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Science Fantasy zum Träumen –
Die Stundenwelt-Reihe (Band 2)
***Die Gegenwart hat nur eine Zukunft, solange sich die Vergangenheit ändert.***
Brynadette ist unglücklich in ihrem Job, unzufrieden mit ihrem Aussehen und ihr Privatleben ist auch nicht gerade aufregend. Sie ist immer noch Single, und Hobbys hat sie auch keine. Aber um etwas gegen ihr langweiliges Leben zu unternehmen, fehlt ihr jede Motivation.
Plötzlich durchbricht eine mysteriöse Nachricht ihren Alltag:
Wir brauchen deine Hilfe.
Triff uns heute Abend,
im Stadtpark.
Wir warten auf dich.
Soll sie auf diese sonderbare Mitteilung reagieren?
Brynadette ahnt, dass dieses Treffen ihr Leben völlig verändern wird.
Sie stürzt sich in eine unbekannte Welt, in der Naturgesetze keinerlei Regeln folgen. Auch sie selbst bleibt von diesem Wandel nicht verschont. Als Brynadette dem Hilferuf folgt, trifft sie auf außergewöhnliche neue Freunde, begibt sie sich auf eine riskante Mission und entdeckt ungeahnte Fähigkeiten, die schon seit Langem in ihr schlummern.
Wird sie es schaffen die Stundenwelt vor dem sicheren Untergang zu bewahren?
Was ist die Stundenwelt?
"Die Stundenwelt - Brynadette" ist der zweite Band einer siebenteiligen Romanreihe (Genre: Low Fantasy / Soft Science Fiction). Das Besondere an den Stundenweltromanen ist, dass die einzelnen Bände auch in einer anderen Reihenfolge gelesen werden können.
Jeder Band erzählt die Geschichte eines Bewohners der Stundenwelt, die durch sieben Epochen hindurch versuchen, ihre Welt vor dem sicheren Ende zu bewahren: Denn das Handeln jedes einzelnen Individuums der Stundenwelt beeinflusst ihre Entwicklung und den Fortbestand ihrer Welt.
Band 1: Die Stundenwelt - Cheyenne
Band 2: Die Stundenwelt - Brynadette
Band 3: Die Stundenwelt - Lileyna
Band 4: Die Stundenwelt - Eléandra (Erscheiunungsdatum wird noch bekanntgegeben)
weiters erschienen:
Alltagsgötter
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Michaela Feitsch
Die
Stundenwelt
Geschichten aus der Siebenwelt
Zweiter Band
Brynadette
Roman
"Novize, Herr der Stundenwelt,
sieh´ wie der Sand der Zeit
durch deine Finger rinnt,
wie der Sand durch das Glas."
(Der Lehrer)
Gespräch mit dem Novizen
1 Std. 59 Min. 59 Sek.
»Bernie, bist du so lieb und kopierst das schnell für mich?«
Bryn nahm ihrer Kollegin die Unterlagen ab und ließ sie auf ihren Schreibtisch plumpsen. »Brynadette.«
Ihre Kollegin räusperte sich. »Wie bitte? Was hast du gesagt, Liebes?«
»Brynadette. Mein Name ist Brynadette. Oder Bryn.«
»Ach so, das weiß ich doch Bernie.«
Marsha, Ihre Arbeitskollegin lächelte kurz und zwinkerte ihr zu. Dann wandte sich Marsha von ihr ab und wackelte auf ihren Absätzen davon
Bryn starrte auf ihren kleinen Schreibtisch, an dem sich bereits ein hoher Stapel Unterlagen türmte. All diese Akten musste sie heute für ihre Kollegen kopieren.
Bryn ließ ihre Augen über den Schreibtisch gleiten.
Wenn ich noch einen Tag länger in diesem Büro arbeiten muss, ertränke ich mich in meinem Kaffeebecher.
Sie genehmigte sich schnell einen Schluck aus der Tasse, anstatt ihre Nase hineinzustecken. Hastig klemmte sie sich die Ordner unter den Arm und verschwand mit energischen Schritten im Kopierraum. Mit einem festen Ruck schlug sie die Tür hinter sich zu. Jetzt hatte sie wenigstens ihre Ruhe.
Ich arbeite schon seit zwei Jahren hier und sie wissen immer noch nicht wie ich heiße, ging es ihr durch den Kopf.
In dem kleinen Kopierraum verteilte sich eine stetige Hitze. Bryn krempelte die Ärmel ihrer Bluse hoch. Dadurch legte sie ihre stämmigen Unterarme frei, aber das störte sie momentan nicht, immerhin war sie gerade unbeobachtet.
Sie öffnete die Klappe des Geräts, das an dem Temperaturanstieg schuld war und ihr Gesicht spiegelte sich in dem Glas des Kopierers.
Bryn gehörte zu den eher unauffälligen Standardtypen, mit Allerweltsgesicht. Ihr strähniges Haar trug sie meistens, so wie jetzt gerade, zu einem Dutt hochgesteckt. Ihre Brillengläser wurden von einem graubraunen Rahmen auf ihrer 08/15-Durchschnitts-Nase gehalten. Make-up trug sie kaum, auch heute nicht. Sie versuchte es hin und wieder, aber nach ein paar Stunden bekam sie einen schrecklichen Ausschlag. Und auch Kontaktlinsen waren keine Alternative, um ihr Gesicht aufzuhübschen, weil ihre Augen davon ständig juckten. Aber eigentlich war ihr das fast egal, weil sie sich in ihrem rundlichen Körper sowieso nicht besonders wohl fühlte.
Also warum dann an ihrem Gesicht Herumdoktoren? Das war die ganze Mühe sowieso nicht wert.
Sie schloss den Deckel des Kopierers und drückte auf Start. Während sie auf den ersten Durchgang wartete, sah sie an sich herab. Sie trug eine weite Bluse um ihre Pölsterchen am Bauch zu kaschieren und einen auslandenden Rock. Darunter spannte ihre Strumpfhose, die jedoch überlebensnotwendig war, wenn sie vermeiden wollte, dass ihre Schenkel schmerzlich aneinander rieben.
Sie startete zwar immer wieder Versuche Sport zu treiben und sich gesund zu ernähren, hielt aber nie lange genug durch, um wirkliche Ergebnisse zu bemerken. Und so blieb ihr nur noch die tägliche Selbstkritik vor dem Spiegel. Oder bei der Arbeit. Oder wenn sie im Auto saß. Oder auf die Straße ging.
Sie starrte vor Langeweile an die Decke und schnaubte in die Luft.
Wieder bald einen Tag geschafft. Nicht mehr lange, dann ist es vorbei und du kannst wieder nachhause.
Irgendwie war sie sogar stolz auf sich, weil sie diese Stelle schon so lange behalten hatte. Normalerweise schaffte sie es gerade ein paar Monate, höchstens ein Jahr, dieselbe Arbeit jeden Tag wieder und wieder zu machen. Ihr letzter Job als Kellnerin wurde ihr schon nach zwei Monaten zu viel. Insgesamt hielt sie aber sogar vier Monate durch. Ihre Chefin warf ihr vor, sie wäre viel zu ungeschickt für einen Job im Gastgewerbe. Ständig ließ sie etwas fallen.
Damit hatte sie zwar nicht ganz unrecht, aber Bryn war immer freundlich zu den Gästen gewesen. Selbst wenn sie sie hin und wieder mit etwas überschüttete, weil sie wieder über ihre eignen Füße stolperte. In dieser Zeit hatte sie sogar zwei Kilo abgenommen und das Trinkgeld war auch nicht zu verachten gewesen.
Aber sei es, wie es sei, sie wurde entlassen. So wie immer.
Diesen Aushilfsjob im Büro hatte sie auch nur durch Zufall ergattert. Sie würde weiter durchhalten, das hatte sie sich geschworen. Jeden Tag wieder herkommen und ihre Kopien machen.
Bis ich tot umfalle.
So hatte sie sich ihr Leben nicht vorgestellt. Aber so war das wohl, wenn man sich mit Siebenundzwanzig immer noch nicht zu irgendetwas berufen fühlte. Und wenn man nur arbeiten ging, um sich das Leben leisten zu können, von dem man jedoch nicht viel hatte, weil man ja den ganzen Tag in der Arbeit verbrachte.
Ein Teufelskreis.
Bryn ließ sich den restlichen Tag weiter durch das Bürogebäude scheuchen: Sie überbrachte Nachrichten für ihre Kollegen, fertigte weitere Kopien an (um den Stapel auf ihrem Schreibtisch abzuarbeiten), machte die Ablage und zu guter letzt bediente sie den Aktenvernichter. Nachdem der ganze Bürokram erledigt war, machte sie sich ans Werk und verteilte die Post im restlichen Bürogebäude.
Bei ihrer Postrunde blieb sie regelmäßig im Büro der Grafiker hängen. Die Jungs boten ihr meist eine Tasse Kaffee an, da konnte Bryn einfach nicht widerstehen. Die Stimmung in diesem winzigen Büro, in dem sechs Männer ihrer Arbeit nachgingen, strahlte eine ganz andere Atmosphäre als der Rest des riesigen, unpersönlichen Bürokomplexes aus.
Außerdem wussten sie sogar, wie sie hieß.
»Hey Bryn! Komm rein, dein Kaffee wartet schon auf dich«, begrüßte Sam sie überschwänglich, der fast von seinem Bürostuhl kippte. In dem Kämmerchen herrschte wie immer eine chaotische Stimmung. Das Radio dudelte vor sich hin und der Fernseher brüllte in voller Lautstärke aus der anderen Ecke des engen Büros. Es lief gerade eine Nachrichtensendung und die superschlanke Moderatorin berichtete über den aktuellsten Anschlag auf einen Politiker. Bryn parkte ihren Postwagen und nahm freudig den Kaffee entgegen.
Sam deutete kurz in die Richtung des Fernsehgeräts.
»Schon wieder einer Matsch. Jetzt sind es schon Vier. Sie nennen es das große Politikersterben.«
Bryn hielt ihre Tasse in der Hand und kratzte mit einem Fingernagel über das Emblem der Firma, das unübersehbar auf der Kaffeetasse prangte. VidaCorp.
Sie trank einen Schluck und sagte: »Tja, zum Glück sind wir keine Politiker, was? Ich hätte keine große Lust so hingerichtet zu werden. Das kann ich dir sagen.«
Sam warf ihr einen gespielt schockierten Blick zu.
»Aber Bryn, sowas kannst du doch nicht sagen. Die Politiker der blauen Partei leisten doch wirklich gute Arbeit. Ich verstehe nicht, wie man einen nach dem anderen einfach umnieten kann.«
Bryn lehnte sich gegen Sams Schreibtisch, auf dem sich, wahrscheinlich über Monate oder sogar über Jahre hinweg, neben einigen Akten und Papierstapeln, eine Menge Kram angehäuft hatte. Sie schob das ganze Zeug, (bestehend aus Wasserflaschen, kleinen Plastikactionfiguren und offenen Kaugummipackungen in verschiedensten Geschmacksrichtungen, einfach mit der flachen Hand beiseite.
»Selbst Schuld, kann ich da nur sagen. Sie hätten in den letzten Zwanzig Jahren einfach nicht so weit kommen dürfen. War doch klar, dass das nicht ewig gut gehen kann wenn sich eine einzige Partei die Kontrolle über die ganze Siebenwelt einverleibt. Das grenzt ja schon an Absolutismus.«
Sam rieb sich die Stirn und lächelte verlegen. Sie erkannte auf Anhieb die aufsteigende Panik in seinem Blick. Eigentlich wusste sie genau, es war strikt verboten, solche Gedanken laut zu äußern und es galt als Hochverrat an der führenden Partei. Sam würde sie sicher nicht melden, aber man wusste ja nie, wer gerade noch zuhörte. Die Firma befand sich fest in blauer Hand und bekanntlich konnten die Wände Ohren haben. Im schlimmsten Fall würde man sie sogar in Handschellen abführen und sie einer stundenlangen Befragung unterziehen, wenn sie genug Pech hatte.
Bryn wechselte abrupt das Thema. »Und Sam? Wieder mal ein Gesicht verunstaltet oder jemandem unabsichtlich eine Hand abgehackt?«, was brutal klang, aber in Wahrheit nur ein makaberer kleiner Scherz in Grafikerkreisen war. Es passierte immer wieder Mal, dass einer der Grafiker es beim Retuschieren der Bilder zu gut meinte, und die Models dadurch etwas verunstaltete.
Es war auch schon einmal passiert, dass ein Grafiker (nennen wir ihn Brian ohne jemanden direkt anzusehen), das Titelblatt einer VidaCorp. Werbebroschüre verstümmelte, indem er der Firmenchefin, Margerite Le Fleur, ein Bein amputierte. Er schwor, dass es unabsichtlich passiert sei. Doch so Recht glauben wollte ihm das niemand.
Die Grafiker, eine eingeschworene Gemeinschaft, hielten zusammen und verpfiffen Brian nicht. Er durfte seinen Job somit behalten und weiterhin Leuten Beine oder Arme abhacken, wenn ihm danach war.
Sie scherzten noch ein paar Minuten weiter und Bryn verließ die seltsame Wunderwelt der Grafiker wieder, als sie ihren Kaffee geleert hatte. Sie trug die restliche Post aus bis ihr Arbeitstag zu Ende war. Dabei wurde sie noch mindestens dreißig Mal Bernie genannt.
Bryn trat nach diesem endlosen Tag im Büro hinaus ans Tageslicht, wobei es nicht mehr sonderlich viel Tageslicht zu sehen gab. Die Zahnräder der Sonne schimmerten in den letzten Sonnenstrahlen.
Erledigt von dem Tag schleppte sie sich zu ihrem Auto, in Gedanken bei ihrem Hund, ihrem einzigen Freund, der ihr seine Gesellschaft zugestand. Obwohl man sagen kann, dass seine Gefühle für sie, sich meist nur sehr subtil äußerten. Er war ein starrsinniger kleiner Staubwedel, der ihr nur dann Aufmerksamkeit und Zuneigung schenkte, wenn ihm gerade danach war. Man könnte ihn aufgrund seiner Mentalität auch gerne mit einer Katze verwechseln. Obwohl er noch viel eigensinniger sein konnte als ein Stubentiger.
Als sie gerade in ihre Klapperkiste steigen wollte, bemerkte sie einen Zettel an der Windschutzscheibe, der aufgeregt im Abendwind flatterte.
Wozu verteilen sie immer diese Flyer? Weil sie wissen, dass man sie nicht einfach wegschmeißen kann und sie ins Auto legen muss, weil es verboten ist Müll auf die Straße zu schmeißen. Deshalb. Sehr schlau diese Kerle.
Das kleine Stück Papier war fein säuberlich zusammengefaltet worden. Sie klappte das Blatt hastig auseinander und schluckte dabei ihren Ärger über den Verteiler der nervigen Zettelchen herunter. Eigentlich tat er ja auch nur seine tägliche Arbeit, wie alle.
Als sie den aufgefalteten Flyer so gut wie möglich glatt strich, machte sie große Augen. Es handelte sich gar nicht um eine Werbung, sondern um eine Nachricht. Eine Botschaft speziell an sie gerichtet. Zuerst tat sie sich schwer die krakelige Schrift zu entziffern, doch als sie es geschafft hatte, las sie die Nachricht immer wieder:
Wir brauchen deine Hilfe.
Triff uns heute Abend, um neun Uhr,
im Stadtpark, an der kleinen Kapelle.
Wir warten auf dich.
Bryn drehe den Zettel in ihren Händen hin und her. Aber es befand sich keine Unterschrift unter der Nachricht und auch sonst entdeckte sie keinen Hinweis darauf, wer sie geschrieben haben mochte.
Wir. Ach ja, wir. Euch kenne ich. Ganz bestimmt.
Bis neun Uhr waren es noch zwei Stunden hin. Sie hatte also noch genug Zeit, um sich zu überlegen, ob sie zu dem vorgeschlagenen Treffpunkt gehen sollte.
Wir. Wer verdammt nochmal ist Wir?
In Gedanken bei der geheimnisvollen Nachricht fuhr sie heimwärts nach Brot-West.
Ludovico hatte entschieden, sich heute zu freuen, als sie nachhause kam. Sie öffnete die Eingangstüre ihrer Wohnung und er eilte ihr unaufhaltsam, mit der Rute wackelnd entgegen. Als er sah, dass es sich aber nur um sein Frauchen handelte, hob er die Schnauze und drehte sich auch gleich wieder von ihr weg.
»Ludilein, komm. Wir gehen Gassi.«
Durch dieses Angebot verführte sie ihn fast täglich dazu, sie doch wieder anzusehen. Sie legte ihm sein Geschirr an und ging mit ihm eine Runde um den Häuserblock. Er tat ihr leid, weil er den ganzen Tag alleine in ihrer Zweizimmerwohnung eingesperrt darauf warten musste, bis sie nachhause kam.
Eigentlich hatte sie geplant, ihn zur Arbeit mitzunehmen. Aber es stellte sich heraus, dass ihre Kollegin - Marsha, die sich ihren Namen einfach nicht merken wollte - anscheinend eine schwere Hundeallergie hatte. Oder zumindest so tat weil sie Hunde nicht ausstehen konnte.
Ludo bepieselte seine Lieblingsstellen und sah sie dann herausfordernd an. Er schien auf die nächste Beschäftigung zu warten.
»Ludilein, ab nachhause, dann gibt’s Fressi Fressi.«
Wieder in ihrer Wohnung watschelte sie in die Küche und stellte ihm sein Fressen hin. Selbst schlang sie nur ein belegtes Brot mit Tomaten und Käse, gleich im Stehen hinunter. Danach ging sie unter die Dusche, um sich den Arbeitstag ein für alle mal abzuwaschen.
Acht Uhr. Noch eine Stunde Zeit. Was soll ich nur tun?
Sie zog sich rasch etwas Bequemes an, schnappte sich Ludovico, ohne weiter nachzudenken, und ging mit ihm zum Auto.
»Ludo, heute drehen wir noch eine Abendrunde durch den Park. Was sagst du dazu?«
Der kleine schwarze Teufel hechelte ihr aufgeregt von der Rückbank entgegen.
»Scheint so, als wärst du einverstanden. Wunderbar, dann fahren wir los.«
Für die Strecke zum Park brauchte sie zwanzig Minuten. Die Anlage war nicht gerade klein und der Weg zu der Kapelle dauerte ungefähr noch mal so lange. Als sie die Kapelle vor sich auftauchen sah, hielt sie den Atem an.
Zehn vor Neun.
Ludovico schnüffelte gerade an einem Stamm einer großen Trauerweide, diese riesigen Bäume kreisten die Kapelle rundherum ein. Sie versteckte sich hinter dem mächtigen Stamm der Weide, in der Hoffnung sich so vor Wir bedeckt halten zu können.
Ich möchte zuerst mal sehen, wer Wir ist. Ich bin doch nicht blöd und laufe euch direkt in die Arme.
Mittlerweile war es richtig düster geworden. Der Abend versank bereits im Grau der Nacht. Im Park war nicht mehr viel los und direkt vor der Kapelle standen nur zwei Gestalten herum.
Das müssen sie sein.
Ein Mann und eine Frau, wobei sie ihn weit überragte. Die Frau wurde leicht vom Schein einer Laterne erhellt. Sie war sicher fast zwei Meter groß und trug einen langen, schwarzen Ledermantel, der trotz ihrer enormen Körpergröße fast den Boden berührte.
Der Mann hatte wirres Haar und war ebenfalls in einen langen Mantel gehüllt. Welche Farbe er haben mochte, erkannte sie aufgrund der herrschenden Dunkelheit nicht. Sie tippte jedoch ebenfalls auf Schwarz. Die Silhouetten der beiden standen bewegungslos da und schienen auf ihr Eintreffen zu warten. Da bekam es Bryn mit der Angst. Sie machte kehrt und lief los. Sie zerrte Ludovico an der Leine, durch den Park, zurück zu ihrem Auto. Der arme Hund wusste nicht so recht, wie ihm geschah. Verdattert versuchte er, mit seinem aufgebrachten Frauchen Schritt zu halten.
Das war eine wirklich blöde Idee hierher zu kommen. Was habe ich mir nur dabei gedacht?
Wieder zurück in ihrer Wohnung sank Ludovico, beglückt von der vielen Bewegung, in sein Körbchen und sabberte selig die Auflage voll. Bryn legte sich in ihr Bett und überlegte, ob sie noch lesen sollte, doch sie war noch viel zu aufgeregt von ihrem ungeplanten Ausflug.
Eigentlich war es doch ganz spannend. Ich hätte mit ihnen reden sollen. Ludo hätte mich schon beschützt.
Sie warf der kleinen Promenadenmischung einen Blick zu.
Er hätte sie immerhin in die Wade zwicken können. Obwohl, so groß wie diese Frau war, vielleicht doch eher nur in den Knöchel.
Bryn schlief mit diesem Gedanken ein, bis sie ihr Wecker am nächsten Morgen aus dem Schlaf riss, um ihr zu sagen sie solle gefälligst arbeiten gehen.
Der nächste Tag im Büro verlief wie jeder andere auch: Kopien anfertigen, den Aktenvernichter bedienen, die Post austragen, sich Bernie nennen lassen. Kaffee mit den Jungs aus der Grafikabteilung trinken und mit Sam Scherze reißen. Hin und wieder landeten ihre Gedanken wieder in dem Park. Und sie stellte sich vor, wie sie mit selbstsicheren Schritten doch zu der Kapelle hinübergegangen wäre. Sie hätte mit den beiden gesprochen.
Hab´ ich aber nicht, Chance vertan. Kein Abenteuer für Bryn.
Da sie sich so viel über sich selbst ärgern musste, verging der Tag schneller als gewohnt. Kaum hatte er begonnen, war er auch schon wieder vorbei und sie ging, so wie nach jedem anderen Arbeitstag, wieder zu ihrem Auto um nachhause zu Ludovico zu fahren, der auf sein Gassi und Fressi wartete.
Doch dieses Mal fand sie dort etwas anderes als eine Nachricht.
Direkt an ihrem Auto lehnten zwei Gestalten, in lange schwarze Mäntel gehüllt, und schienen auf sie zu warten. Natürlich waren es die beiden von gestern. Wie konnte sie nur glauben, die Sache wäre durch ihr Nichterscheinen erledigt gewesen?
Sie bemerkte, dass sie ihren Schritt verlangsamt hatte. Sie wollte sich jedoch nicht anmerken lassen, dass sie nervös war. Also konzentrierte sie sich auf ihren Gang und beschleunigte wieder. Der Mann machte einen Schritt auf sie zu und Brynadette blieb schlagartig stehen. Ihr Herz schlug jetzt bis zum Hals.
»Du bist gestern nicht aufgetaucht. Deshalb dachten wir, wir fangen dich einfach mal bei deinem Auto ab«, sagte er als er bemerkte, dass sie nicht vor hatte sich ihm weiter zu nähern.
»Wir brauchen deine Hilfe. «
Bryn kam sich vor, als hätte die Realität einen großen Bogen um sie gemacht. Sie sah sich um. Der Parkplatz war, abgesehen von ihnen dreien, menschenleer.
»Und was genau wollt ihr von mir? Wie soll ich euch denn helfen können?«
Sie hatte wirklich keine Ahnung, warum gerade ihre Hilfe vonnöten sein sollte, wofür auch immer. Bryn hatte in ihrem Leben nichts getan, was solch eine Bitte rechtfertigen könnte.
Sie war ein unbeschriebenes Blatt, Siebenundzwanzig und im Leben nichts erreicht. Sie hatte sich nie politisch engagiert oder sich für irgendeine Sache eingesetzt. Sie hatte nicht einmal eine Arbeit, mit der sie irgendjemandem auch nur ansatzweise helfen konnte. Also was erwarteten sie, auf diese Bitte hin, von ihr als Antwort zu hören?
Ihr kritischer Blick durfte dem Mann nicht entgangen sein.
»Okay, du weißt nicht, wer wir sind, und es ist dein gutes Recht eingeschüchtert zu sein, aber-«
»Ich bin nicht eingeschüchtert«, platzte es aus Bryn heraus.
»Entschuldige bitte. Ich wollte dir nichts unterstellen. Es ist nur so, wir wenden uns gerade an dich, weil du eben nur eine kleine Nummer in dieser Firma bist. Du weißt wahrscheinlich von allen Mitarbeitern die da drin herumkrebsen am allerwenigsten über die internen Abläufe und Geschäfte der Firma Bescheid.«
Bryn fühlte sich auf einmal ziemlich dumm. Und ahnungslos. Sicher hatte der Fremde mit seiner Behauptung recht. Immerhin wusste Bryn nicht einmal genau was VidaCorp. eigentlich produzierte oder welche Dienstleistung sie für die Menschheit erbrachten, aber dass sie ahnungslos hoch Zwei sein sollte, wollte sie sich trotzdem nicht einfach so unterstellen lassen.
Sie starrte ihn jetzt schon seit dreißig Sekunden an, ohne zu antworten. Irgendetwas musste sie schön langsam erwidern.
»Gehen wir mal davon aus, Ihre Annahme ist richtig. Wie soll ich Ihnen denn dann helfen können? Informationen über VidaCorp. habe ich wohl dann keine für Sie parat, oder?«
Der nicht ganz unattraktive Mann schmunzelte. Sein wirres Haar fiel ihm dabei ins Gesicht. »Hm, ja da haben Sie Recht. Bis jetzt jedenfalls noch nicht. Wir wollen von Ihnen, dass sie die Akten die sie vernichten sollen ... Wie sage ich das jetzt nur, ohne wie ein Krimineller zu klingen? Sie sollen sie für uns ... entwenden. Oder Kopien davonmachen. Genau. Vielleicht besser Kopien. Dann ist es zumindest kein Diebstahl.«
Bryn klappte der Unterkiefer hinunter. »Verzeihen Sie. Aber warum sollte ich das tun? Ich arbeite schon seit über zwei Jahren in dieser Firma, ich werde von meinen Kollegen hochgeschätzt und verdiene gut«, flunkerte sie. »Warum sollte ich also meinen Job für Sie riskieren?«
Die hochgewachsene Frau, die sich bis jetzt aus dem Gespräch herausgehalten hatte, trat näher an sie heran.
»Weil diese Firma ein falsches Spiel treibt. Wir müssen diese Machenschaften aufdecken und die Firma zu Fall bringen. Es ist Ihre Bürgerpflicht uns zu helfen.«
Bürgerpflicht? Bryn verstand kein einziges Wort. Außerdem machte diese Frau ihr doch langsam Angst. Sie sah wieder zu dem Mann, der noch immer im Kreis grinste.
Bryn sagte schlussendlich: »Ich werde sehen, was ich tun kann, aber versprechen kann ich Ihnen nichts.«
Sie hoffte, diese Worte würden reichen, um das Gespräch endlich beenden zu können. Sie fühlte sich in dieser Situation definitiv zu unwohl. Bryn verspürte das starke Bedürfnis, schnellstmöglich von hier zu verschwinden. Sie hoffte, ihr Unbehagen würde den Beiden nicht weiter auffallen. Ohne sie noch einmal anzublicken, stieg sie in ihr Auto und zog die Tür mit einem Ruck zu. Sie ließ sie einfach zurück. Natürlich würde sie nicht tun, was diese Fremden von ihr verlangten. Sie war doch nicht übergeschnappt.
Sie fuhr nachhause, kämpfte sich über das schmale Stiegenhaus in den zweiten Stock und betrat wie gewohnt ihre Wohnung. Sie leinte Ludovico an und ging mit ihm die übliche Runde um den Häuserblock, fütterte ihn und sich selbst, ging duschen und setzte sich dann vor den Fernseher. Den schaltete sie jedoch nach kurzer Zeit wieder aus. Denn auf jedem Kanal lief etwas über das mysteriöse Politikersterben, für das sie sich nicht interessierte.
Sobald ihr das Gespräch mit den beiden Fremden in den Sinn kam, schob sie die Gedanken wieder hinfort. Sie würde diese Begegnung einfach ignorieren bis sie vergessen hatte, dass es überhaupt passiert war. So war es für sie eben am besten.
Sie klopfte mit den Fingern auf den Tisch, griff nochmal nach der Fernbedienung, ließ sie aber gleich wieder auf die Tischplatte fallen.
Die innere Unruhe brachte sie dazu von der Couch aufzustehen. Sie schlenderte in die Küche, schenkte sich ein Glas Orangensaft ein und sah sich in ihrer Wohnung um. Sanft schwenkte sie das Glas dabei hin und her.
Kurzerhand ging sie auf ihren Schreibtisch zu. Sie setzte sich vor ihren Computer, öffnete den Internetbrowser und klopfte die Buchstaben VidaCorp. in die Suchmaske. Sie überflog das Suchergebnis und durchforstete die Überschriften:
»VidaCorp. revolutioniert das Gesundheitswesen.« Und »Gesund und Vital durch das Leben mit VidaCorp « sowie »VidaCorp. erhält erneut Zuschuss für Forschung.«
Sie klickte den erstbesten Artikel an: »Über Jahrzehnte hinweg betreibt VidaCorp bereits Forschung, um die Gesundheit der Bürger der Siebenwelt zu steigern.«
Bryn klickte auf Schließen. Sie wusste bis jetzt nicht, was die Firma tat, für die sie arbeitete und sie wollte es auch jetzt nicht genauer wissen. Vielleicht machte die Firma sogar Tierversuche. Und wenn sie das herausfand, dann könnte sie vielleicht nicht mehr jeden Tag ohne schlechtes Gewissen zur Arbeit gehen. Also war es einfacher nicht weiterzulesen.
Bryn schnaufte in die Luft und schaltete den Computer wieder aus. Sie begann zu gähnen, wankte in ihr Bett und schlief sofort ein ohne einen weiteren Gedanken an die Bitte von Wir zu verschwenden.
Der nächste Tag stand unweigerlich vor der Türe und Bryn wappnete sich für einen weiteren Arbeitstag. Sie quetschte sich in ihr Bürokostüm.
Habe ich schon wieder zugenommen?
Auf dem Weg zum Auto schlang sie einen Bagel mit Butter und Marmelade hinunter und stieg aufs Gas. Sie war spät dran. Sie kam zehn Minuten zu spät ins Büro, doch als sie in den Büroraum hastete, merkte sie, dass es niemandem auffiel.
Seit sie das Büro betreten hatte, wurde sie bereits drei Mal Bernie genannt.
Sie schnappte sich ein paar Akten vom Kopieren-Stapel, fertigte ein paar Kopien an und ging gleich danach weiter zu dem Raum, in dem der Aktenvernichter stand.
Dort wartete schon ein großer Stapel Akten auf sie, der umgehend vernichtet werden wollte. Sie nahm die ersten losen Blätter in die Hand. Es war wohl unvermeidbar, nicht an die Bitte der zwei Gestalten zu denken die sie gestern dazu aufgefordert hatten die Akten zu entwenden. Nein, zu kopieren. Entschuldigung.
Gelangweilt schob sie das erste Blatt in den Reißwolf. Sie nahm ein weiters Blatt und während der Vernichter seinen Zweck erfüllte, zu dem er geschaffen worden war, sah sie sich in dem Büroraum um. Sie war alleine.
Sie nahm ein weiteres Blatt in die Hand und überflog es, bevor sie es in lauter kleine Schnipsel verwandelte. Sie erhaschte das Wort Experiment und Massenproduktion.
Wahrscheinlich ging es um irgendein Medikament, das die Testphase abgeschlossen hatte. Also uninteressantes Zeug. Als sie den nächsten Zettel in die Maschine stecken wollte, knüllte sie ihn spontan zusammen und steckte das Knäuel unter ihre Bluse.
Was mache ich da nur?
Erstaunt über sich selbst, wandte sie sich nochmals um. Sie war immer noch alleine und fühlte sich unbeobachtet. Jetzt packte sie der Übermut. Sie nahm die ganze Akte und stopfte sie zwischen Rock und Bluse. Langsam ging sie auf die Bürotür zu. Bei jedem Schritt raschelte es leise.
Ich muss verrückt sein. Warum lasse ich mich nur darauf ein?
Ihre Lieblingskollegin stand hinter der Türe und rief Bryn entgegen.
»Bernie, wie lange brauchst du noch? Ich hätte da etwas, das dringend kopiert gehört.«
Bryn erschrak und stieß den Aktenstapel im Vorbeigehen um. Ihre Kollegin kam näher und sah sie fragend an.
»Bernie, alles in Ordnung? Was machst du hier eigentlich?«
Bryn bückte sich und begann den Haufen umständlich aufzusammeln. Sie brachte nur ein leises Stottern hervor.
»Ähm, nichts. Akten vernichten? Tut mir leid Marsha, falls ich zu lange gebraucht habe. Ich komme gleich rüber und mache die Kopien für dich. In Ordnung?«
Die Kollegin sah sie skeptisch an.
»Ja, in Ordnung. Schau, dass du hier fertig wirst, und komm dann rüber zu mir. Ich muss mit dir reden.«
Mit mir reden? Worüber? Oh mein Novize, sie hat gesehen, dass ich die Akte eingesteckt habe. Sie hat es bestimmt gesehen. Was mache ich jetzt nur?
Bryn nickte ihr freundlich zu und hob die zu Boden gefallenen Akten auf. Es war ein richtiges Durcheinander. Aber das war egal, immerhin sollte der Inhalt des ganzen Stapels sowieso vernichtet werden. Schnell schob sie ein weiteres Blatt in den Aktenvernichter. Ihre Kollegin ging gerade zur Tür hinaus.
Bryn griff nach einem Haufen loser Blätter und schob sie zu der Akte, die bereits unter ihrer Bluse war. Sie verließ den Raum und hielt sich dabei den Bauch, damit das Wirrwarr darunter keine Möglichkeit hatte aus ihrem Rock zu rutschen.
Mit seltsam aussehenden Bewegungen näherte sie sich dem Aufenthaltsraum, in dem ihre Tasche stand. Sie stopfte die Unterlagen hinein und warf sich die Tasche über ihre Schulter.
Plötzlich berührte jemand ihren Rücken.
»Hey Bryn, wann kommst du denn heute mit der Post? Damit ich weiß, wann ich Kaffee kochen soll.«
Bryn erschrak.
Es ist nur Sam.So ein Glück.
»Weißt du, ich fühle mich nicht so wohl, ich denke ich gehe jetzt besser direkt zum Arzt. Ich fürchte, ich werde krank und ich will euch nicht auch noch anstecken.«
Sam sah sie besorgt an.
»Bryn, du arbeitest für ein riesen Pharmaunternehmen. Du wirst bestimmt nichts haben, wofür die nicht schon ein Medikament entwickelt haben. Also keine Angst, wir werden es überleben. Soll ich dich zu deinem Auto bringen?«
Eine Eskorte durch die Gänge konnte sie nun wirklich nicht gebrauchen.
»Danke Sam, es geht schon. Aber bitte tu mir einen Gefallen und sag in meiner Abteilung Bescheid, dass ich heute früher gegangen bin. Mir ist so übel, ich fürchte, wenn ich selbst gehe, entleere ich meinen Mageninhalt vor ihren Füßen. Und diese Peinlichkeit würde ich mir gern ersparen.«
Sam lächelte. »Klar, mach ich. Schau, dass du möglichst schnell ins warme Bett kommst. Zum glück sind wir ja schon in Kreuz-Nord, da hast du es zum Arzt auch nicht mehr so weit. Hoffentlich geht es dir bald wieder besser. Es ist hier immer so trostlos, wenn du nicht da bist.«
Bryn überhörte seine netten Worte und schob sich, die Tasche fest an ihre Brust gedrückt, an ihm vorbei.
Sie bewegte sich so langsam und unauffällig wie sie konnte bis sie den Ausgang in der Empfangshalle erreichte. Der Empfang war gerade nicht besetzt und Bryn rannte los. So schnell sie konnte, hechtete sie zu ihrem Auto. Mit einem Bleifuß fuhr sie direkt zu ihrer Wohnung. Sie musste die Akten lesen. Sie wollte wissen, warum sie gerade ihren Job verloren hatte.
Wie dumm bin ich eigentlich? Warum habe ich das nur getan?
Sie lief die Treppen hinauf, in den zweiten Stock. Auf halber Strecke hörte sie Ludo laut bellen. Er war es nicht gewohnt, dass sie so früh nachhause kam. Mit zitternden Händen und außer Atem entriegelte sie ihre Eingangstüre. Sie ließ ihre Tasche auf die Couch fallen und lief zum Fenster. Als hätte sie gewusst, was sie erwarten würde, wenn sie nach unten sah, erblickte sie den Mann, der sie um diesen dummen Gefallen gebeten hatte. Er saß auf einem Motorrad, das er unter ihrem Fenster geparkt hatte und rief zu ihr hinauf.
»Packen Sie ein paar Sachen zusammen und kommen sie runter. Wir müssen schleunigst weg von hier. Sie sind hier nicht sicher!«
Das hatte ihr zu allem Überfluss noch gefehlt. Sie war nicht mehr sicher?
Ludo schlich mit eingezogenem Schwanz durch die kleine Wohnung und fiepte vor sich hin. Bryn sah sich um und zögerte nicht, als sie Ludovicos Tragerucksack in der Diele stehen sah. Sie schnappte sich den Rucksack, bewegte sich systematisch vorwärts durch die Wohnung und stopfte Ludo´s Sachen in die Seitenfächer: Spielzeug, Leckerlies, Futter und einen zusammenfaltbaren Wassernapf.
Sanft hob sie Ludovico vom Boden hoch und setzte ihn in das Behältnis.
Vielleicht brauche ich auch noch ein paar Sachen?
Sie ging ins Schlafzimmer. Der Raum lag in Dunkelheit gehüllt vor ihr. Sie hatte am Morgen die Rollläden nicht geöffnet. Egal, sie würde nicht viel brauchen.
Die Zeit drängt.
Sie öffnete die Schranktüre. Ludo, den sie im Vorraum geparkt hatte, bellte lautstark aus seinem Rucksack. Bryn wandte den Kopf, doch zu spät. Ein Schatten sprang aus dem geöffneten Schrank, packte sie an der Schulter und warf sie auf das Bett. Die schemenhafte Gestalt zog eine Waffe und richtete sie auf Bryn. Bryn steckte ihre Beine aus und trat der Gestalt mit aller Kraft gegen die Knie. Die Hacken ihrer Schuhe gruben sich in seine Oberschenkel. Er verlor den Halt und knickte ein. Gleichzeitig rollte sie sich vom Bett, richtete sich auf und hastete ins Wohnzimmer. So schnell sie konnte, hievte sie sich den Rucksack auf den Rücken, schnappte sich im Vorbeilaufen ihre Tasche - Die Dokumente! - von der Couch und sprintete aus der Wohnung, die Treppen hinunter, wobei sie jede zweite Stufe ausließ. Der Hall der durch ihre klackernden Absätze entstand, verteilte sich im gesamten Stiegenhaus. Mit einem Ruck stieß sie die metallene Türe auf und kam vor dem bereits gestarteten Motorrad jäh zum Stehen.
Der Mann, der darauf saß, hielt ihr einen Helm entgegen.
»Steigen sie auf!«
Sie hatte keine Zeit, um sich zu überlegen, ob sie wirklich dazu bereit war auf so einem Höllengefährt mitzufahren. Immerhin war ihr ein Wahnsinniger auf den Fersen, der sie erschießen wollte.
Entweder innerhalb kürzester Zeit mit hoher Sicherheit erschossen werden, oder demnächst eventuell am Asphalt aufschlagen und sterben. Beides spannende Arten draufzugehen.
Wortlos griff sie nach dem Helm, schob ihn über ihren Kopf, wobei sie ihre Brille fast verloren hätte, und stieg, als hätte sie nie etwas anderes gemacht, auf den Sozius des Motorrades.
In diesem Moment trat der Schattenmann aus dem Stiegenhaus, die Waffe auf sie gerichtet.
Der Mann legte seinen Finger auf den Abzug und zielte. Sie spürte einen Ruck und hielt sich instinktiv an ihrem Vordermann fest.
Der Fremde, dessen Rücken sie vor sich hatte, gab erneut Gas. Daraufhin wurde ihr bewusst, dass sie sich besser richtig festhalten sollte, wenn sie diese Fahrt überleben wollte.
Die Bezeichnung Fahrt traf es jedoch nicht genau. Sie kam sich eher vor, als würde sie fliegen. Bei jedem Mal Bremsen presste der Widerstand ihre Brüste gegen den Rücken des Fahrers. Bryn versuchte, Abstand zu ihm zu halten und sich seitlich am Motorrad festzuhalten. Doch sobald der Fahrer in den nächsten Gang schaltete und Gas gab, blieb ihr nichts Anderes übrig, als seine Hüfte fest zu umklammern, wobei sie ihren Körper fest gegen seinen pressen musste. Der Fahrer durchquerte mit ihr die ganze Stadt und bog konfus durch die Gassen des Kreuzviertels ab. Sie spürte, wie Ludovico sich in seinem Rucksack zusammenrollt.
Der Kleine hat jetzt wohl mal keinen Grund zum Bellen.
Der Gedanke amüsierte sie ein wenig. Das Lachen verging ihr aber schnell wieder, denn ihr Rock wanderte unaufhaltsam über ihren Hintern nach oben und bot den Passanten einen einwandfreien Blick auf alles, was darunterlag. Und das Schlimmste daran war, sie konnte nichts dagegen unternehmen. Wenn sie nach ihrem Rock greifen wollte, müsste sie den Fremden loslassen und dann würde sie mit Sicherheit vom Motorrad fallen.
Sie durchquerten die komplette Altstadt, wobei Bryn öfter als einmal dachte, ihr Leben würde an ihr vorbeirauschen. Sie erreichten die Freilandstraße, die in die Wüste führte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, hielten sie mitten in der Pampa an, umgeben von einer kargen Wüstenlandschaft. Bryn blieb noch ein paar Sekunden wie erstarrt sitzen, ließ aber dann doch die Taille des Mannes los. Zuerst zog sie die Brille ab, dann nahm sie den Helm ab. Irgendwie wusste sie nicht so recht, wie sie jetzt von dem Ding herunterkommen sollte.
Wie habe ich es überhaupt hier rauf geschafft?
Den Helm ließ sie zu Boden fallen. Dann stützte sie sich mit einer Hand auf der starken Schulter vor ihr ab. Sie rutschte beinahe vom Fußraster, als sie ihr linkes Bein über die Maschine hob, schaffte es aber dann doch. Sie landete mit beiden Beinen auf dem steinigen Boden.
Bryn zog an ihrem Rock und klopfte sich den Staub von ihrem Kostüm. Irgendwie war ihr die Fahrt plötzlich unangenehm und sie fand ihre Stimme nicht.
Sie räusperte sich. »Wo sind wir?«
»In der Hilani-Wüste. Vorerst in Sicherheit. Komm mit.«
Ihr Begleiter schob das Motorrad hinter einen verdorrten Busch, wo bereits ein anderes Motorrad parkte. Bryn folgte dem Mann, so gut sie konnte, wobei ihr Bürooutfit nicht gerade besonders gut geeignet war, um die steinige Wüste zu durchqueren. Der Rock der immer noch ständig nach oben rutschte, hinderte sie konsequent am zügigen Vorankommen.
Sie stolperte über den unebenen harten Boden und zupfte immer wieder an ihrem Rock herum. Es fiel ihr immer schwerer, mit dem Mann Schritt zu halten. Bryns Oberschenkel brannten von der Fahrt und der Schmerz drang bis in ihre Knie. Ständig war sie während der Fahrt dazu gezwungen gewesen ihre Oberschenkel mit aller Kraft gegen seine Beine zu drücken, um nicht vom Sozius zu rutschen.
Sie zog sich ohne weiter darüber nachzudenken die unbequemen Stöckelschuhe von den Füßen und rannte dem Fremden mit neu gesammelter Kraft hinterher. Der Mann drehte sich zu ihr um und schmunzelte. Bryn errötete und blickte zur Seite. Gerade noch war sie ihm so nahe gewesen, doch sie kannte noch nicht einmal seinen Namen.
Die Wüste erstreckte sich bis zum Horizont. Die Hilani-Wüste lag vor ihr wie ein breiter Hof, der an eine kleine Bucht angrenzt, auf die sie sich jetzt zubewegten.
Die Bucht lag eingekreist von riesigen Steinhaufen vor ihnen. Bryn atmete tief durch und setzte den Rucksack ab. Es war an der Zeit den Inhalt herauszulassen. Sie öffnete den Reißverschluss und Ludovico sprang ihr entgegen. Er lief wie verrückt zwischen ihr und dem fremden Mann hin und her.
»Na da schau her, ein Hündchen! Ohhh bist du süß! Wo kommst du denn her? Warst du schon die ganze Zeit bei uns?«
Der Mann beugte sich zu Ludovico hinunter. Ihr Hund hatte natürlich nichts Besseres zu tun als dem ihm völlig Unbekannten in die Arme zu springen. Er knuddelte Ludo ausgiebig und flötete ihm Worte des Entzückens zu. Dabei wirkte sein raues Gesicht auf einmal erfrischend leicht und strahlte Gutmütigkeit aus.
»Ich habe ihn vor vier Jahren bei VidaPet geleast, aber-«
Bryn hatte sich bis jetzt nicht getraut, ihn direkt anzusprechen. Den ganzen Weg hierher hatten sie kein einziges Wort miteinander gewechselt. Aber jetzt konnte sie nicht mehr anders und es platzte aus ihr heraus: »Aber wer sind Sie eigentlich?«