkeit ohnehin nicht.« Sie sah sich im Hafen um. Möwen kreischten über dem türkisen Wasser der Bucht, salzige Luft blies in ihr Gesicht. Nevya meinte, die nahe gelegenen Tavernen zu hören, in denen feuchtfröhlich umgetrieben wurde. »Im Moment will ich nur eins.«

»Es genießen, was immer es ist«, vollendete Nikolai ihren Satz. Er sprang auf den Bootssteg und reichte ihr seine Hand, um sie über den Absatz zu geleiten. Gemeinsam bestiegen sie das Schiff.

Nevya füllte ihre Lunge zum Bersten voll mit Luft. Als sie sie entließ, wurde ihr Schiff von einem mächtigen Windstoß getroffen, der die Segel aufblähte und den Kurs befehligte. Nevya lehnte sich selbstgefällig auf die Reling und blickte am spitz zulaufenden Bug vorbei aufs offene Meer.

Sie konnte die Masse der türkisfarbenen Wellen spüren, die kräftig gegen die Galeone schlugen. Nevya selbst war das Meer, sie war das Segel und sie war die Crew.

Zu jedem Zeitpunkt spürte sie Nikolais wachenden Blick in ihrem Rücken.

»Du möchtest nicht darüber reden, hab ich recht?«, erriet er.

Tief horchte Nevya in sich hinein. Die Antwort war ein deutliches Nein. Was geschehen würde, wenn sie aufwachte, war nicht von Bedeutung. Endlich träumte sie wieder und sie würde diesen Moment auskosten.

»Was ist das?«

Nikolai streckte einen Arm aus und zeigte auf einen unbeweglichen Punkt auf dem Wasser. Während die Wellen auf und ab wippten, schien der Fleck unverrückbar am Horizont zu kleben. Fröstelnd kniff Nevya die Augen zusammen, um ihn scharf zu stellen. Sie hatte ein ungutes Gefühl.

Passend dazu verkündete Nikolai: »Was immer das ist – es fühlt sich verdammt fremd an.«

»Wir müssen näher heran«, befahl Nevya. Das Ding war zu weit weg, aber sie meinte, eine menschliche Silhouette zu erkennen.

Abermals holte Nevya tief Luft und pustete Wind in die Segel. Je näher sie der Gestalt kamen, desto deutlicher wurde, dass sie ein Mensch war. Ein Mensch mit kaffeebraunen, chaotischen Haaren, sonnengebräunter Haut und einem stechenden Blick. Ryan stand einfach nur auf dem Wasser und beobachtete Nevya.

Die gleiche Verwirrung, die Nevya empfand, zeigte sich auf Nikolais Gesicht.

»Ich schlafe«, sagte sie mit gesenkten Lidern zu sich selbst. Als sie die Augen wieder öffnete, war Ryan verschwunden. Sie war aus der Übung. Manchmal verwandelten sich unterbewusste Gedanken in absurde Traumbilder.

»Warum Ryan?«, wollte Nevya von Nikolai wissen.

»Das kann ich dir nicht beantworten.«

Eine Lüge. Nikolai vermochte jegliche noch so abgelegene Gehirnregion zu erreichen. Wenn er etwas nicht wusste, dann bedeutete das …

»Ich weiß es wirklich nicht, Nevya.«

Ungerührt hob Nevya eine Augenbraue. Wenn sie sich nun selbst verwirrte, würde sie aufwachen, deshalb riss sie sich zusammen. Die Zweifel malten Nebel in die Luft, der das Schiff einhüllte, bis die Welt grau war.

»Da verliert man seine Träume für ein paar Wochen«, seufzte Nevya unbeeindruckt, sah dem Wetter zu, das sich verdunkelte, und trat ans Steuerrad heran, »und schon gerät alles außer Kontrolle.«

Bisher war es ihr immer gelungen, ihre Traumbilder richtig zu deuten. In diesem Moment konnte sie nichts weiter tun, als abzuwarten. Doch plötzlich wurde die Stille durch ein lautes Krachen durchbrochen. Laut rumorend schlitterte die Galeone über eine Sandbank, verkeilte sich im Sand und kam mit einem Ruck zum Stehen. Zwar löste sich der Nebel langsam auf, doch die Ahnungslosigkeit blieb.

Nevya stürmte an die Reling und schaute sich um. Weißer Sand unter azurblauem Himmel – so weit das Auge reichte.

»Nikolai«, befahl Nevya, »du kommst mit.« Ohne sich um die Höhe zu sorgen, sprang sie zu Boden und federte sich mit einem Gedanken ab: Ich lande weich.

Mit Nikolai an ihrer Seite wanderte sie durch den Sand, bis die Nacht hereinbrach. Über ihnen glitzerte eine gewaltige Galaxie am Nachthimmel auf. Eine weitere Konstante in Nevyas Träumen, ebenso wie es die Pagode war. Nevya blickte in den Sternenstrudel und ließ sich von ihm trösten. Im selben Moment erschien eine Geisterstadt am Horizont.

Hölzerne Hütten standen windschief aneinander, durch die löchrigen Latten pfiff der Nachtwind. Die leeren Fenster schienen Nevya zu beobachten, während sie durch die Mitte der beiden Häuserreihen auf das Zentrum des Dörfchens zusteuerte, das aus einer einzigen Werbetafel bestand. Ein Aushang warnte Nevya in großen roten Lettern vor einer lauernden Gefahr. Links und rechts brannten Fackeln und ließen das Bild verheißungsvoll aufflackern. An jeder der brüchigen Hauswände klebte ein ähnliches Plakat. Darauf abgebildet waren koboldartige Wesen, die der Zeichner mit Eile aufs Blatt gekritzelt hatte. Gehörnte Kreaturen, die gehässig lächelten. Manche von ihnen sahen steinernen Wasserspeiern ähnlich. Ihre breiten Münder zeigten Reißzähne.

»Nachtmahre«, erkannte Nikolai.

»Deshalb habe ich vorhin Ryan gesehen.« Nevya zählte eins und eins zusammen. Das leere Dorf mit den Warnschildern war eine Manifestation von Ryans Warnung vor Prawnhill.

»Du willst mir doch nicht etwa sagen, dass ich an sein kleines Märchen glaube?« Nevya ballte die Hände zu Fäusten. Frust drückte auf ihr Herz und wandelte sich langsam zu Wut. Über ihre Schulter sah sie in Nikolais schuldbewusste Augen. Er senkte den Kopf und trat näher heran, um sie endlich aufzuklären.

»Das tust du, wenn auch nur unterbewusst.«

»Reiß dich zusammen.« Nevya fuhr herum und hielt drohend ihren Zeigefinger vor seine Nase. »Sonst ebnest du ihnen den Weg.«

»Den Mahren?« Das Wort hallte durch ihren Kopf und verdunkelte die Nacht um mehrere Nuancen. Wolken quollen auf und versteckten die Galaxie hinter sich.

»Nein, nicht den Mahren«, fuhr sie Nikolai an, »den Gedanken. Du weißt, wie wichtig es ist, sie in Schach zu halten. Denn wenn deine Gedanken außer Kontrolle geraten …«

Über den Himmel jagte ein Blitz. Düstere Schatten umzingelten das Dorf. Hastig blickte Nevya sich in alle Richtungen um.

Nikolai schlich sich geduckt zum Stadtrand.

Ein fauchendes Geräusch hinter ihr ließ Nevya zusammenzucken. Mit seinen Klauen riss der Schatten das Warnposter ein und blickte Nevya direkt an. Aus Schatten formte sich langsam ein insektenähnliches Gesicht mit dunkelroten Facettenaugen. Das Monster kreischte. Ein Laut, der Wellen aus eiskaltem Schauer durch Nevyas Körper schickte. Flüchten war im Traum immer eine Option, sei es, in ihre Pagode oder in den wachen Zustand. Doch Nevya dachte nicht einen Augenblick daran, aufzuwachen.