Die stillen Trabanten - Clemens Meyer - E-Book

Die stillen Trabanten E-Book

Clemens Meyer

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Beschreibung

Geschichten aus der Nacht. Clemens Meyer ist ein Meister der Kurzgeschichte. Ein Lokführer, der die Nachtfahrten liebt, bis ein lachender Mann auf den Schienen steht. Ein Wachmann, der seine Runden um das Ausländerwohnheim dreht und sich in die Frau hinter dem Zaun verliebt. Ein Imbissbudenbesitzer, der am Hochhausfenster steht und auf die leuchtenden Trabanten der Nacht schaut. Souverän, rauschhaft und traumwandlerisch sicher erzählt Clemens Meyer von verlorenen Schlachten und überwältigenden Wünschen. Es sind Geschichten aus unserer Zeit, so zerrissen wie unser Leben, so düster wie die Welt, so schön wie die schönsten Hoffnungen.

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Clemens Meyer

Die stillen Trabanten

Erzählungen

FISCHER E-Books

Inhalt

EinsGlasscherben im Objekt 95Späte AnkunftDie letzte Fahrt der StrandbahnZweiDer SpaltDie stillen TrabantenUnterm EisDreiDie EntfernungDie Rückkehr der ArgonautenIn unserer Zeit

Eins

Wir arbeiteten auf den verwilderten Grünflächen neben einer Tankstelle, die direkt an der Schnellstraße lag. Es war heiß, und es gab nur wenige Bäume, die uns Schatten boten. Das Gras reichte uns bis über die Hüften, und wir mähten es mit Motorsensen, mit denen wir auch die kleinen Büsche dicht über dem Boden abtrennten. Wir hatten Eggen und anderes Werkzeug dabei, mit dem wir die Wurzeln herausreißen konnten. Auf dem Brachland wollte irgendjemand bauen, und wir fragten uns, wer wohl an der Schnellstraße wohnen wollte.

Gegen Mittag war es so heiß, dass wir eine längere Pause machten. Wir hatten früh am Morgen angefangen mit der Arbeit, als die Sonne noch rot hinter den feuchten Feldern und Wiesen lag. Wir gingen rüber zur Tankstelle, dort gab es einen Wasserhahn an der hinteren Wand, an dem wir uns oft erfrischten.

Drei Männer saßen auf dem Boden vor der Wand, die Beine angezogen, die Rücken an den Beton gelehnt. Vor ihnen standen Wasserflaschen, die sie wohl am Hahn gefüllt hatten. Sie sahen aus wie Indianer, wie sie da so saßen, halblange dunkle Haare, aber wer von uns hatte je einen Indianer gesehen, außer im Film.

Wir holten einen von unseren Türken, die in der Tankstelle Kaffee tranken und gar keine Türken waren, der radebrechte eine Weile mit den drei Männern, die immer wieder auf den kleinen Wald hinter der Tankstelle zeigten. Der Mittlere der drei war fast noch ein Kind, und er blickte uns nicht an und hatte seine Wasserflasche zu sich rangezogen.

Auch unser Türke zeigte nun auf den Wald, und wir marschierten los, um uns die Sache mal anzusehen.

Auf einer Lichtung hockten ein paar Frauen und Männer. Eine der Frauen hatte sich unter ihrem Kopftuch das Gesicht zerkratzt, und eine der anderen Frauen hielt ihre Arme fest. Sie hockten um einen kleinen Jungen, der auf dem Waldboden lag. Er hatte Blut erbrochen und um seinen Mund klebten Tannennadeln und Gras und etwas Erde. Wir beugten uns über ihn, aber er war tot.

Unser Vorarbeiter, der früher in der Forstwirtschaft gearbeitet hatte, hob ein paar Wildblumen auf, die zerdrückt neben dem Jungen lagen.

»Herbstzeitlose«, sagte er und bewegte vorsichtig die blassrosa Kelche der Blüten. Der Junge hatte wohl von ihnen gegessen.

Wir standen eine Weile um den Jungen und seine Familie, die von weit her in diesen kleinen Wald gekommen waren, dann überlegten wir, ob wir die Polizei rufen sollten oder den Krankenwagen oder beide. Eine der Frauen sagte etwas zu uns, aber wir verstanden sie nicht. Später, als der Junge in einem Auto lag und wir irgendwelchen Papierkram unterschrieben hatten, gingen wir zurück zur Tankstelle und zu den Brachflächen, die direkt neben der Schnellstraße lagen.

Der Tag war lang und heiß, und wir arbeiteten schweigend, bis es Abend wurde.

Glasscherben im Objekt 95

Die Nächte waren öde und endlos, begannen um sechs und endeten um sechs, sie waren wie dunkle Tage, die sich berührten, und als sie aufhörten, öde zu sein, wurden sie noch endloser und dunkler, und wir wünschten uns die Langeweile zurück, Stunden im Halbschlaf zwischen den Rundgängen, unser Kopf durfte nie auf der Tischplatte liegen, sitzend dämmerten wir, aber das Objekt 95 war unberechenbar geworden, und einige von uns wurden ebenfalls unberechenbar und verloren die Nerven und wurden abgezogen, aber ich versuchte, ruhig zu bleiben, ich kannte die Neustadt, die Trabantenstadt, in der das Objekt 95 lag, kannte die Nächte, in denen die Leute verrückt wurden, machte seit Jahren Dienst im Objekt 95, machte seit Mitte der neunziger Jahre meine Runden in der ganzen Stadt, ich kannte die Wohnheime, die wir manchmal »Kanacken-Burgen« nannten, in denen die Ausländer lebten, keiner hatte dort je gern Dienst gemacht, und jetzt wurde alles noch schlimmer.

Manche von den alten Kollegen sagten: Nun geht es wieder los, und sie hatten recht, ich erinnerte mich an die Zeit und an die Nächte, als es gefährlich war und auf die Polizei, die »Bullen«, wie wir damals noch sagten, kein Verlass. Das schien weit zurückzuliegen, schien weit weg zu sein, und dann spürte ich, dass auch ich ein alter Kollege geworden war.

Das Objekt 95 lag inmitten der Plattentürme und Neubaublöcke der Trabantenstadt.

Die Plattenbauten waren alle saniert, die einst grauen Betonfassaden waren mit bunten Strichen und Mustern verziert worden, und am Tag sah ich viele der Rentner, die dort wohnten, aus den Fenstern schauen, wenn das Wetter gut war, die Arme auf ein Kissen gestützt, obwohl es nicht viel zu sehen gab in der Trabantenstadt und im Objekt 95.

Aber es gab das Ausländerwohnheim. Manche der Kollegen sagten, das Objekt 95wäre das Ausländerwohnheim, das »AW«, aber das stimmte nicht.

Das Objekt 95 war ein Rechteck aus zehnstöckigen Plattenbauten, ein großer Innenhof zwischen den Blöcken, und ein Stück außerhalb des Rechtecks das AW; eine Immobilienfirma hatte all das vor Jahren gekauft und saniert, und jetzt musste jemand drauf aufpassen, die Nächte waren lang in der Trabantenstadt, und wie immer wollten sie Geld sparen und hatten einen der billigsten Wachdienste engagiert, obwohl das Ausländerwohnheim Teil des Pakets war, das sie von der Stadt gekauft hatten. Ich will uns nicht schlechtreden, wir waren ein guter Verein, billig aber gut, und immerhin wussten einige der Kollegen, worauf sie sich einließen, als sie die Uniform anzogen.

Ich begann meinen Rundgang wie immer ohne den Hund. Es war noch fast hell, und der Hund hatte wie die meisten Diensthunde Hüfte, war ein alter Belgischer Schäferhund, ganz gut ausgebildet, aber er humpelte leicht, hatte beginnende HD, Hüftgelenksdysplasie, und ich nahm ihn erst ab Mitternacht mit auf Rundgang, er lag im Wachhäuschen und ruhte sich aus. Unser Wachhäuschen stand direkt neben der Straße auf einem schmalen Grünstreifen, das Licht brannte von sechs bis sechs, man konnte es nicht abschalten, damit uns jeder sehen konnte. Ein Wachmann und ein Hund in einem strahlenden Häuschen aus Plexiglas, und draußen die Nacht.

»Die Eins an die Zwölf, die Eins ruft die Zwölf.«

Ich nahm das Funkgerät von meinem Gürtel, es war schwer und viel zu groß und eine bessere Waffe als der Gummiknüppel, den ich auch noch am Gürtel trug. Das Funkgerät war ein Relikt aus einer anderen Zeit, wir hatten Handys und Smartphones und den ganzen Scheiß, aber das Funkgerät rauschte und fiepte in den Frequenzen der Nacht, es sprach mit uns durch Zeiten und Räume, als ich sie wiedersah an diesem Abend im Objekt 95.

Aber sie war es nicht. Wie konnte sie es auch sein, unverändert und so jung, nach mehr als zwanzig Jahren. »Die Zwölf hört!«

Ich begann den ersten Rundgang ohne den Hund. Es war Herbst. Ich zog den ersten Magnetstreifen mit dem Kontrollstreifenlesegerät. Ein leises Piepen. Ich steckte das schwarze Gerät, das wie ein Elektroschocker aussah, wieder in die Seitentasche meiner Uniformjacke. Das Funkgerät rauschte, begann zu sprechen, ich hörte die Stimme des alten Dispatchers, der in der Zentrale saß, weit weg von der Trabantenstadt, am westlichen Rand der richtigen Stadt, aus der die Trabantenstadt herauswuchs wie … Tage, die sich … Ich schüttelte mich, zu viele Rundgänge, zu viele Schichten in den letzten Wochen.

»Die Eins an die Zwölf«, sagte der Dispatcher. Wir warteten seit Jahren, dass er in Rente ging, es hieß, er wäre mal ein hohes Tier beim Geheimdienst gewesen, Staatssicherheit, aber seit ich ihn kannte, seit ich beim Wachschutz arbeitete, über zwanzig Jahre, sah er aus wie ein alter Mann.

»Die Zwölf hört.«

»Alles ruhig im Objekt 95?«

»Ist denn was angesagt?«, fragte ich ins Funkgerät und lief zum nächsten Kontrollstreifen, der ein paar Häuser weiter neben einem Kinderspielplatz an einer Hauswand befestigt war. Obwohl es fast dunkel war, spielten dort zwei Kinder. Sie sahen aus, als wären sie vom AW rübergekommen, schwarze, glatte Haare, dunkle Haut, meistens kamen sie am Abend, um hier zu spielen, wenn die anderen Kinder schon weg waren. Das Lesergerät piepte leise, als ich es über den Magnetstreifen zog. Die beiden Kinder setzten sich in den Sand unter das Klettergerüst und hielten sich an den Händen. Und Hand in Hand saßen sie da.

»Der Wetterbericht meldet nichts Besonderes«, sagte der alte Dispatcher. Dann hörte ich sein Feuerzeug klicken. Viele der Kollegen rauchten wie die Schlote, ich hatte es mir abgewöhnt vor zehn Jahren, können auch sieben oder acht gewesen sein, und wenn ich meine Schicht begann, die meist fünf oder sechs oder auch sieben Tage dauerte, obwohl ich damit die gesetzlich vorgeschriebene Wochenarbeitszeit überschritt, leerte ich den Aschenbecher unseres Wachhäuschens einfach auf den Kiesgrund, auf dem unser Wachhäuschen stand, nur manchmal ging ich mit den hunderten Kippen zu einem der steinernen Papierkörbe, die die Immobilienfirma unverrückbar überall im Objekt 95 aufgestellt hatte.

»Dann traut die Zwölf mal dem Wetterbericht«, sagte ich. Ich hörte, wie der alte Dispatcher atmete oder den Rauch ausstieß, den nikotingelben, alten Finger auf der Empfangstaste, »Die Eins wünscht guten Dienst«.

Ich hatte schon mehrere Kontrollstreifen gezogen, als ich mich dem AW langsam näherte. In den Nächten, und manchmal schon am frühen Abend, aber meistens in den Nächten, sammelten sich Menschen vor dem AW, meist junge Kerle, manche kamen aus den Häusern des Objekt 95, andere aus der Tiefe der Trabantenstadt. Aber heute schien alles ruhig zu bleiben. Obwohl es Freitag war. Auf den Innenhöfen zwischen den Blocks hatten mich einige der Rentner gegrüßt, letzte Besorgungen in einem Plastikbeutel, ein Schwatz vor der Haustür, eine Abendzigarette an einem der steinernen Papierkörbe. Und hinter den Plattenbauten des Objekt 95, vorm rotschwarzen, dunkelblauen Himmel, erhoben sich die Wohnkomplexe der Trabantenstadt. Plattentürme und Planquadrate aus der Zeit des Sozialismus, die nun schon weit mehr als fünfundzwanzig Jahre vorbei war. Wenn ich auf die Karte schaute, die an einer der gläsernen Wände unseres Wachhäuschens befestigt war, sah ich die Viertel unserer Stadt, sah ich das Objekt 95 am Rand der Trabantenstadt, dort, wo der Beton beginnt; ich weiß nicht genau, wer diesen Stadtplan an das Glas geklebt hatte, mit einem Filzstift waren unsere Objekte markiert, in den meisten hatte ich schon Dienst geschoben, die Gewerbegebiete, das Mockau-Center am anderen Ende der Stadt mit all seinen Geschäften auf zwei Etagen und den langen Gängen, wo ich vor der Scheibe des Juweliers stand und die Steine und Ringe im Licht der nächtlichen Auslage betrachtete. Nur die alten Russenkasernen, deren leeren Räume wir lange bewacht hatten, waren verschwunden, abgerissen im Lauf der Jahre.

Ich hielt mich an dem Zaun fest und blickte auf das geöffnete Fenster im Erdgeschoss, wo die junge Frau auf dem Fensterbrett saß, sah sie durch den Zaun. Sie saß auf dem Fensterbrett, die Beine angewinkelt, den Kopf auf die Knie gelegt. Sie schaute in den Abend, das Licht des Zimmers hinter ihr. Ich konnte irgendein Poster an der Wand erkennen, ein Regal, ein Sofa, auf dem eine blaue Tüte stand. Ich hielt das Kontrollstreifenlesegerät so fest gepackt, dass ich kurz glaubte, die Kunststoffhülle würde zersplittern. Wo war der Kontrollstreifen, den ich ziehen musste?

Sie hatte rotbraune, halblange Haare, ihre Haut war sehr hell. Sie hatte die Stirn gerunzelt, das konnte ich erkennen, vielleicht dachte sie über wichtige Dinge nach, während sie in die Nacht blickte, in der ich hinterm Zaun stand und nichts begriff. Ich legte meine Hand auf die kühlen Metallstreben und blickte auf ihr Gesicht und ihre kleine Nase, Stupsnase, ein schönes Wort, das ich fühlte, aber sie schien mich nicht zu sehen. Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand, irgendwann hörte ich Stimmen hinter mir, Stimmen, die lauter wurden, Rufe aus der Nacht, und ich wusste, dass der Wetterbericht wieder einmal falschgelegen hatte, und dann sah ich, dass sich auch auf der Rasenfläche zwischen AW und dem Zaun etwas tat, immer mehr Ausländer traten aus dem Gebäude, ich bewegte den Kopf, sah die jungen Kerle und die Jungen und die Alten zwischen Objekt 95 und dem AW. Und während ich zwischen den beiden Gruppen, zwischen denen ich stand, die Hand immer noch auf dem Zaun, hin und her blickte, veränderte sich etwas, war es das Licht? Ging ein Mond auf und warf Schatten, oder zogen Wolken über den Himmel? Ich schaute wieder durch das Gitter des Zauns. Wo war sie?, wo war das helle Fenster, in dem sie saß?

Sie fiel auf zwischen den Dunkelhäutigen und Dunkelhaarigen, die hinterm Zaun vor dem Ausländerwohnheim standen. Natürlich gab es auch ein paar Hellhäutige und Hellhaarige, es war die Zeit der Russlanddeutschen, die aus dem zerfallenden Riesenreich zu uns kamen, aber die landeten meistens nicht in den Ausländerwohnheimen. Am Zaun endete unser Revier. Wir waren nur für die alte Kaserne zuständig, die die Russen verlassen hatten und die groß wie eine kleine Stadt war. Auf den schmalen Straßen zwischen den Gebäuden wucherte Gras, und überall lagen Glasscherben. Manchmal wurden die Straßen breiter, und manchmal glaubte ich, das Klirren der Panzerketten auf dem Kopfsteinpflaster zu hören.

Unser Raum war in einem schmalen Turm, der direkt neben dem Haupttor stand. Es gab dort einen Stromanschluss für einen Heizlüfter, ein halbvergammeltes Sofa, auf dem wir unruhig schliefen, sitzend, den Kopf auf der Lehne, weil manchmal die Funkstreifen unseres Vereins vorbeischauten, eine Kaffeemaschine stand auf einem Tisch, und überall stapelten sich Zeitungen und Zeitschriften, hunderte Zeitungen und Zeitschriften, was wussten und ahnten wir schon vom Netz in diesen Jahren?

Ein paar der Fensterscheiben waren noch intakt, die anderen Fenster hatten wir mit Pappe vernagelt. Hier saßen wir an den Tagen und in den Nächten. Machten unsere Rundgänge mit den Hunden, die uns bis an den Zaun führten, der das Gelände der Russenkaserne von dem Ausländerwohnheim trennte. Die Gebäude verfielen, obwohl die Russen, die Sowjets, erst seit zwei Jahren abgezogen waren.

Ich stand an dem Zaun, die Hand auf dem kühlen Metall. Wo war sie? Wo war das helle Fenster im Objekt 95? Auch der Hund spürte wohl, dass ich zwar an seiner Seite, aber doch ganz woanders war, er jaulte leise und ging unruhig ein paar Schritte und rieb sein Halsband am Zaun, als wollte er es loswerden.

Den Hund holte ich immer in der Zentrale ab, wo er in einem Zwinger wartete, und fuhr mit ihm zu der Russenkaserne, die die Russen vor zwei Jahren verlassen hatten. Ich strich über das weiche graue Haar des Belgischen Schäferhundes, der plötzlich wieder ein junger Belgischer Schäferhund war. Nein, auch damals waren die meisten unserer Hunde alt und ausgemustert, und nur ich war jung, und sie. Aber da war gar kein Hund neben mir, der Hund lag im Wachhäuschen, Objekt 95, und meine Hand strich durch die Luft, streichelte die Luft.

Wir liefen unsere Tagesrunde. Wir liefen einige Jahre mit unseren Hunden, bis sie anfingen zu lahmen, und dann brachte man sie fort, und unsere Firma stellte uns neue Hunde, an die wir uns gewöhnen mussten, billige, ausgemusterte Hunde von verschwundenen und verschwindenden Grenzen, wir kamen mit den Namen der Hunde durcheinander, und die Hunde liefen oft verwirrt und unruhig neben uns, rieben ihre Halsbänder an Zäunen und Mauern, als wollten sie sie loswerden, ich stand mit dem Hund am Tor der Russenkaserne und begann meine Runde durch diese kleine Stadt. Die Glasscherben knirschten unter unseren Füßen.

Es war Frühling. War es Frühling? Später schenkte ich ihr eine Blume, die hatte eine lila Blüte. Ich schenkte ihr später eine Blume, die wuchs im Schutt zwischen den Gebäuden. Eine Frühlingsblume. In den Nächten war es oft kalt, und unser Atem dampfte in den leeren Räumen.

Ich lief mit dem Hund durch die Straßen der alten Russenkaserne, ging von Kontrollstreifen zu Kontrollstreifen. Ich fragte mich manchmal, wer die ganzen Scheiben eingeschlagen hatte, als die Russen abgezogen waren. In manchen Nächten hatte ich das Klirren gehört, war nicht rausgegangen aus unserem Raum, hatte auf das beleuchtete Tor geblickt, dort war alles ruhig, ich hatte das Klirren gehört in manchen Nächten, meistens war der Spuk schnell wieder vorbei, und am Morgen, beim ersten Kontrollgang, bevor die Ablöse kam, betrachtete ich den Schaden, lief mit dem Hund vorsichtig über die Scherben, die überall in den Straßen lagen.

Sie stand am Zaun, den Kopf hatte sie gegen die Streben gelehnt, so sah ich sie das erste Mal. Sie trug einen Mantel, der ihr viel zu groß war.

Ich stand einige Meter entfernt. Als die Stadt das AW direkt neben der leeren Kaserne eröffnet hatte, mussten wir auch dort, an dem Pfosten des Zauns, einen Streifen ziehen. »Die Russen gingen, die Kanacken kamen«, sagten die Kollegen.

Sie hatte rotbraune, halblange Haare, und ihr Gesicht war sehr hell, auch die Haut ihrer Hände war fast weiß, und kurz dachte ich, dass sie vielleicht im AW arbeitete, denn sie sah nicht aus wie eine der dunklen Fremden, die die Kollegen manchmal »Kanacken« nannten, auch ich benutzte dieses Wort hin und wieder, wenn wir einen Kaffee tranken, bevor meine Schicht endete und die Schicht der Ablöse begann, wie man manchmal eben so redet, um nicht schwach zu wirken, obwohl ich kein Problem mit den Kanacken hatte.

Sie hatte rotbraune, halblange Haare, ihre Stirn lag an dem Zaun, und als sie den Kopf hob und mich anblickte, sah ich, dass die dichtstehenden Metallstreben des Zauns ein Muster in die Haut ihrer Stirn gedrückt hatten.

Auch ihre Augen waren hell, blau, wie ich später sah, aber manchmal schien es mir, später, wenn sie in Erinnerungen verschwand, dass ihre Augen dann dunkler wurden, sich dunkel öffneten und vergrößerten, wie die Farbe des Wassers sich ändert, wenn der Himmel zuzieht oder wenn es Abend wird.

Es war nicht nur der viel zu große Mantel, den sie trug und dessen hochgekrempelte Ärmel immer wieder über ihre Hände rutschten, sie wirkte seltsam verloren und klein, obwohl sie gar nicht so klein war, wie sie da am Zaun lehnte, als ich näher zu ihr ranging und sie anschaute. Wie alt sie wohl war, achtzehn? Neunzehn? Der Hund lief voraus, zerrte an der Leine, wollte zu ihr, obwohl ich immer wieder »Bei Fuß« sagte. Vielleicht erinnerte er sich an die Zäune der Grenzen, an denen er gedient hatte. Ich wollte ihm den Ledermaulkorb umlegen, den ich immer bei mir trug, so wie es Vorschrift war, aber er war schon am Zaun, und das Mädchen hockte sich hin und schob ihre Hand zwischen den Streben durch, und der Hund schnüffelte an ihrer Hand und legte ganz kurz seine große Zunge auf ihre Finger, bis ich ihn wegzog. »Aber aus!«

Sie blickte zu mir hoch. »Nein«, sagte sie, »Hund gut.« Und wieder zerrte der Hund an der Leine und war bei ihr, und sie lächelte, denn es sah so aus, als würde er ihre Hand mit seiner großen Zunge umwickeln.

»Hallo«, sagte ich.

»Hallo, Herr Offizier«, sagte sie. Sie sprach mit Akzent, so wie die Russen, die Sowjetsoldaten sprachen, bevor sie abgezogen waren.

»Ich bin kein Offizier«, sagte ich.

Sie stand wieder auf, und ich ging ganz dicht an den Zaun heran, und sie tippte mit beiden Händen auf ihre Schultern und sagte: »Du Offizier.«

Ich strich über eine der Schulterklappen meiner blauen Uniformjacke. Ich lächelte und sagte: »Ich bin nur Security.«

»Ah, Securitate, du passt auf, damit wir nicht böse.« Sie schob ihre Hand wieder durch den Zaun und tippte an meine Brust.

»Nein«, sagte ich und blickte an ihr vorbei auf die flachen, blechverkleideten Häuser des AW, vor einigen saßen ein paar Leute auf Plastikstühlen, Männer standen um einen pilzförmigen, großen Aschenbecher und rauchten, Fenster waren geöffnet, ein altes Mütterchen stützte sich auf ein Kissen, das sie aufs Fensterbrett gelegt hatte, bunte Wäsche hing zum Trocknen aus einigen der geöffneten Fenster, »nur da ist meine Armee.« Ich drehte mich um und zeigte auf die verlassene Kaserne hinter mir.

»Du Offizier!«, sagte sie. Dann drehte sie sich um und ging zu einem der Häuser. Als auch ich gehen wollte, blieb sie noch einmal stehen. »Dein Hund«, rief sie, »dein Hund sehr …«, sie überlegte. »Krasiwaja«, sagt sie, aber nicht so laut diesmal, so dass ich es kaum verstehen konnte, »krasnaja.«

»Schön«, sagte ich, und dann noch einmal, etwas lauter: »Schön«, und ich sah, wie sie lächelte, dann drehte sie sich um und lief weiter, der Mantel schleifte wie eine Schleppe hinter ihr über den Boden. Mein Russisch war nicht besonders gut, da war ich immer schlecht gewesen in der Schule, und es war auch schon ein paar Jahre her, aber »krasnaja«, das verstand ich. Ich zog den Kontrollstreifen, den ich fast vergessen hatte, und ging zurück zu den Straßen der Kaserne, zurück zu den Glasscherben.

Als ich sie ein paar Tage später wieder am Zaun traf, fragte sie mich, wie der Hund heißt.

»Dein Hund kein Name, nein?«

»Wir nennen ihn Nummer drei«, sagte ich, »und du, wie heißt du?«

»Nummer drei? Hund braucht Name.«

»Du kannst ihn nennen, wie du willst. Wenn du mir deinen Namen …«

Der Hund hatte sich still neben mich auf den Boden gelegt, er war müde.

Sie antwortete nicht, nannte mir nicht ihren Namen. Sie blickte den Hund an und dann mich, sie lehnte an dem Zaun, hatte die Arme ausgebreitet und ihre Finger in den Metallstreben verhakt und hob die Füße etwas, knickte die Beine leicht nach hinten ab, wie ein Mädchen, das an einem Klettergerüst hängt. »Ich hatte auch einen Hund«, sagte sie, »zu Hause.«

»Und … wo ist das, wo war das?« Ich trat einen Schritt näher an sie heran, unsere Gesichter waren jetzt direkt voreinander, nur das metallene Gitter des Zauns war zwischen uns.

»Wir hatten auch einen Hund«, sagte sie noch einmal und blickte durch das Gitterraster des Zauns an mir vorbei auf die langsam verfallenden Häuser der alten Kaserne.

»Du bist aus Russland«, sagte ich, »aus der großen Sowjetunion.«

»Nicht Russland«, sagte sie, »kleines Land, ganz weit. Und Berge. Unser Dorf … vor den Bergen.« Sie bewegte beide Hände durch die Luft, als würde sie gewaltige Berge formen, und dann legte sie ihre Handflächen aneinander, die Handrücken nach oben, als wäre dort, auf ihren Händen, am Fuß der Berge, in der Ebene, ihr Dorf, aus dem sie gekommen war. Wir saßen auf den Treppenstufen, die zum überdachten Eingangsportal des alten Offizierscasinos führten. Ich hatte den Hund von der Leine gelassen, und er beschnüffelte ein paar Mauern, legte sich dann auf einen Streifen Sonnenlicht auf dem Pflaster der kleinen Straße.

»Es ist komisch«, sagte ich, »er ist eigentlich ein … ein scharfer Hund …«

»Was ist … scharfer Hund?« Sie verstand nicht.

»Naja, er … musste böse sein, früher, an der Grenze, bei der Polizei, Granitza, polizija … panimajesch?«

»Nun er ist alt, will Frieden.«

»Vielleicht«, sagte ich, »moshet.«

»Dein Russisch gut«, sagte sie.

»Ich hatte in Schule, weißt du, früher. Aber ich spreche viel zu wenig, viel zu klein. Malyi, malyi.«

»Mein Hund hieß Gigi.«

»Das ist ein schöner Name für einen Hund.«

»Ja?« Sie lächelte. »Ich ihn so genannt, aber Papa sagt …« Sie sprach nicht weiter, und wir schwiegen eine Weile und blickten auf den Hund, der in der Sonne döste.

»Dein Deutsch sehr gut«, sagte ich.

»Zu wenig«, sagte sie, »malyi, malyi.«

»Nein, Marika«, sagte ich, »du sprichst gut, du … sehr schön.« Sie blickte mich an, eine Falte über ihrer kleinen Nase bis hoch zu ihrer Stirn. Ich musste lächeln, und dann lachte ich, manchmal sagt man diese Dinge so dumm und unbeholfen, da ist man plötzlich wieder wie ein Junge, wie ein Schüler, wie ein Kind.

»Du lachen über mich.«

»Nein, Marika, ich nie lachen über dich. Du bist …«

»Kleiner Offizier immer liebt die Frauen, nein?« Sie schob einen Finger unter eine der Schulterklappen auf meiner Uniformjacke und zog ein wenig an dem blauen Stoff.

Sie war stehen geblieben, nachdem wir uns das zweite Mal am Zaun getroffen hatten und sie wieder zurück zu den Häusern des AW gegangen war.

Ich hatte den Kontrollstreifen gezogen, und sie hatte sich umgedreht, und sie sah sehr hilflos und sehr verloren aus, wie sie da auf halbem Weg zwischen dem Zaun und den Häusern des AW stand, ich konnte sehen, wie ihre Hände über den Stoff ihres Mantels hin und her strichen, auf und ab, sie stand sehr gerade und presste ihre Arme an ihre Seiten, und dann kam sie ein paar Schritte Richtung Zaun zurück und sagte mir ihren Namen.

Sie trug immer noch den viel zu großen Mantel, dessen Ärmel hochgekrempelt waren, aber immer wieder über ihre Hände rutschten. »Du hast Angst in der Nacht, nein?«

»Ja«, sagte ich, »nein, ich meine, er passt auf«, ich zeigte auf den Hund, der immer noch in den letzten Strahlen der Abendsonne döste, »und ich … Spezialist, und was soll hier schon groß passieren.«

»Ja«, sagte sie nach einer Weile, »nichts«, aber ich sah, dass sie ganz woanders war. Sie hatte meine Schulterklappe losgelassen und sich nach vorne gebeugt und auf ihre Knie gestützt, die Arme vor der Brust gekreuzt, die Hände umklammerten ihre Oberarme. Sie blickte auf das Haus gegenüber, ein roter Ziegelbau, dunkelrot und schwarz die Ziegel an manchen Stellen, und die Scheiben waren zerschlagen, wie fast alle Scheiben in der alten Kaserne, und die Scherben lagen auf der Straße und dem schmalen Fußweg.

Vorsichtig berührte ich den Stoff ihres Mantels, legte meine Hand auf ihren nach vorne gewölbten Rücken, unter ihren Nacken, damit sie wusste, dass ich da war. Denn sie ist woanders. Sie blickte auf die kaputten Fenster.

Ich sah, wie ihre Lippen etwas flüsterten, waren das Namen?, aber ich verstand nichts. »Marika«, sagte ich und beugte mich vor, hockte mich vor sie und versuchte, ihr in die Augen zu schauen, tief hatte sie den Kopf geneigt. Ihre blauen Augen schienen jetzt dunkler zu werden, die Pupillen waren riesig, und ich stand auf, musste wegschauen, weil ich Angst hatte, mich in ihnen zu verlieren. Ich weiß nicht, wie lange sie dort saß und nur ihren Oberkörper leicht wiegte, leise vor sich hin flüsterte, ich hatte mir meine Zigarette angezündet, der Hund trottete langsam vor zum Tor, zu unserem Aufenthaltsraum, den wir in den Nächten nicht verlassen sollten, wahrscheinlich wollte die Firma Ärger vermeiden, wenn wir uns in den dunklen, halbzerfallenen Gebäuden die Knochen brachen … und dann stand sie neben mir.

»Hund tot«, flüsterte sie, als sie sich an mich lehnte. Ich legte meinen Arm um sie und sagte: »Alles … alles gut«.

»Nein«, sagte sie, »nix gut.«

»Ja«, sagte ich, »vielleicht. Aber jetzt, du … du bist …«

»Ja«, sagte sie, »jetzt bin ich hier. Du gut.«

»Mala Marika.« Ich drückte sie an mich, und so standen wir eine Weile und sahen zu, wie der Himmel hinter den Häusern der alten Kaserne rot wurde und graue Wolken durch das Rot trieben, dann wurde der Himmel dunkel, es war kühl geworden, und sie zog ihren viel zu großen Mantel über der Brust zusammen, und dann brachte ich sie zum Ende des Zauns, wo es so aussah, als würde der Zaun eine Ziegelmauer berühren, aber es gab dort eine Lücke, zwischen Mauer und Zaun.

Ich saß die ganze Nacht in unserem Aufenthaltsraum und rauchte, ich hatte nur wenige Zigaretten in einem Lederetui, denn ich rauchte nicht viel während des Dienstes, ein, zwei Zigaretten, und wenn die Ablöse am Morgen kam, rauchten wir zusammen ein, zwei Zigaretten, redeten über dies und das oder schwiegen, bevor ich nach Hause fuhr.

Ein paarmal schlief ich ein, wachte wieder auf und blinzelte in den halbdunklen Raum, aber sie kam nicht. Ich ging runter zum Tor und zog meinen Mitternachtsstreifen und rüttelte kurz an der Eisenkette und dem Schloss, bevor ich wieder hochging. Das Summen einer Autobahn aus der Ferne, die Lichter der Stadt, der seltsame Geruch nach Frühling. Ich schrieb ins Dienstbuch: Keine besonderen Vorkommnisse. Blätterte im Dienstbuch, las die Notizen der Kollegen. Kinder auf dem Gelände, Randalierer gegen 1 Uhr, Zentrale verständigt, Altmetallsammler im Objekt, Zentrale verständigt …

Der Hund lag auf seiner Matte und schlief. Ich nahm meine Maglite-Taschenlampe und ging ins untere Stockwerk, dort war ein kleiner Raum. Glas knirschte unter meinen Schuhen, nur etwas Licht fiel von der Treppe in diesen leeren Raum, ich hockte mich hin und öffnete meine Hose. Sie hatte mich geküsst, bevor sie durch die Lücke zwischen Mauer und Zaun gekrochen war.

Ich schämte mich, als ich die Treppe wieder nach oben ging. Aber ich war voller Unruhe gewesen. Ihre Hand auf meinem Gesicht. »Kommst du wieder … morgen?« Wie sie sich umdreht und lächelt. Und die Hand hebt. Und winkt. »Wie alt bist du Marika?«

»Neunzehn.«

»Und deine Eltern?«

Sie schweigt und stützt den Kopf auf beide Hände. Sie hat halblanges, rotbraunes Haar und einen Leberfleck im Nacken, den kann ich spüren, wenn ich durch ihre Haare streiche.

Wie sie sich wegdreht, als ich sie küssen will, und wie sie mich dann küsst, bevor sie auf dem Gelände des AW verschwindet, hinterm Zaun.

Ich ging die Treppen nach oben. Dann drehte ich mich noch mal um und ging zur Tür, öffnete sie und lehnte mich an den Türrahmen. Vor mir die Kaserne, alle Gebäude in tiefer Dunkelheit. Nur das große Eisentor war beleuchtet. Das AW war von hier nicht zu sehen, sicher schliefen sie dort jetzt alle. Ob sie schlief? Oder wach lag und an die Decke blickte, oder am Fenster stand?

Ein flüchtiger Kuss nur, kein Innehalten. Der Stoff ihres viel zu großen Mantels. Die Lücke zwischen Zaun und Mauer. Ich ging jeden Tag zum Zaun, doch sie war nicht da. Die Nächte waren öde und endlos. Die Scherben im Licht meiner Maglite-Taschenlampe, die Tropfen glänzten wie Milch auf den Scherben, ich stand im Türrahmen und rauchte meine letzte Zigarette, immer noch voller Unruhe, ich ging weiterhin zum Zaun, immer in der Stunde vor der Dämmerung, ich nahm eine der Glasscherben und hielt sie hoch.

»Die Eins an die Zwölf, die Eins an die Zwölf!«

Ich weiß nicht, wie lange ich am Zaun gestanden hatte. Meinen Kopf hatte ich gegen das metallene Raster der Streben gedrückt, und als ich mit der Hand über meine feuchte Stirn wischte, spürte ich das Muster, die Abdrücke in der Haut. Ich drehte mich um. Hinter mir Polizei, die die Menge zurückdrängte. Blaulicht, ein paar Einsatzwagen. Wie lange stand ich schon hier am Zaun? Dann sah ich, wie von der Seite ein paar junge Kerle aus der Dunkelheit auftauchten, die großen Plattenbauten der Trabantenstadt hinter ihnen, was machten sie da, es sah aus, als würden sie turnen, sich verrenken, nächtliche Turner, aber dann hörte ich das Krachen, als einer der Pflastersteine an die Fassade des AW donnerte, ich drehte mich langsam zu ihnen um, wo war mein Hund?, und wieder flog ein Stein, verwirrt schaute ich dem Bogen seiner Flugbahn hinterher, und wieder verrenkte sich einer der Männer. Es klirrte. Ein paar Polizisten rannten zu den Steinewerfern. Im AW wurde das Licht ausgeschaltet. Ich ging langsam zu dem Tor. Das Fenster, in dem ich sie gesehen hatte, war jetzt dunkel. Hinter mir hörte ich die Rufe der Menge. Die Stimmen hallten durch die Nacht, als ob sie auf die Fassade vor mir treffen würden und von ihr zurückgeworfen werden, ich konnte es spüren, als würde der Luftdruck um mich sich verändern, wieder und wieder, Wort für Wort, Satz für Satz.

»Du auf mich aufpassen, kleiner Offizier, nein?«

»Du … du musst keine Angst mehr haben, Marika.«

»Ich habe gewartet, ich …«

»Jetzt bin ich wieder da.«

»Das ist gut.«

Ich fragte sie nicht, wo sie gewesen war, als ich am Zaun gewartet hatte, Tag für Tag. Denn jetzt war sie wieder hier. Und unsere Stimmen hallten in dem großen leeren Offizierscasino, fast wie Echos. »Marika … Offizier … nein … nicht allein.«

Ich hatte in anderen Objekten Dienst gehabt, das Mockau-Center hatte gerade eröffnet und wir liefen dort Streife, kontrollierten die Läden und Restaurants, standen vor der heruntergelassenen Metalljalousie des Juweliers, hinter der wir das Glänzen des Schmucks und der Diamanten ahnten, oder war es nur billiger Tand und halbteures Zeug, denn das Mockau-Center lag am Rand der Stadt, wo die Häuser verfielen und ein paar einsame Plattenbauten, Fünfzehngeschosser, seltsam verstreut in den Himmel wuchsen. Zwischen unseren Runden, wenn wir in unserem Aufenthaltsraum im Keller Kaffee tranken, hörten wir manchmal den Funkverkehr zwischen der Zentrale und den Kollegen ab, um uns die Zeit zu vertreiben, »Besser als Radio!«, sagte der Kollege, und so erfuhr ich, dass es wieder Vorkommnisse gab am AW. »Die Eins hört … ja, gehört nicht zum Objekt, verständigen die Polizei …«

Ich war zu unserem Dienstwagen gegangen und durch die leeren Straßen der Stadt zum AW gefahren. Der Kollege saß in unserem Aufenthaltsraum im Mockau-Center, den Kopf hatte er auf die Tischplatte gelegt, und schlief. Er goss sich gerne einen Schnaps in den Kaffee und würde nichts sagen, wenn ich kurz mal wegging.

Ich saß im Auto, ein Stück vom AW entfernt, sah das blaue Blinken der Polizeifahrzeuge, ein paar Glatzen liefen auf der anderen Straßenseite über den Fußweg, die Show war wohl vorbei und die Bullen wie meistens ziemlich nachlässig gewesen, damals gab es noch richtige Glatzen, die erkannte man sofort, ich sah einen großen Reisebus neben dem AW, in den Menschen stiegen, kurz glaubte ich, sie zu erkennen, in ihrem Mantel, der ihr viel zu groß war.

Sie zog die Aufschläge ihres Mantels zusammen, als würde sie frieren. Kleine, dunkle Flecken auf dem Stoff, oben am Kragen. Es war ein alter dunkelgrauer Herrenmantel, aber die Flecken waren noch dunkler als der Stoff.

»Sowjet lange hier, nein?«

»Ja, sehr lange«, sagte ich.

»Als die Sowjets bei uns weg, begann Krieg.«

Wir lehnten an einem langen Holztresen, hinter dem noch die Reste von Regalen standen. Die Scheiben der hohen Fenster waren alle zerschlagen, und das Abendlicht fiel durch die Fetzen von Gardinen auf den zerkratzten Holzfußboden. Der Raum war vollkommen leer, nur ein umgestürzter Tisch lag auf dem Boden. Wir lehnten mit dem Rücken am Tresen und blickten auf die gegenüberliegende Wand, an der die Reste eines großen bunten Mosaiks zu sehen waren, ein Bild aus Tausenden von Steinchen, wir konnten noch den halben roten Stern erkennen, Teile von Soldaten mit Kalaschnikows, aber das meiste war herausgebrochen worden, nächtliche Randalierer, Kinder, betrunkene Schrottsammler. Ich weiß nicht, wie lange wir dort standen und schweigend auf das zerstörte Bild blickten.

»Manchmal höre ich nachts einen Soldaten«, sagte ich, »russki, sowjet.«

»Hier? Du Spaß machst, nein?«

»Der singt hier, Marika, der ist hier zurückgeblieben. Der singt Soldatenlieder. Und wenn ich am Morgen gucke, liegen Kippen auf dem Tresen, Zigaretten …«

Sie lachte und zog an der Schulterklappe meiner Uniformjacke. »Du Spaß machst, kleiner deutscher Offizier.« Sie berührte mein Gesicht mit den Fingerspitzen. »Du selber rauchst Zigaretten hier, am Abend, wetscherom …«

»Wetscherom«, sagte ich und legte meine Hand auf ihre. Sie hatte plötzlich vorm Aufenthaltsraum gestanden, mitten auf der kleinen Straße, so dass ich sie vom Fenster aus sehen konnte. Sie schien Angst zu haben, und auch wenn sie sich an mich drückte, war da etwas Fremdes und Kühles an ihr, war sie woanders, so dass ich mich nicht traute, sie zu küssen, sie zu berühren …

»Papirossi«, sagte ich, »siehst du, hier«, ich zeigte auf die ausgedrückten Zigaretten mit dem langen russischen Papirossi-Filter, die vor uns und neben uns auf dem Boden lagen, »das sind original russische Papirossi. Ein Soldat ist hiergeblieben, er wohnt im Keller, und manchmal höre ich ihn singen.«

»Papirossi«, sagte sie und strich über mein Gesicht, und meine Hand, die immer noch auf ihrer lag, bewegte sich mit ihrer Hand, »mein Vater rauchen Papirossi, zu Hause, einmal, ich noch Kind, ich habe probiert. Aber so stark, mir war schlecht, so schlecht … und Papa schimpfen …«

Sie zog ihre Hand weg, nein, sie hatte nicht mein Gesicht gestreichelt, sie wollte vorsichtig ihre Hand aus meiner lösen. Ein flüchtiger Kuss am Zaun, unsicher, und meine Lippen streiften ihre Nase. Sie zog ihren Mantel über der Brust zusammen, als würde sie frieren. Ich musste ihr nicht in die Augen sehen, ich wusste, dass sie wieder woanders war. Zu Hause. Doma, wie sie es auf Russisch sagte, obwohl sie keine Russin war. Die große, zerfallene Sowjetunion. Sie hatte nie geantwortet, wenn ich sie nach ihren Eltern fragte. Ich konnte nichts tun, nur warten. Ich suchte mein Zigarettenetui in den Taschen meiner Uniformjacke.

»Papirossi alt«, sagte sie plötzlich und beugte sich runter und hob eine der Kippen auf, griff vorsichtig mit zwei Fingern nach dem langen, längst vergilbten Filter. Sie hob die Kippe hoch, hielt sie kurz in der Luft, zwischen uns, dann schnippte sie sie in den Raum.

»Du erzählen … skaska …«

»Märchen«, sagte ich.

»Ja«, sagte sie, »kein Soldat hier.«

»Nein«, ich nickte, »kein Soldat.«