Die Stille vor Lilou - Astrid Korten - E-Book
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Astrid Korten

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Beschreibung

„Wenn man den Pfad der Vergeltung beschreitet, soll man zwei Gräber ausheben.“ (Konfuzius) Jules Lefèvre ist Lehrer an der Public École im normannischen Lion-sur-Mer. Jules und seine Frau Malin genießen das Familienglück mit der kleinen Tochter Lilou. Doch dann zwingt ein Burn-out Jules, sich zu Hause einzuigeln. Die Genesung verläuft schwierig, denn seine Wahrnehmung ist getrübt. Er ist psychisch instabil und paranoid. Auch als ihm Paul Moreau, der Rektor seiner Schule, einen Besuch abstattet, misstraut Jules dessen Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Dennoch beschließt er schließlich, den Ratgeber über „Achtsamkeit“ zu lesen, den Moreau ihm zur Genesung mitgebracht hat. Als sich Jules endlich halbwegs erholt hat, schlägt das Schicksal erbarmungslos zu … „Korten macht aus dem pathologischen Verhalten der Protagonisten ein meisterhaftes Spiel um Wahrheit und Dichtung.“ Westdeutsche Allgemeine Zeitung

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 Über das Buch

 

 

 

 

 

„Wenn man den Pfad der Vergeltung beschreitet, soll man zwei Gräber ausheben.“ (Konfuzius)

 

Jules Lefèvre ist Lehrer an der Public École im normannischen Lion-sur-Mer. Jules und seine Frau Malin genießen das Familienglück mit der kleinen Tochter Lilou. Doch dann zwingt ein Burn-out Jules, sich zu Hause einzuigeln. Die Genesung verläuft schwierig, denn seine Wahrnehmung ist getrübt. Er ist psychisch instabil und paranoid.

Auch als ihm Paul Moreau, der Rektor seiner Schule, einen Besuch abstattet, misstraut Jules dessen Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Dennoch beschließt er schließlich, den Ratgeber über „Achtsamkeit“ zu lesen, den Moreau ihm zur Genesung mitgebracht hat. Doch als sich Jules endlich halbwegs erholt hat, schlägt das Schicksal erbarmungslos zu …

 

„Korten macht aus dem pathologischen Verhalten der Protagonisten ein meisterhaftes Spiel um Wahrheit und Dichtung.“

Westdeutsche Allgemeine Zeitung

 

 Malin

 

 

 

 

 

 

 

„Ich habe dich nicht verlassen, ich bin dir nur ein Stück voraus.“

(Malin)

 

 

 

 

 

 Der Raubvogel

 

 

 

 

 

Vor einem Monat ist meine Frau beerdigt worden. Es war ein trauriges Ereignis, aber mich machte es nicht traurig.

Am frühen Morgen betete die ganze Familie im Wohnzimmer neben dem Sarg, und alle erschraken, als etwa zur Hälfte des Gebets plötzlich unter Malins Körper das Kühlsystem ansprang.

Meine Schwiegermutter schnellte als Erste von ihrem Stuhl hoch. „Das ist ein Zeichen!“, rief sie.

Einen Moment lang dachte ich, sie mache einen unangemessenen Scherz, aber sie wiederholte ihre Worte mit tödlichem Ernst, während sie Malins kalte Hand ergriff.

Mein Vater beugte sich ebenfalls über den Sarg. „Das kann kein Zufall sein“, flüsterte er und schaute sich das Gesicht meiner Frau genau an, als wäre sie wieder zum Leben erwacht und würde gleich die Augen aufschlagen.

Entgeistert starrte ich meine Verwandten an, die dem Gerät, das der Bestattungsunternehmer in der Nacht zuvor angeschlossen hatte, völlig neue Funktionen zuschrieben.

Mir war das plötzliche Einschalten der Kühlung vertraut. Ich hatte die vergangene Nacht still neben dem Sarg verbracht, meine linke Hand auf Malins Haut. Ich hatte mein Herz gespürt, wie es dumpf gegen ihren eingefallenen Brustkorb pochte, und gedacht, dass es jetzt niemanden mehr gab, der mich erwartete, niemanden, der das Bett vorwärmte.

Das Kühlgerät schaltete sich jede halbe Stunde ein. Offenbar war es in unserem Haus zu heiß. Aber vielleicht habe ich ihren Körper mit meiner Berührung auch nur zu sehr gewärmt.

Einige Wochen zuvor war der Sarg meiner Tochter Lilou nicht geöffnet gewesen. Sechs goldfarbene Kugelschrauben, um einen Meter fünfzig fest zu verschließen. Nichts konnte mehr berührt werden. Ich war extra in die Rechtsmedizin gegangen, um Lilou vor der Versiegelung des Sargs noch einmal zu sehen. Ich musste sie anschauen, um zu verstehen, was passiert war.

Ein Mitarbeiter versuchte, mich davon abzuhalten. Aber ich ging einfach um den Mann herum und zog mit einem Ruck das Laken von ihrem zerstörten kleinen Körper.

Ich bin sicher, dass die Ärzte ihr Bestes getan hatten, um die Spuren der Stoßstange zu beseitigen. Aber sie waren kläglich gescheitert, und ich wurde ohnmächtig.

 

Meine Mutter unterbrach meine Gedanken. „Können wir das Gebet nun fortsetzen?“ Sie setzte sich neben mich, legte ihre faltige Hand auf meine Schulter und beugte sich vor. „Dann wollen wir jetzt um Kraft beten“, flüsterte sie. „Dieser Tag ist für keinen von uns einfach.“ Ihr Atem kräuselte sich um mein Ohr und strich über meinen Nacken.

Ich hätte es vorgezogen, das Beten abzukürzen, denn ich hatte andere Pläne, aber ich faltete die Hände und murmelte: „Lasst uns beten.“

Ein Gebet und einige Schluchzer später schloss ich die Außentür unseres Bauernhauses und sah zu, wie der Teakholzsarg in den Leichenwagen geschoben wurde. Die Proportionen waren auch besser als beim letzten Mal.

Damals … Lilous kleiner Sarg in dem riesigen Auto.

Die anderen sahen schweigend zu. Meine Mutter rauchte neben ihrem Wagen eine Zigarette. Sie hatte einen Arm um ihre Taille gelegt, als würde sie frieren, mit der anderen Hand hielt sie sich die zur Hälfte gerauchte Zigarette vors Gesicht: ein Ausrufezeichen, hinter dem sie sich zu verstecken versuchte. Ohne sie anzusehen, ging ich an den stumm Trauernden vorbei in Richtung Garage.

„Wohin willst du?“, fragte meine Mutter. Mit der Spitze ihres hochhackigen Schuhs drückte sie die Zigarettenkippe zwischen den Kieselsteinen aus, während eine letzte Rauchwolke ihren Lippen entwich.

Ich gab ihr ein Zeichen, dass sie in ihr Auto einsteigen könne. „Ich fahre hinter euch her, Mama“, antwortete ich ruhig.

„Das geht doch nicht, Jules.“ Meine Mutter kam auf mich zu. „Bitte, keine verrückten Sachen heute.“ Sie schlug den Kragen ihres Mantels hoch. Ein eisiger Ostwind wirbelte um das Haus. „Du fährst mit uns oder mit Malins Eltern. So war es abgesprochen.“

„Ich habe es mir anders überlegt. Ich werde selbst fahren.“

„Das ist keine gute Idee, mein Junge.“

„Es gibt niemanden, der mich davon abhalten kann. Nicht einmal du, Mama“, flüsterte ich.

Als ich an dem Leichenwagen vorbeigehen wollte, packte meine Mutter mich am Arm meines Mantels und visierte mich argwöhnisch.

„Du benimmst dich seltsam, Jules.“ Ihre Stimme klang beängstigend kalt.

Ich schaute auf ihre Finger, die sich in den Stoff krallten. Sie waren so dünn, als könnten sie jeden Moment zerbrechen.

„Ich habe mein Kind verloren, und nun ist auch noch meine Frau tot“, erwiderte ich mit eisiger Stimme.

Meine Mutter zuckte bei dem Wort „tot“ zusammen. Ich schmeckte ebenfalls die Härte, mit der ich es ausgestoßen hatte.

Ich wollte ihre faltige Hand mit einem heftigen Ruck abschütteln, aber in diesem Moment tauchte ein Bussard am Waldrand neben dem Haus auf und kam auf uns zu. Er flog tief über uns hinweg zur benachbarten Wiese. Gebannt folgten wir alle seinem Gleitflug bis zur Mitte der Wiese. Kurz schwebte der Raubvogel im Rüttelflug über einem Punkt, als würde er an einem unsichtbaren Faden am Himmel hängen. Er hielt seinen Körper dabei aufrecht, die Flügel standen in einem so großen Anstellwinkel, dass ihr Schlag einen hohen Auftrieb erzeugte. Einen Atemzug später stürzte er pfeilschnell zu Boden, den Schwanz nach unten geklappt und die Beine ausgestreckt, um unmittelbar danach mit einem kleinen Tier zwischen den Krallen wieder aufzusteigen.

„Was für eine Grausamkeit!“, seufzte meine Mutter und wandte sich ab.

Ich erwiderte nichts und behielt den Raubvogel im Auge, der einen Bogen nach rechts machte und wieder im Wald verschwand. Selbst bei der großen Entfernung konnte ich seine Beute hilflos zappeln sehen.

Bei dem Anblick des armseligen Opfers tauchte aus der Kälte meiner Einsamkeit die Vergangenheit wieder auf. Langsam und schmerzlich gab sie sich zu erkennen. Vielleicht, um der Leere der Gegenwart zu trotzen. Bilder, auf denen alle Bewegungen unscharf waren, stiegen aus meiner Erinnerung auf und zersprangen nacheinander in Stücke.

Hätte ich mich vorLilous Tod anders entschieden, dann hätte die Stille vor Lilou ab einem bestimmten Punkt keine Macht mehr über mich gewonnen, dann wäre ich nicht in die Fänge eines Raubtiers geraten.

 

„Dass du dir das unbedingt ansehen musst“, murmelte sie und legte ihre zittrige Hand auf meine Schulter. „Mit dir stimmt doch etwas nicht, Jules. Eine Mutter kann das spüren.“

Sie wandte sich von mir ab und ging zum vorderen Fahrzeug. Bevor sie einstieg, schaute sie noch einmal in meine Richtung, als wollte sie sich von mir verabschieden.

Am Ende des Feldwegs, der zur Hauptstraße führte, wartete der Trauerzug darauf, dass ich mich ihnen mit meinem Auto anschloss. Doch schließlich bog der Leichenwagen nach links in Richtung Kirche ab.

Im Rückspiegel sah ich die Schaukel, die auf dem Rasen im Wind tanzte, als würde ein unsichtbares Kind darauf sitzen. Vor mir bewegte sich der Wetterhahn auf dem Dach unruhig hin und her.

Einen Moment lang blickte ich wieder auf die Trauerfahrzeuge, die meiner Frau langsam folgten, dann fuhr auch ich los. Zuerst ganz leise, zögerlich. Sekunden später wesentlich entschlossener, und schließlich trat ich mit Wucht auf das Gaspedal und lenkte den Wagen in eine scharfe Rechtskurve. Weg von meiner Frau, weg von den Trauernden.

Die Vorderräder schlitterten kurz über den Asphalt, eine Katze eilte vom Straßenrand in eine angrenzende Nebenstraße und sprang vor Schreck auf den Ast eines Baumes. Meine Fingerspitzen kribbelten, mein Herzschlag geriet ein paarmal ins Taumeln.

„Biegen Sie nach dreihundert Metern links ab in die …“, sagte die monotone Stimme. Ich musste versehentlich das Navi eingeschaltet haben, und mir wurde schmerzlich bewusst, dass die Dame im Armaturenbrett mir die letzte Fahrt meiner Frau aufschwatzen wollte.

Ich warf einen letzten Blick in den Rückspiegel und dachte: Es gibt Momente im Leben, in denen uns die Kontrolle entgleitet, in denen wir aus dem seelischen Gleichgewicht geraten und uns egal ist, ob wir uns gesund verhalten oder nicht.

Wie die meisten Menschen hatte ich immer versucht, die Kontrolle zu behalten, bis ich wie das Tier geworden war, das in der Falle saß und vergeblich um sein Leben zappelte. Aber im Gegensatz zu dem kleinen Wesen konnte ich das ändern.

Denn ich hatte jetzt eines begriffen: Gewalt konnte man nur mit Gewalt bekämpfen!

 

Der Abstand zwischen Malin und mir wurde immer größer. Mein Leben endete hier, und übergangslos begann ein neues. Es gab ein Vorher und ein Nachher, ein Früher und ein Jetzt. Früher war eine andere Zeit, ein anderer Ort, ein anderes Universum. Da hatte es noch uns beide gegeben.

Wenn man spürt, dass man alles verloren hat, bleibt einem nur noch die Erinnerung an das Glück, das sich so schnell verflüchtigt hat, durchfuhr es mich. Und dann will das Verdrängte mit aller Macht an die Oberfläche …

Meine Frau war tot. Und mit einem Mal verstand ich die Konsequenz dessen, was nicht mehr war, und dessen, was Jahre zurücklag: Ich habe sie geliebt. Aber es ist zu spät.

 

 

 Burn-out

 

 

 

 

 

Der Tod meiner Frau und meiner Tochter nahm seinen Anfang, als mein Vorgesetzter anrief.

„Jules, ich komme heute vorbei.“ Paul Moreau hatte seinen Namen nicht genannt, aber ich erkannte seine tiefe Stimme sofort. Ich konnte nicht anders, als mich ertappt zu fühlen.

„Heute?“, fragte ich erschrocken.

„Passt es dir nicht?“ In seiner Stimme lag Irritation, Moreau duldete keinen Widerspruch. Mein Herzschlag beschleunigte sich, und in meinem Kopf wurde alles ganz leicht. Jetzt nur nicht hyperventilieren, dachte ich. Ich atmete zwei Sekunden lang ein und hechelte sechs Atemzüge aus, während ich den Hörer mit der Hand abdeckte.

„Bist du beschäftigt?“, fragte Moreau ungeduldig. Wieder sechsmal eine Sekunde lang ausatmen.

„Ich bin einfach nur zu Hause.“ Mit zwei Fingern dehnte ich den Rollkragen meines Pullovers ein wenig. Der Stoff drückte unangenehm gegen meinen Adamsapfel und kribbelte auf meiner Haut.

„Schön“, sagte Paul. „Ich fahre jetzt die Auffahrt hinauf!“ Er unterbrach die Verbindung, bevor ich antworten konnte. Müdigkeit überkam mich. Es war elf Uhr vormittags. Ich wollte in den Laken meines Bettes ertrinken.

Mit ein paar Schritten stand ich am Fenster. Ich schob die Gardinen zur Seite, nur ein wenig, sodass ich von außen nicht gesehen werden konnte, und erblickte ein schwarzes Auto, das in rasantem Tempo den Weg entlangfuhr. Viel zu schnell! Der Sand flog hinter dem Auto hoch und wurde zwischen den Bäumen hindurch auf die Wiese geschleudert.

„Es ist Moreau, er kommt vorbei.“ Der Schweiß perlte auf meiner Stirn.

„Wann?“, fragte Malin. Meine Frau spielte am Esstisch mit unserer Tochter Lilou.

„Jetzt gleich.“

„Wie nett von ihm.“

Ich drehte mich mit einem Ruck um. „Nett? Du glaubst doch nicht, dass der Typ vorbeikommt, um uns eine Freude zu machen? Wenn Paul freundlich sein will, schickt er eine Karte oder eine E-Mail, einen Blumenstrauß, oder er ruft kurz an, aber er kommt sicher nicht selbst vorbei!“

Lilou schaute erschrocken in meine Richtung. Ich versuchte sie mit einem schiefen Lächeln zu beruhigen. Sie zeigte mir die kleine Puppe, die sie mit Malin aus einer bunten Knetmasse gebastelt hatte.

Wieder wurde mir ein bisschen schwindelig. Ich hatte keinerlei Bedürfnis, Kollegen zu Hause zu empfangen, das hatte ich dem Betriebsarzt der Schule ausdrücklich mitgeteilt. Kein Kontakt, bis ich wieder die Energie aufbringen konnte, selbst anzurufen. Ich musste zuerst wieder zur Ruhe kommen. Und wenn jemand meinen Wunsch kannte, dann war es Moreau. Er war immerhin der Rektor der Mixted Public École in Lion-sur-Mer.

Ich sah, wie Moreau aus dem Auto stieg. Sein Blick schweifte über die Weiden, den Hof, die Holzgaragen neben der Einfahrt und verlor sich am Waldrand in der Ferne.

„Das ist kein gutes Zeichen“, überlegte ich laut.

„Du siehst Gespenster“, beruhigte mich Malin. „Lassen wir ihn doch erst einmal hereinkommen. Mal den Teufel nicht gleich an die Wand. Du musst die Dinge einfach auf dich zukommen lassen, Jules.“

Moreau stand vor dem Haus und spähte hinauf zum oberen Stockwerk. Oder sah er den Wetterhahn auf dem Dach an?

„Er ist gekommen, um mich zu feuern“, flüsterte ich. „Das Lehrerkollegium ist doch längst davon überzeugt, dass ich versagt habe.“

„Warum siehst du immer alles gleich so negativ? Immer die pechschwarze Nacht, auch wenn es draußen noch nicht mal dämmert. Er möchte doch nur wissen, wie es dir geht, Jules. Bleib locker!“

„Du kennst Moreau nicht so gut wie ich“, murmelte ich im Vorbeigehen.

 

„Seltsam, dass wir uns erst jetzt kennenlernen“, sagte Malin. Beim Blick über Moreaus Schulter sah ich, wie sie ihn anlächelte, und die Art und Weise, wie sie ihre Augen zu zwei schelmischen Schlitzen zusammenpresste und ihren Kopf leicht schräg legte, berührte mich auf eine unangenehme Weise. Wie ein winziger Dorn stach das Gefühl des Verrats in mein Herz, als Malin sagte: „Es kommt mir vor, als würde ich Sie schon ewig kennen.“

Langsam drehte sich Moreau zu mir um und lächelte. „In diesem Haus wird über mich geredet?“

„Nur positiv, nur das Beste und …“, antwortete ich schnell.

Moreau wandte sich wieder von mir ab, sodass ich die letzten Worte gegen den dunkelblauen Blazer sprach, der sich um seinen breiten Rücken spannte. Der Mann hatte einen Körper wie ein Bodybuilder und kleidete sich so, dass man das gut erkennen konnte. Ja, der Rektor des Mixted Public École in Lion-sur-Mer war eine wahre Führungspersönlichkeit, ein Mann von Format, der über eine natürliche Dominanz und Anziehungskraft verfügte, der man sich kaum entziehen konnte; als wäre seine Gestalt ein Himmelskörper, dessen Schwerkraft die Menschen zwang, sich ihm zuzuwenden.

Mich widerten die Worte an, die ich rasch gehaspelt hatte: nur positiv, nur das Beste. Sie waren jämmerlich defensiv, obwohl es überhaupt keinen Grund gab, ihm gegenüber eine Abwehrhaltung einzunehmen. Warum hatte ich mich gleich so unterwürfig zu verteidigen versucht? Selbstverständlich sprach ich zu Hause über meine Arbeit, in den letzten Wochen mehr denn je, und dabei war natürlich auch hin und wieder der Name meines Vorgesetzten gefallen. Was war dabei?

„Ich hatte mir ein ganz anderes Bild von Ihnen gemacht“, sagte Malin. Wieder zeigte sie Paul Moreau ein scheues Lächeln. Dann schaute sie über seine Schulter zu mir, als suchte sie Zuspruch bei mir. Doch mein Gesicht, dieses gefurchte Gesicht, war wie erstarrt, und ihre Augen zogen sich fragend zusammen.

Im selben Moment wandte sich Paul Moreau voller Energie an mich. „Jules, wie geht es dir?“

Jetzt ist es so weit, dachte ich. Moreau wird mir gleich den Gnadenstoß geben, jetzt, da er gesehen hat, dass ich ein alter Mann in einem jungen Körper bin.

„Ganz gut, danke. Den Umständen entsprechend. Letzte Woche habe ich viel geschlafen und …“, antwortete ich.

„Wunderbar!“ Moreau nickte. „In zwanzig Minuten muss ich wieder in der Schule sein. Ich bin auch nur schnell vorbeigekommen, um dir etwas zu bringen.“

Paul drückte mir ein Buch in die Hand. Auf der Vorderseite war eine sich brechende Welle abgebildet. Mindmapping der Achtsamkeit– Einklang in deinem Leben stand in roten Buchstaben am blauen Himmel über dem schäumenden Wasser. Was für ein bescheuerter Titel!

„Das schien mir genau das Richtige für dich zu sein.“ Moreau klopfte mir auf die Schulter, zu hart für eine freundschaftliche Geste, aber zu weich für eine Ankündigung feindlicher Aktivitäten. „In der wöchentlichen Vorstandssitzung werden stets die Vorkommnisse an der Schule besprochen. Letzte Woche hat Durand natürlich zur Sprache gebracht, dass du mitten im Unterricht die Schule verlassen hast und nach Hause gegangen bist. Diese Aktion sorgte verständlicherweise für Aufregung, besonders unter den Schülern.“ Er wandte sich an Malin, als wüsste sie nichts von diesem Vorfall. „Die Klasse hat gehört, wie Jules sagte: ‚Ich muss mich nur schnell um etwas kümmern‘, und dann stürzte Ihr Mann aus dem Klassenzimmer. Fünf Minuten später sahen die Schüler durchs Fenster, wie er mit dem Fahrrad über den Schulhof davonradelte.“

 

Ich sah mich wieder vor der Klasse stehen, kurz bevor es passierte. Ich erzählte den Schülern gerade von meiner festen Überzeugung, dass sich Geschichte niemals wiederholte, wie das Klischee uns glauben machen wollte, sondern lediglich in die Gegenwart nachhallte und so unter Umständen wieder ähnliche Prozesse auslöste.

„Konflikte werden in der Regel selten wirklich gelöst, und deshalb schwelen auch nach einer Versöhnung die Differenzen weiter, bis sich unterschwellig wieder etwas zusammenbraut“, behauptete ich und wischte den Satz „Die Geschichte wiederholt sich“ dabei von der Tafel.

Ich seufzte und schwieg einen Moment lang. Starrte schweigend auf die verschmierten, ausradierten Worte. Nicht, weil mir der Text ausgegangen wäre oder weil ich die Klasse durch mein Schweigen ermahnen wollte, sondern weil meine Stimmbänder auf einmal ins Stocken geraten waren.

Der Arm, mit dem ich den Text weggewischt hatte, zitterte leicht, und der groteske Drang, meinen Mageninhalt gegen die Tafel zu speien, wurde rapide stärker. Ich presste meine Lippen zusammen, atmete tief durch die Nase ein, schluckte ein paarmal, was den Brechreiz unterdrückte. Noch einmal atmete ich tief ein und aus.

„Das ist allerdings eine nicht ungefährliche Schlussfolgerung“, fuhr ich fort, „denn die These impliziert, dass es besser wäre, zwei Feinde einen Krieg bis zum bitteren Ende fortsetzen zu lassen, als mit einer internationalen Streitmacht einzugreifen und den Konflikt dadurch ins Unterschwellige zu verbannen.“

Wieder verstummte ich. Auch andere Teile meines Körpers begannen zu zittern. Arme, Beine, Unterlippe. Leicht panisch wandte ich mich an die Klasse. Niemand schien mir zuzuhören, wirklich zuzuhören. Leere Blicke starrten mich an, vier Schülerinnen hinten rechts unterhielten sich. Nicht einmal sehr leise. Eigentlich sollte ich etwas sagen zu den Rücken, die mir zugewandt waren, zu dem Flüstern und Kichern, den geschlossenen Büchern, den Heften, die noch in Schultaschen steckten, zu dem Jungen, der schlafend mit vorgebeugtem Kopf auf seinem Tisch lag, zu den Zeichnungen, die auf lose Blätter gekritzelt waren, den Handys, die trotz des Verbots benutzt wurden. Doch ich war nicht im Klassenzimmer anwesend, stand außerhalb dieser Welt, befand mich nicht einmal in meinem Körper. Ich schwebte im All. Oder besser: im Nichts.

Ich löste mich aus dieser bizarren Erstarrung und wandte mich wieder der Tafel zu, setzte meine Geschichte fort. „Wenn es ein Wort gibt, das seine eigentliche Bedeutung kläglich verfehlt, dann ist es ‚Frieden‘.“

Das Sprechen war mühsam geworden. Meine Unterlippe widersetzte sich mir, tat nicht, was sie tun sollte. Die Geräusche hinter meinem Rücken schwollen an, und in diesem Moment kam es mir so vor, als erschlafften die Muskeln in meinen Armen und Beinen. Der Stift in meiner Hand wurde zu einem monströsen Gegenstand, den ich kaum mehr zu halten vermochte.

Ich zwang mich, den Marker in die Aluminiumablage unter dem Whiteboard zu stecken, und wandte mich wieder dem Klassenzimmer zu. Ich hustete. Das Getuschel schien für einen Moment zu verstummen, schwoll aber sofort wieder an. War es Einbildung, oder fiel durch die riesigen Fenster nun ein anderes Licht herein? Ein diffuses, grelles Licht, das harte Linien in die gemeißelten Gesichter der Schüler zeichnete, die mich nun alle anstarrten.

„Leute, hört zu!“ Ich hielt inne, weil ein Zischen durch den Raum zu gehen schien. Es kam von den Schülern, sie verstummten nicht. Meine Stimme klang dünn. „Wir werden es einen Moment anders machen“, hörte ich mich fast flüsternd sagen. „Nehmt jetzt das Buch vor euch und lest euch Absatz vier Punkt drei durch. Ich muss mich nur schnell …“

 

Moreau riss mir das Buch aus der Hand und blätterte es durch, ohne es sich anzusehen. „Niemand hat deinen Burn-out kommen sehen, Jules. Das Einzige, was mir in den letzten Wochen aufgefallen ist, war, dass du ständig über alles etwas zu meckern hattest.“ Der Rektor wandte sich wieder an Malin. „Nichts schien mehr richtig zu sein. Alles war in Auflösung begriffen. In seinen Augen war alles nur noch Chaos. Unterrichten war schwieriger als jeder andere Beruf, die Schüler waren unwilliger als früher, die Arbeitsbelastung war viel zu hoch. Als Durand mir dein Verhalten letzte Woche genau beschrieben hat, kam mir dieses Buch in den Sinn. Mein Yogatrainer hat mich vor einem Jahr darauf aufmerksam gemacht, und seit ich es gelesen habe, habe ich eine andere Einstellung zum Leben gewonnen.“

Moreau drückte es mir wieder in die Hand. Mir war nicht aufgefallen, dass der Herr Rektor sich im letzten Jahr verändert hätte. In der Mixted Public École hatte niemand dazu eine Andeutung gemacht.

Ich lächelte zurückhaltend. Oder sieht es spöttisch aus?

„Ja, Yoga. Ich schätze mal, das hättest du nicht von mir erwartet“, fuhr Moreau selbstgefällig fort und schaute dabei auf seine Uhr. „Hoffentlich bin ich dir nicht zu nahe getreten, Jules. Was ich dir gesagt habe, war nicht persönlich gemeint. Ich will wirklich nur das Beste für dich und natürlich für unsere Schule.“

„Nein, nein. Ich verstehe das schon.“

Wieder ließ Paul sein dämliches PR-Grinsen aufblitzen, aber ich war froh, dass er mir wenigstens nicht die Hand reichte. Ich war stinksauer. Aus allen möglichen Gründen.

„Ich muss dann wieder. War schön, dich zu sehen.“

Als ich ihn hinausgelassen hatte und das Zimmer wieder betrat, sagte Malin fast ehrfürchtig: „Ein außergewöhnlicher Mann, zu dem man einfach aufsehen muss.“

Ich erwiderte nichts, wollte nicht darauf antworten. Ich starrte das Buch an und stellte mir vor, wie ich später am Abend das Kaminfeuer damit füttern würde. Seite für Seite hineinwerfen, damit ich es lange genießen konnte. Ich hatte kein Bedürfnis nach einem bescheuerten therapeutischen Buch, und ich sehnte mich schon gar nicht nach Veränderung. Ich wollte schlafen oder mir stundenlang Filme ansehen, und ich wollte, dass sich das Leben für eine Weile einmal wieder um mich drehte. Nicht um das Prestige der Mixted Public École, nicht um die Zukunft meiner Schüler, nicht um Testergebnisse, Klasseninhalte, Elternabende, Arbeitswochen, Sporttage, Studienwahlen, Meetings, all die Firlefanzprobleme von pubertierenden Mädchen und pickligen Jungs, die ihre Eltern und Lehrer verfluchen.

„Was war das für ein komischer Mann“, hörte ich Lilou zu meiner Frau sagen.

„Er war doch ganz nett“, antwortete Malin lachend.

Ich schlug das Buch an einer x-beliebigen Seite auf und las: Stress beinhaltet drei Faktoren. Da sind natürlich die Ereignisse, die den Stress verursacht haben. Dann ist da noch die Reaktion unseres Körpers auf diese Stresssituationen. Der dritte und entscheidende Faktor aber ist die Art und Weise, wie wir damit umgehen. Dass wir nur bei diesem letzten Faktor eine Wahl haben, ist die schlechte Nachricht, die gute aber ist, dass wir überhaupt eine Wahl haben. Bei Mindmapping der Achtsamkeit geht es darum, die richtige Wahl zu treffen.

Für Moreau war mein Fernbleiben von der Schule offenbar eine Entscheidung, die ich gefällt hatte. Dieser schmierige Scheißkerl tat so, als hätte ich einfach keine Lust mehr, die Schule aufzusuchen!

Ich warf das Buch wütend auf den Esstisch, genau auf die Puppe, die meine Tochter aus bunter Knetmasse gebastelt hatte.

„Was machst du denn da, Papa!?“, kreischte Lilou. Unmittelbar danach begann sie zu weinen.

„Du hast die Beherrschung verloren, Jules. Nun benimm dich doch nicht wie ein Kleinkind!“, zischte Malin.

Normalerweise hätte ich Lilou sofort getröstet und ihr ein „Entschuldigung“ ins Ohr geflüstert, woraufhin sie mich mit einem Schmollmund ansehen würde, ich wiederum ihre Stirn küssen und ihren Hals mit meinen Lippen kitzeln würde, bis sie wieder lachte.

Stattdessen ging ich zum Fenster, schob die Gardinen ein wenig beiseite und sah gerade noch Moreaus Auto in die Hauptstraße einbiegen. Seine Reifen hatten eine Spur durch den Kies gezogen.

„Warum musste er mir unter die Nase reiben, dass ich bei der Vorstandssitzung auf der Tagesordnung stand?“

„Er wollte doch damit nur sagen, dass sie sich Sorgen um dich gemacht haben.“

Ich glaubte, eine Irritation in ihrer Stimme zu hören. Sie nimmt Moreau in Schutz, dachte ich. Sie hat mehr Verständnis für seine Position als für meine. Er hat sie beeindruckt, und jetzt stellt sie sich auf seine Seite. Ich hatte Malin immer vertraut und konnte nun wirklich auch von ihr Loyalität erwarten. Doch die schien sich allein durch sein Auftreten verschoben zu haben. Ob Moreau meine Frau begehrte?, fragte ich mich plötzlich. Ob sie ihn wohl attraktiv fand? Hatte sie das im Grunde nicht sogar zugegeben?

Ich spürte fast schmerzhaft, wie sehr ich Marlin brauchte. Und dann tauchte Moreau hier unerwartet auf, als wollte er sie mir abwerben. Was hatte er hier in meinem Heim überhaupt zu suchen?

Dabei hätte ich heute Morgen noch jeden Eid geschworen, ihre volle Loyalität zu besitzen. Aber es gab doch immer einen Haken, wenn Loyalität im Spiel war. Es dauerte Jahre, um echte Loyalität aufzubauen, und es genügten Sekunden, um sie zu zerstören.

Und für Moreau war Loyalität ohnehin ein Fremdwort.

Verärgert zerknüllte ich den dekorativen Vorhang. „Moreau kann so viel Süßholz raspeln, wie er will. Ich traue dem Frieden nicht. Irgendwas ist da im Busch.“

Frieden. Da war es wieder dieses verlogene Wort.

Hinter mir ertönte ein Seufzer. „Sieh doch nicht immer gleich so schwarz. Er war doch wirklich sehr nett zu dir, Jules. Vielleicht hat er recht, und dieses Buch wird dir helfen. Versuch es doch wenigstens.“

Ihre Stimme vernahm ich nur schwach, als wäre sie durch den Nebel gedämpft, der sich über meine Gedanken legte.

Ich antwortete nicht, und sie wandte sich irgendwann ab und erklärte, sie würde zum Supermarkt fahren. Es drang kaum zu mir durch, denn ich dachte noch immer über Moreaus Auftritt nach.

Achtsamkeit war auch so ein Wort, das Normalität vorgaukelte, wo Empörung angebracht wäre.

Als ich schließlich wieder aus dem Fenster schaute, sah ich Lilou unten am Bordstein sitzen. Sie spielte weder mit ihren Barbiepuppen noch mit dem kleinen Kochherd, an dem sie so viel Spaß hatte, seit Malin ihn ihr vor einer Woche geschenkt hatte. Lilou saß ganz einfach nur traurig da und hielt Ausschau nach ihrer Mutter, die zum Einkaufen im Supermarkt gefahren war. Die Ellbogen auf den Schenkeln und das Kinn in die Hände gestützt, ein vierjähriges Mädchen, das auf seine Mutter wartete. Weil sein Vater es enttäuscht hatte.

Ich fühlte mich plötzlich elend, mir war zum Heulen.

Ich öffnete die Tür und ging auf meine Tochter zu. „Lauf nicht auf die Straße“, sagte ich und nahm Lilou ganz fest in die Arme.

„Tu ich nicht, Papa.“ Sie hauchte es fast nur.

… die Beherrschung verloren …

Lilou hatte nur ein bisschen geweint … nein … nein … die Wahrheit war … ich hatte laut herumgebrüllt. Es war so schwer, sich durch den Nebel jener Wut daran zu erinnern. Da war immer wieder dieser ständige Misston, diese kleine, aggressive Stimme in meinem Hinterkopf.

Ich ließ sie abrupt los und ging wieder ins Haus, setzte einen Kessel Wasser auf und legte für Lilou ein paar Kekse auf einen Teller. Vielleicht kam sie ja doch noch herein und suchte Versöhnung.

Ich setzte mich in den Sessel, den großen Becher vor mir, und schaute aus dem Fenster zu Lilou hinunter. Sie saß immer noch in ihrer dicken Wolljacke am Bordstein.

Die Tränen, die ich die ganze Zeit zurückgedrängt hatte, flossen jetzt. Ich beugte mich über den Becher mit dem duftenden, dampfenden Tee und weinte hemmungslos.

Weinte um die verlorene Vergangenheit und aus entsetzlicher Angst vor der Zukunft.

 

 

 

 Ein Mann auf einer Mission

 

 

 

 

 

Ich muss unbedingt meine Gedanken ordnen. Und dazu musste ich mich ganz von der Welt zurückziehen. Nur dann konnte ich klarer sehen und in aller Ruhe nachdenken. Ich durfte nichts überstürzen und nichts Unüberlegtes tun. Ich wollte alle Umstände berücksichtigen, alle Möglichkeiten bis ins Kleinste vorher durchspielen, damit ich keine unliebsamen Überraschungen erlebte, die mich zum Improvisieren zwangen. Alles sollte perfekt sein, methodisch, durchdacht. Wenn mir in meinem Leben eine einzige Sache ohne den kleinsten Fehler gelingen sollte, dann diese.

Ich handelte nicht aus einem plötzlichen Impuls heraus. Ich hatte alles geplant, alles vorher bedacht, mir alles überlegt. Der Wahnsinn wies mir den Weg, und diesmal hatte ich beschlossen, auf ihn zu hören. Ich lieferte mich ihm mit Leib und Seele aus, damit er mich endlich leben ließ.

Als ich ein kleiner Junge war, war mein Verständnis von Vergeltung so simpel wie die Sprichwörter in Sonntagspredigten, die einem Rachegedanken ausreden sollten. Adrette kleine Moralsprüche wie „Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg auch keinem andren zu“ oder „Ein Unrecht hebt das andere nicht auf“. Denn doppeltes Unrecht konnte niemals Recht ergeben, weil ein zugefügtes Leid ja kein anderes ungeschehen zu machen vermag.

Ich habe das lange geglaubt, bin aber heute anderer Meinung. Bei der Vergeltung wie überhaupt im Leben führte jede Handlung zu einer ähnlichen, ihr entgegengesetzten Reaktion. Wie bei dem Duell zweier Revolverhelden kam es darauf an, schneller zu sein. Und wenn man aus dem Verborgenen zuschlug, hatte man einen Vorteil. Ich zweifelte nicht an der Genugtuung, welche die Vergeltung bot. Letztendlich würden die Schuldigen fallen.

Mein Smartphone leuchtete das erste Mal auf, als ich Plumetot längst hinter mir gelassen und gerade die Gemeindegrenze von Lion-sur-Mer überquert hatte. Ich war nicht überrascht, dass der Anrufer meine Mutter war. Eine angenehme Unruhe schlich sich in meinen Körper: Die Umsetzung meines Plans hatte begonnen.

Aber fast sofort wich diese Unruhe Zweifeln, und während ich mit hoher Geschwindigkeit über die holprige Straße raste, kamen mir alle erdenklichen Fragen in den Sinn: Warum hat es fast zehn Minuten gedauert, bis jemand bemerkt hat, dass ich dem Trauerzug nicht gefolgt bin? Was sagte mir das über mich und meine Familie? Würde mein Plan überhaupt funktionieren? War ich der Richtige für dessen Umsetzung? Oder wäre es besser gewesen, für diesen Job eine Schlägertruppe anzuheuern? Vielleicht sollte ich lieber umkehren? Wenn ich das jetzt tun würde, auf halber Strecke der D221, die Lion-sur-Mer mit Plumetot verband, könnte ich in der Kirche sein, bevor der Gottesdienst begonnen hatte, und den Platz zwischen meiner Mutter und meiner Schwiegermutter einnehmen. Sie würden meine verspätete Ankunft akzeptieren. Wenn ich meiner Mutter ins Ohr flüsterte, dass sie recht damit gehabt hatte, dass ich nicht selbst hätte fahren sollen, würde sie allenfalls die Hand beruhigend auf meinen Oberschenkel legen, mich versprechen lassen, mit ihr zurückzufahren und mich jetzt zu beruhigen; ich kannte meine Mutter gut genug. Danach würde alles so weitergehen, wie es von allen erdacht und beabsichtigt war; und das durfte ich nicht zulassen.

Meine Mutter gab nicht so schnell auf. Mein Smartphone klingelte etwa zwanzigmal, bis es wieder still wurde. Doch erst da traf mich der Zweifel mit voller Wucht. Ich trat mitten auf der Straße auf die Bremse und hielt an. Sofort griff der Herbstwind nach der hohen Karosserie meines Volkswagens, klopfte gegen die Scheiben, als wollte er mich anspornen.

Vor mir lag die schmale Straße, die sich durch die Wiesen schlängelte. Die Pappeln standen aufdringlich zu beiden Seiten des Asphalts, die dunkelgrauen Wolken schwebten wie Baldachine über ihnen.

Einen Moment lang schloss ich die Augen …

 

Ich hatte bereits vor zwei Tagen die Entscheidung getroffen, nicht zur Beerdigung meiner Frau zu gehen. Mittwochabend blätterte ich am Esstisch durch die vier Fotoalben, die das kurze Leben unserer Tochter Lilou chronologisch ordneten. Ein Buch für jedes Jahr, das hatte sich Malin unmittelbar nach der Geburt unseres kleinen Mädchens ausgedacht. Damals hielt ich das für eine lächerliche Idee, denn was sollte unser Kind an seinem achtzehnten Geburtstag mit zwei Metern aneinandergereihter Fotobände?

Meine Eltern hatten mir drei Alben mit Fotos von mir geschenkt, als ich zu Hause auszog – ein guter Überblick über die Highlights meiner ersten zwanzig Jahre. Und jetzt, da ich meine beiden Frauen verloren hatte, erlaubten mir diese vier Alben, zu der anderen Lilou zurückzukehren, vor dem Bild, von dem ich mich nicht mehr befreien konnte, weil es meine Netzhaut nie wieder verlassen würde: Malins lebloser Körper in der Scheune neben unserem Haus. Er baumelte an einem der Fahrradhaken an der Decke und schwankte leicht hin und her, wie ein Boxsack nach einem Hieb.

Es war still in unserem Haus, stiller, als es jemals sein sollte. Ich hörte nur das Knarren der alten Balken unter der Last des Herbstwindes und das Knistern der Schutzblätter im Album.

Fasziniert schaute ich auf die Fotos, die ich vor vier Jahren während der Schwangerschaft geschossen hatte. Ich erinnerte mich an die Geburt von Lilou, als wäre es gestern gewesen, und vor allem an das unumkehrbare Glück, das meine Frau ausstrahlte, trotz der vierundzwanzig Stunden anhaltenden Wehen und der zwei Stunden, in denen Malin ihre Urkräfte mobilisieren musste, um Lilou zu gebären. Von dem Moment an, als der gekrümmte, klebrige kleine Körper an die Brust seiner Mutter gelegt wurde, strahlte Malins erschöpftes Gesicht vor Freude.

Aber jetzt, da meine Frau seit zwei Tagen tot war, konnte ich diese Freude auf keinem der Fotos wiederentdecken. Es kam mir vor, als hätte ich sie mir im Laufe der Zeit selbst ausgedacht.

Plötzlich spürte ich eine brachiale Wut in mir: Mein Kind und meine Frau wurden mir genommen, ihr Leben wurde ausgelöscht. Einfach so.

 

Ich öffnete die Augen und trat wieder auf das Gaspedal, aber ich ließ die Kupplung noch nicht los. Der Motor heulte kurz auf, dann war es wieder still …

 

Nachdem ich die Fotoalben durchgeblättert hatte, schaltete ich den Fernseher ein und zappte kopflos durch die Sender, auf der Suche nach einer Ablenkung, nach etwas, um meine Wut zu kanalisieren. Ich blieb schließlich bei TV5Monde hängen und starrte auf den Actionfilm Sam, einen Streifen über einen Polizisten, dessen perfektes Leben in die Brüche geht, als seine Familie getötet wird. Sam nimmt Rache und avanciert zum kaltblütigen Killer. Der Ausgang stand fest: Die Verbrecher würden sterben, der Polizist überleben. Entschlossenheit lag im Blick des Mannes, seine eiskalte Ausführung sicherte ihm den Erfolg.

Auch meine Familie war tot, Frau und Tochter. Ich konnte nichts daran ändern, aber ihr Tod hatte alles für mich verändert. Ich sank tief in die Couch, und zum ersten Mal seit Tagen gelang es mir, mich zu entspannen. Die Vorhersehbarkeit und der unrealistische Charakter des Films hatten mich eingelullt und mir Ruhe geschenkt. Mir wurde bewusst, dass ich in meinem jetzigen Leben noch etwas zu Ende bringen wollte.

Meine Augenlider wurden schwerer, und mein Kopf sank zur Seite.

Warum siehst du dir das an, Jules?

Eine kleine Stimme wisperte in meinem Kopf. Ich setzte mich aufrecht hin.

Verdammt noch mal, glaubst du, es sei ein Zufall, dass dieser Film gerade heute Abend läuft?

Und ich sah weiter fern. Schaute auf den Polizisten, suchte nach dem, was sich hinter den Bildern verbarg, nach der Logik des Streifens. Am Ende, als alle Bösewichte getötet waren und der Held triumphierte, sah ich ihn mir genau an: Sam hatte nichts wiedergutmachen können, sein Schmerz würde für immer bleiben, aber dennoch wirkte er auf seltsame Weise befriedigt und befreit.

Nun war ich meiner Sache sicher: Diese Erfolgsgeschichte verdiente es, nachgezeichnet zu werden.

 

Jetzt, da ich auf der Straße zwischen den Wiesen stand, fragte ich mich jedoch, ob es wirklich das war, was ich wollte.

Ich war ein Lehrer, bei Gott, ein Mann mit einer Vorbildfunktion. Ich trichterte den Schülern immer wieder ein, dass sie ihre Energie besser darauf verwenden sollten, das Denken zu erlernen, denn nur die Kraft des Denkens bringe ihnen neue Schlussfolgerungen und könne verzehrende Emotionen in friedliche Erkenntnisse verwandeln.

Und nun stand ich selbst an der Schwelle zum Irrationalen.

---ENDE DER LESEPROBE---