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Eine zauberhafte Stimme Ein Flügelschlag in der Nacht Eine stumme Nachtigall Emily ist unglücklich mit dem BWL-Studium, zu dem ihre Eltern sie überredet haben. Viel lieber wäre sie Sängerin. Kurzentschlossen nimmt sie an einer Castingshow teil, um ihrem Traum näher zu kommen. Emil sorgt sich um seine Freundin Emily. Je länger sie bei der Show ist, desto mehr distanziert sie sich von ihm, bis sie schließlich nicht mehr auf seine Nachrichten reagiert. Was steckt hinter ihrem untypischen Verhalten? Um das herauszufinden, muss Emil akzeptieren, dass Magie realer ist, als er je gedacht hätte. Mit »Die Stille der Herbstblume« schreibt Julia Maar eine moderne Version des Märchens Jorinde & Joringel der Gebrüder Grimm. Darin ist es Emils Liebe zu Emily, die sie bei der Verwirklichung ihrer Träume unterstützt und durch düstere Zeiten begleitet.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Copyright©2021Julia Erdmannc/o Fakriro GbR
Bodenfeldstr. 9
91438 Bad Windsheim
Korrektorat: Christina Löw
Coverdesign und Schmutztitel: saje design, www.saje-design.de
Kapitelzierden: Tala Jacob, tala-jacob.de
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks, Kopie und Verbreitung in jeglicher Form sind vorbehalten.
Bald auch als Taschenbuch erhältlich.
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Vorwort
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8 Kapitel
9 Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
Epilog
Danksagung
Über die Autorin
Bisherige Titel der Märchenspinnerei
»DieStillederHerbstblume« gehört zur »Licht und Schatten«-Reihe der Märchenspinnerei. Das heißt, die Geschichte ist ein Teil eines Romanpaares, in dem sowohl die böse als auch die gute Seite eines Märchens beleuchtet werden. In diesem Fall Jorinde und Joringel.
Mit Christina Löw, aus deren Feder der Partnerroman »Das Lied des Herbstmondes« stammt, habe ich schon vorher an Projekten gearbeitet. Zusammen mit ihr ein Märchen zu adaptieren, war allerdings eine vollkommen neue Erfahrung.
Obwohl es sich um eigenständige Geschichten handelt, die unabhängig voneinander gelesen werden können, sind sie inhaltlich doch miteinander verbunden. So spielt »Die Stille der Herbstblume« 16 Jahre nach »Das Lied des Herbstmondes« und die dortige Protagonistin Caro nimmt in meinem Roman eine völlig andere Rolle ein. Aber mehr möchte ich an dieser Stelle gar nicht verraten und wünsche stattdessen viel Freude beim Lesen.
IchkonntediesenMüll nicht länger ertragen. Das Gefühl, zu ersticken, in den letzten Wochen ein ständig im Hintergrund lauernder Feind, nahm zu. Wie Tentakeln, die sich um meinen Brustkorb legten und Stück für Stück langsam zudrückten. Energisch schlug ich den Ordner auf meinem Schreibtisch zu und rollte mit dem Bürostuhl zurück. Sofort ließ der Druck etwas nach. Mein Herz schlug so schnell, als wolle es sich allein dadurch aus dem Gefängnis meines Brustkorbes befreien.
Ich legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch. Schloss die Augen und ermahnte mich innerlich, mich zusammenzureißen. Mein Benehmen war albern und vollkommen übertrieben. Es war nur ein Studiengang. Nichts Gefährliches, nichts, worüber ich mir Sorgen machen sollte. Unzählige Studierende richteten sich bei der Wahl des Studiengangs nach den Wünschen ihrer Eltern. Wieso machte es ausgerechnet mir solche Probleme?
»Ich hasse BWL«, murmelte ich und ließ den Kopf kreisen, um meinen Nacken zu entspannen. Dann öffnete ich die Augen und starrte an die Decke meines Zimmers. Betrachtete die blaue Deckenlampe, die bereits seit meinen Kindertagen dort hing, und den kleinen schwarzen Fleck, der markierte, wo eine Spinne ihr Leben gelassen hatte.
Mit einem Seufzen stand ich auf und schob den leeren Stuhl an den Schreibtisch zurück. Etwas Ablenkung war jetzt genau das Richtige und unter freiem Himmel würde das beklemmende Gefühl hoffentlich vollends nachlassen.
Während ich die Wohnung durchquerte, tippte ich eilig eine Nachricht an Emil in mein Smartphone: Stammplatz in 10 Minuten. Schon während meine Finger über das Display flogen, fühlte ich mich besser.
»Mama? Ich bin nochmal weg. Ihr müsst mit dem Essen nicht auf mich warten.«
»Okay, Schatz. Pass auf dich auf und bleib nicht so lange weg«, erklang ihre Stimme aus dem Arbeitszimmer. Auch dieser Satz hatte sich in den letzten Jahren nicht verändert. Schnell schlüpfte ich in ein Paar Sandalen, schulterte meinen kleinen Rucksack und verließ die Wohnung.
Draußen schlug mir spätsommerliche Hitze entgegen. In gemächlichem Tempo schloss ich mein Fahrrad auf und schob es den kurzen Weg vom Abstellplatz vor dem Haus zur Straße. Dort schwang ich mich auf den Sattel und radelte die Straße entlang.
Seit unserem ersten Date war der kleine Park inmitten einer Wohnsiedlung Emils und mein Lieblingstreffpunkt. Wir brauchten etwa gleich lang dort hin, obwohl Emils Weg ein bisschen länger war. Die Entfernung machte er durch Schnelligkeit wett und das, ohne dabei auch nur außer Atem zu geraten. So überraschte es mich nicht, dass er bereits an unserer Bank auf mich wartete.
Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Schnell stellte ich mein Rad neben seinem ab und schloss ihn in meine Arme. Vergrub das Gesicht an seiner Brust und atmete tief ein. Er lachte leise und ich spürte, wie er mich an sich drückte. Augenblicklich stellte sich ein Gefühl der Geborgenheit ein. »Ich habe dich vermisst«, murmelte ich.
»Wir haben uns doch erst gestern Abend gesehen«, erwiderte er und ich hörte das Lächeln in seiner Stimme.
»Na und? Das ist doch kein Grund, es nicht zu tun.«
Wir setzten uns auf die Bank und mein Blick schweifte über die Bäume, die noch immer ihr grünes Blätterkleid präsentierten. Nicht mehr lange und die Farben des Herbstes würden übernehmen.
»Was war es diesmal?«, unterbrach Emil schließlich die friedliche Stille. Ich seufzte.
»Dieser Professor macht mich fertig. Wie man eine seiner Vorlesungen übersteht, ohne einzuschlafen, ist mir vollkommen schleierhaft.«
»Aber das ist doch nicht der eigentliche Grund, oder?«, hakte er nach. »Auf einer Skala der Dinge, die dich durcheinanderbringen, rangiert der Professor ziemlich weit unten.«
»Schon«, gab ich zu und betrachtete den Baum, der mir am nächsten war, besonders konzentriert. Emil saß mein Schweigen einfach aus.
»Es ist dieser ganze Studiengang«, platzte es schließlich aus mir heraus. »Den braucht doch kein Mensch! Ich habe Mathe in den letzten Schuljahren nur noch ertragen, weil ich wusste, dass ich es danach nicht mehr brauche. Jetzt verfolgt mich dieses vermaledeite Fach auch im Studium. Das war nicht, was ich wollte.«
»Hast du mittlerweile mit deinen Eltern geredet? Ihnen erklärt, dass du lieber etwas anderes studieren möchtest?«
Ich biss mir auf die Lippen und schwieg. Natürlich nicht. Sie würden mich sowieso nicht verstehen, geschweige denn meine Meinung akzeptieren. Immerhin war es der großartige Plan meines Vaters, dass ich zuerst BWL studierte und dann im besten Fall ebenfalls bei seinem Arbeitgeber einen Job fand. Denn dieser sei zuverlässig und die Branche zukunftsbeständig. Ich wolle schließlich etwas im Leben erreichen.
»Du verstrickst dich schon wieder in finsteren Gedanken, die letztendlich nichts als schlechte Laune bewirken.«
»Kann sein«, gab ich murrend zu und betrachtete den Baum nun so eingehend, als würde zwischen den Ästen die Lösung meines Problems ruhen. Tat sie natürlich nicht, stattdessen entdeckte ich etwas anderes.
»Schau mal«, wisperte ich und stupste Emil mit dem Ellenbogen an. »Da in dem Baum sitzt eine Eule.«
»Um die Uhrzeit?«, fragte er perplex und ich spürte, dass er sich neben mir bewegte, um besser sehen zu können.
Ich kicherte. »Wo soll sie denn sonst sitzen? So viele gruselige, alte Gemäuer gibt es in der Nähe nun mal nicht.«
Emil schnaubte. »Du weißt, was ich meine. Auch hier gibt es bestimmt bessere Unterstände als einen nahezu freistehenden Baum inmitten einer Wohnsiedlung.«
Ich drehte den Kopf und beobachtete, wie er angestrengt zwischen die Äste blickte. Eine braune Haarsträhne hing ihm in die Augen, ein deutliches Indiz, dass der letzte Friseurbesuch schon etwas zurücklag.
»Du musst nach oben schauen und außerdem etwas weiter links.« Sein Kopf ruckte in die entsprechende Richtung, dann öffnete sich sein Mund zu einem stummen Ausdruck des Erstaunens. »Hast du etwa gedacht, ich hätte dich angeflunkert?«, zog ich ihn auf und suchte mit den Augen den Baum ab. Dessen dichtes Blätterdach bot ein erstaunlich gutes Versteck und obwohl ich wusste, wo der Vogel saß, dauerte es einen Moment, bis ich ihn erneut entdeckte.
Eine Weile betrachteten wir beide schweigend die Eule, die ihrerseits uns im Blick behielt. Dann richtete Emil seine Aufmerksamkeit wieder auf mich. »Du lenkst vom eigentlichen Thema ab. Wir wissen beide, dass dieses Studium nicht der richtige Weg für dich ist. Je früher du das auch deinen Eltern verständlich machst, desto geringer wird die Enttäuschung auf beiden Seiten ausfallen.«
»Da kennst du meinen Vater aber schlecht.«
Tatsächlich wusste er, wie Diskussionen mit meinem Vater üblicherweise aussahen. Doch im Gegensatz zu mir hatte Emil die Hoffnung noch nicht aufgegeben, was ich irgendwie liebenswürdig fand.
»Was ist denn mit diesem Musikstudium, das dich so interessiert hat? Du müsstest nicht einmal umziehen.«
»Vermutlich würde ich die Eignungsprüfung gar nicht bestehen«, blockte ich ab. Ich wollte nicht an das Studium denken, dessen Infomaterial in meiner Schreibtischschublade verborgen lag.
»Das ist Schwachsinn und das weißt du selber. Deine Stimme hat bisher jeden umgehauen! Und mit etwas Übung wird dein Klavierspiel bestimmt auch noch vorzeigbar.«
Das Strahlen in seinen Augen zeigte mir, dass er jedes seiner Worte ernst meinte. Es versetzte mir einen Stich, dass er so sehr an mich glaubte, wo mein eigenes Vertrauen in mich doch längst erschöpft war.
»Meine Eltern werden es nicht akzeptieren. Es ist also vollkommen egal, ob sie mich nehmen würden oder nicht.« Ich ließ den Kopf hängen und begann, mit dem Fuß Muster in den Boden vor mir zu malen.
Emil stieß ein resigniertes Seufzen aus. »Aber so kann es doch nicht weitergehen. Mit der Einstellung fährst du BWL auf jeden Fall gegen die Wand und dann sind deine Eltern nicht nur sauer, nein, du hast außerdem noch Zeit verloren, die du mit etwas Schönem hättest verbringen können.«
Ich schwieg, weil ich nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte und weil es sowieso nichts geändert hätte.
»Na gut. Wenn du für den großen Schritt noch nicht bereit bist, was ist dann mit dieser Castingshow?«
Mein Kopf ruckte hoch und offenbar stand mir der Unglaube deutlich ins Gesicht geschrieben, denn Emil verzog das Gesicht. »Meinst du das ernst?«, hakte ich sicherheitshalber nach. Natürlich war mir der Gedanke, an einem Casting teilzunehmen, schon gekommen. Emil jedoch war ein bekennender Gegner dieser Formate, weil er die Oberflächlichkeit, die dort vermittelt wurde, nicht im Geringsten ausstehen konnte.
Er zuckte mit den Schultern. »Was weiß ich denn? Mittlerweile haben es ja doch ein paar geschafft, groß rauszukommen, und vielleicht reicht es, um deinen Eltern klarzumachen, dass du auf die Bühne und nicht hinter einen Schreibtisch gehörst.«
Ich schluckte. Mir war nicht bewusst gewesen, wie sehr sich Emil für mich wünschte, dass mein Traum in Erfüllung ging.
DieSonnewarschon untergegangen, als ich die Wohnungstür aufschloss. Aus dem Wohnzimmer drangen die leisen Geräusche des Fernsehers, es klang nach einer der Talkshows, die nachts auf allen Kanälen ausgestrahlt wurden. Vermutlich waren meine Eltern in friedlicher Eintracht auf dem Sofa eingeschlafen. Leise verstaute ich meine Sandalen im Schrank und schlich barfuß durch den Flur zu meinem Zimmer. Der Holzboden war angenehm kühl an meiner Haut. In meinem Reich angekommen, legte ich meinen Rucksack ab, nahm das Top und die kurze Hose vom Bett, die ich zum Schlafen trug, und tapste ins Badezimmer. Als ich es kurz darauf umgezogen und mit Minzgeschmack im Mund wieder verließ, trat gerade mein Vater aus dem Wohnzimmer.
»Hey, Papa«, begrüßte ich ihn mit gedämpfter Stimme, für den Fall, dass meine Mutter schlief.
Er lächelte mich müde an. »Hallo, mein Engel. Hat Emil dich gebracht?« Ich nickte. »Das ist gut. Ein junges Mädchen sollte um diese Uhrzeit nicht mehr allein draußen unterwegs sein.«
Da waren er und Emil einer Meinung. Mir hingegen behagte ganz und gar nicht, dass Letzterer danach allein und im Dunkeln wieder zurückfahren musste. Trotzdem sagte ich: »Das weiß ich doch. Gute Nacht, Papa.«
»Gute Nacht, Emily. Schlaf gut.«
Ich drehte mich um und zog mich in mein Zimmer zurück. Emil hatte an diesem Abend nicht weiter versucht, mich davon zu überzeugen, mit meinen Eltern zu reden. Doch eigentlich wusste ich, dass ich um dieses Gespräch früher oder später nicht herumkommen würde. Ich kippte das Fenster und genoss für einen kurzen Moment den leichten Windzug, dann schlüpfte ich ins Bett und unter eine dünne Sommerdecke. Trotz der sommerlichen Wärme brauchte ich das Gefühl des Stoffes auf meiner Haut.
Die Decke eng um mich gewickelt, gähnte ich herzhaft und schloss die Augen. Egal, wie wach ich noch im einen Moment war, kaum lag ich im Bett, überkam mich die Müdigkeit.
Letztendlich konnte ich nicht sagen, ob die zwitschernden Vögel oder die Geräuschkulisse in der Küche mich geweckt hatten. Beides hätte mich nicht weiter verwundert. Stöhnend rollte ich mich auf die andere Seite und starrte die Zimmertür an. Von dort lächelten mich die Musicaldarsteller aus Tanz der Vampire an. Ein Besuch hatte gereicht, um mich unsterblich in die Musik zu verlieben, und zumindest gedanklich konnte ich mittlerweile ebenfalls eine 1A-Vorstellung abliefern. Die Songtexte kannte ich in- und auswendig und nach mehreren Musicalbesuchen machten mir auch die Textszenen keine großen Schwierigkeiten mehr. Selbst meinen Eltern gefielen meine Wohnzimmer-Darbietungen. Einzig mit den Bewegungen hatte ich so meine Probleme, von den Tanzchoreografien ganz zu schweigen.
Ich seufzte und stand auf. Wenn ich schon einmal wach war, konnte ich ebenso gut mit meinen Eltern frühstücken.
In der Küche deckte meine Mutter gerade den Tisch, während mein Vater Zeitung las. Klischee pur, dachte ich. Dann begrüßte ich meine Eltern mit einem: »Guten Morgen.« Beide bedachten mich mit einem wohlwollenden Lächeln und meine Mutter drückte mir im Vorbeigehen einen flüchtigen Kuss auf die Stirn.
»Guten Morgen, Emily. Hast du gut geschlafen?«
Nein. »Ja, habe ich.« Tatsächlich hatte ich von einer Matheprüfung geträumt. Diese hatte mich zwar einige Male aus dem Schlaf gerissen, aber nie genug, um den Traum gänzlich abzuschütteln.
»Möchte noch jemand Saft?«, fragte ich, während ich eine Flasche aus dem Kühlschrank holte. Hinter der Zeitung erklang ein verneinendes Murmeln. Zumindest interpretierte ich die Geräusche als solches.
Meine Mutter schob gerade die letzten Stücke Grünzeug in den Mixer und schüttelte den Kopf. »Orangensaft ist sehr säurehaltig und überhaupt nicht gut für die Zähne. Von dem Fruchtzucker mal abgesehen. Möchtest du nicht lieber etwas von meinem grünen Smoothie abhaben?«
Ich goss mir ein großes Glas Orangensaft ein. »Nein, danke, Mama.«
Sie zuckte mit den Schultern und erweckte per Knopfdruck den Mixer zum Leben. Währenddessen setzte ich mich an den Küchentisch, griff nach einer Scheibe Körnerbrot und begann, diese zu belegen. Mein Vater schien die Lektüre der Zeitung beendet zu haben, denn sein Gesicht kam wieder zum Vorschein. Raschelnd faltete er das Papier zusammen und legte es hinter sich auf die Fensterbank. Er setzte an, etwas zu sagen, warf dann jedoch dem Mixer einen missbilligenden Blick zu. Meine Mutter beendete das Gemüsemassaker und seine Miene glättete sich.
»Wie läuft es in der Uni?«
Ich stockte inmitten meiner Bewegung und es dauerte einige Sekunden, bis ich mich aus der Starre löste. Lüge oder Wahrheit? Nun setzte sich auch meine Mutter an den Tisch, vor sich ein großes Glas grünes Etwas. Ihr Gesicht drückte Besorgnis aus. Vielleicht war meine Lüge über den guten Schlaf nicht glaubhaft genug gewesen.
»Ähm.« Ich dachte an Emil und wagte einen vorsichtigen Schritt nach vorne. »Also ehrlich gesagt, läuft es nicht so gut.«
Meine Mutter warf meinem Vater einen kurzen Blick zu, der etwas ausdrückte wie »Ich habe es dir doch gesagt«. Er ließ die Kaffeetasse sinken.
»Was heißt, nicht so gut?«
Ich schluckte gegen Kloß an, der sich in meiner Kehle bildete, und versuchte gleichzeitig, den Druck auf meinem Brustkorb zu ignorieren. »Die Themen liegen mir nicht sonderlich.«
»Was heißt, die Themen liegen dir nicht sonderlich? Dir ist doch bewusst, dass ein Studium dir nicht so hinterhergeschmissen wird wie das Abitur!« Seine Stimme war einige Stufen lauter geworden.
»Herbert!«, mahnte meine Mutter.
»Mein Abi ist mir nicht hinterhergeschmissen worden«, protestierte ich leise. Tatsächlich hatte ich hart für meine Noten gearbeitet. »Aber Mathe hat mir schon immer Schwierigkeiten bereitet und die wirtschaftlichen Zusammenhänge machen es nicht besser.«
»Dann wirst du dich halt hinsetzen und lernen, so wie ich es in deinem Alter getan habe.« Ein harter Zug zeigte sich um die Mundwinkel meines Vaters.
Jetzt, Emily. Wenn es einen Zeitpunkt gibt, zu sagen, dass du etwas anderes machen möchtest, dann jetzt.
»Aber Herbert, nun sei doch nicht so streng mit ihr. Emily braucht bestimmt nur etwas Zeit, um sich an die neue Situation zu gewöhnen. Nicht wahr, Schatz?«, kam meine Mutter mir zu Hilfe. Doch damit machte sie alles nur schlimmer. Ich wollte keine Zeit, um mich an die Situation zu gewöhnen. Ich wollte diese Situation nicht.
»Ehrlich gesagt hatte ich darüber nachgedacht die Uni zu wechseln.« Die Worte waren raus, ehe ich es mir doch noch anders überlegen konnte. Der Druck auf meinem Brustkorb schien auch das letzte bisschen Luft aus mir herauszupressen.
»Wieso sollte ein Wechsel der Uni etwas daran ändern? Das ist doch totaler Schwachsinn! Welche Uni soll es denn sein?« Langsam, aber sicher verlor mein Vater die Geduld mit mir, das erkannte ich an dem Trommeln seiner Finger auf dem Tisch.
»Genau genommen würde ich nicht nur die Uni sondern auch den Studiengang wechseln. Und zwar möchte ich an die Hochschule für Musik und Tanz.« Nun war es raus und ließ sich auch nicht mehr zurücknehmen, egal, wie piepsig meine Stimme klang.
Meine Mutter presste lediglich die Lippen etwas fester aufeinander als üblich, während meinem Vater in jedem guten Comic Rauch aus den Ohren gequollen wäre.
»Fängst du etwa wieder mit diesem Schwachsinn an?«, polterte er los. »Ich habe dir schon einmal gesagt, dass du in deiner Freizeit so viel singen kannst, wie du willst. Aber für deine Zukunft lernst du etwas Vernünftiges! Träumereien bezahlen keine Miete und damit ist das Thema beendet!«
»Aber Papa«, setzte ich an, doch er unterbrach mich mit einer unwirschen Handbewegung.
»Nein, Emily! Genug von diesen Albernheiten. Darüber diskutiere ich nicht mit dir.«
Ich kämpfte gegen die Tränen an. Spürte, wie sie mir den Hals zuschnürten, und stand auf, ehe ich sie nicht länger zurückhalten konnte. Mit schnellen Schritten verließ ich die Küche, ignorierte das Rufen meiner Mutter und floh in mein Zimmer.
Dort warf ich mich aufs Bett und vergrub weinend mein Gesicht im Kissen. Das hatte ich nun davon. So viel zum Thema Verständnis der Eltern. Das Geräusch der sich öffnenden Tür ließ mich den Kopf anheben. Im Türrahmen stand meine Mutter und sah mich besorgt an.
»Was … willst du?«, fragte ich, von einem erstickten Schluchzen unterbrochen.
Sie machte zögernd einen Schritt ins Zimmer. »Emily … was dein Vater damit sagen wollte …«
»Dass es egal ist, was ich möchte? Ist angekommen.« Ich spürte, wie Tränen über meine Wangen liefen und schließlich von meinem Kinn tropften. Ich rollte mich auf die Seite und kehrte ihr den Rücken zu.
»War es denn wirklich notwendig, ihn so zu reizen? Eine Schule für Musik und Tanz. Hätte es nicht einfach nur eine andere Richtung sein können? VWL zum Beispiel? Du weißt doch, wie er ist.«
Ein Laut entwich mir, halb Lachen, halb Schluchzen. »Ich habe euch gesagt, was ich mir wünsche. Was sich richtig anfühlt. Aber ihr interessiert euch überhaupt nicht dafür, was ich möchte. Ihr seid gefangen in der Illusion, es gäbe nur einen richtigen Weg. Dass es nicht mein Weg ist, blendet ihr komplett aus.«
»Das stimmt doch nicht, Emily. Wir wollen nur das Beste für dich.«
»Vielleicht ist das Beste für mich aber nicht das, was ihr darunter versteht. Und jetzt lass mich in Ruhe.« Ohne mich umzudrehen, zog ich die Decke über mich.
Später am Tag, als die letzten Tränen versiegt waren, floh ich zu Emil. Vorgewarnt durch eine knappe und etwas wirre Sprachnachricht, empfing er mich mit einer Tafel meiner Lieblingsschokolade. Während ich ihm von dem Desaster am Frühstückstisch berichtete, kamen mir erneut die Tränen.
»Es tut mir leid, dass es so gelaufen ist. Ich hatte wirklich gehofft, dass sie dir zuhören und ihr gemeinsam eine Lösung findet«, entschuldigte er sich.
»Es ist nicht deine Schuld. Ich hätte es besser wissen müssen. Aber mit einer Sache hattest du dennoch recht: Es kann so nicht weitergehen.«
Er sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Du willst doch nicht etwa trotzdem an die HfMT wechseln, oder? Nicht, dass ich dich nicht unterstützen würde, aber das könnte ordentlich Ärger mit deinem Vater geben.«
Ich schüttelte energisch den Kopf. »Nein, so verrückt bin ich nicht. Aber jeder hat mal klein angefangen und deswegen habe ich beschlossen, bei Deutschland singt teilzunehmen. Nächste Woche ist das offene Casting in Köln und es würde mich sehr freuen, wenn du mitkommst.«
Er sah mich einen Moment schweigend an und mir kamen Zweifel an meinem Plan. Vielleicht hatte er es sich anders überlegt und war zu seiner ursprünglichen Meinung über Castingshows zurückgekehrt. Doch dann lächelte er.
»Klingt nach einem Plan. Sag mir wann und wo und ich bin dabei. Du wirst allen zeigen, was in dir steckt. Nicht, dass ich das nicht schon längst wüsste.« Er gab mir einen Kuss auf die Stirn und ich musste ihn einfach anstrahlen.
DieNervosität,währendich den Fragebogen ausfüllte, war größer als gedacht. Seitdem ich wusste, dass ich an dem Casting teilnehmen würde, war sie zu einem steten Begleiter geworden. Glücklicherweise hatte ich nur drei Tage überstehen müssen, aber die hatten mir bereits gereicht.
Mit einem Lächeln schob ich den ausgefüllten Fragebogen über den Tresen und drehte mich zu Emil um. Dieser ließ aufmerksam seinen Blick durch den Eingangsbereich schweifen. Fast wirkte es, als scanne er die anderen Teilnehmenden.
»Erstellst du gerade Steckbriefe über die Konkurrenz?«, zog ich ihn auf.
Er grinste mich an. »Taktik ist das A und O. Wenn es auf nahezu alle anderen Lebensbereiche zutrifft, dann doch bestimmt auch auf eine Castingshow.«
Ich lachte und fühlte, wie die Nervosität ein kleines bisschen nachließ. »Du weißt doch, dass ich eine miese Taktikerin bin. Bei den meisten Gesellschaftsspielen, die ein bisschen mehr Nachdenken erfordern, hast du mich immer gnadenlos geschlagen.«
»Das liegt daran, dass dein Kopf irgendwo zwischen den Wolken schwebt. Aber dann weiß ich Bescheid und stelle die Spionage der Konkurrenz vorerst ein.« Er salutierte und schlug dabei die Hacken zusammen, was mich erneut zum Lachen brachte.
Wir suchten uns einen freien Platz an einem Stehtisch und nun nutzte auch ich die Chance, mich genauer im Raum umzusehen. Es schien keine Altersgruppe zu geben, die nicht vertreten war. Mein Blick kreuzte sich mit dem eines Mädchens, das in meinem Alter sein musste, und wir tauschten ein unsicheres Lächeln. Dann richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Emil. »Es wird vermutlich eine Weile dauern, bis ich an der Reihe bin.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe den ganzen Tag Zeit. Wie fühlst du dich? Möchtest du noch irgendwelche Übungen machen? So wie bei diesem einen Musical-Film?«
Ich verdrehte die Augen, trotzdem hoben sich meine Mundwinkel. »Dass du dich ausgerechnet an diese Szene erinnerst, wenn es doch nicht einmal für den Filmtitel reicht. Da ich nicht weiß, wie man so etwas richtig macht, passe ich lieber. Am Ende blamiere ich mich nur fürchterlich.«
»Wie du meinst.« Er kramte in seinem Rucksack und zog eine Flasche Wasser hervor. »Möchtest du auch etwas?« Als ich den Kopf schüttelte, schraubte er den Drehverschluss auf und nahm einen großen Schluck.
»Ist das dein erstes Casting?« Ich wandte mich der fremden Stimme zu und erblickte das Mädchen, das mir zuvor so freundlich zugelächelt hatte.
»Oh, hi. Ja, ist es. So offensichtlich?« Ich schob mir nervös eine Strähne meines Haares hinters Ohr.
»Ein bisschen.« Sie lächelte und dabei funkelten ihre Augen. »Ich bin Sara.«
»Emily.« Ich ergriff ihre ausgestreckte Hand und schüttelte diese kurz. »Und das hier ist Emil.«
»Emily und Emil? Was für ein Pärchen.« Sie lachte und setzte sich auf den Stuhl gegenüber. Dabei wippten ihre schwarzen Locken auf und ab.
»Hast du schon häufiger an so etwas teilgenommen?«, fragte Emil interessiert.
»Nicht für Gesangsshows, aber ich habe an ein paar kleineren Filmcastings teilgenommen. Letztendlich ist es doch immer irgendwie gleich. Da sind die Extrovertierten.« Sie nickte zu einem jungen Mann, der von einigen anderen umringt war und gerade einen Song aus den Charts performte. »Die Untalentierten, aber Unterhaltsamen.« Nun wies ihr Blick in die Richtung einer älteren Frau, die gerade für die Kamera sang und dabei jeden Ton verfehlte. Ihr Gesicht war unter einer dicken Schicht Make-up versteckt und alles an ihr war grell und auffällig. »Die Entspannten.« Hier breitete sie die Arme weit aus, als präsentierte sie sich selbst. »Und schließlich die Schüchternen beziehungsweise Newbies. Darunter fällst du.«
Sara lehnte sich entspannt auf ihrem Stuhl zurück und bei ihrem Anblick fiel ein weiterer Teil meiner Anspannung von mir ab. »Hast du denn Tipps für einen Newbie wie mich?«
»Lass dich nicht verrückt machen und bleib du selbst. Entweder es klappt, oder es soll vielleicht einfach nicht sein. Aber wer weiß, ob Tipps von mir wirklich hilfreich sind. Immerhin bin ich bisher noch keine berühmte Schauspielerin geworden.« Sie zwinkerte mir zu.
Emil lachte. »Es ist also nicht immer hilfreich, die Konkurrenz auszufragen, das müssen wir uns merken!«
Auch ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Saras Art erinnerte mich an meine beste Freundin aus der Schule. Diese war gerade im Ausland, um etwas von der Welt zu sehen, bevor der Ernst des Lebens beginnen sollte. Kein Wunder, dass Sara mir auf Anhieb sympathisch war.
»Wie vertreibt man sich denn am besten die Zeit bis zum eigenen Auftritt? Wenn ich hier nur herumsitze, sterbe ich vorher vor Nervosität.«
»Das klingt, als wolltest du nicht unbedingt vor allen dein Können demonstrieren. Man kann natürlich auch mit den anderen zusammen singen. Oder packt wie früher die guten alten Gesellschaftsspiele aus.« Mit diesen Worten zog sie eine abgegriffene Packung Uno aus ihrer Umhängetasche.
Emil schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Natürlich! Dass ich nicht selbst auf die Idee gekommen bin. Du hast doch extra mal eine kleine Reiseversion besorgt, die wir dann nie mitgenommen haben.«
»Also, was ist? Wollen wir eine Runde spielen? Vielleicht finden wir noch jemanden, der Lust hat, je mehr Mitspielende, desto lustiger wird es.« Wir stimmten mit einem Nicken zu und es dauerte nicht lange, bis wir noch drei weitere Teilnehmende gefunden hatten, die über eine Ablenkung ebenso froh waren.
Michelle und Nina waren beste Freundinnen und hatten sich daher gemeinsam angemeldet, obwohl ich den Verdacht hegte, dass nur eine der beiden auch wirklich singen konnte. Laurenz konnte seinen Blick nicht von Sara abwenden und hatte vermutlich nur zugesagt, um sie näher kennenzulernen.
Unsere Spielerunde wurde unterbrochen, als zuerst Laurenz und schließlich ich zur Vorjury gerufen wurden. Meine Nervosität ließ sich nicht leugnen, dennoch beruhigte mich der Gedanke, nicht direkt vor der bekannten Jury auftreten zu müssen.
Eine Assistentin wies mir den Weg in einen etwas abgelegenen kleinen Raum. Dort saßen drei Angestellte des Fernsehsenders. Eine durchtrainierte Mittfünfzigerin, deren graues Haar zu einem strengen Dutt zusammengebunden war, der hervorragend zu ihrem Auftreten passte, schien das Sagen zu haben. Dann waren dort noch eine schlanke junge Frau, die alles auf einem Klemmbrett notierte, und ein übergewichtiger Mann, der ein Sprücheshirt trug. Ich schätzte ihn auf etwas über vierzig. Durch das Shirt, gepaart mit einem offenen, freundlichen Lächeln, war er mir auf Anhieb sympathisch. Sie stellten sich als Vera, Sophie und Tom vor.
»Also …« Vera blickte auf einen Zettel vor sich und las dort ab: »Emily. Was möchtest du singen?«
Ich schluckte und nestelte an dem Bund meines T-Shirts. »Am liebsten würde ich Draußen ist Freiheit aus Tanz der Vampire singen.« Als Sophie mich fragend ansah, schob ich eilig nach: »Aber ich habe auch etwas Aktuelleres vorbereitet.«
Vera wedelte abwehrend mit der Hand. »Nein, nein. Musical ist gut. Mal etwas anderes.«
»Ich finde das Musical großartig«, warf Tom ein und ich fühlte mich direkt darin bestätigt, ihn sympathisch zu finden.
Jemand gab mir ein Mikrofon und ich stellte mich auf die am Boden markierte Stelle. Die Ränder des Klebestreifens lösten sich stellenweise bereits. Kaum hatten die ersten Takte eingesetzt, spürte ich den Wandel, den Musik stets in mir hervorrief. Mein Herz schien leicht zu werden und sämtliche Sorgen verblassten. Selbst die Jury - und damit verbunden die Nervosität - trat in den Hintergrund. Während ich sang, fühlte ich mich frei und spürte dennoch die Sehnsucht, die das Lied vermitteln wollte.
Als ich schließlich geendet hatte, glaubte ich ebendiese Begeisterung auch in den Augen der drei Juroren zu sehen. Sie berieten sich kurz, dann nickte Vera. »Wir haben beschlossen, dass die Jury deinen Auftritt sehen sollte. Wir setzen dich auf die Liste. Du wirst im Laufe des Tages aufgerufen, halte dich daher bitte in der Nähe auf. Wenn du deinen Einsatz verpasst, gibt es keine Wiederholungsmöglichkeit.«
»Danke schön«, brachte ich etwas atemlos heraus und spürte, wie sich ein Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete. Die erste Hürde, so klein sie auch schien, hatte ich genommen.
Draußen fiel ich als Erstes Emil um den Hals, der mir so weit wie möglich gefolgt war. »Ich habe es geschafft! Ich darf vor die Jury«, jubelte ich.
Er gab mir einen Kuss und lächelte mich freudig an. »Daran hatte ich keinen Zweifel. Die Jury wirst du auch noch begeistern, glaub mir.«
Noch immer trug ich dieses breite Lächeln im Gesicht und hatte das Gefühl, jeden Moment vor Glück platzen zu müssen. Ein erster Schritt war getan und egal, wie es später weiterging, zumindest diesen Erfolg konnte ich für mich verbuchen.
WährendMichelleundNina schließlich auch verschwanden und genauso wie Laurenz nicht mehr auftauchten, blieb Sara bei uns. Wir spielten noch einige Runden Uno, ehe auch sie zur Vorjury gerufen wurde. Als sie zurückkam, strahlte sie geradezu vor Selbstbewusstsein und ließ damit jeden Zweifel an ihrem Weiterkommen verblassen. Auch wenn ich den Verdacht hegte, dass sie eine starke Konkurrentin sein würde, empfand ich nichts als Freude. Konkurrenzdenken war noch nie meins gewesen und würde es vermutlich auch nicht mehr werden. Mir ging es gut, wenn es den Menschen um mich herum gut ging, das schloss neue Bekanntschaften ein.
Hatte der erste Auftritt mir etwas von meiner Nervosität genommen, so stieg sie nun mit jedem Teilnehmenden an, der im Hauptraum verschwand. Vermutlich wäre es besser gewesen, mich so zu setzen, dass ich keinen Blick darauf hatte, dachte ich, doch dafür war es jetzt zu spät. Obwohl einige bereits gegangen waren, war es noch immer brechend voll.
Irgendwann wurde Sara wieder aufgerufen. Mit einer Verbeugung verabschiedete sie sich von uns und stapfte selbstbewusst auf die Tür zu, die uns von dem Gang zur Jury trennte.
»Ich wünsche ihr, dass sie weiterkommt. Sie ist unglaublich freundlich.«
»Hey, nicht die Konkurrenz anfeuern! Das Ziel ist, dass du weiterkommst«, rügte Emil mich scherzhaft. »Aber ja, sie ist wirklich sehr sympathisch. Und macht auch nicht den Eindruck, als sei es nur Show.«
Ich nickte. Gebannt behielt ich die Tür im Auge, es schien eine Ewigkeit zu dauern, ehe diese sich wieder öffnete und Sara heraustrat. Sie schloss die Tür hinter sich, suchte meinen Blick und hielt triumphierend den gelben Zettel in die Höhe.
Mit lautem Jubel sprang ich vom Stuhl und eilte ihr entgegen. Die auf sie gerichtete Kamera ignorierte ich dabei geflissentlich, so richtig geheuer war sie mir nämlich nicht.
Sara strahlte über das ganze Gesicht. »Offensichtlich war der Gedanke, es mal mit Gesang statt Schauspiel zu probieren, der richtige. Jetzt musst du erst recht weiterkommen! Dann kennen wir einander schon und können uns gegen die anderen Teilnehmenden verbünden.«
»Ich glaube, du hast zu viel Zeit mit Emil verbracht.« Mit hochgezogener Augenbraue sah ich ihn an und er hob abwehrend die Arme.
»Schieb es nicht auf mich. Vielleicht hat sie das Prinzip eines Wettbewerbs einfach besser verstanden.«
»Hey!« Ich gab ihm spielerisch einen Schubs.
»Wobei …«, korrigierte er sich. »Ganz hat sie es auch nicht verstanden, sonst würde sie nicht mit dir paktieren. Es sei denn, sie hintergeht dich zum Schluss. Oh, das ist wirklich clever!« Er hob den Zeigefinger und wedelte damit in der Luft herum.
Sara brach in schallendes Gelächter aus. »Ihr spinnt doch. Aber beide.«
An diesem Punkt beschloss ich, dass es ein guter Tag war. Unabhängig davon, wie das Casting für mich ausgehen würde. Die Zeit war so in jedem Fall besser investiert als in die Uni-Kurse, die ich eigentlich gehabt hätte. Eilig schob ich die Gedanken daran wieder in eine abgelegenere Ecke meines Bewusstseins.
Sara bestand darauf, mit uns zusammen zu warten, und so beendeten wir noch die ein oder andere Runde Uno, ehe mein Name über die Lautsprecher ausgerufen wurde. Ich atmete tief ein und aus und legte meine Handkarten auf den Tisch. »Drückt mir die Daumen.«
Emil sprang auf und gab mir einen Kuss. »Du schaffst das!«
Ich schenkte ihm ein Lächeln, in das ich all meine Zuversicht legte, und straffte die Schultern. Dann ging ich auf die Assistentin zu, die schon suchend ihren Blick durch den Raum schweifen ließ.
»Du musst einfach nur geradeaus gehen, bis du am Ende des Flurs angekommen bist, und dann rechts durch die geöffnete Tür. Die Kameras am besten einfach ignorieren. Viel Glück.«
Ich nickte einmal kurz, um zu signalisieren, dass ich verstanden hatte, und weil ich nicht sicher war, ob ich einen vernünftigen Satz zustande gebracht hätte. Möglichst leise, ohne zu wissen, warum, folgte ich dem Gang, bis ich mehrere Stimmen vernahm. An einige von ihnen erinnerte ich mich, obwohl ich sie bisher lediglich aus dem Fernsehen kannte. Vorsichtig warf ich einen Blick in den Hauptraum. Von der Tür aus konnte ich geradewegs die Juroren hinter ihrem Tisch sehen. Links saß Vincent, ein bekannter Tänzer und Choreograf, daneben Kalliope, eine der bekanntesten, wenn nicht sogar die bekannteste Musikproduzentin Deutschlands. Danach folgte Jerome, der Gewinner der allerersten Staffel, und neben ihm Valerie, eine Produzentin diverser Fernsehshows.
Ehe ich es mir anders überlegen konnte, entdeckte Jerome mich und winkte mir zu. »Komm ruhig rein, nur keine Scheu.« Es war merkwürdig, jemanden live zu treffen, den man im Fernsehen sah. Auf der einen Seite hatte ich das Gefühl ihn bereits zu kennen, immerhin waren mir sein Lächeln, Verhalten und die Stimme bereits vertraut. Auf der anderen hatte er bis gerade nicht einmal gewusst, dass ich existierte.
Nun richtete sich auch die Aufmerksamkeit der anderen Juroren auf mich und ihre Gespräche verstummten. Also schmiss ich meine verbliebenen Zweifel über Bord und steuerte erneut eine Markierung auf dem Boden an. Auf dem Weg dorthin drückte mir jemand ein Mikrofon in die Hand. Das Rauschen des Blutes in meinen Ohren schien alles dafür zu geben, die Umgebungsgeräusche auszublenden. Auf der Bodenmarkierung - dem Logo der Show - angekommen, blieb ich stehen und fasste die Jury ins Auge.
Die beiden Frauen waren in sommerlich leuchtende Farben gekleidet. Kalliope trug ein rotes Trägerkleid, ihre braunen Haare fielen in seidig glänzenden Locken weit über die Schultern. Ihre Lippen waren im gleichen Farbton wie dem des Kleides geschminkt. Im Vergleich dazu war das Augen-Make-up eher unauffällig, doch ihre Erscheinung strahlte geradezu. Valerie war nicht weniger eindrucksvoll, wenn auch auf eine andere Art. Ihre Augen waren dunkel geschminkt, das Gesicht von einigen blonden Haarsträhnen eingerahmt. Der Rest war zu einem lockeren Zopf geflochten, den sie auf einer Seite über die Schulter nach vorne gelegt hatte. Ihr babyblaues Oberteil hob sich leuchtend von ihrer gebräunten Haut ab.
Die Männer dagegen waren unspektakulär gekleidet. Jerome trug ein dunkelbraunes T-Shirt irgendeiner bekannten Marke und die Haare lässig zerzaust, während Vincent sich für ein weißes Hemd entschieden hatte und seine Haare wenige Millimeter kurz waren. Alle machten einen freundlichen Eindruck, vermutlich, um Kandidaten wie mich, nicht direkt zu verschrecken. Ich räusperte mich kurz.
»Hallo. Mein Name ist Emily, ich bin 19 Jahre alt und studiere BWL hier in Köln«, stellte ich mich vor.
»BWL… hat man damit heutzutage überhaupt noch Jobchancen, wenn man nicht zu den besten Absolventen gehört?«, fragte Valerie mehr in die Runde als an mich gewandt.
»Na ja -«, setzte ich an, doch sie sprach einfach weiter, als hätte sie mich gar nicht gehört.
»Also, was bringt ein junges, musikbegeistertes Mädchen dazu, BWL zu studieren? Nach diesem Fragebogen hier würde ich dich viel eher in eine künstlerische Sparte einsortieren. Waren es vielleicht deine Eltern? Mit dem BWL, meine ich.«
Für einen Moment wusste ich nicht, was ich sagen sollte. War ich so gläsern, dass anderthalb Sätze und ein Fragebogen ausreichten, um mich zu durchschauen? Schließlich fand ich meine Sprache wieder: »Das stimmt so ziemlich.«
Valerie lehnte sich mit einem zufriedenen Lächeln in ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Und was wirst du heute für uns singen?«, fragte Jerome und führte auf ein Terrain zurück, auf dem ich mich wesentlich sicherer fühlte.
»Draußen ist Freiheit.«
Kalliopes Augen weiteten sich. »Das ist eine interessante Wahl. Bist du sicher?«
Ich schluckte gegen den Kloß an, der sich in meinem Hals bildete. Leiser Zweifel regte sich, doch ich bejahte.
Kalliope lächelte und nickte mir zu. »Dann leg mal los.«
In der Hoffnung, so einen Teil der Anspannung abzubauen, wechselte ich von einem Bein auf das andere, gab schließlich jedoch auf und verankerte meine Füße fest im Boden. Dann räusperte ich mich erneut und wartete auf das Einsetzen der Musik. Zu Beginn wackelte meine Stimme ein wenig, doch ich bekam sie schnell wieder in den Griff. Nutzte die männliche Stimme des Playbacks, um mich zu sammeln, und als Sarahs Part einsetzte, hatte ich vollständig in das Lied gefunden.
Um die Jury nicht unablässig anzustarren, schloss ich immer wieder die Augen. Legte all meine Gefühle und Hoffnungen in das Lied. Überraschenderweise ließen sie es mich in voller Länge singen und alleine das beflügelte mich. Mit rasendem Herzen stand ich auf der Markierung und wartete auf ihr Urteil.
Jerome war der Erste, der sprach: »Das war etwas Besonderes und es hat mir wirklich gut gefallen! Man hat gemerkt, dass du das Lied fühlst.«
»An der Körperspannung musst du noch arbeiten. Teilweise hast du den Eindruck vermittelt, nicht genau zu wissen, was du mit deinen Gliedmaßen tun sollst. Aber deine Stimme gefällt mir gut und ich denke, aus dir kann man noch viel rausholen«, steuerte Vincent seine Meinung bei.
Valerie schürzte die Lippen. »Richtig spannend finde ich dich nicht. Du siehst süß und lieb aus, keine Frage, nur ist süß und lieb das, was wir suchen? Deine Stimme hingegen ist tatsächlich etwas Besonderes. Und wenn man es schafft, aus der äußeren Hülle noch etwas Besonderes zu machen, hast du Potenzial.«
Hatte sie mich nun beleidigt oder gelobt? Sicher konnte ich es nicht sagen, dafür schwirrte mir zu sehr der Kopf von den vielen verschiedenen Eindrücken.
Gespannt richtete ich meine Aufmerksamkeit auf Kalliope. Als Musikproduzentin wusste sie am besten, wer und was sich gut vermarkten ließ und Potenzial hatte, zu den Großen zu gehören. Ihr stechender Blick schien mich zu durchdringen, doch schließlich hob der Hauch eines Lächelns ihre Mundwinkel. »Deine Stimme ist etwas Besonderes, das haben wir alle verstanden. Ich denke, sie ist die Basis für etwas Umwerfendes. Deswegen erhältst du meinen Joker.« Mit diesen Worten zog sie eine goldene Spielkarte aus ihren Unterlagen hervor und hielt sie gut sichtbar für die Kameras in die Luft.
ObwohldasCastingnun schon einige Tage hinter mir lag, konnte ich mein Glück noch immer nicht fassen. Nicht nur war ich weitergekommen, Kalliope hatte mich sogar die nächsten Runden überspringen lassen. Es hatte mehrere Anläufe gebraucht, bis ich Emil und Sara berichten konnte, was passiert war. Vor lauter Aufregung waren meine Sätze immer wieder durcheinandergeraten und rückblickend war es wohl nicht ganz einfach gewesen, mir zu folgen. Sara war vollkommen aus dem Häuschen gewesen, keine Spur von Neid oder Eifersucht. Bei der Verabschiedung hatte sie kurz geklagt, dass sie sich nun allein durch die Recalls kämpfen musste. Doch ehe ich etwas erwidern konnte, lachte sie und meinte, ich solle nicht alles ernst nehmen, was sie von sich gebe. Wir hatten Telefonnummern ausgetauscht und nun hielt sie mich auf dem Laufenden, was die übrigen Teilnehmenden anging.
Ich selbst führte seit dem Casting einen aussichtslosen Kampf, mich auf das Studium zu konzentrieren. Die meiste Zeit erwischte ich mich dabei, gedankenverloren aus dem Fenster oder auf einen Fleck an der Wand zu starren. Da das Semester gerade erst begonnen hatte, waren Klausuren in weiter Ferne und so hielt sich meine Bereitschaft, nach den Vorlesungen etwas zu tun, in Grenzen. Stattdessen überlegte ich, wie ich mich vorbereiten konnte. Immerhin erhielten die anderen Kandidaten in der Zwischenzeit professionelle Hilfe. Einige dieser Tipps gab Sara mir bei unseren regelmäßigen Telefonaten weiter. Ansonsten fühlte Emil sich dazu berufen, einen Gesangscoach zu ersetzen, und präsentierte mir regelmäßig neue Stimmtrainings. Bei manchen hatte ich allerdings den Verdacht, dass sie lediglich seiner Unterhaltung dienten.
Die Stimmung zu Hause hatte sich nach dem Streit mit meinem Vater wieder beruhigt. Alle Beteiligten vermieden es, das Thema anzusprechen, und ich genoss, dass mich niemand fragte, wie das Studium lief. So flogen die Wochen an mir vorbei, bis es auch für mich endlich bei der Show weiterging.
Wie in den vorherigen Staffeln, sollte ein Teil der Vorrunden im Ausland gedreht werden. Dieses Jahr stand Südfrankreich auf dem Plan. Zwar nicht so spektakulär wie in den letzten Jahren, doch ich freute mich auf das Land und war froh, keinen extremen Klimaschwankungen unterworfen zu werden. Wenn ich etwas nicht brauchte, dann war es eine Luftfeuchtigkeit von über 80% oder Temperaturen um die 50 Grad.
Meinen Eltern hatte ich erzählt, dass ich Urlaub dort machen würde. Nach einer skeptischen Frage, wer diesen bezahlen solle, gaben sie sich damit zufrieden, dass sie es nicht sein würden. Emil brachte mich schließlich mit dem Wagen seiner Eltern zum Flughafen. Der Trip war auf zehn Tage ausgelegt, sodass ich meine Klamotten problemlos in einem großen Koffer unterbringen konnte. Als ich am Flughafen jedoch sah, wie viel Gepäck die anderen zum Teil bei sich hatten, beschlich mich das ungute Gefühl, etwas vergessen zu haben.
»Mach dir keine Sorgen«, versuchte Emil mich zu beruhigen. »Schau dir einige von den Frauen doch mal an. Da ist ein Koffer allein für das ganze Make-up reserviert. Und du bist auch niemand, der mehrmals am Tag das Outfit wechselt.