Die Stadt im Nichts - Mark Watson - E-Book

Die Stadt im Nichts E-Book

Mark Watson

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Beschreibung

Ein etwas undurchsichtiger Auftrag führt den Werbetexter Tim Callaghan nach Dubai. Bevor er weiß, wie ihm geschieht, steht er zwischen Wolkenkratzern, die inmitten der Wüste erbaut wurden, und fährt bei 45 Grad in vollklimatisierten SUVs über achtspurige Highways. Doch kaum hat er sich an seine neue Umgebung gewöhnt, wird ein Mitarbeiter seines Teams tot aufgefunden. Das Merkwürdige daran ist, dass es niemanden so recht zu stören scheint …

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Seitenzahl: 332

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Das Buch

2008: Im Jahr der Finanzkrise bekommt der Londoner Werbetexter Tim Callaghan überraschend den Auftrag, eine Kampagne für die Wohltätigkeitsorganisation WorldWise zu initiieren. Sein Vorschlag wird angenommen, und Tim findet sich in Dubai wieder, wo er die Kampagne in Gang bringen soll. Nach anfänglichem Zögern findet er Gefallen an den Vorzügen seiner neuen Umgebung: Massagen zwischen den Meetings, Fitnessstudios, in denen jedes Laufband mit einem eigenen Flatscreen ausgestattet ist, Alkoholexzesse in 5-Sterne-Hotels. Doch dann wird ein Mitarbeiter des Teams tot aufgefunden. Und Tim merkt, dass er inmitten eines bösen Spiels gelandet ist, dessen Regeln er erst zu verstehen beginnt.

Der Autor

Mark Watson, geboren 1980 in Bristol, ist Romanautor, Kolumnist, Radio- und Fernsehmoderator sowie international erfolgreicher Stand-up-Comedian. Er ist außerdem Fußball-Experte, studierter Literaturwissenschaftler und Umweltaktivist. Er ist bekannt für seine Marathonauftritte, die 24 Stunden und länger dauern. Mark Watson lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in London.

Lieferbare Titel

Ich könnte am Samstag

Rückwärtsleben

Überlebensgroß

Hotel Alpha

MARK WATSON

DIE

STADT

IM

NICHTS

Roman

Aus dem Englischen

von Norbert Jakober

Wilhelm Heyne Verlag

München

Die OriginalausgabeThe Place That Didn’t Existerschien 2016 bei Picador, an imprint of Pan Macmillan, London.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © 2016 by Mark WatsonCopyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Loel ZweckerUmschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,unter Verwendung eines Motivs von © shutterstock/MacrovectorSatz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, GermeringISBN: 978-3-641-20670-3V002www.heyne-encore.de

Prolog

»Kennen Sie das Rätsel vom verschwundenen Dollar?«, fragte der Fixer in die Runde.

Er formte mit seinen langen Fingern eine Pyramide. »Okay. Drei Gäste checken in einem Hotel ein, so wie wir hier. Macht dreißig Dollar, sagt der Typ hinterm Tresen, also zahlt jeder zehn. Später bemerkt der Rezeptionist, dass er zu viel berechnet hat – es hätte nur fünfundzwanzig ausgemacht. Er gibt dem Pagen fünf Dollar, damit der sie den Gästen zurückgibt. Fünf lässt sich schwer durch drei teilen, also behält der Junge zwei Dollar und gibt jedem Gast einen. Das heißt, jeder von ihnen hat jetzt neun Dollar bezahlt. Okay?«

Alle stimmten ihm zu.

»Und der Page hat zwei Dollar behalten. Insgesamt haben sie also drei mal neun Dollar bezahlt, macht siebenundzwanzig. Der Junge hat zwei. Wir sind aber von dreißig Dollar ausgegangen. Wo ist der eine Dollar geblieben?«

Sofort stürzten sich alle auf das Problem. Eine Frau verkündete, schon einmal von dem Rätsel gehört zu haben, erinnerte sich aber so vage an die Lösung, dass sie die anderen damit nur noch mehr verwirrte. Einer murrte, er könne Zahlenrätsel nicht ausstehen und es sei schlimm genug, dass einem heute überall Sudokus begegneten. Der Regisseur begann auf einer Serviette eine Lösung zu skizzieren. Ein anderer erzählte eine Geschichte von seinen Mathe-Problemen in der Schule. Bei einer Klassenarbeit sei er dermaßen in Panik geraten, dass er nur noch die Zahl 33 hingeschrieben habe, die ganze Seite voll. Daraufhin berichteten auch andere von ihren schulischen Misserfolgen, und die Frage des verschwundenen Dollars war schnell vergessen.

Was durchaus verständlich war; sie hatten einen langen Reisetag hinter sich, und Dubai – so viel ließ sich schon sagen – war eine Stadt, in der es tausend Dinge zu bestaunen gab. Die Luft verströmte den unvergleichlichen Duft heißer Länder. Kaum hatten sie das Flughafengebäude verlassen, wurden sie von einem würzigen Aroma umfangen, das an Urlaub und Abenteuer erinnerte, obwohl sie eigentlich hier waren, um zu arbeiten. Vor ihnen auf der Terrasse stand ein Stutzflügel, und eine Frau etwa Mitte fünfzig in einem roten Kleid erschien zusammen mit einem aalglatten Pianisten und verkündete, es sei Zeit für einen Drink oder drei – sie ließ die Bemerkung einen Moment lang wirken – und für ein paar schöne alte Klassiker.

Zudem waren sie alle hungrig und wollten etwas essen, bevor die offizielle Begrüßung begann. Immerhin wartete ein verblüffend reichhaltiges Buffet auf sie, das sich über mehrere Tische im Freien erstreckte. Die Düfte der Speisen aus verschiedenen Erdteilen vermischten sich auf appetitanregende Weise. Es dauerte zwanzig Minuten, bis sich alle Angehörigen des Teams einen Überblick über die atemberaubende kulinarische Vielfalt verschafft und ihre Tabletts gefüllt hatten. An das Rätsel des verschwundenen Dollars verschwendete niemand mehr einen Gedanken.

Vielleicht kam es dem einen oder anderen später noch in den Sinn, als tröstliches Detail, bei dem man einen Augenblick verweilte, um dem verstörenden Geschehen zu entfliehen, mit dem wir konfrontiert waren. Die von uns, die noch da waren.

Teil 1

1

Wir werden das Leben vieler Menschen verändern

Ihre Reise hatte in London Heathrow an einem Morgen begonnen, der so düster war, als würde gleich die Nacht hereinbrechen. Und nun, zehn Stunden später, das genaue Gegenteil: Die blauviolette Nacht war taghell erleuchtet. Während der Fahrt durch Dubai bestaunte Tim die von zahllosen Lichtern hervorgehobenen Formen der Gebäude, die noch viel eindrucksvoller wirkten als auf den Bildern im Internet. Eines der Hochhäuser erinnerte an eine Tulpe, von einem Kranz aus stählernen Blütenblättern gekrönt. Andere hatten pfeilförmige Spitzen, die den Himmel wie scharfe Klingen zu durchschneiden schienen. Manche Gebäude veränderten auf halber Höhe ihre Form. Die Skyline schimmerte grün und violett – Farben, die niemand erwartet hätte. Und hier in ihrer Ferienanlage waren die Bäume mit Lichterketten behängt, als würde hier permanent gefeiert. Die Wege waren von Laternen gesäumt.

Als Tim über die Köpfe der ihm Gegenübersitzenden hinausblickte, sah er in der Ferne das Burj Al Arab, das berühmteste Wahrzeichen Dubais, dessen segelförmige Silhouette von roten und blauen Lichtern hervorgehoben wurde. Wochenlang hatte er in Vorfreude auf diese Reise ein Bild des Gebäudes auf seinem Desktop gehabt. Sein Verstand hatte Mühe zu begreifen, dass er nun das echte Gebäude betrachtete. Eigentlich fühlte sich nichts hier so richtig echt an. Es erschien ihm so unwirklich, dass er morgen in einem Bett aufwachen würde, das an ein Seerosenblatt erinnerte, in einem sonnengewärmten Chalet zwischen Pools und Swim-up-Bars, während seine Kollegen zu Hause zum Bus hetzten und mit gesenkten Köpfen durch den herbstlichen Sprühregen schlurften. Er blickte in die Runde seines neuen Teams und konnte sich das Lächeln kaum verkneifen.

Christian Roper räusperte sich, um zur Begrüßungsansprache anzusetzen. Obwohl kaum hörbar, war das genauso wirkungsvoll, als hätte er mit der Gabel gegen sein Glas getippt. Die Stimmen am Tisch verstummten. »Okay«, begann er, »vielleicht ein paar kleine Formalitäten vorweg. Zuallererst: herzlich willkommen. Jo und ich – und alle anderen von WorldWise – freuen uns riesig, Sie hier begrüßen zu können. Wir haben die Chance, eine tolle Kampagne zu starten. Was heißt toll – eine geniale Kampagne. Absolut genial.«

Roper sprach mit dem eindringlichen Ton eines Politikers und suchte auf die gleiche Weise den Augenkontakt mit seinen Zuhörern, doch Tim fand, dass er dabei um einiges überzeugender wirkte als die meisten Politiker. Er verstand es immer noch, eine Verbindung zu seinem Publikum herzustellen – eine Gabe, die ihn in den Neunzigerjahren zu einer bekannten Fernsehpersönlichkeit gemacht hatte. Als er später anfing, sich für humanitäre Anliegen zu engagieren, beklagten sich Tims Eltern, sobald sein Gesicht im Fernsehen erschien, er sei »in letzter Zeit ziemlich ernst geworden«. Roper war nicht so groß, wie Tim ihn sich vorgestellt hatte, doch er war eine dieser Persönlichkeiten, die mit der Größe ihres Publikums an Statur gewannen.

»Wie Sie alle wissen, erwarten wir morgen einen Star der Extraklasse: den großartigen Jason Streng. Wir haben ein starkes Konzept.« Roper deutete auf Tim, von dem das Konzept stammte; der nahm das Lob mit einem Schauer der Genugtuung auf. »Es geht um unglaublich viel. Nie hat die Welt diese Initiative mehr gebraucht als heute. Jeden Tag hungern Menschen, sterben Kinder. Meine Damen und Herren, wir werden das Leben vieler Menschen verändern.«

Die Pause, die er folgen ließ, war genau richtig bemessen, um seine Worte bedeutungsvoll, aber nicht zu bombastisch klingen zu lassen. »Ich habe mir gedacht, dass sich alle erst einmal vorstellen. Mit ihrem Namen, ihrer Rolle in unserem Projekt und vielleicht einem interessanten Detail über sich. Der Reihe nach? Ich fange an: Ich bin Christian Roper, Gründer und CEO von WorldWise.«

»Mit-Gründer«, murmelte Jo, doch Christian sprach unbeirrt weiter. »Und mein persönliches Detail: Ich will nächstes Jahr einen Marathon laufen, habe aber ein klein wenig Angst, ich könnte zu alt dafür sein. Bitte nicht alle auf einmal, falls Sie mich überzeugen wollen, dass meine Angst unbegründet ist!« Er lachte, und seine Zuhörer lachten mit ihm, manche ein wenig bemüht.

»Jo, Kommunikationsdirektorin von WorldWise«, stellte sich Christians Frau vor, die Tim ebenfalls von der Website kannte. Wie Christian wirkte sie genauso beeindruckend wie auf den Online-Bildern, die die Ropers bei verschiedenen humanitären Projekten in Entwicklungsländern zeigten. Sie hatte die hohen Wangenknochen eines Models und auffallend dunkle Augen, die – so kam es Tim vor – direkt auf seinem Gesicht ruhten. »Leidgeprüfte Ehefrau. Und mein Detail ist, dass ich zwei amerikanische Präsidenten persönlich kennengelernt habe. Das heißt, falls Obama gewinnt. Wovon ich überzeugt bin.«

Tim dachte mit einer gewissen nervösen Unruhe an das »interessante Detail«, das er über sich preisgeben sollte. Er hatte diese Situation schon einmal erlebt, als er sich etwas unbedacht zur Theatergruppe an der Universität angemeldet hatte. Eine Kommilitonin hatte die Vorstellungsrunde genutzt, um über alte Ängste und ihre Neigung, sich selbst zu verletzen, zu sprechen, eine andere hatte ihre Minute dafür verwendet, der Kommilitonin Mut zu machen. Als Tim der versammelten Runde dann erzählt hatte, dass er Kapitän des Schachteams seiner Schule gewesen sei, hatte es sich ziemlich belanglos angehört.

Was sagst du in einer solchen Situation, wenn dein bisheriges Leben ohne herausragendes Ereignis verlaufen ist? Tim begann Leute zu beneiden, die mit einer sechsten Zehe geboren oder aus dem Koma ins Leben zurückgekehrt waren. In Gedanken erwog er verschiedene Möglichkeiten. Ich habe einen Bruder, der im Londoner Finanzviertel arbeitet, und … na ja, wir sehen ihn kaum noch. Mein Vater ist Kurator eines Miniaturdorfes. Ich habe früher Orientierungslauf betrieben und das Land bei U-16-Meisterschaften vertreten. Nichts davon erschien ihm bemerkenswert genug. Zu seiner Erleichterung ging es mit der Vorstellungsrunde in der anderen Richtung weiter – so konnte er sich erst einmal die Beiträge der anderen anhören.

Als Nächster folgte der Chef-Kameramann, ein stämmiger, freundlich aussehender Mann, der die Haare zu einer Rockabilly-Tolle frisiert hatte. Trotz der Kälte in London war er in Kaki-Shorts am Flughafen erschienen; heute trug er ein T-Shirt mit dem Schriftzug einer Science-Fiction-Serie, von der Tim vage gehört hatte.

»Miles Aldridge, Kameramann. Mein persönliches Detail ist, dass ich Das Imperium schlägt zurück von vorne bis hinten zitieren kann. Wort für Wort.«

»Ruth Lingard, ich bin die … ähm Produktionsassistentin.« Sie war eine Frau um die vierzig und hatte im Flughafenbus neben Tim gesessen. Dabei waren ihm vor allem ihre Gewohnheit, sich mitten im Satz zu unterbrechen, und ihre rote Haarfülle aufgefallen. »Ich habe einmal einen Einbrecher bei meiner Oma überwältigt und festgehalten, bis die Polizei kam.«

»Mein richtiger Name ist Ali«, verkündete der Fixer. »Mein Job ist nicht so klar definiert wie Ihrer; kurz gesagt, ich tue alles, was für das Projekt notwendig ist. Ich bin einmal auf einem Zebra geritten, obwohl das als unmöglich gilt. Ich hab auch mal Zebrafleisch gegessen. Nicht vom selben Tier.« Der Fixer grinste und rückte seinen Panamahut zurecht. Seit er sie vom Flughafen abgeholt hatte, lächelte er bei jeder sich bietenden Gelegenheit, als wäre die ganze Werbekampagne ein einziger Schabernack, von dessen Gelingen er überzeugt war.

»Raf Kavanagh, Produktionsleiter. Ich habe mit einer berühmten Schauspielerin geschlafen, bevor sie berühmt wurde. Ich will hier keine Namen nennen. Nur so viel: Sie heißt Kate und ihr Nachname reimt sich auf Dinslet.«

Die meisten lachten. Raf war nicht wie die anderen Businessclass geflogen, sondern hatte beim Check-in dank seiner Vielfliegerpunkte ein Erste-Klasse-Ticket ergattert. Er trug seine Haare mit viel Gel gestylt, und sein Hemd war mit Sicherheit teuer gewesen. Während der Fahrt zum Hotel auf der dicht befahrenen Sheikh Zayed Road hatte sein Handy geläutet, mit einem Song als Klingelton, der erst diese Woche herausgekommen war. »Ich bin in Dubai«, hatte er geblökt, während die anderen Passagiere so taten, als hörten sie nicht zu. »Ich weiß: Dubai, Alter!«

Tim fühlte sich zunehmend unwohl in seiner Haut, als die Reihe an Bradley, dem kleinen Mann zu seiner Rechten, war. Er hatte auch im Flugzeug neben Tim gesessen, eine Dose Cola Zero nach der anderen geleert und ein Buch über Stummfilme gelesen, ohne die Baseballkappe auch nur ein Mal von seinem kahlen Schädel zu nehmen. Tim hatte keine Lust gehabt, ein Gespräch anzufangen, und Bradley war es offenbar genauso gegangen, sodass sie während des gesamten siebenstündigen Fluges kein einziges Wort gewechselt hatten – eine stille Übereinkunft, mit der beide zufrieden waren.

»Bradley Ford Richards, Regisseur. Ich arbeite seit über fünfzehn Jahren in der Werbung. Ich hatte Aufträge von Budweiser, CNN, Sony und …«

»Wir wollen nur ein Detail hören, keinen CV«, fiel ihm Raf Kavanagh ins Wort.

»Wie bitte?« Der Amerikaner blinzelte überrascht.

»Lebenslauf«, erklärte Ruth. »Er meint, wir brauchen keinen Lebenslauf.«

»Ach so.« Bradley fuhr sich mit der Zunge langsam über die Lippen. »Okay.«

Er machte keine Anstalten, ein persönliches Detail hinzuzufügen. Die angespannte Pause kam Tim durchaus gelegen – so waren alle erleichtert, als er das Wort ergriff. »Ich heiße Tim Callaghan«, begann er und hörte sich selbst beim Reden zu; leider war die Hintergrundmusik verstummt – die Sängerin hatte soeben eine Pause angekündigt, nachdem sie mit etwas Mühe »The Girl from Ipanema« abgespult hatte.

»Ich arbeite für Vortex – die Werbeagentur. Ja, und mein persönliches Detail ist, dass ich schlafwandle, und auch, dass ich oft starkes Nasenbluten habe. Unabhängig voneinander.«

Trotz der launigen Schlussbemerkung zeigten die Zuhörer keine nennenswerte Reaktion, und er fragte sich, ob der Orientierungslauf nicht doch mehr Eindruck gemacht hätte. Jedenfalls war das erledigt, und Tim griff nach der Weinflasche, die vor ihm stand. Er goss sich ein Glas ein und spürte, wie ihm eine Last von den Schultern genommen war. Für einen Moment berührte sein rechter Fuß unter dem Tisch Jos linken. Er blickte zum Himmel, der verschwenderisch mit Sternen besprenkelt war, und glaubte, das sanfte Rauschen des Meeres am Privatstrand gleich unterhalb der Terrasse zu hören. Ich hab schon ein unglaubliches Glück, dachte er zum zweiten Mal in einer halben Stunde.

Aber vielleicht hatte es gar nicht so viel mit Glück zu tun. Tims Chef Stan hatte immer gesagt, dass es in ihrem Job darum gehe, Geschichten zu erzählen – und wenn sie gut genug seien, konnten sie wahr werden. Für Leute, die grundsätzlich nicht viel von Werbung hielten, mochte das hochtrabend oder dumm klingen. Tims Bruder Rod hatte die Werbebranche mit den Worten »Geld für nichts« beschrieben, obwohl er selbst einmal im Wertpapierhandel mit drei Mausklicks 50.000 Pfund verdient hatte. Doch auch wenn es einem Außenstehenden vielleicht unverdient erscheinen mochte, hatte Tim ein Recht auf seinen Stolz oder wenigstens auf dieses schöne Gefühl, etwas geschafft zu haben. Seine Idee hatte maßgeblich dazu beigetragen, dass dieses Team aus erfahrenen Leuten nun hier zusammensaß. Er hatte eine Geschichte erzählt, und sie war Wirklichkeit geworden und hatte ihn hierher nach Dubai geführt. Er musste sich zusammennehmen, um seine Teamkollegen nicht anzustrahlen wie ein Vollidiot.

Wenn Tim Monate und Jahre später auf diese Momente zurückschaute, dann so, wie man sich an ein Familientreffen kurz vor einem dramatischen Ereignis erinnert: mit ungläubigem Kopfschütteln darüber, wie wenig er und alle anderen damals wussten, und vielleicht mit einer gewissen Sehnsucht nach dieser Ahnungslosigkeit.

2

Kredit

Begonnen hatte alles im Jahr zuvor, 2007, als Tims Chef Stan ihm gesagt hatte, dass Visit Dubai zu Gesprächen nach London kommen werde – mit einem beeindruckenden Budget und einem klaren Ziel: möglichst viele Touristen nach Dubai zu locken. Eigentlich sollten die Ziele immer so deutlich formuliert sein, doch die Kunden gaben nicht gern zu, dass sie eine Werbeagentur anheuerten, um den Umsatz anzukurbeln. Viel lieber palaverten sie von »Leistungen«, vom »Etablieren der Marke« und von »Geschichten«, die rund um das Produkt zu erzählen seien. Das klang gut und war weniger peinlich, als offen auszusprechen, worum es bei einer Werbekampagne wirklich ging: dass die Kasse klingelte.

Die Vertreter aus Dubai hingegen hatten keine derartigen Hemmungen. In Diagrammen veranschaulichten sie, wie viele Touristen im vergangenen Jahr das Land besucht hatten (eine erstaunliche Anzahl) und wie viele es nach ihren Vorstellungen in fünf Jahren sein sollten (noch um einiges mehr). Ihre zentrale Botschaft – was Stan die »Take-Home-Message« nannte – lautete: Dubai ist leicht erreichbar, familienfreundlich und vor allem sonnig und warm. Wärmer als die Kanaren und sogar als Barbados, quasi mit Sonnengarantie. Ein Urlaubsort, an dem der Gast vor Enttäuschungen sicher ist. Der Auftraggeber fügte hinzu, dass man sich eine »humorvolle Umsetzung« wünsche. Tims Agentur Vortex bekam eine Woche Zeit, um sich mit der Aufgabe zu beschäftigen, und sollte die Ideen dann bei einem Mittagessen im Ivy Club präsentieren.

Obwohl seine Position in der Agentur immer noch die eines »Junior Creative« war, erhielt Tim immer öfter solche Aufträge. Erst kürzlich hatte er eine Kampagne für Yorkshire Tourism ausgearbeitet. In dem Dreißig-Sekunden-Werbespot sah man ein gelangweiltes Paar wortlos in einem kahlen weißen Wohnzimmer sitzen. Er erhielt eine SMS und beantwortete sie; sie tat das Gleiche. Ansonsten Schweigen. Das Bild wechselte zu einer prächtigen Ansicht der Yorkshire Dales, dazu die Worte: EINFACH MAL RAUS. Der Kunde war begeistert, Tim erhielt eine Nominierung für die Tourism and Travel Viral Campaign Awards, und niemand merkte, dass die Aufnahme im Spot in Wahrheit vom Peak District stammte.

Mit diesem Erfolg im Rücken wurde Tim auch damit betraut, ein Konzept für den Dubai-Auftrag zu entwickeln. Natürlich hatte er einiges über die Stadt in den Arabischen Emiraten gehört. Oft stellte sich heraus, dass bekannte Persönlichkeiten, von denen man länger nichts gehört hatte, sich nach Dubai zurückgezogen hatten. Es war ein bevorzugter Urlaubsort der Superreichen, ideal für halb-mythische Gestalten wie die Beckhams. In Zeitungsbeilagen waren Berichte über die aktuellen Turbulenzen in der Weltwirtschaft oft von Bildern der Skyline und des Sieben-Sterne-Hotels Burj Al Arab begleitet. Dennoch wurde Tim erst im Laufe seiner Recherchen für den Auftrag klar, wie reich diese Stadt tatsächlich war und dass sie ihren Reichtum nicht schamhaft versteckte, sondern bewusst zur Schau stellte. Neben den zu erwartenden Aufnahmen von sonnigen Stränden, die ihm Google Images lieferte, den Bildern von riesigen Wolkenkratzern und Glaspalästen, zwischen denen sich glücklich aussehende Leute unterschiedlicher ethnischer Herkunft bewegten, fanden sich die typischen PR-Botschaften: »Dubais kometenhafter Aufstieg ist eine der großen Erfolgsgeschichten unserer Zeit«, hieß es auf einer Website. »In Dubai sind Wunsch und Wirklichkeit dasselbe«, verkündete eine andere. Oft las man von »Ikonen der Architektur« und von Projekten, wie sie »nur ein Mal in einer Generation« verwirklicht würden. Zum Glück war es nicht Tims Aufgabe, solche Mythen zu bedienen. Er musste bloß vermitteln, dass dort immer die Sonne schien.

Er suchte im Internet unter dem Begriff »sunshine holidays« und stieß auf eine Website mit Reiseanekdoten, wo eine Frau berichtete, wie sie auf einem Ausflug mit Selbstversorgung einmal Sonnencreme in ihren Salat gerührt habe, in der Annahme, es sei Salatdressing. Die Frau gestand, sogar ein wenig davon gegessen zu haben, weil ihr »zu heiß war, um etwas anderes zuzubereiten«. Das brachte Tim auf einen Werbeslogan für Dubai: IN DIESER HITZE IST ALLES NORMAL! Tims Vorschlag zeigte Touristen, die von Sonne und Hitze auf launige Weise verwirrt waren: Sie hielten die Eistüte verkehrt herum, trugen ihre Shorts mit der Hinterseite nach vorne und versuchten, mit dem Auto im Meer zu fahren wie mit einem Tretboot. Vortex legte seine Idee vor, kam in die engere Wahl für den Auftrag und wurde zu einem Treffen mit einem Araber im makellosen Armani-Anzug geladen.

»Die Idee gefällt mir sehr gut«, begann der Mann das Gespräch. Tims Hoffnungen begannen zu schwinden.

»Ich habe nur einen kleinen Einwand«, fuhr der Mann – für Tim nicht mehr unerwartet – fort. »In dieser Hitze ist alles normal. Ich frage mich, ob die Leute, die das lesen, nicht vielleicht denken: Dort ist es zu heiß.«

Tim wusste, dass es in einer solchen Situation darauf ankam, sich der idiotischen Sichtweise des Kunden anzuschließen und gleichzeitig dagegen zu argumentieren. »Ich verstehe, was Sie meinen«, begann er, »aber wir sagen ja nicht, dass es tatsächlich zu heiß ist. Es ist einfach … eine humorvolle Übertreibung.«

Tim musste seine Idee überarbeiten und kam zu der Lösung: SO HEISS, DASS MANCHES EIN BISSCHEN ANDERS LÄUFT! In der Rückmeldung aus Dubai hieß es, der Slogan klinge immer noch ein wenig beunruhigend. Die Leute könnten denken, dass man in dieser Hitze allzu leicht den Pass verlegen oder die Reiseunterlagen vergessen könne. Tim nahm einen neuen Anlauf und vereinfachte die Botschaft: DAS MACHT DIE SONNE. Der Kunde mailte zurück, er habe »immer noch Zweifel wegen der Betonung der Sonne«, obwohl in der ursprünglichen Zielvorgabe kaum etwas anderes vorgekommen war. Tim schlug eine seichte, humorlose Variante vor, in der das Wetter gar nicht mehr erwähnt wurde. Vortex hörte eine Weile nichts, bis Visit Dubai in einer E-Mail mit Bedauern mitteilte, »einen anderen Partner für diese Reise« gewählt zu haben. Später sah Tim auf einem Plakat in der U-Bahn den siegreichen Slogan: FLIEG NACH DUBAI.

»Trotzdem«, betonte Tims Chef Stan, der allem etwas Positives abgewinnen konnte außer dem Einfluss seiner kleinen Kinder auf seine Ehe, »wir haben jetzt schon mal einigen Kredit bei diesen Leuten.«

In der Agentur war überhaupt viel von »Kredit« die Rede – einem Wort, das nicht nur ins Spiel kam, wenn man sich ein Haus oder ein Auto zulegen wollte, sondern auch, wenn es um weniger handfeste Dinge wie Respekt und Ansehen ging. Tim hatte den Eindruck, dass Wörter wie »Kredit« und »Markt« zwar sehr konkret klangen, oft aber eine ziemlich verschwommene Bedeutung hatten. Manchmal jedoch wurden sie wieder zu etwas Greifbarem. Im April 2008 traf eine E-Mail von der in Dubai ansässigen Hilfsorganisation WorldWise ein. Tim sei der Organisation empfohlen worden – von wem, wurde nicht erwähnt –, und man lade ihn ein, einen Vorschlag für einen Fernsehspot zu erarbeiten, der für Online-Spenden werben sollte. »Die Ungleichheit auf unserem Planeten ist unglaublich«, hieß es in der E-Mail. »Bis 2016 wird ein Prozent der Weltbevölkerung mehr besitzen als die restlichen 99 Prozent zusammen. Mit dem Budget für einen Fernsehstar und vielfältigen Verbreitungsmöglichkeiten suchen wir nun eine Idee, die diese extreme Statistik auf humorvolle Weise ins Bewusstsein der Menschen rückt.«

»Viel Glück beim Versuch, das humorvoll zu verpacken«, bemerkte Tims Mitbewohner Pete, als er die Vorgabe des Auftraggebers las, die Tim ausgedruckt und auf dem Küchentisch liegen lassen hatte. Pete war, wie fast jeden Abend, betrunken aus dem Pub heimgekommen. Er war Lehrer geworden, um etwas Positives in der Welt zu bewirken – stattdessen hatte der Job etwas Negatives bei ihm bewirkt.

»Ich will den Auftrag haben«, verriet ihm Tim und betrachtete zum zehnten Mal das PR-Foto unter dem Text. Es zeigte Christian Roper mit einer Schaufel über der Schulter und die schlanke, braun gebrannte Jo an seiner Seite. Die beiden schienen einen neu gebauten Brunnen zu begutachten. Unter dem Bild waren ein paar bemerkenswerte Zahlen zu lesen: die Höhe der Spenden, die WorldWise bisher gesammelt hatte, die Anzahl der Menschen, die durch dieses Geld zu Häusern und medizinischer Versorgung gekommen waren, und einiges mehr. »Das sieht nach einer großen Sache aus. Außerdem … diese Armut. Ein Prozent der Weltbevölkerung besitzt … also, das ist echt unglaublich.«

»Mmm«, stimmte Pete zu. »Ich hab übrigens ein bisschen Mayo draufgekleckert.«

Die besten Einfälle kamen Tim oft unter der Dusche oder wenn er sich die Kleidung für den nächsten Tag zurechtlegte, doch an den nächsten beiden Tagen tat sich diesbezüglich nicht viel. Je mehr er sich um Ideen bemühte, desto mehr schienen sie sich seinem Zugriff zu entziehen. Auch als er es mit einem Trick versuchte und so tat, als interessiere ihn die Sache gar nicht mehr, ließ sich sein Gehirn nicht überlisten und brachte erst recht nichts Brauchbares hervor.

Als er zwei Tage nach dem Eintreffen der E-Mail auf dem Weg in die Agentur in Shoreditch war, lief Tim an einem Mann vorbei, der in einem Türeingang hockte und ein Pappschild vor sich liegen hatte: ICH HABE HUNGER! Passanten aller Art eilten an ihm vorbei: Banker im Maßanzug, junge Männer mit Bart auf dem Weg zu ihrer Schicht als Barkeeper. Sie betrachteten den Mann und seine Bitte um etwas Kleingeld nicht mit feindseliger Ablehnung; es war vielmehr so, als wäre er gar nicht da. Als Tim ihm ein Pfund gab, fragte er sich, ob der Mann jeden Morgen hier saß und er ihn erst heute bemerkte, weil er mit der Kampagne für diese Hilfsorganisation beschäftigt war. Er nahm den Aufzug zum Großraumbüro im fünften Stock, in dem ein Künstler aus dem East End eine Aufschrift in absichtlich krakeliger Schrift unter das Vortex-Logo gesetzt hatte: VORTEX (SUBSTANTIV): EIN ORT, AN DEM DIE NORMALEN GESETZE AUSSER KRAFT SIND. Die Espressomaschinen und Kickertische verdankten wir dem Umstand, dass Stan einen Kurs mit dem Thema »Mach deinen Arbeitsplatz zu etwas Besonderem« besucht hatte. Als sich Tim an seinen Mac setzte, fragte Stan, wie er mit dem WorldWise-Projekt vorankomme.

»Ich hab’s fast«, versicherte Tim und wartete, bis Stan gegangen war, bevor er die Word-Datei öffnete, die erst vier Wörter enthielt.

An diesem Abend versuchte er Pete zu erklären, warum es ihm so bedeutungsvoll erschien, dass er diesen Obdachlosen auf der Straße gesehen hatte. »Das sind normalerweise Sachen, die man sieht und gleich wieder vergisst, oder nicht einmal bemerkt, aber es steckt etwas Tragisches dahinter. Ein Kerl, der einmal Eltern hatte, und … Zukunftspläne und so was. Und jetzt hat er keinen anderen Plan mehr, als sich mit einem Schild hinzusetzen, auf dem steht, dass er Hunger hat. Die Leute ignorieren ihn – ich meine, ich hab ihm zwar ein Pfund gegeben, aber das tu ich sicher nicht jeden Tag.«

»Er versäuft es ja doch nur«, tröstete ihn Pete.

»Würdest du auch tun.«

Pete hob die Hände, ohne auf die Bemerkung einzugehen. »Mich interessiert etwas anderes: Seit wann hast du – als Werbemensch – ein … wie sagt man …?«

»Ein soziales Gewissen?«

»Ja.«

»Ich weiß nicht.« Tim griff nach der Weinflasche, die nach ihrem Abend mit Pete beunruhigend leicht war. »Vielleicht eine verfrühte Midlife-Crisis.«

In dieser Nacht konnte er lange nicht einschlafen. Das Bild des Mannes in dem Türeingang ließ ihn nicht los. In gewisser Weise stand er für die vielen Notleidenden, von denen WorldWise sprach, und hielt Tim vor Augen, wie wenig er das Leid dieser Menschen an sich heranließ. Natürlich konnte man nicht jedem helfen, und deshalb gingen die meisten Leute achtlos an dem »ICH HABE HUNGER«Mann vorbei. Jeder sah durch seine Windschutzscheibe nur einen kleinen Ausschnitt des Geschehens, das in keinem Bezug zum eigenen Leben stand. Wenn der Laptop Ärger machte, hatte das für einen selbst genauso viel Gewicht wie ein tragisches Ereignis im Leben eines anderen. Das war oft reiner Selbstschutz gegen die Flut der Probleme, die einen umgaben. Die Welt war voller Katastrophen, die der Einzelne zumeist überhaupt nicht beeinflussen konnte. Politische Gefangene, Flüchtlinge, Hungernde. Da es unmöglich war, alles zu verändern, beschloss man irgendwann, gar nichts zu tun.

Das bedeutet nicht, dass man kein »soziales Gewissen« hat, sagte sich Tim. Es ist vielmehr normal. Ein einfacher Mensch kann die Tatsache, dass es so viel Elend auf der Welt gibt, nicht wirklich verarbeiten. Es ist – wie hatte es in dem Briefing von WorldWise geheißen? – unglaublich.

Tim tastete nach seiner Brille auf dem Nachttisch, knipste das Licht an und griff nach dem Blatt mit der ausgedruckten E-Mail. Die Ungleichheit auf unserem Planeten ist unglaublich. »Das ist es!«, rief er und hörte Pete auf der anderen Seite der Wand stöhnen. Pete kannte diese Selbstgespräche, die Tim führte, wenn ihm etwas einfiel.

Als Tim am nächsten Morgen bei strömendem Regen aus der U-Bahn-Station kam, wusste er, wie er die Werbebotschaft umsetzen würde. Das Unglaubliche glauben. Der Star des Werbespots spazierte nackt die Straße entlang, hob plötzlich ab und flog ein Stück. Die Passanten glotzten zuerst ungläubig, lernten aber schnell, mit der Situation umzugehen: Einer spendierte dem Star ein Bier, nachdem er gelandet war, ein anderer bot ihm seinen Mantel an, damit er seine Blöße bedecken konnte. Wenn wir das Unglaubliche mit eigenen Augen sehen, sind wir gezwungen, es als real zu akzeptieren – das war die Botschaft des Spots. Jeden Tag sind wir mit der extremen Ungleichheit in unserer Welt konfrontiert. Warum weigern wir uns, sie zur Kenntnis zu nehmen?

Tim schrieb drei Seiten über seine Idee und gab sie Stan, damit er sie dem Auftraggeber vorlegte. Während sich das Tourismusprojekt unnötig in die Länge gezogen hatte und am Ende doch geplatzt war, ging diesmal alles ungewöhnlich schnell. Schon nach zwei Tagen hatte Tim eine Skype-Konferenz mit Christian Roper persönlich.

Als Tim ihn auf seinem Bildschirm sah, trug Roper ein blaues Designerhemd. Sein Gesicht strahlte im gleißenden Sonnenlicht. Er saß in einer blitzblanken weißen Küche mit einer Reihe von Töpfen und Pfannen über seinem Kopf – vielleicht eine stilistische Anlehnung an das Farmhaus in Wiltshire, in dem Roper aufgewachsen war, wahrscheinlich aber eher von anderen reichen Leuten inspiriert, die ihre Luxushäuser mit rustikalem Geschirr schmückten.

Christian Roper betonte, dass ihm die Idee hinter seinem Spot sehr gefalle; er warte nur noch auf grünes Licht von seinen Geldgebern.

»Aber der größte Geldgeber«, fügte Roper mit einem schelmischen Lächeln hinzu, »bin ich selbst.«

»Dann hoffe ich, dass Ihre Gespräche mit dem größten Geldgeber erfolgreich verlaufen«, bemerkte Tim. Christian Roper warf den Kopf zurück und lachte. Tim sah erfreut, dass er mit seinem Scherz ins Schwarze getroffen hatte.

Er war es gewohnt, seine Erwartungen zu zügeln. Es gab eine Regel, die einem half, in diesem Geschäft zu überleben: sich auf nichts zu verlassen, was irgendjemand sagte, gerade wenn es besonders vielversprechend klang. Dennoch sprang in solchen Momenten eine Art innerer Erfolgsticker in ihm an. Das Ticken begleitete ihn in den folgenden Tagen im Büro, lenkte ihn von der Arbeit ab und ließ ihn, aufgewühlt wie er war, eines Nachts schlafwandeln. Er erwachte, als er gerade eine Scheibe Brot in den Toaster steckte. Mit Pete sprach er nicht weiter darüber – der hatte seine eigenen Probleme mit einem Schüler, der ein Samurai-Schwert in die Schule mitgebracht hatte –, auch nicht mit seiner Mutter, die ohnehin an der Dauerhaftigkeit seiner Laufbahn zweifelte und ihm gelegentlich Broschüren über das Jurastudium schickte. Tim wusste, wie es in der Werbebranche zuging. Es war so, wie Stan gern sagte: Das meiste im Leben passiert gar nicht.

Eine knappe Woche nach seinem Skype-Gespräch leuchtete Tims Handy auf, während er mit Pete und ein paar Freunden bei einem sonntäglichen Mittagessen in einem drei Jahrhunderte alten Pub in Clapham saß. Das Pub war vor einiger Zeit modernisiert worden, verfügte über eine beachtliche Speisekarte und einen Großbildschirm für Sportübertragungen, doch nun wurde es erneut umgestaltet, damit es wieder alt aussah. Der Anruf kam von Stan, der normalerweise nie sonntags anrief. Tims Herzschlag nahm Fahrt auf. Er ging mit dem Handy hinaus zu den Toiletten, wo das freigelegte Mauerwerk mit Sepiabildern von Industriellen behängt war, die einst in der Gegend gelebt hatten.

»Wir haben Dubai«, meldete Stan.

Tim ballte triumphierend die Faust und stieß einen kurzen Schrei aus, wie ein Tennisspieler nach einem gewonnenen Punkt. Eine Frau kam aus der Toilette, und er tat so, als hätte er geniest.

»Die Sache ist die«, fuhr Stan fort, »normalerweise würde ich selber hinfliegen. Aber du weißt ja, welchen Ärger ich zu Hause kriege, wenn ich nur mal abends länger weg bin. Louise hätte mich fast erschossen, als ich neulich nach Chingford gefahren bin; ich glaube nicht, dass sie mir den Nahen Osten durchgehen lässt.«

Tims innere Aufregung steigerte sich, da er ahnte, was als Nächstes kommen würde.

»Willst du es machen, Kumpel?«, fragte Stan.

Nach dem Anruf nahm sich Tim einen Moment, um die Nachricht zu verdauen: Er hatte Vortex nicht nur einen Riesenauftrag verschafft, sondern durfte jetzt auch noch nach Dubai fliegen, eine exotische Stadt, die er als Reiseziel nie auch nur in Erwägung gezogen hatte und die nach allem, was er gehört hatte, sensationell sein musste. Es war ihm ohnehin schon länger peinlich, dass er nicht annähernd so viel gereist war wie die meisten Leute, die er auf Partys traf und die mit Geschichten über Cancún und Kambodscha aufwarten konnten. Seine eigenen Erfahrungen als Weltenbummler beschränkten sich auf einen Sommer in Australien mit seinem älteren Bruder, eine einzige Abfolge von billigen Hotels und verkaterten Busfahrten, die ihm heute, da er kaum noch etwas von Rod hörte, furchtbar fern erschien. In etwas jüngerer Vergangenheit hatte er eine romantische Reise zu zweit nach New York unternommen, wo es mit der Liebe jedoch schnell zu Ende ging. Seine Freundin Naomi hatte im Big Apple eine Art Erleuchtung erlebt, die sie dazu bewog, in der Stadt zu bleiben, genauer gesagt, bei einem Barmann namens Moses, den sie am zweiten Abend kennengelernt hatte. Das war nun zwei Jahre her, und seither hatte Tim keine großen Sprünge mehr gemacht – weder in der Liebe noch im geografischen Sinn. Und nun – wie aus dem Nichts – das hier.

Die anderen gratulierten begeistert – vielleicht auch ein wenig neidisch –, als er an den Tisch zurückkehrte. »Weißt du eigentlich, was für ein Scheißglück du hast?«, blökte Petes Freund Duncan. »Heiliger Bimbam, Du-bai!«

»Könnte ganz nett werden«, meinte Tim bescheiden.

»Ganz nett?« Duncan schüttelte den Kopf. »Dubai ist der Hammer. Sonne satt, die Straßen blitzsauber, und wer will, kann sich jeden Abend zuschütten. Die haben dort ein Unterwasser-Restaurant, ein Sieben-Sterne-Hotel und weiß der Kuckuck was noch alles. Es gibt praktisch nichts, was du dort nicht tun kannst.«

Als Tim nun seinen ersten Abend in der Stadt Revue passieren ließ, schienen sich die Erwartungen zu bewahrheiten. Er legte die Kleidung für den nächsten Tag zurecht – ein Ritual aus der frühen Schulzeit, als er es gehasst hatte, das warme Bett verlassen zu müssen – und sah sich im Zimmer um. Über dem Bett, das mehr als genug Platz für zwei bot, hing ein Bild der neonbeleuchteten Skyline der Stadt, daneben Schwarz-Weiß-Fotos aus Dubais Vergangenheit: ein alter Falkner, ein paar Männer, die eine Dau, ein traditionelles Segelschiff, ins Wasser zogen. Ein riesiger Fernseher schien über den Raum zu wachen. DAS VILLAGE HEISST MR. CALLAGHAN WILLKOMMEN!, war auf dem Bildschirm zu lesen, dazu der Hinweis, 234 anzurufen, falls er irgendwelche Wünsche habe. Sein Badezimmer war doppelt so groß wie das in seiner Wohnung zu Hause, das Wohnzimmer war mit einem Esstisch und einer Minibar ausgestattet, und auf der Terrasse stand ein Liegestuhl bereit.

Eigentlich war es an der Zeit, Pete eine Nachricht zu schicken und ganz offen zu sagen, dass diese Reise ein Riesenglücksfall für ihn war. Aber das Bett schmiegte sich so wohlig an seinen Körper, als würde es ihn nicht mehr loslassen wollen.

3

Service

Es klopfte an der Tür. Dreimal, dann wurde ein Schlüssel ins Schloss gesteckt. Tim war es nicht gewohnt, so tief zu schlafen, und hatte keine Ahnung, wie spät es war, als er erwachte. Einen Moment lang wusste er nicht einmal, wo er war. Er rollte sich aus dem Bett und versuchte, die Jalousien zu öffnen, doch sie wollten sich nicht bewegen. Nicht einmal die Nachttischlampe ließ sich anknipsen. Tim schlüpfte in ein T-Shirt. Ein kleiner Mann stand in der Schlafzimmertür und räusperte sich entschuldigend.

»Sir, störe ich?«

»Nein, gar nicht«, antwortete Tim verschlafen, obwohl es schwer gewesen wäre, ein passenderes Wort als »stören« für das Eindringen des Mannes zu finden. »Ich wollte gerade …«

»Ich heiße Ashraf, Sir.« Der Mann trug ein grünes T-Shirt mit dem Village-Logo und einen eigentümlich gekräuselten Schnurrbart, wie ihn sich manchmal ein Kollege in Tims Agentur mehr aus Jux stehen ließ. »Wie ist Ihr Aufenthalt bisher, Mr. Callag… ähm, Callag…«

»Callaghan«, half ihm Tim. »Das G ist stumm.«

»Entschuldigen Sie, Sir … könnten Sie das bitte wiederholen?«

»Das G … also, es wird nicht ausgesprochen.«

Ashraf beschloss offenbar, das Thema nicht weiter zu verfolgen, und begann mit einem Vortrag. »Sir, aufgrund Ihrer späten Ankunft gestern war es nicht mehr möglich, Ihnen alle nötigen Informationen über das Village zu geben. Würde es Ihnen jetzt passen?«

»Ja, gern.« Tim blickte auf seine Unterwäsche hinunter. »Obwohl ich nicht ganz …«

»Vielen Dank, Sir.« Ashraf stand bereits neben dem Bett und machte sich an einem LCD-Panel an der Wand zu schaffen. »Hier können Sie die Jalousien und Lampen bedienen und das ›Bitte nicht stören‹-Schild beleuchten, falls Sie private Aktivitäten vorhaben.« Tim hockte vor seinem Koffer, um Shorts herauszusuchen, und bekam nicht viel von Ashrafs Ausführungen mit, der bereits zum nächsten Steuerpanel weiterging, das in eine Wand des Wohnzimmers eingebaut war. »Hier schalten wir Stimmungsbeleuchtung und Musik ein, falls Musik nötig ist.« Er drückte zwei Tasten, worauf mehrere Deckenspots angingen und drei Sekunden eines Dido-Songs erklangen. Beides schaltete sich aus, bevor Tim hatte erkennen können, wie es sich bedienen ließ. Ashraf demonstrierte bereits die Steuerung der Klimaanlage – er ließ sie für Tims Gefühl viel zu hoch aufgedreht – und wandte sich dann dem Badezimmer zu, während er unentwegt in seinem gepflegten, aber nicht ganz korrekten Englisch weitersprach, wie eine wandelnde Bedienungsanleitung.

»Hier hinterlassen wir Handtücher, falls Handtücher wünschen, gewechselt zu werden. Aber wir denken an die Umwelt.«

Das Finale der Führung bildete die Dusche mit ihren zehn Einstellungen, darunter »tropischer Sturm« und »Londoner Regen«. Tim verfolgte höflich, wie Ashraf Ersteres vorführte, indem er per Knopfdruck ein Donnergrollen sowie einen dramatischen Anstieg des Wasserdrucks auslöste.

Zurück im Wohnzimmer, legte Ashraf ein Formular auf den Couchtisch.

»Das ist ein Zufriedenheitsfragebogen, Sir. Hier können Sie eintragen, was bei dieser Einführung gut war und was nicht so gut.«

Seine Stimme klang fast leidend, und Tim versprach, den Fragebogen auszufüllen.

»Wünsche Ihnen einen sehr wunderbaren Aufenthalt im Village, und bitte rufen Sie 234 an, falls Sie etwas brauchen.«

Während Tim noch der Kopf schwirrte von dieser gnadenlosen Gastfreundschaft, überlegte er, was er unternehmen sollte. Es war kurz nach halb zehn. Sie würden sich erst um fünf Uhr im Büro von WorldWise treffen, um zusammen zur offiziellen Präsentation des Projekts zu fahren, bei der der Star der Kampagne, Jason Streng, und – für Tim besonders aufregend – auch sein Spot den Investoren und Medienvertretern vorgestellt wurden. Das bedeutete, ihm blieb fast der ganze Tag, um sich ein wenig umzusehen und den Aufenthalt in Dubai zu genießen. Als er sein kleines Chalet verließ, war die Luft bereits so warm, als würde er in eine Badewanne steigen.

Der Himmel war leuchtend blau, und die Sonne strahlte etwas Phlegmatisches aus, wie ein älterer Arbeiter in der zweiten Hälfte seiner Schicht. Tim ließ sich in den Liegestuhl auf der Terrasse sinken, um den Fragebogen auszufüllen, und blickte auf die Ferienanlage hinaus. Das gesamte Filmteam war in einem eigenen Bereich untergebracht, der den Namen Ocean Chalets trug. Zur Linken führte ein sanfter Abhang zum Strand und zu den Bars und Restaurants hinunter, wo sie den gestrigen Abend verbracht hatten. In der anderen Richtung lag der Mittelpunkt des Village, ein Hochhaus aus blitzendem Chrom, Centrepiece genannt. Dort hatte der Fixer sie alle eingecheckt, indem er ihre Papiere an sich nahm und die Sache mit wenigen Worten und einer beiläufigen Geste erledigte.

Tim verließ Ocean Chalets und trat zu einem Plan, auf dem das gesamte Resort dargestellt war. Er verschaffte sich gern einen Überblick, wenn er an einem neuen Ort war. Vom Orientierungslauf war ihm eine Wertschätzung für Karten und Pläne geblieben; er wusste um das tiefe Bedürfnis des Menschen, sich in seiner Umgebung zurechtzufinden. In New York hatte er darauf bestanden, den Lonely Planet-Reiseführer eingehend zu studieren, was mit Naomis Wunsch kollidierte, spontan loszuziehen und die Stadt zu erkunden. Die Folge war ein ungewöhnlich heftiger Streit gleich am ersten Tag – dem Tag bevor sie ihn gegen einen anderen austauschte.