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Nach dem tragischen Verlust ihrer besten Freundin flieht Kaya in die endlosen Weiten von Texas – weit weg von den Erinnerungen, die sie quälen. Auf einer abgelegenen Pferderanch hofft sie, den Schmerz hinter sich zu lassen und herauszufinden, was sie wirklich vom Leben will. Kaum angekommen, trifft sie auf Noah – den charmanten Sonnyboy, der mit seiner eigenen Vergangenheit kämpft. Was mit Distanz und gegenseitiger Ablehnung beginnt, wird unter dem weiten Sternenhimmel bald zu einer Ver-bindung voller Hoffnung und neuer Liebe. Als das Schick-sal erneut zuschlägt, wird ihre noch junge Verbindung auf eine harte Probe gestellt. Werden sie in der Dunkelheit ihrer Ängste die Kraft finden, aneinander festzuhalten? Oder verlieren sie ein weiteres Mal den Boden unter den Füßen? Ein berührender Roman über Verlust, Trauer und Schuld, aber auch über Mut, Heilung und die Kraft der Liebe.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Die Sterne und wir
Impressum:
© Copyright Erstausgabe 2025 Vanessa Beck,
Schlossbergweg 26, 74670 Forchtenberg
Das Werk, einschließlich seiner Texte, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Dieses Buch ist auch als Taschenbuch erhältlich.
(ISBN 978-3-75928-693-2)
Coverdesign: Vanessa Beck unter Verwendung von iStock 607479014
Korrektorat: Anja Mertens
E-Book:
ISBN 978-3-75927-471-7
Vanessa Beck
Die Sterne und wir
Roman
Vita
Vanessa Beck wurde 1992 in Deutschland geboren und entdeckte früh ihre Leidenschaft für Bücher.
Die Sterne und wir, ist ihr Debütroman, in dem sie ihre Liebe zu Worten ungefiltert zu Papier bringt. Die Autorin lebt heute mit ihrer Familie in einer idyllischen Kleinstadt in Baden-Württemberg.
Über das Buch
Nach dem tragischen Verlust ihrer besten Freundin flieht Kaya in die endlosen Weiten von Texas – weit weg von den Erinnerungen, die sie quälen. Auf einer abgelegenen Pferderanch hofft sie, den Schmerz hinter sich zu lassen und herauszufinden, was sie wirklich vom Leben will.
Kaum angekommen, trifft sie auf Noah – den charmanten Sonnyboy, der mit seiner eigenen Vergangenheit kämpft. Was mit Distanz und gegenseitiger Ablehnung beginnt, wird unter dem weiten Sternenhimmel bald zu einer Verbindung voller Hoffnung und neuer Liebe. Als das Schicksal erneut zuschlägt, wird ihre noch junge Verbindung auf eine harte Probe gestellt. Werden sie in der Dunkelheit ihrer Ängste die Kraft finden, aneinander festzuhalten? Oder verlieren sie ein weiteres Mal den Boden unter den Füßen?
Ein berührender Roman über Verlust, Trauer und Schuld, aber auch über Mut, Heilung und die Kraft der Liebe.
Für M. und L.
Ihr seid das schönste Kapitel in meinem Leben.
Kaya
Viel zu lange stecke ich nun schon in meiner Ohnmacht fest. In der Trauer, die viele Gesichter hat. Es sind hässliche Fratzen, die mir den Schlaf rauben. Ich habe in den letzten Monaten viele davon gesehen. Von der anfänglichen Ohnmacht über das Nicht-wahrhaben-Wollen bis hin zu der Wut, dass all das geschehen ist, ohne dass ich daran irgendetwas ändern könnte. Es bleibt genauso wahr wie die kalte Realität.
Das Schlimmste an der Trauer ist, dass oft sogar fremde Menschen mir vorschreiben wollen, wie ich zu trauern habe. Sie verurteilen mich, wenn sie mich dabei erwischen, wie ich doch einmal für den Bruchteil eines Wimpernschlages lächle. Außerdem tuscheln sie ekelhafte Dinge wie „Oh, sieh an, sie scheint darüber hinweg zu sein“.
Es ist ihnen egal, wie ich mich dabei fühle.
Wenn ich in den letzten Monaten etwas gelernt habe, dann, dass Empathie und Mitgefühl eine Seltenheit sind. Es wirkt viel einfacher, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen und Menschen, die ohnehin schon völlig entkräftet mit dem Rücken zur Wand stehen, noch weiter zu verletzen. Oft genügt es ihnen nicht, Salz in die Wunde zu streuen – nein, sie müssen immer wieder an der Kruste reißen.
Die Trauer ist wie ein schwerer, dunkler Mantel, den man übergeworfen bekommt, ohne die Wahl, ihn abzulegen. Sie schleicht sich an, ohne Vorwarnung, und erfüllt jede Ecke des Herzens mit einer Leere, die so tief ist, dass selbst die Zeit Schwierigkeiten hat, sie zu füllen. Sie ist weder konstant noch vorhersehbar. Manchmal kommt sie wie ein leiser Schatten, manchmal bricht sie wie ein Sturm über mich herein. Jeder trauert anders, und das ist es, was die meisten, die nicht betroffen sind, nicht begreifen.
Die Menschen, die uns am nächsten stehen, sehen uns leiden. Sie wissen jedoch oft nicht, wie sie mit unserem Schmerz umgehen sollen. Sie wollen uns nicht triggern, uns nicht noch mehr verletzen, also ziehen sie sich zurück. Sie verharren im Hintergrund, im Leisen, aus Angst, etwas falsch zu machen.
Und so bleiben mir nur die Stille und eine schmerzhafte Einsamkeit, die immer größer wird. Aber wenn die Trauer mich in ihre Umarmung nimmt, ist sie nicht nur eine Last, sie ist auch ein stiller Ausdruck von Bindung und Erinnerung, die niemals ganz vergehen.
Kaya
„Ich bin es ihr schuldig!“ Das ist zu dem Mantra geworden, das mich weitermachen lässt. Vieles hat sich seit jener Nacht für mich verändert. Doch nichts davon zum Positiven. Mir fehlt schlicht die Kraft, darüber nachzudenken, wie es weitergehen soll. Im Grunde halte ich mich über Wasser wie eine Schiffbrüchige, indem ich versuche, so weiterzumachen, als wäre Laila noch hier.
Ich schleppe mich zur Arbeit in die Kanzlei, in der ich als Rechtsanwaltsfachangestellte für die organisatorischen und administrativen Aufgaben zuständig bin. Ich erledige alles Nötige und schiebe Überstunden, nur um nicht allzu viel Zeit zum Nachdenken zu haben. Wenigstens lässt man mich hier in Frieden.
Um zu vergessen, schlafe ich auch weiterhin mit Bastian. Früher war er für mich wie ein bester Freund, jemand, mit dem ich alles teilen konnte, der mir immer zur Seite stand, mit dem ich lachen konnte und Spaß hatte. Doch dann begingen wir den Fehler, uns auf eine Freundschaft Plus einzulassen, und alles veränderte sich. Was zunächst so harmlos schien, entwickelte sich schnell zu etwas, das ich nicht habe kommen sehen. Bald merkte ich, dass ich mehr wollte als nur eine unbeschwerte, körperliche Verbindung. Ich begann, Gefühle für ihn zu entwickeln, und das, was eigentlich nur als unkomplizierte Zweisamkeit gedacht war, wurde zu einer Zwickmühle. Irgendwann gab er sich einen Ruck und versuchte, eine ernsthafte Beziehung mit mir einzugehen.
Seit mittlerweile fast sieben Monaten sind wir nun ein Paar. Doch trotz dieser offiziellen Beziehung habe ich von Anfang an das Gefühl, dass er nicht mit ganzem Herzen bei mir ist. Es gab genug Momente, in denen er mir dies schmerzlich gezeigt hat. Trotz allem hoffe ich noch immer, dass er eines Tages merkt, dass wir zusammengehören. Die Unsicherheit, die aus dieser vermeintlich lockeren Beziehung hervorgeht, bleibt.
Laila hat mir kurz vor ihrem Tod klar zu verstehen gegeben, was sie von unserer Beziehung hält. Nämlich gar nichts. Ständig erklärte sie mir, ich hätte etwas Besseres verdient als Bastian, der mich oft respektlos und wie die zweite, gar dritte Wahl behandelt. „Das Ganze wird dir noch um die Ohren fliegen“, so ihr Fazit.
Tief in mir wusste ich damals schon, dass sie recht hatte, was Bastian und mich angeht. Der Grund, weshalb ich mich bisher nicht getrennt habe, liegt nicht in meiner Liebe zu ihm begründet. Es sind die Macht, die ich sexuell auf ihn ausübe, und der Sex, den ich brauche, um die Schuld und Einsamkeit, die ich verspüre, auszuhalten.
Ich beschließe, aufgrund von Lailas Bedenken Bastians Smartphone zu kontrollieren. Auch wenn mir bewusst ist, dass man so etwas nicht tun sollte, gibt es genug Gründe, darüber hinwegzusehen. Ich nutze den Moment, in dem er unter der Dusche steht – sein Smartphone liegt ungesperrt auf dem Wohnzimmertisch. Schnell greife ich danach und lasse mich auf einen seiner Designerstühle an der Bar sinken.
Was ich finde, sollte mich zerstören. Doch seltsamerweise ist es nicht die Entdeckung, die mich am meisten trifft, sondern die Kälte, die sich in mir ausbreitet, als ich die Chatverläufe lese. Da ist er, Bastian, wie er mit jeder Frau, die ihm über den Weg gelaufen ist, flirtet, flachst, sie in sein Bett lockt – mit einer Leichtigkeit, die mir den Atem nimmt. Er hat mich betrogen, immer wieder und mit einer Rücksichtslosigkeit, die mein ohnehin schon wackeliges Kartenhaus vollständig zum Einsturz bringt.
„Ich weiß alles, Bastian!“, schneide ich ihn mit scharfer Stimme, als er – nur mit einem Handtuch um die Hüften – aus der Dusche kommt. Alles in mir tobt, während ich mich wütend vor ihm aufbäume.
Verwirrt sieht er mich an. „Was meinst du damit?“
„Deine verdammten Chatverläufe – ich habe sie gelesen. Du hast mich wieder und wieder betrogen, und das ist das Letzte, was ich mir von dir gefallen lassen werde! Du bist wirklich das allergrößte Arschloch, das mir je über den Weg gelaufen ist!“
Sein Gesicht wechselt von Schock zu Abwehr, und ich kann das typische entschuldigende Zucken seiner Lippen sehen.
„Kaya, du weißt, das war nicht so, wie du denkst …“
„Es ist vorbei“, sage ich mit einer Kälte, die mir selbst beinahe Angst macht. „Du hast mich verletzt, und ich habe genug davon! Das wirst du bitter bereuen!“
Ich ziehe meine petrolfarbene Jacke über und stürme hektisch Richtung Eingangstür. Mit einem lauten Knall schlage ich sie so fest hinter mir zu, dass es mich nicht wundern würde, wenn sie hinter mir zerbersten würde. Ich kann gerade noch verhindern, die Treppe im Hausflur des Mehrfamilienhauses, in dem er wohnt, hinabzustürzen – so ungebremst stürme ich weiter.
Am Anfang ist der Schmerz – obwohl ich mir eingestehe, dass ich ihn schon einige Zeit nicht mehr richtig liebe – überwältigend. Zum Großteil jedoch ist es mein verletzter Stolz, der als schwerer Druck auf meiner Brust liegt. Aber zu meiner eigenen Überraschung verblasst dieses Gefühl schnell. Die Wut, die mich zunächst antreibt, wird durch eine seltsame Leere ersetzt. Irgendwie fühlt sich das alles nur noch wie eine weitere Wunde in einem bereits blutenden Körper an. Ich habe Laila verloren und jetzt auch ihn – meinen einst besten Freund. Er hat mich nicht nur in der Beziehung hintergangen, sondern ich fühle mich auch um seine Freundschaft betrogen. Hat er wirklich so wenig von mir gehalten, dass er mir das antun konnte?
Doch was anfangs noch wehtut, verwandelt sich bald in eine bittere Kälte, die mich nicht mehr wirklich erschüttert. Ich vermute, dass der Verlust von Laila mich einfach so weit mitgenommen hat, dass mein Herz keine Kapazität mehr besitzt, um noch eine weitere Tragödie zu verarbeiten. Ich fühle mich so leer, dass ich kaum weiß, was ich als Nächstes tun soll. Aber mir ist bewusst, dass ich weitergehen muss – mit oder ohne ihn. Ohne ihn, so gestehe ich mir ein, bin ich sogar besser dran.
Es dauert nur wenige Wochen, da steht Bastian auf einmal den Tränen nahe vor meiner Tür. Was soll das denn? Damit habe ich nicht gerechnet. Es ist all das, was ich mir einst von ihm gewünscht habe, doch dieser Zug ist schon lange abgefahren.
Mit eisiger Stimme fauche ich ihm entgegen: „Was willst du hier?! Lass mich in Frieden!“ Dann schlage ich ihm die Tür vor der Nase zu.
Er macht keine Anstalten, aufzugeben. Wieder und wieder taucht er bei mir zu Hause auf. Er beteuert, sich geändert zu haben – dass er sich für mich entscheidet.
Er macht mir kleine Aufmerksamkeiten, bis ich irgendwann nachgebe und einer Verabredung zustimme. Denn die Wahrheit ist: Trotz allem vermisse ich meinen besten Freund und fühle mich einsam. Auch wenn ich spüre, dass sich meine Gefühle für ihn stark verändert haben, so führt unweigerlich wieder eins zum anderen. Mir ist natürlich nach kürzester Zeit klar, dass er sich nicht an seine Versprechen halten wird. Menschen ändern sich nicht von heute auf morgen. Trotzdem nehme ich alles, was ich von ihm bekommen kann, um den Schmerz des Alltags zu verdrängen. Unsere Verbindung ist schlichtweg toxisch und mit gesundem Menschenverstand nicht zu erklären. Von seiner Seite hat unsere Beziehung ohnehin nie viel mit Liebe zu tun gehabt. Er mag mich, keine Frage. Er will mich nicht als Vertraute verlieren, und er kann genauso wenig wie ich allein sein. Das alles aber sind schlechte Gründe, um eine Partnerschaft aufrechtzuerhalten.
Als wir deshalb mal wieder streiten, wirft er mir kalt entgegen: „Ich könnte dich niemals lieben!“
Perplex verlasse ich nach unserer Auseinandersetzung seine Wohnung. Diesmal, so schwöre ich mir, gibt es kein Zurück. Eine eisige Hand umschließt mein Herz und ich spüre, dass es zu kaputt ist, als dass man es wieder reparieren könnte. Ich habe mich selbst belogen und mich in etwas verrannt.
Als ich am nächsten Morgen mein von den vielen schlaflosen Nächten gezeichnetes Gesicht im Spiegel meines Badezimmers erblicke, fasse ich einen Entschluss: Ich werde Bastian endgültig den Rücken kehren. Wieder sage ich zu der mir fremd wirkenden Frau im Spiegel: „Das bin ich ihr schuldig.“
Ich fahre zur Arbeit, wo ich den halben Tag damit beschäftigt bin, die Buchhaltung in Ordnung zu bringen und Termine mit Mandanten zu vereinbaren. Als ich das große graue Gebäude endlich verlasse, fahre ich direkt weiter ins Fitnessstudio.
Nach dem Sport dusche ich schnell und mache mich dann auf den Weg zu ihm. Bastian scheint es mal wieder nicht sonderlich zu interessieren, ob ich da bin oder nicht. Gelangweilt hängt er – noch in Hemd und Anzughose – vor der Glotze. Er deutet mir nur schnell, mich zu ihm zu setzen. Scheinbar hat er schon vergessen, was er mir am Tag zuvor an den Kopf geworfen hat.
Während er sich lieber eine weitere Folge seiner Lieblingsserie reinzieht, denke ich, es ist an der Zeit, meinen Plan endlich durchzuziehen. Also beginne ich direkt, seine Aufmerksamkeit mit Hautkontakt und Küssen auf mich zu lenken. Unerwartet wirft er mich mit einem heftigen Ruck auf das lederne Sofa. Nun liegt er auf mir und presst sich warm und schwer an mich. Er verliert mal wieder viel zu schnell die Kontrolle, und es dauert nicht lange, bis ich durch unsere Kleidung hindurch seine Erektion spüre. Gierig reißen wir uns die Kleider vom Leib. Als wir nackt sind, wartet er nicht auf eine weitere Einladung, sondern dringt sofort in mich ein. Bei dem ersten heftigen Stoß kralle ich meine Fingernägel schmerzhaft in seinen Rücken. Es macht ihn nur noch rasender.
Wie zwei Magneten, die sich anziehen und abstoßen – das ist es wohl, wie man unsere Beziehung beschreiben könnte. Ich will nicht allein sein, mag Bastian sogar noch immer, doch die große Liebe ist er für mich nie gewesen. Der Sex ist für mich nur noch Mittel zum Zweck und von meiner Seite selten mit einem Höhepunkt gekrönt. Doch er lässt mich für einen Moment alles andere vergessen.
Ich kenne nicht viele Details über Bastians Vergangenheit und das, was ihn zu solch einem gefühlskalten Menschen gemacht hat. Immer rastlos und auf der Suche nach dem Kick. Aber es ist nicht meine Schuld, und er besitzt nicht das Recht, mich wie Dreck zu behandeln.
Darum brauchte ich diese letzte körperliche Erniedrigung, um endlich einen Schlussstrich zu ziehen. Nur deshalb bin ich hierhergekommen. Es ist eine Art stiller Abschied von der Vorstellung, die ich einst von uns als Paar hatte. Und ein Abschied von unserer Freundschaft, die unter diesen Voraussetzungen keinen Bestand mehr haben kann.
Als wir fertig sind, ziehe ich mich an und packe all meine Sachen, die sich noch in seiner Wohnung befinden, zusammen. Danach wecke ich Bastian, der nach der körperlichen Aktivität verschwitzt auf der Couch eingeschlafen ist, und erkläre ihm, dass ich ihn nun für immer verlassen werde. Ohne ein Wort von ihm abzuwarten, schließe ich die Tür.
Rückblick – vier Monate zuvor
Laila war in dieser Nacht in keiner guten Verfassung. Ihre Gedanken kreisten in einem endlosen Strudel aus Sorgen und Ängsten, und das Gefühl der Einsamkeit lastete schwer auf ihr. Sie hatte versucht, Kaya anzurufen. Sie wollte einfach nur jemanden bei sich haben, der sie verstand, der ihr beistand, bis sich der Nebel in ihrem Kopf wieder lichtete. Doch die Anrufe blieben unbeantwortet. Kein Rückruf, keine Nachricht. Die Einsamkeit in dieser dunklen Nacht schien sie zu verschlingen.
Verzweifelt griff sie nach ihrem Autoschlüssel. Sie wusste, dass es spät war, aber sie musste zu Kaya. Vielleicht war es genau das, was sie brauchte: ein Gespräch, ein bisschen Aufmunterung, ein Stück Vertrautheit.
Kaya lebte nicht weit entfernt, nur ein paar Kilometer über Landstraßen. Der Regen peitschte gegen die Fensterscheiben, als sie das Auto startete und losfuhr. Es war eine düstere Novembernacht, noch finsterer als ihre Gedanken. Der Nebel hatte sich in einem undurchdringlichen Schleier über die Straßen gelegt, sodass die Scheinwerfer nur einen kleinen Abschnitt der Fahrbahn erhellten, der Rest versank im Nichts. Ihre Tränen verwischten das letzte bisschen Sicht, doch Laila fuhr unbeirrt weiter.
Es sind nur noch fünf Minuten bis zu Kaya, das werde ich schaffen, dachte Laila sich, während sie die Landstraße entlangfuhr. Ihr Blick wanderte immer wieder auf das Display ihres Smartphones in der Ablage vor ihr. Sie hoffte, dass Kaya zurückrufen würde.
Es war nur ein kurzer Blick zur Seite, ein Schatten im Nebel … Laila riss das Steuer herum, versuchte verzweifelt, das Auto zu stabilisieren, doch der nasse Asphalt war zu rutschig. Der Wagen schleuderte unkontrolliert in die Kurve, wodurch sie von der Straße abkam.
Der Moment, in dem sie gegen den Baum prallte, verging wie in Zeitlupe. Der Zusammenstoß war heftig. Es krachte furchtbar laut und der Schmerz, der sie durchfuhr, fühlte sich an, als würde er sie zerreißen. Laila blieb regungslos, den Kopf gegen das zersplitterte Seitenfenster gedrückt.
Ich wollte doch nur zu dir, Kaya, dachte Laila verzweifelt. Warum warst du nicht da?
Plötzlich war alles ganz still. Die Gedanken, ihre Ängste und die Einsamkeit wurden von dem Nebel hinweggetragen.
Kaya
Ich erfuhr von dem Unfall auf eine Weise, die mich noch lange verfolgen sollte. Es war mitten in der Nacht, als ich plötzlich erwachte. Schlaftrunken blickte ich auf das Display meines Smartphones, um herauszufinden, wie spät es war. Viel zu lange war es her, dass ich zuletzt auf den Bildschirm geschaut hatte. Die Müdigkeit hatte sich an diesem Abend besonders schwer über mich gelegt, und ich war erschöpft in mein Bett gefallen.
Aber der Name auf dem Display ließ mich aufschrecken. Laila. Sofort verspürte ich einen scharfen Stich im Herzen. Meine Freundin war in letzter Zeit immer wieder in Schwierigkeiten gewesen, doch an diesem Tag hatte ich nichts von ihr gehört – keine Nachricht, keinen Anruf. Als ich sah, dass mehrere verpasste Anrufe und Nachrichten von meiner besten Freundin eingegangen waren, schlich sich ein ungutes Gefühl in meine Magengegend.
Noch bevor ich die verpassten Nachrichten lesen konnte, hörte ich das schrille Klingeln meines Festnetztelefons. Verwirrt griff ich nach dem Hörer, der Anruf kam von einer unbekannten Nummer.
Als ich abnahm, hörte ich die Stimme eines Mannes, der sich mir als Polizist vorstellte. Mit ruhigem, aber dringlichem Ton sprach er zu mir. „Es geht um Laila Weber … Frau Sommer, Sie sind als Notfallkontakt hinterlegt. Es gab einen Unfall.“
„Was? Wie geht es ihr?“, fragte ich mit zittriger Stimme und fühlte mich dabei, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen.
„Es tut mir leid, Frau Sommer, Frau Weber hat den Unfall nicht überlebt“, übermittelte der Polizist wenig einfühlsam.
Die Worte des Beamten vertrieben das letzte bisschen Schläfrigkeit aus meinem Kopf. Mein Herz raste, der Klang seiner Stimme schien sich wie eine kalte Hand um meine Kehle zu legen. Ich saß völlig perplex mit dem Telefon in der Hand in meinem Bett, als es zu mir durchsickerte: Es war bereits zu spät, um Laila noch zu erreichen. Meine Freundin würde nicht mehr antworten.
***
Die darauffolgenden Wochen verbrachte ich in einer Art Schockstarre, in der ich nur noch funktionierte. Die Beerdigung war schlimm gewesen. Den Blick von Tränen verschleiert, stand ich am offenen Sarg meiner besten Freundin. Es gab noch so vieles, was ich ihr gern hätte sagen wollen. So viele unausgesprochene Worte, die von jetzt an schwer auf meinem Herzen lasteten.
Sanft strich ich Laila über die zarte Wange. Eine liebevolle Geste, die mich innerlich noch ein Stück mehr zerriss. Laila wirkte so wunderschön, als könnte sie jeden Moment ihre Augen öffnen und uns erklären, dass es sich um ein schreckliches Missverständnis handelte. Doch ihr Tod war die Realität, und die Zeit, Abschied zu nehmen, war gekommen.
Laila trug bei ihrer Beisetzung ein wunderschönes hellblaues Sommerkleid. An diesem Tag beschloss ich, diese leichte, fröhliche Farbe für immer aus meinem Kleiderschrank zu verbannen.
Es war ein kalter, grauer Nachmittag, als der Sarg in das tiefe Erdloch hinabgelassen wurde. Doch wie aus dem Nichts verzogen sich die trüben Wolken, und ein warmer Sonnenstrahl traf auf die trauernde Gemeinschaft. So viele Menschen hatten sich versammelt, um ihre Tochter, Schwester und Freundin auf dem letzten Weg auf Erden zu begleiten. Das Wissen, wie sehr Laila geliebt wurde, war ein winziger Trost.
„Ich liebe dich so sehr“, schluchzte ich, als ich an der Reihe war, und ließ ein Polaroidfoto auf den Sarg meiner Freundin fallen. Das Foto zeigte uns beide lachend Arm in Arm. Es war während unserer letzten Urlaubsreise auf Gran Canaria entstanden. Sie gehen zu lassen schmerzte so sehr, dass ich ihr am liebsten gefolgt wäre. Dies würde das Ende unserer gemeinsamen Geschichte sein. Ich war nun ganz allein. Mit einem bitterlichen Schluchzen ließ ich mich in die Arme meiner Mutter fallen. Die Stille um uns herum war erdrückend, aber meine Mutter sagte nichts. Sie wusste, dass Worte nichts mehr ändern konnten. Nur die Nähe ihrer Berührung, schien mir diesem Moment ein wenig Trost zu spenden.
Heute – Kaya
Ich habe nicht erwartet, dass es solch eine Erleichterung sein kann, seinen alten Ballast loszulassen. Ich reise fortan quasi nur noch mit leichtem Gepäck. Erst jetzt erkenne ich, wie toxisch die Beziehung zu Bastian gewesen ist. Ich schäme mich dafür, dass ich meinen Wert nicht eher erkannt habe. Aber was geschehen ist, ist nun mal geschehen, das sehe ich seit Lailas Tod klar vor Augen.
Nie wieder werde ich mich abhängig von einem Mann machen. Ich will keine Dates mehr, eine Beziehung schon gar nicht. Und vor allem keinen Sex! Momentan weiß ich nicht mehr, wer ich bin und wer ich sein möchte. Wusste ich das überhaupt jemals? Alles scheint so unbedeutend, und ich fühle mich, als stecke ich fest. Irgendwo zwischen Himmel und Erde, zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Laila und ich kannten uns seit Kindertagen. Wir wuchsen im selben kleinen Ort in Bayern auf, gingen zur selben Schule, hatten die gleichen Hobbys und den gleichen Humor. Während die meisten Freundschaften die Pubertät nicht überstehen, so wurde unsere Verbindung mit den Jahren immer stärker, auch wenn sich vieles um uns herum veränderte. Sie war meine engste Vertraute, und wir tauschten uns beinahe täglich über die neusten Ereignisse unseres Alltags aus.
Laila war ein Wirbelwind. Sie war hungrig auf die Welt, auf fremde Kulturen und die Natur. Wann immer sie die Gelegenheit fand, zog es sie in die Ferne. Sie war wissbegierig und ehrgeizig und saugte alles in sich auf. Außerdem studierte sie Kunst und besaß ein großes Talent im Zeichnen. Ich war mir einst sicher, dass man sie entdecken und ganz groß herausbringen würde.
Wir waren schon viel zusammen durch die Welt gereist. Waren gemeinsam um die Häuser gezogen, immer auf der Suche nach neuen Abenteuern. Es gibt so viele gemeinsame Erinnerungen, auf die ich nun allein zurückblicke. Ich werde nie das Leuchten ihrer smaragdgrünen Augen vergessen, das sie erstrahlen ließ, wenn ihr Blick über das tiefblaue Meer glitt. Ich kann noch immer ihr Lachen hören – wir haben so viel zusammen gelacht. In meiner Erinnerung sehe ich sie mit ihrem von der Sonne geküssten goldblonden Haar, wehend im Wind. Sie war das, was die meisten Männer als natürliche Schönheit bezeichnen. Ihre Gene haben ihr nur das Beste mitgegeben. Ihre Ausstrahlung zog alle Menschen in ihrer Umgebung an und machte sie äußerst beliebt. Viele kannten nur diese wunderbar strahlende Seite von Laila.
Doch es gab auch eine andere Seite. Eine dunkle Seite, die sie in den Tiefen ihrer Depression verbarg und die niemand erahnte. Laila selbst wusste oft nicht, warum sie unter dieser Dunkelheit litt, und sie hätte alles dafür gegeben, diese zu bezwingen. Am Ende waren es jene Dämonen, die sie in dieser dunklen Nacht auf die regennasse Fahrbahn gejagt hatten.
Bei den Gedanken an Laila strömen dicke, warme Tränen meine Wangen hinunter. Sie bahnen sich ihren Weg unaufhaltsam, wie ein stürmisches Meer. Ich spüre, wie die Dunkelheit versucht, mich mit sich zu reißen. Und vor allem fühle ich mich noch immer schuldig an Lailas Tod. Deshalb ziehe ich mir nun die Decke bis zum Kinn hoch und warte, bis der Sturm vorübergeht.
***
Als ich am nächsten Morgen in meiner kleinen Wohnung erwache, sehe ich sogar noch schlimmer aus, als ich vermutet habe. Dennoch fühle ich mich wieder etwas besser, nachdem ich am Abend zuvor meinen Gefühlen freien Lauf gelassen habe. Dicke dunkle Ringe umrahmen meine Augen. Um ein kleines bisschen Würde zurückzugewinnen, versuche ich, sie mit Concealer zu überdecken.
Mein Entschluss steht fest – so kann es nicht weitergehen. Ich kann und will nicht akzeptieren, dass all die Träume, die Laila sich nicht mehr erfüllen kann, verloren gehen. Schon lange bin ich unzufrieden mit meinem Job und der Tatsache, auf der Stelle zu treten. Mit meinen dreiundzwanzig Jahren will ich mir nicht vorstellen, dass das Leben so eintönig und voller Zweifel weitergeht. Je länger ich in diesem Zustand verharre, desto klarer wird mir, dass es an der Zeit ist, etwas zu ändern. Ich habe zu lange darauf gewartet, dass sich von selbst etwas verbessert – doch nichts hat sich bewegt. Jetzt ist es an der Zeit, Verantwortung für mich selbst zu übernehmen und für die Träume, die ich bisher vor mir hergeschoben habe, zu kämpfen. Ich muss den Mut finden, neue Wege zu gehen, mich zu entfalten und meinen eigenen Weg zu finden, bevor es zu spät ist. Das bin ich Laila schuldig.
Mit nervös zitternden Händen gebe ich die Nummer in mein Telefon ein und warte auf ein Freizeichen. Hoffentlich rufe ich nicht zur falschen Uhrzeit an. Ich habe mir vorab um die Zeitverschiebung keinerlei Gedanken gemacht. Es klingelt einmal, zweimal …
„Hello, Rita Baker speaking“, begrüßt mich eine Stimme.
Mein Herz rast. Ist meine Idee zu verrückt? Habe ich den Verstand nun vollkommen verloren? Doch dann ringe ich mich zu einem „Hi …“ durch.
Die Frau am anderen Ende – Rita – hat zum Glück noch nicht aufgelegt, nachdem ich einen Moment zu lange gezögert habe.
„Hallo, hier ist Kaya. Kaya Sommer“, füge ich dann ebenfalls auf Englisch hinzu, um den Faden wieder aufzunehmen.
„Hallo, Kaya, wie geht es dir, Schätzchen?“, fragt Rita mit jenem warmherzigen Ton in der Stimme, den ich schon von vergangenen Telefonaten mit ihr kenne.
„Ach, Rita, ich fühle mich völlig verloren. Ich vermisse sie“, erwidere ich traurig.
Rita schweigt einen Moment, als würde sie ihre Worte abwägen. Dann sagt sie leise, aber bestimmt: „Kaya, ich kann verstehen, dass du dich so fühlst. Verlust verändert alles, und es ist schwer, den richtigen Weg zu finden, wenn jemand, der dir so nahe war, plötzlich fehlt. Dein Leben, deine Träume, das ist dein Weg. Du musst herausfinden, was dich erfüllt, auch wenn es sich manchmal anfühlt, als würdest du auf der Stelle treten.“
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Rita. Ich würde gern nach vorn sehen, für Laila. Doch wie soll das gehen? Wir wollten diesen Sommer bei euch auf der Ranch gemeinsam antreten.“ Meine Stimme ist mittlerweile zu einem Piepsen geworden, da ich versuche, nicht zu weinen.
„Kaya, du weißt, dass William und ich mittlerweile Ersatz für euch gefunden haben? Du brauchst dir darüber keine Sorgen zu machen.“
„Ich bin sogar froh darüber, Rita. Ich hätte nicht gewollt, dass ihr wegen uns in Schwierigkeiten kommt, weil ihr auf unsere Hilfe gehofft habt. Ich weiß, dass ich meinen Platz als Saisonarbeiterin nach dem Unfall abgesagt habe, aber nun glaube ich, dass es falsch war. Ich hätte es für Laila tun müssen.“
Rita scheint einen kurzen Moment nachzudenken, dann erwidert sie: „Hör zu, Kaya, wir haben immer genug Arbeit und einen Platz zum Schlafen. Wenn du Abstand von deinem Alltag brauchst, dann kannst du jederzeit zu uns auf die Ranch kommen. Es könnte dir helfen, deine Gedanken zu ordnen.“
„Ich werde darüber nachdenken“, sage ich und verabschiede mich von Rita.
Eine Woche später – Kaya
Der heutige Tag lief bislang alles andere als gut. Mein Chef hat inzwischen scheinbar beschlossen, mich nicht mehr mit Samthandschuhen anzufassen, sondern mich wieder so unfair und gemein wie zuvor zu behandeln. In seinen Augen habe ich jetzt wohl eine von ihm festgelegte Frist überschritten und das Recht zu trauern verwirkt. Als wäre es zeitlich festgeschrieben, wie lange man den Kopf in den Sand stecken darf. Er lehnt mit einem überheblichen Gesichtsausdruck im Türrahmen meines Büros und hetzt mich, ihm Unterlagen eines Mandanten aus dem Archiv herauszugeben. Hätte er mir vorher Bescheid gesagt, müsste ich nun nicht unter seinen ungeduldigen Blicken hektisch nach den Aktenordnern wühlen.
Um meinen Frust zu bewältigen, beschließe ich nach der Arbeit, mich bei einer Runde Sport abzureagieren. Ich gehe gerade die Querstraße zum Fitnessstudio entlang, als es auch noch zu nieseln beginnt. Mit beschleunigten Schritten will ich schneller mein Ziel erreichen. Bis ich um die nächste Ecke biege, ist aus dem Nieselregen ein starker Schauer geworden, und ich bin nach kürzester Zeit klatschnass. Als dann noch ein Auto an mir vorbeirauscht, das mich zusätzlich nass spritzt, fluche ich lauthals vor mich hin. „Was für ein Scheißtag!“
Heute befinde ich mich definitiv in der Phase der Wut und Resignation. Ich habe immer noch keine Ahnung, was ich mit meinem Leben anfangen soll, und denke zurück an Ritas Angebot, das sie mir vor wenigen Tagen gemacht hat.
Einen Moment später beginnt mein Smartphone, den Song End Of Beginning von Djo zu spielen.
“Just one more tear to cry, one teardrop from my eye. You better save it for the middle of the night when things aren’t black and white.”
Erst nach dem ersten Vers merke ich, dass es mein Klingelton ist. Ich kenne die angezeigte Nummer nicht, hebe aber dennoch ab. „Hallo?“, frage ich gereizt, immer noch im Regen stehend.
„Hallo, hier ist Rita, es tut mir leid, wenn ich dich gestört habe. Soll ich es später noch einmal versuchen?“
„Nein!“, rufe ich fast etwas zu laut, um die Umgebungsgeräusche zu übertönen. „Entschuldige, Rita, ich stehe hier gerade im strömenden Regen“, sage ich und lache zum ersten Mal heute. Rita lacht mit.
„Kaya, unser Gespräch hat mich nicht mehr losgelassen“, erklärt sie offen. „Ich habe das Gefühl, du solltest die Chance nutzen, diese Reise für euch beide anzutreten. Und tatsächlich könnten wir dich gerade sehr gut gebrauchen. Einer unserer Arbeiter fällt leider aus.“ Als ich stumm bleibe, fährt sie fort: „Ich möchte dich nicht drängen, Kaya. Wenn du dich dagegen entscheidest, werde ich das akzeptieren, so gern ich dich auch persönlich besser kennenlernen würde.“
Ich atme die regennasse Luft tief ein und sage mehr zu mir selbst als zu ihr: „Scheiß drauf! Ich mach’s.“
Kaya
Seit Laila gestorben ist, bin ich nicht mehr die Person, die ich einmal war. Jeden Tag versuche ich seitdem, herauszufinden, was ich mit meiner Zukunft anfangen möchte. Ich habe erkannt, wie kostbar das Leben ist und wie wichtig es ist, es nicht zu verschwenden. Doch was ich mache, gibt mir nicht das Gefühl, erfüllt zu sein, und es bietet mir nicht die Zukunft, die sich Laila für mich gewünscht hätte. Ich habe Rita am Telefon bereits zugesagt und ihr mitgeteilt, dass ich alle erforderlichen Schritte unternehmen werde, um meine Reise nach Texas zu organisieren. Deshalb steht mein nächster Entschluss fest. Ich muss mit meinem Chef sprechen.
Jetzt sitze ich in seinem schlecht eingerichteten, geschmacklosen Büro und bitte ihn, einem Sabbatical bis zum Ende des Sommers zuzustimmen. Unruhig spielt er während unseres Gesprächs an einem Kugelschreiber herum, bis die Halteklammer mit einem lauten Pling abbricht. Die Situation ist ihm sichtlich unangenehm, was vermutlich auch zu seiner schnellen Zustimmung beiträgt. Auch wenn seine Zusage bedeutet, dass er für diesen Zeitraum Ersatz für mich finden muss, habe ich schon fast das Gefühl, ihm fällt dabei eine riesige Last von den Schultern.
Mittlerweile verstehe ich, dass auch er zu den Personen gehört, die nicht wissen, wie man mit Trauernden umgeht. Und es ist mir in diesem Fall sogar lieber, dass er mir ständig aus dem Weg geht.
Noah
Ich stehe am Fenster und starre in die Dunkelheit. Der Regen prasselt gegen die Scheiben, als ob er die lauten Gedanken in meinem Inneren zu übertönen versucht. Es ist schon weit nach Mitternacht, aber ich kann wieder mal nicht schlafen.
Meine Eltern haben bis zuletzt versucht, mich davon abzubringen, die Reise nach Junction anzutreten. Es muss für sie schmerzhaft sein, ihren einzigen verbliebenen Sohn so weit entfernt zu wissen. Vor allem nach all dem, was wir die letzten beiden Jahre zusammen durchstehen mussten. Sie machen sich Sorgen, das tun sie ständig seit dem Unfall und Lucas’ Tod. Ich mache ihnen keine Vorwürfe, denn es gibt keinen richtigen Weg durch eine schwere Zeit wie diese. Auch meine Eltern haben mit ihrem Verlust zu kämpfen, und unser aller Leben ist aus den Fugen geraten. Doch mittlerweile fühle ich mich zunehmend erdrückt von dem Verhalten meiner Mutter.
Es verursacht mir Schmerzen, dass ich sie mit meinem Entschluss, den Sommer in Texas zu verbringen, verletze. Doch die letzten zwei Jahre haben mich stark verändert. Ich habe meinen Eltern nie viel über die schlimmsten sechs Monate meines Lebens erzählt, denn als ich diese überstanden hatte, traf uns Lucas’ Tod eiskalt.
Als ich am Morgen das Gepäck in mein Auto lade, entscheide ich mich beinahe um. Doch genau in diesem Moment höre ich Lucas’ Stimme in meiner Erinnerung. „Alter, wenn du weiter auf der Stelle trittst, ist der Boden unter dir bald fest wie Beton.