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Als die Frau des Rechtsanwalts Gil Weir erschossen wird, kommt ihr Mann gar nicht auf den Gedanken, man würde ihn für den Mörder halten.
Doch dann stellt er mit Entsetzen fest, dass er dem Netz aus Indizien nicht mehr entkommen kann...
Der Roman Die Stimme des Blutes der US-amerikanischen Schriftstellerin Rosemary Gatenby erschien erstmals im Jahr 1973; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1975.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Rosemary Gatenby
Die Stimme des Blutes
Roman
Apex Crime, Band 172
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DIE STIMME DES BLUTES
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Epilog
Als die Frau des Rechtsanwalts Gil Weir erschossen wird, kommt ihr Mann gar nicht auf den Gedanken, man würde ihn für den Mörder halten.
Doch dann stellt er mit Entsetzen fest, dass er dem Netz aus Indizien nicht mehr entkommen kann...
Der Roman Die Stimme des Blutes der US-amerikanischen Schriftstellerin Rosemary Gatenby erschien erstmals im Jahr 1973; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1975.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Selkirk, Indiana, ist eine hübsche Kleinstadt, die von ihren vier Fabriken und den Farmen lebt, die auf dem weiten fruchtbaren Ackerland in der Umgebung der Stadt jedes Jahr Rekordernten einbringen.
Gilman und Enid Weir wohnten seit ihrer Hochzeit in Selkirk, wohin Gil mit seiner jungen Frau zurückgekommen war, um sich als Rechtsanwalt niederzulassen.
Bis zu dem Herbst, in dem für Gil Weir alles zusammenbrach, hätten die meisten Mitbürger seine Ehe als völlig dauerhaft und durchschnittlich glücklich beurteilt. Die einzige, die diese allgemeine Auffassung nicht teilte, war eine junge Frau namens Henrietta Fitchly. Henrietta war die beste Freundin von Weirs Sekretärin, Barbara Dresser. Und nur Henrietta hatte in den letzten zwei Jahren einen kleinen Hinweis nach dem anderen erhalten, aus denen sich ein mosaikartiges Bild zusammensetzen ließ.
Barbara hatte eigentlich nicht so viel sagen wollen. Aber sie war aus zwei Gründen dazu gedrängt worden: weil Henrietta mit ihrem reichen Freund aus Indianapolis angegeben hatte und weil Barbara wenigstens irgendjemand gegenüber als für Männer begehrenswert erscheinen wollte, obwohl sie seit Jahren nicht mehr zum Ausgehen auf gefordert worden war.
»Wenn Gil nur nicht verheiratet wäre...«, hatte sie anfangs gesagt und dabei ihre großen braunen Augen schüchtern gesenkt, während eine Hand ihr zu einem Nackenknoten zusammengefasstes Haar berührte. Barbara war nicht sonderlich attraktiv, aber ihre Misserfolge bei Männern beruhten vor allem darauf, dass sie ihnen den Eindruck vermittelte, jeder Annäherungsversuch werde prompt zurückgewiesen werden. Dieser Eindruck trog - aber er hatte bisher bewirkt, dass Barbara Dresser eine frustrierte Junggesellin geblieben war.
Im Gegensatz dazu hatte Gil Weir sich nie Gedanken über die sexuellen Qualitäten seiner Sekretärin gemacht; für ihn gehörte Barbara zu seinem Büro wie eine elektrische Schreibmaschine oder sein Diktiergerät.
Gil und Enid Weirs zwanzigjährige Ehe war also bis zu diesem schicksalshaften August so glücklich, wie allgemein angenommen wurde. Sie war umso glücklicher geworden, seitdem die Weirs sich als Eltern fühlen konnten, als sie vor zwölf Jahren die kleine Margaret adoptiert hatten. Davor war Enid oft deprimiert gewesen, weil sie sich Vorwürfe gemacht hatte, dass sie keine Kinder bekommen konnte.
»Enid ist natürlich schrecklich eifersüchtig«, erklärte Barbara Dresser ihrer Freundin Henrietta. »Sie lässt ihn praktisch nie aus den Augen.«
»Na ja, das ist doch verständlich - wie du am besten wissen müsstest.«
»Wie meinst du das, Henrietta?« Barbara fragte sich, ob ihre Freundin ihr tatsächlich ein Verhältnis mit Gil Weir zutraute, das sie eigentlich kaum angedeutet hatte.
»Ist sie denn nicht älter als Gil?«
Barbara runzelte enttäuscht die Stirn, weil sie doch nicht über ihr Verhältnis zu ihrem Chef sprachen. »Älter? Nicht wesentlich, glaube ich. Manche Frauen altern eben schon mit vierzig. Das sind die Wechseljahre.«
In Wirklichkeit war Gil Weir vierundvierzig und Enid sechsundvierzig.
»Als junge Frau mag sie ganz attraktiv gewesen sein«, erklärte Barbara ihrer Freundin beim Mittagessen. »Aber dass Gil sie jetzt wie einen Klotz am Bein hat...«
»Wirklich Pech, was?«, sagte Henrietta und meinte damit Barbara. »Die Guten sind immer schon verheiratet.« Sie sprach aus bitterer Erfahrung, denn ihr Freund hatte sich keineswegs scheiden lassen, so dass sie seit einem Dreivierteljahr unverheiratet auf dem trocknen saß.
Die unglückselige Entwicklung, die solche unerwarteten Konsequenzen haben sollten, begann Anfang August mit der Einweihung eines neuen Flügels der Stadtbücherei Selkirk.
»Ich muss also hin?«, fragte Gil. »Du weißt doch, wann wir uns sonntags immer auf dem Golfplatz treffen und...«
»Dann müsst ihr diesmal eben früher spielen«, unterbrach Enid ihn. »Der Büchereiausschuss ist schon enttäuscht genug, dass deine Mutter nicht kommen kann. Und nachdem sie jahrelang im Ausschuss mitgearbeitet hat...«
Seine Mutter hatte großzügigerweise den neuen Ausgabetisch gestiftet, aber jetzt war ihr Gesundheitszustand zu schlecht, als dass sie aus Florida zur Einweihung hätte kommen können.
»Du musst sie vertreten, Gil, und wenn ich deiner Mutter nicht wenigstens einen Zeitungsausschnitt schicken kann, der dich neben dem Tisch zeigt...«
»Okay, okay, ich gehe hin.«
So kam es also, dass er an einem heißen Sommersonntag in Anzug, Hemd und Krawatte schwitzend vor dem von seiner Mutter gestifteten Tisch stand und sich mit Sidney Strait unterhielt, der als Bibliotheksdirektor Nachfolger von Mrs. Semple werden sollte. Strait hatte einen erstaunlich kräftigen Händedruck - vielleicht wollte er damit seine Kleinheit kompensieren - und forderte Weir auf, Sid zu ihm zu sagen.
Sid hatte Gil nochmals überschwenglich für das Geschenk seiner Mutter gedankt und war jetzt dabei, ihm einen trockenen Fachvortrag über die zukünftige Beschaffungspolitik zu halten. Aber dann erschien zum Glück Mrs. Semple, die in den Ruhestand versetzte Büchereileiterin, mit Enid im Schlepp. Jetzt konnte er dieses Pflichtgespräch beenden und sich mit jemand unterhalten, der ihn mehr interessierte.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie unseren Mr. Strait noch nicht kennengelernt haben, Enid«, stellte die alte Mrs. Semple fest. »Das müssen Sie unbedingt nachholen...«
Gil trat einen Schritt zurück, um Platz für Enid und die beiden hinter ihm stehenden Leute zu machen. Ruth und Hugh Commiger, ein ehrenwertes, aber langweiliges Paar, wollten anscheinend ebenfalls mit Strait reden.
»Enid, das hier ist Sidney Strait«, verkündete Mrs. Semple. »Sidney, das hier ist Mrs. Weir.«
Sidney Strait schüttelte Enid, die sich nur mühsam beherrschte, begeistert die Hand. »Mrs. Weir! Das ist wirklich ein Vergnügen.« Seine durch eine starke Brille unnatürlich vergrößerten Augen blitzten. »Ich habe mich so auf eine Gelegenheit gefreut, Ihnen für Ihre hochherzige Spende danken zu können...«
Enid begriff nicht gleich, was er meinte. Aber dann erklärte sie ihm hastig: »Nein, nein, den Tisch hat meine...«
Sidney Strait sah zu Gil hinüber und merkte nicht, dass Enid etwas sagte. »Ich habe vorhin schon Ihrem Sohn erklärt, wie sehr wir Ihnen zu Dank verpflichtet sind, Mrs. Weir.«
Die anderen schwiegen betroffen.
Am Montagmorgen wünschte sich Enid Weir, nicht aufstehen zu müssen; sie wünschte sich, nie mehr das Haus verlassen und unter Leute gehen zu müssen, da inzwischen alle von dem Vorfall in der Bibliothek gehört oder ihn selbst weitererzählt hatten.
Die ganze Stadt lacht über mich...
Sie stand auf, ging ins Bad und machte den Fehler, sich im Spiegel zu betrachten. Das war kurz nach dem Aufstehen nie ratsam: die Runzeln, die sich später glätten würden, waren tief eingegraben; ihre Augen wirkten kleiner als sonst, und ihr ungekämmtes Haar erinnerte an Medusas Schlangen.
Das Haar war erschreckend grau.
Sie hatte nicht gemerkt, dass es so grau war! Ich habe vorhin schon Ihrem Sohn erklärt...
Gil gehörte natürlich zu den jungenhaft aussehenden Männern, die nie alt werden. Und er hatte noch kein graues Haar auf dem Kopf. Diese Jungenhaftigkeit machte seinen besonderen Charme aus, der sich unvermindert erhalten hatte.
Enid fragte sich zum ersten Mal - zum ersten Mal seit gestern -, ob ihr Mann sie noch immer physisch attraktiv finden konnte. Wie? Wie sollte er das tun, wenn er sie jeden Morgen ohne Make-up sah, wie sie sich jetzt im Spiegel betrachtete?
Sie hätte heulen können.
Aber diese Krise wäre zu überwinden gewesen. Enid wartete zehn Tage, um jeglichen Zusammenhang mit der Episode in der Stadtbücherei leugnen zu können, und ließ sich dann die Haare färben. Sie war mit der Wirkung nicht ganz zufrieden, aber da mehrere Freundinnen ihr versicherten, es sehe wundervoll aus, bemühte sie sich, ebenfalls daran zu glauben.
Aber ein weiteres Ereignis, das entscheidend dazu beitrug, dass sie Sidney Straits unbedachte Äußerung nicht mehr vergessen konnte, war die Sache mit Fred Towse.
»Hast du was von Fred Towse gehört?«, fragte sie Gil, als er an dem Tag, an dem Beth Towse ihr alles anvertraut hatte, zum Mittagessen nach Hause kam.
»Fred?« Sie standen in der Diele mit dem roten Klinkerboden und der gold-braunen Streifentapete. »Warum? Ist er endlich befördert worden?« Gil wusste, dass sein Freund seit langem auf eine Beförderung wartete.
»Hat er dir nichts von diesem Mädchen erzählt...?«
»Von welchem Mädchen?«
»Falls du ihm versprochen hast, nichts zu verraten, kannst du jetzt ruhig reden. Beth weiß alles - sie hat’s mir heute Morgen erzählt. Sie weiß es von ihm, weil er sich scheiden lassen will.«
»Scheiden?« Gil starrte sie ungläubig an. »Fred?«
»Allerdings! Dein lieber Fred hat eine Affäre mit der Sekretärin eines seiner Kunden in Terre Haute. Schon seit drei Jahren, ohne dass Beth etwas geahnt hat! Und jetzt will er das Mädchen heiraten.«
»Fred? Das kann ich nicht glauben.« Gil schüttelte langsam den Kopf. »Er ist einfach nicht der Typ, der seine Frau betrügt!«
»Und Beth hat ihm bestimmt keinen Anlass gegeben.«
»Das verstehe ich einfach nicht«, murmelte Gil bedrückt.
Wie hatte Fred alle Welt so völlig täuschen können? fragte sich Enid. Sie erinnerte sich an ihren letzten Besuch bei den Towses: Fred war rührend um Beth, die Mutter seiner Kinder, besorgt gewesen. Aber das war natürlich' nur eine Tarnung gewesen, weil ihn niemand verdächtigen sollte!
Nach dem Essen beobachtete sie nachdenklich, wie Gil seine Post öffnete.
»Was ist daran so lustig?«, fragte Enid, als er beim Anblick einer Rechnung grinste.
»Lustig? Oh, ich hab’ eben an Fred gedacht. Der alte Schürzenjäger!«
Sie runzelte die Stirn. »Das ist lustig?«
Sein Lächeln verschwand. »Nein, eigentlich nicht«, gab er zu. »Ich...«
»Eher tragisch.«
»Traurig. Es ist immer traurig, wenn eine Ehe zerbricht. Schon wegen der Kinder.«
»An Beth denkst du wohl gar nicht? Du magst sie wohl nicht? Glaubst du, dass sie das alles lustig oder amüsant findet?«
»Natürlich mag ich Beth. Sie tut mir verdammt leid. Ich hab’ nur darüber gelacht, dass Fred uns alle hinters Licht geführt hat. Drei Jahre? Und kein Mensch hat geahnt, dass er...«
»Das klingt ja so, als würdest du ihn beneiden!«
»Unsinn!« Gil küsste sie auf die Wange. »Du brauchst nicht gleich wütend zu werden. Nein, ich beneide ihn nicht. Ich hab’ auch gar keinen Grund dazu. Und ich gebe zu, dass ich nicht hätte lachen sollen. Das war eben eine typisch männliche Reaktion. Sie hat nichts damit zu tun, was ich für die Towses empfinde.«
Ja, natürlich! dachte Enid. Was Männer als amüsant finden... Sie sind eben alle sexorientiert, nicht wahr? In der ganzen Stadt gibt’s vermutlich keinen Ehemann, der Fred Towse nicht beneidet. Wie Gil es eben getan hatte... Der sich nicht wünschte, an Freds Stelle zu sein... Wie Gil es eben getan hatte...?
Nachmittags saß sie bei Phyllis Strothers, ihrer Schwester, in der Küche, um mit ihr über den Fall Towse zu sprechen.
»Nein, das ahnt man nie«, sagte Phyllis eben. »Ich hab’s jedenfalls nicht geahnt.«
Ihr Mann hatte sie sitzengelassen. Er war mit dem Mädchen durchgebrannt, das sie als Kindermädchen eingestellt hatten, als das vierte Kind auf die Welt gekommen war. Beejay war mit Darlene nach Kalifornien geflüchtet und nie mehr zurückgekommen. Phyllis hatte sich natürlich von ihm scheiden lassen und war dann überraschenderweise in Selkirk geblieben. Weil sie die Rolle der Märtyrerin genoß? Hier respektierten die Leute, dass sie arbeitete, um sich und die vier Kinder durchzubringen; in Akron, wo sie zu Hause war, wäre sie nur eine geschiedene Frau gewesen, die allein für ihre Kinder sorgen musste.
Phyllis hatte ihren späteren Mann kennengelernt, als sie die Jungverheiratete Enid in Selkirk besucht hatte. In gewisser Beziehung war ihre Schwester also an dieser Ehe schuld - obwohl sie Phyllis nie zugeredet hatte, in Selkirk zu bleiben und zu heiraten.
Phyllis arbeitete bei der Merchants National Bank. Seit nunmehr zehn Jahren. Marylin, ihre älteste Tochter, war achtzehn und studierte; Benson, der älteste Sohn, war siebzehn, hatte eben die High School abgeschlossen und litt darunter, dass er aus finanziellen Gründen nicht studieren konnte; Joyce war dreizehn, und Bobby, der indirekt an der ganzen Misere schuld war, weil Phyllis mit ihm zu tun gehabt hatte, als sein Vater sich in Darlene verknallt hatte, war knapp zehn.
Phyllis, die begreiflicherweise von Männern die Nase voll hatte, war zur führenden Frauenrechtlerin von Selkirk geworden und freute sich jetzt, ein paar unfreundliche Worte über Fred Towse sagen zu können.
»Nein, das ahnt man wirklich nie«, wiederholte sie jetzt. »Das liegt an dem gefährlichen Alter, in dem die Männer dann sind. Enid, dein Haar gefällt mir nicht. Es sieht gefärbt aus.«
»Es ist nicht gefärbt. Das ist nur eine Tönung. Sie hält angeblich vier Wochen.«
»Na ja, sei froh, dass die Farbe sich nicht erst auswachsen muss.« Phyllis fuhr sich mit einer Hand durch ihr von Natur aus rabenschwarzes Haar. »Kannst du nächstes Mal eine andere Farbe nehmen? Die hier macht deine Haut älter. Sie wirkt blass und ausgelaugt.«
»Oh.«
Sie wusste, dass sie Phyllis für diesen Hinweis dankbar sein musste. Ihre beste Freundin hätte ihr das nie erklärt; sie wäre zu taktvoll gewesen. Aber Takt machte das Leben erst angenehm, nicht wahr?
»Ich kann nur hoffen, dass du Gils Sekretärin im Auge behältst«, fuhr Phyllis fort. »Das tust du doch, Enid?«
»Barbara? Oh, sie ist ganz nett, glaub’ ich. Ein ruhiges Mädchen ohne...«
»Das sind sie oft, diese Ehezerstörer! Ich wäre nicht so ruhig, wenn mein Mann jeden Tag mit einem Mädchen mit Barbara Dressers Figur zusammen wäre. Hast du dir schon mal angesehen, was sich unter ihren Tweed-Kostümen und hochgeschlossenen Blusen verbirgt? Nicht schlecht.«
Als Enid das nächste Mal in Gils Büro war, sah sie sich die Figur der kleinen Miss Dresser genauer an - und ging unglücklich fort. Und diese großen braunen Augen... Phyllis’ Warnung und Barbaras harmloses Aussehen bewirkten, dass Enid das Gefühl hatte, getäuscht worden zu sein. Ihrer Überzeugung nach log Barbara Dresser: sie war nicht, was sie zu sein schien.
Gil Weir erkannte seine Frau in letzter Zeit kaum wieder. Sie konnte nicht schon immer so gewesen sein; das hätte ihm auffallen müssen. Hing diese Veränderung mit den Wechseljahren zusammen... oder war Enid geisteskrank? Litt sie an Halluzinationen?
Sie nahm ihn jeden Tag ins Kreuzverhör, wo er gewesen war und was er gemacht hatte. Und sie schien ihm persönlich die Verantwortung für das Scheitern der Ehe der Towses geben zu wollen. Nur weil er noch mit Fred sprach.
Fred war eines Tages zu ihm in die Kanzlei gekommen - fast heimlich.
»Wenn dir mein Besuch nicht passt, brauchst du’s nur zu sagen. Wahrscheinlich habe ich deinem guten Ruf schon durch mein Herkommen geschadet.«
»Setz dich, Fred!« Gil hatte zu dem Besuchersessel hinübergenickt. Wie schlecht Fred aussah...
»Dann bist du der einzige, der noch was mit mir zu tun haben will.« Fred zündete sich eine Zigarette an. »Beth hat allen erzählt, was für ein Schuft ich bin. Aber meinetwegen kann sie Selkirk für sich behalten. Ich hab’ hier keine Freunde mehr - die hat sie mir abspenstig gemacht. Nur dich nicht, was? Patty und ich wollen in Danville ganz neu anfangen.«
»Danville? Heißt das, dass du endlich...«
Fred schüttelte den Kopf. »Nein, aus der Beförderung ist leider nichts geworden. Aber die Firma hat mir dort den gleichen Job wie hier angeboten.«
»Fred, hast du dir deinen Entschluss auch reiflich überlegt? Beth hat dir nie Grund gegeben...«
»Das merkt man von außen nicht, weißt du. Ich hab' mich immer bemüht, ihre Erwartungen zu erfüllen. Aber wir haben einfach nicht zusammengepasst.«
»Ihr habt nicht zusammengepasst?«, wiederholte Gil erstaunt. Er hatte Fred und Beth immer für das ideale Ehepaar gehalten.
»Bei Patty sieht die Sache anders aus!«, versicherte Fred ihm. »Seitdem ich sie kenne, hat sich mein ganzes Leben verändert!«
»Aber das kostet dich wahrscheinlich mehr, als du angenommen hast.«
»Das ist’s wert!« Fred drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus. »Hör zu, Gil, ich will dich lieber nicht bitten, mich vor dem Scheidungsrichter zu vertreten. Dann würdest du in Selkirk gelyncht, fürchte ich. Aber würdest du Beth vertreten?«
»Ja, wenn sie mich als Anwalt haben will. Aber ich warne dich, Fred: Ich knöpfe dir alles ab, was ich für Beth rausholen kann!«
Beth verzichtete darauf, Gil als Anwalt zu nehmen. Stattdessen befolgte sie seinen Rat, sich von einem Scheidungsanwalt aus Indianapolis vertreten zu lassen. Enid legte diese Entwicklung ihrer Stimmung gemäß aus.
»Du wolltest Beth nicht vertreten!«, warf sie Gil vor. »Obwohl Fred sie betrogen hat und obwohl du ihn wegen dieser... dieser Affäre kritisiert hast, betrachtest du Fred Towse anscheinend noch immer als deinen Freund!«
»Natürlich«, bestätigte er. »Ich habe ihm auch nie vorgeworfen, dass er jedes Mal die Demokraten wählt. Seine politischen und moralischen Auffassungen gehen mich nichts an.«
»Wie hübsch du das ausdrückst! Ein Ehebruch bedeutet also in deinen Augen nicht mehr, als wenn jemand für diese oder jene Partei stimmt?«
Daraus war dann ein Streit entstanden...
Gil hatte schließlich doch zugestimmt, Fred zu vertreten, als sein Freund ihn darum bat. »Jetzt kann dir niemand mehr vorwerfen, dass du mein Anwalt bist«, erklärte ihm Fred. »Beth hat jedenfalls die Wahl zwischen dir und diesem Schlaukopf aus Indianapolis gehabt.«
Enid sah dadurch ihre ursprüngliche Auffassung bestätigt, dass Gil von Anfang an auf Freds Seite gestanden habe.
»Wie man hört, vertritt Ihr Schwager jetzt Fred Towse in dieser Scheidungssache«, sagte Ernestine Fitchly, Henrietta Fitchlys Mutter, am Bankschalter zu Phyllis Strothers und schob ihr einen Scheck hin, den sie zur Gutschrift einreichen wollte.
»Richtig, das tut er.«
»Das gefällt Ihrer Schwester bestimmt nicht. Immerhin ist Beth Towse ihre beste Freundin. Ich war jedenfalls ziemlich überrascht.«
»Oh, Gil wäre bereit gewesen, Beth zu vertreten. Aber er hat ihr geraten, sich einen auf Scheidungen spezialisierten Anwalt zu nehmen.«
»Hm.« Ernestine Fitchly steckte die Scheckquittung in ihre riesige Handtasche. »Manchmal ist es wirklich schwer zu entscheiden, ob man etwas sagen soll oder ob es besser ist, den Mund zu halten. Aber ich habe den Eindruck, dass Gil Weir auch zu den Männern gehört, die man im Auge behalten sollte.«
Phyllis’ Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, doch beugte sie sich unwillkürlich etwas nach vorn. »Wie kommen Sie darauf, Mrs. Fitchly?«
Ernestine Fitchly sah sich vorsichtig um, weil sie nicht zu den Leuten gehörte, die verantwortungslos Gerüchte in Umlauf setzen. »Von meiner Tochter weiß ich - aber das dürfen Sie nicht weitererzählen, Phyllis -, dass Gil Weir was mit Barbara Dresser hat. Schon seit einiger Zeit. Was sich zwischen den beiden abspielt, weiß natürlich niemand...«
»Okay, was ist los?«, fragte Gil, als Maggie abends in ihrem Zimmer verschwunden war. »Seitdem ich zu Hause bin, hast du wie eine Zeitbombe getickt.«
Enid saß mit hochgelegten Beinen in einem Sessel, betrachtete angelegentlich ihre Fingernägel und schwieg.
»Hör zu, ich merke doch, dass dich irgendwas bedrückt«, erklärte er ihr. »Los, raus mit der Sprache!«
Sie sah zu ihm auf. »Ich weiß aus sicherer Quelle, dass du ein Verhältnis mit Barbara Dresser hast.«
»Was habe ich? Mit Barbara? Du spinnst ja!« Gil baute sich vor Enid auf. »Und das weißt du aus sicherer Quelle, was? Von wem denn, wenn ich fragen darf?«
»Das kann ich dir natürlich nicht sagen. Aber es ist jemand, der’s wissen müsste.«
Gil fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und ließ sich in seinen Sessel fallen. »Da gibt’s aber nichts zu wissen!«, widersprach er. »Nichts!«
Enid schüttelte den Kopf. »Wenn wirklich nichts dahinter wäre, würdest du nicht so heftig protestieren.«
»Meinst du? Wie hätte ich denn deiner Meinung nach auf diesen unerwarteten und vor allem unwahren Vorwurf reagieren sollen?«
»Du hättest lachend darüber hinweggehen können.«
»Unsinn! Als ich das letzte Mal über die Sache mit Fred gelacht habe, warst du empört.« Gil stand auf und lief auf dem Teppich auf und ab. »Da wird man einfach mit solchen Vorwürfen konfrontiert... Wie hast du das eigentlich erfahren? Aus vierter oder fünfter Hand? Du weißt doch, was für Gerüchte in Selkirk verbreitet werden...«