Die Stimme des Herren - Vinzenz Lange - E-Book

Die Stimme des Herren E-Book

Vinzenz Lange

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Beschreibung

>>Ich bitte um absolute Aufmerksamkeit, da diese Durchsage nicht wiederholt wird! Innerhalb einer Stunde muss Bereich A211 geräumt werden. Erfolgt die Räumung nicht innerhalb der gesetzten Frist, ist mit erheblichen Verlusten zu rechnen. Widerstand wird nicht geduldet.<< Für die Freunde Abel, Alexander und Svenja scheint es ein Tag wie jeder andere zu sein, den sie bei dem abgelegenen Studentenwohnheim im Wald verbringen. Doch aus dem Nichts unterbricht eine Durchsage aus einem uralten Lautsprecher die scheinbare Idylle. Plötzlich überschlagen sich die Ereignisse, die Verbindung zur Außenwelt reißt ab und schlummernde Konflikte brechen sich Bahn. Was vorher als sicher galt, scheint nun zu zerbrechen. Wer verbirgt sich hinter der Stimme? Was will sie? Was ist der Bereich A211? Steckt doch mehr hinter den Gerüchten über die düstere Vergangenheit des Wohnheims? Die Stimme des Herrn spielt in einem Studentenwohnheim im Wald, einem Mikrokosmos voller widersprüchlicher, skurriler und sehr realer Figuren, und durchbricht gleichzeitig die Filterblase durch hochaktuelle gesellschaftliche Bezüge. Ein sprachgewaltiges Psychogramm, ein dramatischer Thriller und eine selbstironische Milieustudie.

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Seitenzahl: 263

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Das Buch

„Ich bitte um absolute Aufmerksamkeit, da diese Durchsage nicht wiederholt wird! Innerhalb einer Stunde muss Bereich A211 geräumt werden. Erfolgt die Räumung nicht innerhalb der gesetzten Frist, ist mit erheblichen Verlusten zu rechnen. Widerstand wird nicht geduldet.“

Für die Freunde Abel, Alexander und Svenja scheint es ein Tag wie jeder andere zu sein, den sie bei dem abgelegenen Studentenwohnheim im Wald verbringen. Doch aus dem Nichts unterbricht eine Durchsage aus einem uralten Lautsprecher die scheinbare Idylle. Plötzlich überschlagen sich die Ereignisse, die Verbindung zur Außenwelt reißt ab und schlummernde Konflikte brechen sich Bahn. Was vorher als sicher galt, scheint nun zu zerbrechen. Wer verbirgt sich hinter der Stimme? Was will sie? Was ist der Bereich A211? Steckt doch mehr hinter den Gerüchten über die düstere Vergangenheit des Wohnheims?

Die Stimme des Herrn spielt in einem Studentenwohnheim im Wald, einem Mikrokosmos voller widersprüchlicher, skurriler und sehr realer Figuren, und durchbricht gleichzeitig die Filterblase durch hochaktuelle gesellschaftliche Bezüge. Ein sprachgewaltiges Psychogramm, ein dramatischer Thriller und eine selbstironische Milieustudie.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

1

2

3

Kapitel II

1

2

Kapitel III

1

2

3

4

5

6

Kapitel IV

1

2

3

4

5

6

7

Kapitel V

1

2

3

4

5

Kapitel VI

1

2

3

4

5

Kapitel VII

1

2

3

4

5

6

7

Kapitel VIII

1

2

Epilog

Nachwort

Für T1, T2 und T3

Am Anfang war das Wort

- Johannes 1 1-

Kapitel I

1.

„Ich bitte um absolute Aufmerksamkeit für eine wichtige Durchsage. Es ist sehr wichtig, dass Sie mir jetzt alle gut zuhören, da ich glaube, dass hier einige entscheidende Missverständnisse vorliegen. Ich habe nun lang und breit mit den Damen und Herren der Stadtverwaltung und mit Herrn Voigt diskutiert und konnte die Verhältnisse nun zu einem abschließenden Ergebnis führen. Das Studentenwohnheim am Wald wird nicht abgerissen. Weder bei Herrn Voigt noch bei der Stadt lagen jemals Pläne oder Ideen vor, das Wohnheim abzureißen, um dort Wohnhäuser mit Grünanlagen zu errichten. Es handelte sich dabei um Gerüchte, deren Ursprünge uns noch unbekannt sind. Tatsache ist jedoch, dass sie nicht der Wahrheit entsprechen. Ich wiederhole nocheinmal, das Wohnheim wird nicht abgerissen. Ich hoffe darauf, dass sich bei Ihnen, liebe Studierende, nun der Ärger legt, der verständlicherweise durch dieses Gerücht aufgekommen ist und Sie nun in den geordneten Unialltag zurückkehren können. Die Universitätsleitung und die Stadtverwaltung und auch Augustus Voigt sehen den Fall hiermit als abgeschlossen an. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Das ist alles.“

Tagelange Anspannungen, Diskussionen, Streit, Sitzblockaden in den Hörsälen, Protestcamping auf dem Gelände, Mahnwachen. Neuigkeiten, die hinter vorgehaltener Hand die Runde machten und die die steigende Wut über die eigene Hilflosigkeit gegen die Männer und Frauen, die in steingraue Farben gekleidet waren und bei ihren Sitzungen sich die Getränke aus kleinsten Flaschen in bauchige Gläser mit Stiel schenkten; all das wurde nun mit einem Mal durch ein lautes Siegesgebrüll zertrümmert und aufgehoben. All die mit erboster Schrift bemalten Schilder, Bettlaken und Holzplatten tanzten freudig über die riesige bunte Menge aus Studierenden, Kindern, Stadtbewohnern und Interessierten, die sich alle lachend in den Armen lagen. Wie schon viele Generationen zuvor hatten sie es als ihre Pflicht angesehen, sich wieder einmal für den Kampf gegen Entscheidungen zu erheben, die ohne und auch gegen sie getroffen wurden. Über Tage hinweg hatte die Verbitterung ihre Kreativität angeregt und diese in allen möglichen Formen des Protests, in giftigen Blüten und Ranken mit lästigem Geruch, auswachsen lassen. Sie sahen sich selbst als das gewaltige Unkraut, als das sie von ihren Gegnern betitelt wurden. Doch sahen sie in diesem wenig schmeichelhaften Namen ihre Chance, dass sie als ein solches die Triebe eines Pilzes verzehren wollten, ehe sich dieser anschickte, wenn er ungehindert weiterwachsen konnte, alles zu verdrängen, um seine muffigen Früchte in Form von überteuerten Wohnhäusern, gepflegten Gärten, Zäunen und Betreten-Verboten-Schildern aus der Erde zu treiben. Für heute hatte das junge Unkraut den feindlichen Pilz zurückgedrängt.

Der Universitätspräsident stand noch am Mikrophon und schaute mit erleichtertem Lächeln auf die jubelnde Menge. Auch er hatte heute einen Sieg verbucht: Den Sieg des hohen Ansehens, das er sich nun wiedererrungen hatte. Der Mann, der dicht neben ihm stand und auf den der Präsident auch während seiner Ansprache immer wieder gedeutet hatte, lies seinen Blick ernst in die Ferne schweifen. Einige, die diesen Gesichtsausdruck sahen, witzelten darüber und ließen etwas hören wie: „Oh je. Jetzt schmollt der kleine August“, oder: „Der guckt wie ein zertretenes Sparschwein. Konnte er jetzt mal keine teure Butze bauen.“

Doch absolut niemand wusste, was Augustus Voigt, der Mann, gegen den sich alle am meisten gewandt hatten, in diesem Moment wirklich dachte, da dieser seinen Zorn so gut verbergen konnte, dass lediglich die Mundwinkel etwas herabhingen. Innerlich war er derweil so heiß, dass jede andere Gefühlsregung in ihm erstarrte. Er füllte seine Wut innerlich in eine Druckflasche ab und gedachte sie zu einem geeigneteren Zeitpunkt voll aufzudrehen. Es sollte wirklich nicht die letzte Durchsage gewesen sein.

„Wie? Und das war es jetzt einfach? Und nach all dem können jetzt einfach alle nach Hause gehen?“, stellte Abel verblüfft fest.

„Sieht so aus. Aber ich bin froh, dass es nun vorbei ist. Ich glaube, dass niemand gewusst hat, wohin das ganze sonst abgedriftet wäre“, antwortete Svenja.

Doch ihr Freund Alexander winkte großspurig ab: „Weil wir gekämpft haben, haben wir auch gewonnen. Wir waren zu viele für Voigt und den Präsidenten. Sie mussten etwas tun, weil sie gewusst haben, dass wir ihnen sonst die Uni auseinandernehmen und dazu gleich die ganze Stadt mit ihren Voigthäusern für Reiche.“

„Wenn das wirklich alles war, dann können wir ja gehen. Was macht ihr jetzt noch?“, fragte Abel.

„Alex und ich fahren jetzt wieder zum Wohnheim, das ja zum Glück noch eine Weile steht. Ich muss etwas für die Uni schreiben und Alex muss auch noch etwas machen. Und du, Abel?“

„Ich will euch begleiten. Und ich schlage vor, da der Tag so schön sonnig ist, dass wir uns da hinten an dem Stand noch ein paar Erdbeeren holen, uns bei euch auf die Wiese setzen und uns nach all der Aufregung noch etwas ausruhen, was meint ihr?“

„Unsere Wiese!“, rief Alexander. „Das machen wir! Und es wird unsere Wiese bleiben.“

„Hoffentlich“, flüsterte Svenja und stieß leicht ihren Ellbogen in Alexanders Hüfte.

Somit war es abgemacht. Die drei Freunde liefen mit den anderen mit, die sich in alle Richtungen aufgelöst hatten. Alle verschwanden zu den Bussen, in die alten Lehrgebäude oder in die Mensa, die kurz zuvor für viele Schlafsaal und zugleich Plenum für Kampfreden gewesen war. Die große Masse zerstreute sich. Bald zeugten auf der großen grünen Wiese mit ihren alten Bäumen, die den Campus in zwei Hälften teilte, nur noch die liegen gebliebenen Luftschlangen, Transparente, Becher und Kronkorken davon, dass hier vor kurzem noch Menschen in einem umfassenden Streit um ihr Recht gerungen hatten.

2.

Der Gegenstand der aggressiven Auseinandersetzung waren drei graue, langgestreckte Klötze, die außerhalb der Stadt am Rande eines großen Waldes lagen. Diese Gebäude gehörten einst zu einem militärischen Flug- und Truppenübungsplatz, der unweit auf einem sandigen Feld lag. In Ihnen war der Sitz der Verwaltung des Übungsplatzes untergebracht gewesen. Gesäumt von Kiefern, musste er sich nun mehr und mehr der Natur hingeben. Die alten Hangars, Bunker, Baracken und die Landebahn leisteten schon seit Jahrzehnten vergeblichen Widerstand gegen die kleinen und großen Wurzeln derjenigen Lebewesen, die ihre Stellung beim Bau des Stützpunktes hatten aufgeben müssen und die sich nun ihr altes Reich in einer Zeitlupenschlacht zurückeroberten. Doch konnte niemand diesem Gemetzel aus Stein, Beton und Chlorophyll beiwohnen, da der Zutritt durch meterhohe Metallzäune verwehrt wurde. Überall hielten diese Zäune Schilder, die einen Besucher durch ihre Warnungen vor unterirdischen, einsturzgefährdeten Bauten und lebensgefährlichen Blindgängern zum Umkehren veranlassten. Die vielen künstlich erzeugten Hügel, die sich im verschlagenen Schatten des Waldes verbargen und die wie enorme Gräber aussahen, die riesigen Stahlbetongebäude, die mit ihren grauschwarzen Portalen wie mit Zyklopenaugen auf den alten Exerzierplatz stierten, der in der Sonne schmorte, regten das Getuschel der Anwohner an. Einige Physikstudenten hatten behauptet, sie hätten mit einem selbstgebauten Geiger-Müller-Zähler erhöhte radioaktive Strahlung rund um das Gebiet festgestellt. Angehende Historiker wiederum behaupteten, es handle sich um einen geheimen Stützpunkt für Spionageflüge und dass es dort einen Soldatenfriedhof gäbe, der mitten im Wald läge. Am meisten faszinierte aber die Geschichte von einem Kommandanten, der im Zweiten Weltkrieg einige Piloten auf eine geheime Mission geschickt hatte, die sich als Himmelfahrtskommando erwiesen haben soll. Erst nach diesem Vorfall habe man eine Psychose bei dem Mann festgestellt, der jedoch kurz nach seiner Einweisung aus der Anstalt geflohen sei. Seine überdurchschnittliche Intelligenz sei ihm dabei zugutegekommen. Kurz vorher hätte er aber behauptet, er diene einem höheren Zweck. Dies zumindest erzählten die Psychologiestudierenden. Daraus wurde bald die Geschichte, in der es hieß, dass die Geister der abgeschossenen Soldaten am Tag ihres Todes immer wieder zurückkehren würden, um alle mit ihren Todesschreien zu martern und an die Gräuel des Krieges zu erinnern.

Welche der Geschichten wirklich wahr waren, wusste niemand. Tatsache jedoch war, dass es diesen Kommandanten wirklich gegeben hatte und er mit anderen Befehlshabern und hohen Militärbeamten in den drei Gebäuden sein Büro gehabt hatte, die schließlich viele Jahre später zum Studierendenwohnheim umfunktioniert worden waren. Aus den Büroräumen wurden Wohnzimmer, die Toiletten bekamen Duschen, Beratungs- und Sitzungsräume wurden zu Gemeinschaftsküchen umgebaut. Irgendein Bürokrat hatte die Räume durchnummeriert und alle Stockwerke mit Buchstaben, statt mit Zahlen versehen. So war der erste Stock Stockwerk A und das letzte und oberste Stockwerk war Stockwerk F. Dass der „Psychokommandant“, wie er bei den Bewohnern genannt wurde, einst hier gearbeitet und befohlen hatte, verlieh den drei Häusern eine unheimliche Aura, die abstoßend und faszinierend zugleich war. Die Fassadenplatten, die aus einem Gemisch aus Kies und noch mehr Beton bestanden, verliehen ihnen aber auch eine bedrückende, strenge und unpersönliche Ausstrahlung.

Auch wenn es viele Forderungen der verschiedenen Studierendenvertretungen gegeben hatte, fuhr der Bus, in dem Alexander und die anderen nun saßen, trotzdem nur einmal in der Stunde dort hin und das auch nur bis in die frühen Abendstunden. Immerhin hatte man erreicht, dass der Bus pünktlich zu den Vorlesungen fuhr, jedoch musste man sich auf schnelle Füße oder das Rad verlassen, wenn man diesen Bus verpasste. Dieser Engpass wurde mit Geld- und Personalmangel erklärt. Trotz dieser abgelegenen Lage war ein Wohnplatz hier ebenso begehrt wie an allen anderen Standorten in der Stadt, weshalb es ellenlange Wartelisten gab. Dafür nahmen die Studierenden auch in Kauf, dass der nächste Supermarkt an der Uni selbst lag und daher die Einkäufe sorgsam geplant werden und für spontane Partys oft die Reste aus dem Kühlschrank herhalten mussten. Dafür hatte die Universität überall in den Gebäuden Funkstationen für kabelloses Internet installieren lassen. Wasser und Strom konnten durch eine moderne Anlage, die sich auch fernsteuern ließ, verteilt und ein- und ausgestellt, werden. Gerade das immer gut funktionierende Internet war neben dem Handy die einzige Verbindung zum Rest der zivilisierten Welt.

Doch viele der älteren Semester erinnerten sich daran, dass es trotz der widrigen Umstände möglich gewesen war, fast jeden Abend aus irgendeinem Grund auf dem Grillplatz Party zu machen. Denn Nachbarn, die das hätte stören können, gab es keine. Nur einen stummen, sehr dunklen Wald, der direkt hinter dem Wohnheim begann. Außer den Biologie- und Philosophiestudierenden hatte im stressigen Unialltag kaum jemand etwas mit dem Wald zu schaffen, da es kaum Wanderwege gab und wenn doch, dann waren ihre Wegweiser schon längst unlesbar geworden. Und doch hatte so manch einsame Seele tief in der Nacht am Fenster gestanden, den kalten Mond betrachtet und geglaubt, der Wald, der mit einem halben Ring die Wohnheimhäuser umschloss, greife mit seinen missmutigen Bäumen nach dem Zuhause der Studierenden.

3.

Abel, Alexander und Svenja waren nach einer halbstündigen Fahrt endlich angekommen und saßen nun auf einer wild wuchernden Wiese im Schatten einiger hochgewachsener Büsche. Etwas weiter hinten hockten auf den Bänken des Grillplatzes einige junge Frauen und Männer, tranken Bier, unterhielten sich und lachten laut. Die Sonne stand weit oben am wolkenlosen Freitagshimmel und lachte zufrieden über den Fortschritt ihrer strahlenden Arbeit: Sie hatte Licht gesät und erntete nun Blüten, Neugeborene und Vogelgesang. Und zu alldem gab es Erdbeeren.

„Wenn ich die ganze Stadt für mich allein hätte? Ich glaube, ich würde in den größten Buchladen gehen und alle Bücher, die ich haben will, zu mir nach Hause bringen. Überhaupt würde ich erstmal eine größere Wohnung nehmen. Irgendeine. Danach würde ich alle Filme, die ich im Kino verpasst habe, ansehen. Und zwar von dem Platz genau in der Mitte aus“, überlegte Svenja laut und hielt prüfend eine winzige Erdbeere nach oben.

„Mehr würdest du nicht tun? Immerhin hättest du die ganze Stadt für dich allein. Ich würde mir irgendwo einen Sattelschlepper besorgen, die größte Soundanlage draufstellen, die ich finden kann und würde damit zur Uni fahren. Dort würde ich meine Musik so laut wie möglich drehen und ein Bild auf die hässliche Westwand malen. Die, die so perfekt weiß ist“, rief Abel, der einer Erdbeere gerade die Blätter abdrehte.

„Und was für ein Bild würde das werden?“, fragte Svenja.

„Ich weiß nicht. Vielleicht eines mit einem gewaltigen Baum, der seine Wurzeln in einen Haufen Bücher bohrt. Aber der Baum wird von mechanischen Ameisen und Heuschrecken angefressen. Im Hintergrund steht eine Fabrik, aus der die Armee der Maschineninsekten kommt.“

„Das klingt sehr spannend und faszinierend. Was soll das bedeuten?“

„Der Baum soll die Studenten und Studentinnen darstellen, die nur lernen, um einen Platz in der Wirtschaft oder Industrie zu bekommen. Nicht mehr für sich selbst.“

„Find ich gut“, warf Alexander ein. „Genauso ist es doch heutzutage. Wir können uns nicht mehr für das entscheiden, was wir gerne haben und was uns interessiert. Wir sollen das studieren, was Geld bringt. Wir werden zu Werkzeugen der Wirtschaft und Industrie gemacht.“

„Ich weiß aber gar nicht, was ich, außer Bildermalen, dagegen noch tun kann oder soll. Ich fühle mich so hilflos“, seufzte Abel.

„In diesem System kannst du allein auch nichts tun. Die Devise heißt kämpfen und immer weiterkämpfen. Damit niemand uns vergisst und die Sachen, die wir gemacht haben, aufgeschrieben werden. Damit andere Generationen so weitermachen wie wir. Dann verändert sich langsam etwas. Von heute auf morgen geht das nicht. Das Wichtigste ist, dass du auffällig bleibst. Darum male lieber das Bild jetzt und nicht, wenn die Stadt völlig leer wäre. Damit alle es sehen können. Aber frag vorher nicht, ob du malen darfst.“

„Verstehe. Vielleicht werde ich das wirklich tun. Aber was würdest du machen?“

„Ich würde in das Rathaus gehen und in den Plenarsaal pinkeln.“

„Was denn? Nur pinkeln? Das solltest du aber auch nicht nur machen, wenn du die Stadt ganz für dich allein hättest, sondern gleich. Falls du gerade musst“, warf Abel zurück und alle brachen in lautes Gelächter aus.

So verging eine Dreiviertelstunde. Die Drei plauderten und lachten immer herzlicher. Sie konnten endlich einmal die Politik und den Protest vergessen und über unwichtige Dinge lachen, jene, die für die Seele umso kostbarer sind.

Als hätte sie jemand gewarnt, lachten sie so viel, als wollten sie diese unbekümmerten Momente in vollen Zügen genießen. Als hätten sie es gewusst, dass das Unheil sehr bald ihre jungen Gemüter im Morast des erbarmungslosen Entsetzens ersäufen würde. Dieses Unheil kündigte sich als Erstes mit laut schallenden Knacktönen an, wie von brechenden Knochen, die gefolgt wurden von verzerrten Pfeiftönen einer Rückkopplung. Jemand hatte ihnen etwas sehr Wichtiges mitzuteilen.

Kapitel II

1.

Denn jetzt schallte eine blecherne Stimme durch die Häuserschlucht. Sie war so außerordentlich laut, dass sie jeder hören musste. Sie klang seltsam fremd, wie die eines Roboters, jedoch röchelte sie zugleich und trug gleichsam eine eiskalte, erbarmungslose Strenge in sich, sodass alle wie gebannt, ja, hypnotisiert, ihren Worten lauschten. Folgendes sprach sie zu den Zuhörern:

„Ich bitte um absolute Aufmerksamkeit, da diese Durchsage nicht wiederholt wird! Innerhalb einer Stunde muss Bereich A 211 geräumt werden. Erfolgt die Räumung nicht innerhalb der gesetzten Frist, ist mit erheblichen Verlusten zu rechnen. Widerstand wird nicht geduldet.“

Es folgte ein weiteres lautes Knacken und danach ertönten statische Rausch- und Knackgeräusche, wie bei einem Funkgerät, das nicht ausgeschaltet wurde.

Svenja keuchte und versuchte, nach Luft zu schnappen, doch es gelang ihr nicht. Sie richtete sich blitzschnell auf und schluckte die kleine Erdbeere hinunter, die sie vor Schreck unzerkaut in den Hals hatte rutschen lassen. Sie hustete, woraufhin ihr Abel auf den Rücken klopfte. Sie hatten sich alle gleich auf den Boden geworfen, da die Stimme direkt aus einem Gebüsch hinter ihnen gebrüllt hatte. Stumm vor Schreck blickten sie sich mit großen Augen an. Niemand wagte zu sprechen. Alexander löste sich als erster aus der Erstarrung. Er erhob sich stumm und sah vorsichtig hinter den Busch, eine Hand erhoben und zur Faust geballt. Dahinter war jedoch niemand. Ungläubig blickte er sich um. Dann sah er einen runden Lautsprecher, einem Megaphon sehr ähnlich, zweieinhalb Meter über dem Boden an der Wand angebracht. Seine hellgraue Farbe fiel auf der Fassade kaum auf. Am breiteren Ende des Trichters hing ein kaputtes Spinnennetz und sein schmutziges Kabel verschwand in der Wand. Er war es auch, der die statischen Geräusche von sich gab. Alexander schaute sich noch einmal prüfend um und rief die anderen zu sich.

„Seht mal. Der war das hier“, rief er. „Was soll das für ein Lautsprecher sein? Habt ihr ihn schon mal gesehen?“

Svenja schüttelte den Kopf: „Nein.“

„Ich auch nicht. Aber so wie er aussieht, hängt er schon sehr lange hier. Was für einen Zweck hat er?“

„Vielleicht stammt er aus er noch aus der Zeit, als das ein Militärgebäude gewesen war“, vermutete Abel.

Svenja rief ängstlich: „So hörte sich das gerade auch an! Wie der Psychokommandant!“

„Ach. Soll das etwa sein Geist gewesen sein?

Nein, das war ein echter Mensch. Doch was will er?“, erwiderte Alexander.

Abel blinzelte ahnungslos. „Ich habe gar nicht so richtig verstanden, was er gesagt hat.“

„Bereich A 211 soll geräumt werden. Was auch immer das ist.“

Svenja hatte eine Idee: „Vielleicht ist damit Zimmer A 211 gemeint. Im ersten Stock. Wir sollten gleich mal nachsehen.“

„Was aber, wenn das alles nur ein Scherz ist? Vielleicht erlaubt sich da jemand einen ganz üblen Jux mit uns.“ Abel blinzelte immer noch, als habe er etwas im Auge.

Doch Alexander entschied: „Wir sollten mal die anderen da hinten fragen. Sie müssen es ja auch gehört haben und vielleicht wissen sie etwas.“

Sie liefen auf den Grillplatz. Als sie gehört wurden, richteten sich die Blicke der dort Sitzenden auf sie. Der große junge Mann, der in der Mitte, mit dem Rücken zu den Ankömmlingen gestanden hatte, so als habe er gerade eine Ansprache gehalten, drehte sich um. Sofort zog sich sein Gesicht voller Spannung zusammen und er sah aus, als habe er sehr lange auf diesen Moment gewartet. Als Alexander den jungen Mann erkannte, verfinsterte sich seinerseits sein Gesicht und er rief: „Hey, wisst ihr, wer oder was das war? Es klang wie ein Befehl.“

„Ach, sieh da. Wen haben wir denn da?“, sprach der junge Mann. „Das ist doch mein alter Freund Alexander Fried. Wir hatten ja schon lange nicht mehr das Vergnügen, mein Junge.“

Alexander ignorierte ihn, stattdessen redete er weiter mit der Gruppe, die ihn wortlos betrachtete: „Die Nummer, die genannt wurde. A 211. Klingt wie eine Zimmernummer. Vielleicht sollten wir dort mal nachschauen.“

„Alex, wie er leibt und lebt. Kaum furzt jemand ins Mikrophon und du vermutest gleich wieder ein Problem dahinter und rennst mit deinen Kumpanen los. Wohl zu wenig zu tun, was, mein Junge?“, fragte der junge Mann und lachte.

„Hat jemand von euch die Stimme erkannt? Irgendjemand?“

„Vielleicht will jemand in das Zimmer ziehen und will so erreichen, dass es frei wird. Oder es war der liebe Gott, der das Zimmer braucht, damit er deine tote Oma da einsperren kann, die ihn nervt. Oder was meinst du, mein Junge?“ Jetzt lachten auch die anderen.

Svenja bedeckte beschämt die Augen. Sie ahnte, der Sprecher wusste, wie er Alexander provozieren konnte. Abel stand nur mit schwitzenden Händen daneben, stets bereit einzugreifen, falls jemand handgreiflich werden sollte.

„Wenn du mich noch einmal ‘mein Junge‘ nennst, setzt es was, Jakob!“, zischte Alexander.

„Ey!“, erklang plötzlich eine grollende Stimme. Ein breitschultriger, bulliger Junge trat hervor und stellte sich an die rechte Seite des Mannes, den Alexander gerade Jakob genannt hatte. „Wenn du Stress willst, dann sag mir vorher Bescheid. Dann werden wir das ausdiskutieren.“

„Darauf bin ich aber gespannt!“, lachte Alexander. „Wer bist du denn? Jakobs selbstgebastelter Lakai? Zurück in den Schatten mit dir, du Staubfänger!“

Noch bevor der Angeredete überreagieren konnte, gebot ihm Jakob mit einer Handbewegung Schweigen. „Schon gut, Benjamin. Der Junge da ist mein Freund, stimmt‘s Großer?

Was ist denn mit deiner gespenstischen Durchsage? Willst du die Polizei rufen, damit sie das Zimmer stürmt? Oder willst du jetzt jeden befragen, ob er die Stimme kennt? Wer weiß. Vielleicht war sie ja doch nur in deinem Kopf?“

„Du hältst das für einen Witz, ja?“

„Was soll es denn sonst sein, mein Junge? Wenn du willst, kannst du das Spiel gerne mitspielen. Geh los und gehorche der Stimme. Du solltest immer tun, was man dir sagt.“ Den letzten Satz versuchte Jakob mit einer besonderen Selbstsicherheit aufzusagen, doch Svenja bemerkte dort ein leichtes Zittern in seiner Stimme und schaute auf.

„Wenigstens tun wir was. Wenn du deinen Arsch nicht hochbekommst, viel Spaß beim Rumsitzen und Saufen. Aber heult nicht, wenn doch was Schlimmeres passiert. Du bist einfach zu nichts nutze“, rief er und erhob den Mittelfinger.

Hier sprang Jakob erbost auf Alexander zu, doch Svenja rief in einem Ton, der so überraschend hart war, dass sogar Jakob und Benjamin große Augen machten: „Schluss jetzt! Ihr beiden dummen Gockel könnt euch später auf die Nerven gehen. Wir sehen uns jetzt das Zimmer an.“ Mit diesen Worten packte sie Alexander und schleppte ihn hinter sich her, zurück zu der Stelle, wo sie gesessen hatten. Dort sprach sie weiter, aber wieder etwas sanfter: „Jakob, dieser Idiot. Ärgere dich nicht über ihn. Er freut sich, wenn du dich ärgerst.“

„Ich könnte diesen Wichtigtuer erschlagen! Warum muss er so sein? Was für ein Problem hat er eigentlich? Kann er nicht einmal eine wichtige Frage beantworten? Stattdessen spielt er sich vor seiner Affenbande auf wie der größte Gorilla! Dieser dämliche Fatzke!“

„Es ist gut, beruhige dich!“

„Gar nichts ist gut! Ich hasse dieses arrogante Arschloch!“

„Das hilft uns jetzt auch nicht weiter! Krieg dich wieder ein und werde vernünftig! Wenn es stimmt, was die Stimme sagt, dann haben wir nicht mehr viel Zeit, um herauszufinden, wer oder was dahintersteckt!“

Wir sollten schnell machen, dachte Svenja. Die Stimme klang gefährlich. Sie befürchtete, dass sonst noch viel Schlimmeres passieren könnte.

Abel hatte die ganze Zeit nichts gesagt. Seine Gedanken sprachen dafür umso mehr: „Es war, als hätte die Stimme direkt mit mir gesprochen. Dieser Verlust, von dem sie sprach. Hoffentlich meint sie damit nicht meinen kleinen Schatz. Hoffentlich weiß die Stimme nichts davon. Aber es ist doch interessant, wie sie alle aufregt. Eine kleine Drohung und schon springen alle los. Was Alexander jetzt wohl machen wird? Was wenn…?“

„Was, wenn nicht Zimmer A 211 gemeint ist, sondern Haus 211 A? Dann müsste das ganze Gebäude geräumt werden. Ich meine, dass nicht Stockwerk A, sondern die Hausnummer 211 A gemeint ist. Dann wird das eine Haus in Frage kommen und nicht die anderen, denn die anderen sind ja 211 B und 211 C“, warf Abel jetzt wieder laut ein.

„Nein. Die Stimme hat sich klar und deutlich ausgedrückt. Sonst hätte sie 211 A gesagt. So muss sie aber das Zimmer meinen. Wir müssen also schnell zu dem Zimmer.“

„Endlich!“, rief Svenja und sie liefen los, zögernd erst, doch dann entschlossen, da sie sich einig darin waren, dass es ernst war. Jedoch wussten sie nicht, was sie in A 211 erwarten würde.

2.

Der Flur, in dem Zimmer A 211 lag, war still und staubig. Durch das schmutzige Fenster fiel das Tageslicht und bildete einen viereckigen Fleck auf dem Linoleumboden, der mit jeder Minute ein kleines Stück weiter nach links rückte. Die kleinen grauen Flocken wiegten sich sanft durch das Licht, verschwanden im Schatten, glitten ins Licht zurück, auf und ab, völlig zufrieden mit ihrer Bedeutungslosigkeit. Doch plötzlich wurden sie heftig aufgewirbelt, als Alexander entschiedenen Schritts durch den Flur eilte. Vor der richtigen Tür blieb er stehen, hob die Hand zum Klopfen und zögerte doch. Der Schrecken saß zu tief, sodass er einen Moment geglaubt hatte, Zimmer 211 A sei eine Falle, in die er nun im Begriff war zu tappen. Er atmete tief ein und hieb dann entschlossen mit der Faust ein paar Mal gegen die Tür.

Gleich darauf öffnete ein Student mit dunkler Haut und schulterlangen schwarzen Haaren. Zögernd stellte der Besucher sich vor: „Guten Tag. Mein Name ist Alexander Fried. Ich äh... hast du das eben gehört?“

„Ich bin Said. Was soll ich denn gehört haben?“

„Die Durchsage von vorhin. Sie war ziemlich laut. Du musst sie doch auch gehört haben.“ „Ach, diese Stimme! Tut mir leid, ich habe gerade gelernt und hatte das Fenster geschlossen. Wir schreiben bald einen Test über lexikalische Strukturen und darauf will ich gut vorbereitet sein.“

Inzwischen waren Svenja und Abel dazugestossen und Svenja mischte sich sogleich ein: „Wir wollen auch gar nicht lange stören. Nur hat die Stimme etwas davon gesagt, dass Bereich A 211 geräumt werden muss und zwar innerhalb einer Stunde. Da wollten wir nachsehen, ob bei dir alles in Ordnung ist. Wir dachten einfach, dass vielleicht dein Zimmer mit diesem Bereich gemeint sein könnte.“

„Das ist sehr nett von euch, dass ihr euch um mich sorgt. Aber ich versichere euch, dass niemand geklingelt hat, um mich zu vertreiben. Ich bin schon seit heute Morgen hier, lerne seit Stunden und hatte keinen Besuch. Die Stimme habe ich kaum gehört. Ich denke nicht, dass irgendetwas davon ernst gemeint wäre. Bei mir ist alles in Ordnung.“

„Noch ist vielleicht nichts passiert!“, warf wiederum Alexander ein. „Die Stunde ist ja auch noch nicht rum. Wer weiß, wer oder was dann zu dir zu Besuch kommt?!“

„Aber wer sollte das denn sein? Woher wollt ihr eigentlich wissen, dass es sich dabei um mein Zimmer handelt? In den anderen Häusern gibt es immerhin auch Zimmer A 211. Warum belästigt ihr die Bewohner dort nicht?“

Darauf wussten sie nichts mehr zu sagen.

„Ich würde euch empfehlen, die Sache ruhen zu lassen. Und mich lasst ihr bitte auch in Ruhe lernen. Darum bitte ich euch zu gehen.“

„Nichts für ungut. Alex, Abel und ich wollten dich nicht belästigen. Tut uns leid, dass wir dich gestört haben. Wir haben uns nur Sorgen gemacht. Aber vielleicht hast du recht. Vielleicht war das doch nur ein Scherz. Naja. Viel Glück bei der Prüfung und viel Erfolg beim Lernen!“

„Schon gut. Danke.“

Damit schloss sich die Tür und der Staub war wieder das Einzige, was sich auf dem Flur bewegte.

Ratlos und schweigend traten die Freunde nach draußen. Das Licht blendete sie nach der Dunkelheit des Flures. Jakob und die anderen hatten sich inzwischen auch schon verzogen. Sie betrachteten noch einmal den Lautsprecher. Er hing genauso stumm und schmutzig an der Wand wie vorhin. Dieses befremdliche statische Rauschen hatte aufgehört. Die Vögel zwitscherten und die Grillen zirpten im hohen, leicht vergilbten Gras. Es war nur ein Traum, den die Freunde geträumt hatten und an den sie sich jedoch so genau erinnerten, weil er so überzeugend ernst gewesen war. Genauso verblasste die Erinnerung bei allen dreien, je mehr der Tag voranschritt. Die Stimme, die zuerst noch gellend in ihren Köpfen nachgehallt war, war zu einem Wispern geworden, dessen Worte zu niemandem vordrangen. Es hatte einmal gedonnert, aber kein Blitz war eingeschlagen. Darum wurde die Vermutung ganz von selbst zur Gewissheit. Es war ein dummer Scherz gewesen, der verpufft war, ohne dass jemand gelacht hatte. Der Alltag stapfte wieder zurück ins Bewusstsein: Wie angekündigt verschwanden Alexander und Svenja in sein Zimmer, um sich dort den neuen Aufgaben zu stellen, die ihnen die Uni stellte. Abel verabschiedete sich auch. Er war sehr erleichtert, dass niemand fragte, wohin er wollte. Jeder hätte wohl vermutet, dass er vielleicht noch ein wenig im Wald spazieren gehen wollte, bis der Bus käme, der ihn nach Hause bringen sollte, wie er es sonst zu tun pflegte. Dass der Bus wie immer ohne ihn fahren würde, wusste aber nur Abel. Seine Gefühle gaben ihm einen Plan ein, auf dessen Umsetzung er schon den ganzen Tag innerlich drängte. Als die beiden anderen im zweiten Haus verschwunden waren und er sich unbeobachtet fühlte, eilte er los.

Während im gesamten Wohnheim alle taten, was sie für richtig und wichtig hielten, verstrich die Zeit. Unbeachtet. Sicher schaute ab und zu jemand auf die Uhr und war schockiert darüber, wie spät es schon war. Jedoch scherte sich niemand mehr um ein Ultimatum, das von einer Stimme gestellt worden war. Höchstens um ein solches, das Deadlines, Termine und Dates vorgaben. Die Uhr der Stimme lief ohne Erbarmen weiter und damit verstrichen ungenutzt Chancen, das Wohlergehen vieler Menschen zu retten. Auf einem unbekannten Mund breitete sich mit jeder Sekunde ein fieseres Grinsen aus.

Kapitel III

1.

Aus: Lesower Tageszeitung. Mitte April, einen halben Monat zuvor

Von Matthias König:

„Abriss des Studierendenwohnheims in der Diskussion

Gestern erreichte uns eine Meldung von der Abteilung für Stadtplanung und Bau, in der es hieß, dass es Pläne gebe, das Lesower Studierendenwohnheim am Wald an den Bauinvestor Augustus Voigt zu verkaufen.

`Es gibt Überlegungen, wie und ob die alten Wohnheimgebäude weiterhin in ihrer bisherigen Nutzung Bestand haben können‘,teilte uns gestern ein Sprecher der Stadt mit. ‚Dabei sei auch der Name Augustus Voigt gefallen‘, hieß es weiter.

Das Studentenwerk von Lesow, das Eigentümer des betroffenen Grundstücks ist, stand aktuell für eine Stellungnahme noch nicht zur Verfügung.

Der Bauinvestor Voigt ist in seiner Heimatstadt Lesow dafür bekannt, alte Grundstücke in attraktiver Lage zu erwerben, die darauf befindlichen Gebäude abzureißen und Wohnanlagen auf der frei gewordenen Fläche zu errichten. Deshalb dürften die Pläne einiges Zündpotential besitzen, da unter Umständen, sollte Voigt das Grundstück wirklich erwerben, auch das alte Wohnheim abgerissen werden könnte.“

Neben diesem Artikel war ein kleines Foto abgedruckt, das das Studierendenwohnheim zeigte.

Noch am selben Tag folgte eine Kolumne auf der Internetseite der Studierendenzeitschrift „Studentische Stimme“. Der Verfasser war der Chefredakteur der Zeitschrift Dominik Schaller:

„Studentenwohnheim in Gefahr!

Ein Aufschrei ging heute durch alle Studentenvertretungen! Der Lesower Tageszeitung war zu entnehmen, dass die Stadt und das Studentenwerk planen, das alte Studentenwohnheim am Wald an Augustus Voigt zu verkaufen. Dieser würde es abreißen wollen, um dort schon wieder überteuerte Wohnungen zu bauen. Voigt ist bekannt dafür, an allen möglichen Stellen Land zu kaufen, um dort Wohnungen für Reiche zu bauen, die für Studenten nicht bezahlbar sind. Die ‚Studentische Stimme‘ bat das Studentenwerk, den Eigentümer des Wohnheims, sofort um eine Stellungnahme. Wir erhielten jedoch nur eine kurze E-Mail, in der es hieß, von solchen Plänen sei nichts bekannt, jedoch würde es Überlegungen geben, wie mit dem Studentenwohnheim in Zukunft zu verfahren sei. Das Studentenwerk fährt hier eine eindeutige Hinhaltetechnik und versucht, etwas über die Köpfe der Studenten hinweg zu entscheiden. Steven vom AStA fasste die Situation richtig zusammen: ‚Die Pläne des Studentenwerks und der Stadt sind der reine Wahnsinn! Es zeigt sich einmal mehr, dass das Geld die Stadt regiert. Die gesamte Studierendenschaft sollte und wird sich in den Planungsprozess einmischen, sonst haben einige hundert Studierende bald kein Zuhause mehr!‘“