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Das epische Finale der großen Fantasy-Saga aus Korea!
Die Abenteurer Kaygon Draka, Lekon Tinahan und Feuergeist Bihyung haben die Reinkarnation der Lekon-Göttin gefunden – nur der Gott der Menschen bleibt verschwunden. Um die Herrschaft der Nagas und ihren Krieg gegen die Völker des Nordens zu beenden, reisen sie nach Süden, ins Zentrum des Naga-Reiches. Doch die Echsenwesen, die die Macht ihrer Göttin gestohlen haben, sind nahezu unbesiegbar, wenn der Gott der Menschen nicht gefunden und eine uralte Prophezeiung erfüllt wird. Den Abenteurern bleibt nicht mehr viel Zeit …
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Seitenzahl: 517
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das Buch
Nur mit Mühe hat die Nordarmee es geschafft, den Vormarsch der Nagas aufzuhalten. Ihre Siege sind vor allem Shiuse, der Inkarnation des Dokebi-Gottes, zu verdanken. Doch ohne die Inkarnation der anderen Götter kann die Nordarmee die Nagas nicht besiegen. Ihre Generäle fassen einen waghalsigen Plan: Sie marschieren direkt nach Hatengrazu, der größten Stadt der Nagas. Unterdessen hat der Suchtrupp um Kaygon Draka, den Lekon-Krieger Tinahan und Dokebi Bihyung die Inkarnation der Lekon-Göttin gefunden. Doch der Gott der Menschen ist nach wie vor verschwunden. Verzweifelt machen auch sie sich auf den Weg nach Hatengrazu. Hier, mitten im Herzen des Naga-Reichs, wird sich das Schicksal der gesamten Welt entscheiden.
In Korea millionenfach verkauft und erfolgreicher als Game of Thrones und The Witcher – mit DIELEGENDEVOMTRÄNENVOGEL hat Lee Young-do Fantasy-Geschichte geschrieben.
Die große Saga DIELEGENDEVOMTRÄNENVOGEL in vier Bänden:
Das Blut der Herzlosen
Der träumende Krieger
Der Feuergeist
Die Suche nach dem König
Der Autor
LEEYOUNG-DO, geboren 1972, studierte Koreanische Sprache und Literatur an der Kyungnam University. Seinen ersten Roman veröffentlichte er zunächst in Fortsetzungen im Internet, ehe er 1998 in Korea als Buch publiziert wurde und den Aufstieg des Autors zum Fantasy-Superstar einläutete. Seither hat Lee Young-do mehrere Romanserien veröffentlicht, darunter DIELEGENDEVOMTRÄNENVOGEL, sein wichtigstes und erfolgreichstes Werk, das derzeit als Videospiel adaptiert wird. Lee Young-do lebt mit seiner Familie in Masan an der koreanischen Südküste.
LEE YOUNG-DO
Vierter Roman
DIE SUCHENACH DEM KÖNIG
Aus dem Koreanischen vonHyuk-Sook Kim und Manfred Selzer
Titel der Originalausgabe:
눈물을 마시는 새 4: 〈왕을 찾아 헤매는 인간〉
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Deutsche Erstausgabe 12/2024
Redaktion: Bella Locke
Copyright © 2003 by Lee Young-do
Copyright © 2024 dieser Ausgabe und der Übersetzungby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München
Published in arrangement with Lee Young-doc/o Minumin Publishing Co., Ltd.,and Casanovas & Lynch Literary Agency
Originally published in Korea by GoldenBough Publishing Co., Ltd.
Umschlaggestaltung: Der gute Punkt, München
Cover Design, Illustration and Map by Yi Suyeon
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN 978-3-641-31701-0V001
Drei sind zu wenig
Es ist schwierig, den exakten Zeitpunkt zu bestimmen, an dem Baragi verschwunden ist. Wer einmal die nur allzu gewöhnliche Erfahrung gemacht hat, dass man einen Gegenstand, den man lange nicht mehr verwendet hat, finden will, aber feststellen muss, dass er nicht mehr da ist, kann sich ein gutes Bild von den Umständen machen, die nach dem Verschwinden des Schwerts herrschten. Im Jahr 582, dem zweiten Regierungsjahr von König Herbstwind, wurde das Verschwinden Baragis zum ersten Mal offiziell erwähnt. Historiker und Philologen fanden jedoch in historischen Dokumenten aus der Zeit vor König Herbstwind metaphorische Ausdrücke für dieses Ereignis wie »große Trauer«, »unwiederbringlicher Verlust« oder »jener schreckliche Verlust, mit dem wir alle vertraut sind«. Jene berühmte Erwähnung aus dem Jahr 582 ist also nicht als Verlustmeldung zu verstehen, sondern als offizielle Anerkennung einer bereits bekannten Tatsache. Die Könige aus der Zeit davor benötigten Baragi nicht oft. Königin Pol-Pol beispielsweise hat während ihrer Regentschaft, der längsten in der Geschichte des Königreichs, unermüdlich Straßen bauen lassen, weswegen sie auch Königin Straße genannt wird. So gut ihre Arasit-Krieger in anderen Bereichen auch sein mochten, sie waren keinesfalls große Architekten. Die Königin hatte während ihrer achtundsiebzig Jahre langen Herrschaftszeit kaum Anlass, ihre Krieger in einer Schlacht anzuführen, und somit brauchte sie auch Baragi nicht oft. Ihr Nachfolger, König Lektüre, verschwendete die meiste Zeit seiner Regentschaft darauf, sein Glück zu genießen, weil er die von Königin Pol-Pol gebauten Straßen zum Sammeln alter Bücher nutzen konnte. Dessen Thronerbe wiederum, König Ästhetik, den man nicht erwähnen kann, ohne dass einen Traurigkeit und Wut überkommen, war ebenfalls kein Kriegsheld. Während Königin Pol-Pol sich erst den Dingen widmete, die ihr am Herzen lagen, nachdem sie ihre Herrschaft im Großen Expansionskrieg gesichert hatte, vernachlässigten ihre beiden Nachfolger den Krieg, weil sie vorrangig mit ihren eigenen Anliegen beschäftigt waren. So kam es, dass das Königreich Arasit in den etwa einhundertfünfzig Jahren vor der Regentschaft König Herbstwinds sehr wenig mit dem Krieg gegen die Nagas in Berührung kam. Baragi ist während dieser Zeitperiode verschwunden. Das sollte sich für König Herbstwind, der sich sofort nach der Thronbesteigung mit einem Wiederaufflammen des Großen Expansionskriegs konfrontiert sah, als große Katastrophe erweisen.
– AUS: »Der Zerfall des Königreichs« von Rasu
Der dicke Nebel tastete sich an den Fuß des Waldes heran, eine weiße Wand, die sich immer weiter ausbreitete, ohne zu verblassen.
Zraders Kamm richtete sich auf. Der Tau, der an den kalten Klingen seiner Doppelaxt hing, verdarb ihm die Laune noch mehr. Aus seinem Rucksack holte er ein Kleidungsstück hervor, das er als Kriegsbeute mitgenommen hatte, und trocknete damit seine Waffe. Anschließend warf er es weg.
Die Soldaten der Nordarmee nahmen auf ihrem Weg durch Kiboren allerhand Dinge aus den Städten der Nagas mit. Einer sammelte hübsche Knöpfe und nähte sie alle an seine Kleidung an, bis er damit wie ein Clown aussah. Er tat es jedoch nicht, weil er Knöpfe so liebte, sondern schenkte sie seinen Kameraden, wenn ihnen einer fehlte. Ein anderer nahm jede Menge Holzbretter an sich, ohne zu wissen, worum es sich dabei handelte, bis Ryun Pey ihm erklärte, dass es Schriftbretter waren. Der Soldat verwendete sie als Schneidebretter oder als Unterlage zum Schlafen, indem er sie stapelte, oder auch als Brennholz, meist aber bewunderte er einfach die Maserung. Zrader sammelte hauptsächlich Kleidungsstücke, die er als Handtücher oder Lappen benutzte, mit denen er seine Axt säuberte. Warum er zu diesem Zweck ausgerechnet die Stücke sammelte, die besonders schön aussahen, statt robuste und widerstandsfähige, konnte sich niemand so recht erklären.
Als Zrader überprüfte, ob sich seine stattlichen Kehllappen gut in der polierten Axtklinge spiegelten, vernahm er ein Klicken.
Das Geräusch nervte ihn. Er wandte sich um und sah General Semiquo an, der mit reglosem Gesicht direkt in den Nebel stierte. Die Schere in seiner linken Hand klapperte wie ein unregelmäßiger Puls. Wie scharf er die Klingen geschliffen haben musste! Jedes Mal, wenn die Scherenblätter aufeinandertrafen, erzeugten sie ein schmerzhaft singendes Geräusch, als würde einem das Herz herausgeschnitten. Die Schere konnte einem kinderleicht den Finger abschneiden. Bevor Zrader dem General sagen konnte, er solle verdammt noch mal damit aufhören, kam ihm General Mupinto zuvor: »He, mit der Schere herumfuhrwerken kannst du in einem Stoffladen!«
»Es ist so still. So schrecklich still«, erwiderte Semiquo, ohne Mupinto dabei anzusehen.
Missmutig seufzend, blickte auch General Mupinto in den seltsamen Nebel, der den Betrachter zugleich zu betören und abzuschrecken schien. Er schauderte.
»Auch ihm muss es schwergefallen sein, diese Stille zu ertragen«, meldete sich Semiquo erneut zu Wort.
Mupinto wusste, wen Semiquo meinte. Mit einem Fluch sah er hastig in eine bestimmte Richtung, als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen. Sein Blick verharrte auf General Kitata Zaboro.
Seinen Schild unter den Arm geklemmt, stand der General so aufrecht und stoisch da wie eine Statue. Keiner der Soldaten oder Generäle der Armee des Nordens gab ein solches Bild ab, wenn sie den Nebel betrachteten. Fast allen war unheimlich zumute, es überkam sie eine Furcht, die sie sich nicht eingestehen wollten. Aber an Kitata Zaboro, der kerzengerade dastand und in den Nebel starrte, war nicht die Spur von Angst zu erkennen. Arroganter Zorn und brennender Hass, das war alles, was von ihm ausging. Der letzte Überlebende seines Clans ähnelte einer Felssäule, die aus dem Dunst ragte. Vor diesem stolzen Mann wirkten die majestätischen Steingebäude von Simograzu, die sich hinter dem milchigen Nebel abzeichneten, wie eine Fata Morgana.
Simograzu, das auf dem Weg nach Hatengrazu, der Stadt der Stille, lag, schien sich fest vorgenommen zu haben, den Streitkräften des Nordens mit aller Kraft, die Kiboren zur Verfügung stand, Einhalt zu gebieten. Zwar waren nur fünf Naga-Truppen hier zusammengezogen, aber die Anzahl der Hüter-Generäle übertraf alle Schätzungen von Generalmajor Rasu.
»Vierundfünfzig?« Rasu ertappte sich dabei, wie er in eine Depression zu verfallen drohte.
Ryun nickte. »Ungefähr, ja.«
»Wie steht es um ihre Fähigkeiten? Könnten sie Shiuse und Euch vollständig außer Gefecht setzen?«
»Möglich, und allein dieser Nebel hier ist der Beweis. Sie haben alle Feuchtigkeit, deren sie habhaft werden konnten, gesammelt und hierhergebracht. Wenn sie sie gegen uns einsetzen, wäre ihre Kampfkraft enorm. Daher verstehe ich nicht, warum sie in der Stadt bleiben und nichts weiter unternehmen.«
»Wahrscheinlich, weil wir die Herztürme von Perograzu und Aktagrazu zerstört haben. Deswegen ist die oberste Priorität vermutlich die Verteidigung ihres Herzturms. Wenn ich damit richtigliege, heißt das, dass auch sie uns fürchten, so wie …« Rasu sprach den Satz nicht zu Ende und versank in Gedanken.
»An ihrer Stelle«, schaltete sich Gwalhaid Guyriha leise in das Gespräch ein, »würde ich mich darauf konzentrieren, Hatengrazu zu verteidigen. Schließlich befindet sich die Göttin, die keine Fußspuren hinterlässt dort. Wenn sie befreit wird, verlieren die Hüter-Generäle ihre Macht. Lasst uns Simograzu umgehen.«
»Dann können sie uns in den Rücken fallen«, wandte Rasu ein. »Dank der Schlangenkrüge haben sie keine Zeitverzögerung beim Überbringen von Befehlen.«
»Und wenn wir die Hüter, die die Schlangensprache beherrschen, gefangen nehmen? All diese Soldaten beschützen momentan bestimmt nur die Hüter-Generäle. So könnten wir ihren Informationsfluss kappen. Konedo Bilpa und seine beiden Söhne könnten sich nach Simograzu schleichen und sich die entsprechenden Hüter schnappen.«
»In der Stadt befinden sich fünf Korps, das bedeutet, dass es mindestens fünf Hüter mit Schlangenkrügen gibt. Sie festzusetzen, wird nicht so einfach. Aber was mich wirklich beschäftigt, ist etwas anderes.«
»Was denn?«
»Warum unternehmen sie nichts? Es sind vierundfünfzig Hüter-Generäle, also könnten sie es problemlos regnen lassen, ohne dass ihre Verteidigungskraft geschwächt würde. Damit würden sie die Kampfmoral der Lekons in unserer Truppe regelrecht zerschmettern. Stattdessen unternehmen sie nichts, rein gar nichts. Egal, wie verängstigt sie auch sein mögen, hier stimmt etwas nicht!«
»Vielleicht wollen sie in der Nähe des Herzturms bleiben. Habt Ihr das nicht selbst soeben gesagt?«
»Seid versichert, ich weiß, was ich gesagt habe, Herzog Donnerdrache.«
Daraufhin hielt Ryun den Mund. Rasu versank wieder in Gedanken, während er in den wabernden Nebel starrte.
Gwalhaid räusperte sich. »Und was sollen wir mit diesem Kerl machen, Rasu?«
»Du kannst mit ihm machen, was du willst. Du bist doch der Generaloberst«, antwortete Rasu, den Blick weiterhin auf den Nebel gerichtet.
Gwalhaid drehte sich um, warf Ryun einen auffordernden Blick zu und ging. Ryun folgte ihm.
Schweigsam stapfte der Generaloberst durch den Nebel. Erst nach einer Weile stellte Ryun fest, dass sie inzwischen zu dritt unterwegs waren. Ohne dass er es bemerkt hatte, war Bemion Guldoha zu ihnen gestoßen. Der Nebel machte Bemion zu schaffen, am liebsten wäre er an Ort und Stelle ohnmächtig geworden. Ryun setzte ein wenig seiner Macht ein und ließ den Nebel in ihrer unmittelbaren Umgebung etwas zurückweichen. Gwalhaid schaute zurück und nickte dankbar.
»Ihr seid viel sensibler als ich, deswegen gehe ich davon aus, dass Ihr über Rasus mentale Einstellung Bescheid wisst.«
»Er weigert sich, die Nagas als Personen anzuerkennen«, entgegnete Ryun gelassen. Er wusste bereits, worauf Gwalhaid hinauswollte, noch bevor er es zur Sprache brachte.
Gwalhaid strich sich über seinen Kinnbart. Er musste auch nicht laut sagen, dass er eine genauere Erläuterung von Ryuns Worten brauchte. Ryun ging auf seine wortlose Aufforderung ein.
»Der Generalmajor will die Nagas besiegen, deswegen bemüht er sich sehr, wie ein Naga zu denken und zu handeln, obwohl er weder nirmen noch Wärme sehen kann. Aber er lehnt es kategorisch ab, die Nagas zu verstehen, weil es schwierig ist, jemanden zu hassen, den man gut kennt. Deswegen will er auch mit mir keine Freundschaft schließen. Aber er muss mich genau beobachten, wenn er mehr über uns Nagas erfahren will. Das ist sein innerer Konflikt.«
Bemion lauschte aufmerksam, was jedoch nicht bedeutete, dass er den Inhalt des Gesagten verstand. Er mochte Ryuns Stimme einfach.
»Ich verfüge nicht über Eure Sensibilität, Herzog«, sagte Gwalhaid, »aber Rasu ist mein Vetter, deswegen bin ich mit seinen Eigenheiten vertraut. Er hat sich bisher jedem gegenüber so verhalten. Er mag es nicht, wenn man versucht, eine engere Beziehung mit ihm einzugehen. Man muss ihm deutlich machen, dass man gar nicht vorhat, ihm näherzukommen, erst dann zeigt er einem eine freundlichere Seite. So ist er jedenfalls mir gegenüber.«
»Er hat wohl Angst, gefressen zu werden«, erwiderte Ryun, ohne darüber nachzudenken. Als er merkte, dass Gwalhaid verblüfft war und ihn nicht verstand, erklärte er sanft und mit einem abwehrenden Kopfschütteln: »Ich wollte damit nichts Besonderes sagen.«
»Wie dem auch sei, Ihr seid jedenfalls nicht verärgert, weil Rasu gerade eben nicht unbedingt nett zu Euch war, oder?«
»Nein, das bin ich nicht. Wie ich schon sagte, es ist schwierig, jemanden zu hassen, wenn man ihn gut kennt.«
Eine Drachenperson mit ihren geschärften Sinnen kannte ihr Gegenüber natürlich besser als jeder andere.
Gwalhaid nickte beeindruckt. »Meine Sorgen waren also unbegründet. Ihr versteht Rasu viel besser als ich.«
»Nein. Sensibilität und Verständnis verhalten sich komplementär zueinander, sind aber gleichzeitig unabhängig voneinander. Beispielsweise kenne ich Euch, aber ich verstehe Euch nicht.«
Der Generaloberst geriet ein wenig in Verlegenheit. »Mich? Obwohl es schwierig ist, in der Nordarmee jemanden zu finden, der einfältiger ist als ich?«
Gerade diese Einfältigkeit verblüfft mich nicht selten, dachte Ryun. »Ich habe Schwierigkeiten zu verstehen, dass Ihr für die Ehre von Königin Riesentiger und ihrem Volk mit Freude Euer Leben geben wollt, weil Ihr glaubt, dass das Leben kostbar ist.«
»Richtig. Das Leben ist kostbar.«
»Ich begreife nicht, wie dieser Glaube der Grund für munteren Mord und freudigen Selbstmord sein kann.«
Gwalhaid war Ryun nicht böse. Stattdessen lächelte er ihn freundschaftlich an, womit er ihm jedoch Unbehagen bereitete. Gwalhaid sah auf sein Schwert hinab. »Eure Worte rufen mir in Erinnerung, was Kaygon Draka mir im Großtempel Hainsha gesagt hat: Mein Langschwert sei hervorragend dafür geeignet, Witwen und Waisen zu hinterlassen. Wenn man von meiner Stellung und Situation absehen und nur die Personen zählen würde, die ich niedergestreckt habe, wäre ich ein teuflischer Mörder, dem man nie im Leben über den Weg laufen will. Doch Ihr müsst wissen, Herzog Donnerdrache, das Töten war nie eine Freude für mich.«
»Es tut mir leid.« Aber Ihr habt auch keine Schuldgefühle, fügte Ryun in Gedanken hinzu.
Sie schwiegen. Bemion stöhnte auf, denn ihm gefiel dieses Schweigen nicht.
»Ich habe nie darüber nachgedacht. Heißt das, dass Ihr Schuldgefühle habt?«
»Jedem einzelnen gegenüber, den ich töte«, erwiderte Ryun.
Seine schöne Stimme wurde durch die Kälte darin zu etwas schauderhaft Anziehendem. Selbst dem alten General, von dem es hieß, er könne selbst einem Berg noch Unbeweglichkeit beibringen, stellten sich die Nackenhaare auf.
»Ja, natürlich. Darauf hätte ich von alleine kommen müssen. Trotzdem, Herzog, ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, die Trauer, Wut und Pein derer, die ich umbringe, zu spüren.«
Gwalhaid wurde plötzlich klar, dass er eigentlich einen Jungen vor sich hatte. Ryun hatte bis zu diesem Tag nie die Chance gehabt, ein Jugendlicher zu sein. Als er Kiboren verlassen hatte, war er erst zweiundzwanzig gewesen, und im Land nördlich der Grenzlinie, das ihm vollkommen fremd gewesen war, konnte er sich nicht ausleben. Seine Zeit dort war von Blut geprägt. Durch so grausame Erlebnisse trägt man unzweifelhaft Verletzungen davon, bekommt aber zugleich oft eine harte Schale geschenkt. Letzteres war Ryun jedoch nicht gegönnt, weil er ein Drachennaga geworden war, ein kleiner Junge mit entblößter zarter Haut, die leicht verwundbar war. Dieser Junge war die beste Waffe der Nordarmee geworden und massakrierte nun bei seiner Heimkehr sein eigenes Volk.
Der alte General war erneut verwundert über seine Gedanken. Aber bevor er seine Emotionen zum Ausdruck bringen konnte, meinte Ryun: »Das kam nicht unerwartet für mich. Ich bin nach Kiboren zurückgekehrt mit dem festen Entschluss, das zu erreichen.«
»Was zu erreichen?«
»Ich möchte die Nagas dazu bringen, Herzog Donnerdrache zu hassen und nicht Königin Riesentiger. Je schlimmer ihr Schmerz, desto geringer wird die Last, die meine Schwester zu schultern hat. Davon bin ich überzeugt. Dadurch wird das, was ich aufzufangen habe, nicht leichter. Im Gegenteil, es bleibt nach wie vor sehr schwer. Aus diesem Grund sehe ich Eure Gelassenheit mit Erstaunen. Und ich kann nicht verstehen, wie Ihr das, was Ihr gleich tun müsst, kein bisschen fürchtet.«
»Ihr wisst also, was ich gleich tun werde?«
»Ja, das weiß ich. Und ich weiß auch, warum Ihr mich dabei braucht.«
Darauf erwiderte Gwalhaid nichts mehr.
Sie erreichten eine Lichtung. Auf der anderen Seite war ein Mann mit einem Seil an einen Baum gebunden. Drei auf dem Boden hockende Soldaten bewachten ihn. Sie erhoben sich, als sie den Generaloberst sahen.
Das Erscheinungsbild des Mannes war recht auffallend. Seine Kleidung war, wie bei allen Soldaten der Nordarmee, schmutzig, aber die fein geschnittenen Züge verrieten eine edle Abstammung und verliehen seinem Antlitz trotz des struppigen Haares, das ihm ins Gesicht fiel, eine merkwürdige Blässe. Er hob kurz den Kopf, ließ ihn jedoch gleich wieder hängen.
Gwalhaid fragte die drei Soldaten nach ihren Namen. Dann zog er sein Langschwert und verkündete: »Ihr seid die Zeugen dieses Kriegsgerichts.«
Die Gesichter der Soldaten verrieten ihre Anspannung. Gwalhaid befahl ihnen, ihre Kleidung zu ordnen, und ging zu dem Gefesselten.
»Zikoma Peldox, Burgherr von Kalido, Generalmajor der Nordarmee, hebe dein Haupt.«
Zikoma tat nicht wie geheißen.
»Bevor ich dich für dein Verbrechen bestrafe, will ich dir die Gelegenheit geben, Rechenschaft für deine Tat abzulegen. Sprich, wenn du etwas zu sagen hast. Der Herzog von Hatengrazu wird die Wahrheit bezeugen und dich deiner Lügen überführen können.«
Ryun hatte nicht vor, das zu tun, denn Gwalhaid wollte das auch nicht wirklich. Die drei Soldaten hingegen waren vollkommen davon überzeugt, dass hier ein gerechtes Urteil gefällt würde. Das würden sie den anderen später auch so berichten.
Sein Kopf blieb weiterhin gesenkt, als Zikoma mit belegter Stimme sagte: »Er hat sich der Befehlsverweigerung schuldig gemacht.«
»Genauer, Generalmajor. Wer ist mit ›er‹ gemeint?«
»Jener Soldat … ich kann mich an seinen Namen nicht erinnern.«
»Er hieß Gowilten Yukrau.«
»Gowilten Yukrau hat meinen Befehl missachtet.«
»Soldat Yukrau hatte bereits vier Stunden am Stück gesungen, als du ihn dazu genötigt hast, weiter in den Nebel hineinzusingen. Meinst du nicht, dass dein Befehl die Grenzen des Zumutbaren überschritten hat? Und welche Strafe hast du für diese Befehlsverweigerung verhängt? Gowilten hat dich angefleht, er könne nicht mehr singen, weil er keine Stimme mehr habe, und du hast ihm gesagt, dass du ihm seine Stimme wiedergeben willst, und ihm die Kehle aufgeschlitzt. Danach hast du auch die Gefolgsleute getötet, die dich davon abhalten wollten. All das kann ich nicht als das Handeln eines Befehlshabers ansehen, der noch bei Verstand ist.«
Zikoma antwortete für eine Weile nicht. Gwalhaid wartete geduldig.
»Es war Befehlsverweigerung«, brachte Zikoma schließlich mühsam hervor.
»Befehlsverweigerung ist etwas, das unter der Prämisse diskutiert wird, dass ein Befehl ausführbar ist. Zikoma Peldox, dein Befehl kann beim besten Willen nicht als solcher angesehen werden. Wenn du nichts mehr zu sagen hast, erkläre ich deine Tat hiermit zu einem Verbrechen. Und für dieses Verbrechen verhänge ich die Todesstrafe.«
Zikoma hob blitzschnell den Kopf.
Gwalhaid löste das Tuch um sein Schwert. Ryun sah, wie Erregung in die Gesichter der Soldaten trat.
»Bindet den Generalmajor los und legt ihn da drüben auf den Baumstumpf«, befahl Gwalhaid den Männern.
Die Soldaten teilten mit kurzen Blicken die Aufgaben untereinander auf. Während einer sein Harpunenschwert zog und es auf Zikoma gerichtet hielt, lösten die anderen beiden das Seil. Dann fesselten sie ihm die Arme auf den Rücken und führten ihn zum Baumstumpf. Sie mussten den Burgherrn fast tragen, da er lange an den Baum gefesselt gewesen war und sich deshalb kaum auf den Beinen halten konnte. Bald lag er auf dem Bauch, den Kopf auf dem Stumpf.
Zwei Soldaten drückten ihn an den Schultern zu Boden. Die Männer wechselten ein paar Worte, und einer der Soldaten sah zu Gwalhaid hinüber, der den entsprechenden Befehl erteilte. Daraufhin löste der dritte Soldat eine Schnur von seinem Handgelenk und band Zikomas lange Haare damit zusammen. Niemand war vertraut mit diesen Handlungen, Gwalhaid war die einzige Person hier, die Erfahrung bei der Vollstreckung der Todesstrafe hatte. Der alte General richtete seine Schwertspitze zu Boden und sah still zu, wie seine Soldaten zu Werke gingen.
»Lasst mich am Leben«, bat Zikoma plötzlich. Bei »am Leben« zitterte seine Stimme so stark, dass seine Worte kaum zu verstehen waren. Er wartete auf eine Antwort, aber als Gwalhaid keinerlei Regung zeigte, sagte er mit etwas festerer Stimme: »Bitte lasst mich am Leben. Ich war nicht bei Verstand. Mir geht es schon die ganze Zeit so, seit ich in Kiboren bin. Niemand aus dem Norden sollte diesen verfluchten Dschungel jemals betreten.«
Der Soldat, der dem Gefangenen die Haare zusammengebunden hatte, sah Gwalhaid an, der ihm mit einem herrischen Blick bedeutete weiterzumachen. Also zog der Soldat Zikomas Kopf am Haar nach unten und rammte seinen Dolch durch das Band in den Baumstumpf. Zikomas Nacken lag nun frei, und er konnte den Kopf nicht mehr bewegen. Der Soldat nahm einen Stein und schlug damit auf das Heft des Dolches. Bei jedem Aufprall zuckte Zikoma zusammen.
»Einen Verrückten bestraft man nicht!« Seine Stimme zerriss einem das Herz. Der Mann, der einst der mächtige Herrscher Kalidos gewesen war, entmündigte sich selbst.
»Du bist nicht verrückt, Zikoma. Wenn du wirklich verrückt wärst, hätte der Herzog von Hatengrazu mir das bereits mitgeteilt.«
Burgherr Kalido drehte so heftig den Kopf, dass er sich dabei büschelweise die Haare ausriss. Die Soldaten, die ihn niederdrückten, verstärkten hastig ihren Griff. Zikoma schnappte nach Luft und schrie Gwalhaid entgegen: »Werden wir nicht ohnehin alle in Hatengrazu sterben? Lasst mich bitte dort sterben!«
Die weißen Augenbrauen des alten Generals zogen sich zusammen.
»Schiebt die Vollstreckung meiner Strafe bis dahin auf! Ist ein lebender Generalmajor nicht nützlicher als ein toter? Ich kann noch mindestens einen verdammten Naga töten! Lasst mich für Ihre Majestät kämpfen und in Hatengrazu sterben, wenn ich sowieso sterben muss!«
Der Soldat, der den Dolch in den Baumstumpf gerammt hatte, trat zurück. Gwalhaid fasste fest das Heft seines Langschwerts und hob es langsam hoch in die Luft. Die Soldaten, die Zikoma festhielten, drehten ihre Köpfe zur Seite. Ryun verlor unbeabsichtigt die Kontrolle über sich selbst, was zur Folge hatte, dass der wabernde Nebel wieder aufzog.
»Herzog Donnerdrache!«, schrie Zikoma. »Wollt Ihr nur herumstehen und zusehen? Ich bin schließlich wegen Eures Volkes hierhergekommen!«
Ryuns Schuppen sträubten sich. Er sah, dass Gwalhaid kurz davor war, das Langschwert zu schwingen. Blitzschnell bedeckte Ryun Bemions Augen, da sauste das Schwert auch schon hinab.
Frisches Blut spritzte über das Gesicht der Soldaten.
Als der Generaloberst sein Schwert wieder aus dem Baumstumpf herauszog, war Zikomas Kopf von seinem Körper getrennt. Bis eben hatte er noch geschrien und gefleht, nun wollte er davonrollen, als wäre er sich nicht bewusst, dass er nicht mehr fühlte, sondern zu einem leblosen Objekt geworden war, das man wie eine Büste hätte aufstellen können. Doch da er an den Haaren fixiert war, wippte er lediglich ein paar Mal hin und her und blieb schließlich in einer seltsamen Position still auf dem Baumstumpf liegen.
»Sollen wir ihn begraben?«, fragte der Soldat, der Zikomas Haar zusammengebunden hatte, und wischte sich das Blut aus dem Gesicht.
»Wir stehen Auge in Auge mit dem Feind. Für ein Begräbnis haben wir keine Zeit. Bedeckt ihn mit Steinen und Zweigen. Wir überlassen ihn der Sonne, dem Tau und dem Wind.«
Die Soldaten zogen Zikomas Körper zur Seite und legten seinen Kopf an die Stelle, an der er eigentlich seinen Platz hatte. Danach schlugen sie mit ihren Harpunenschwertern erbarmungslos Zweige ab, die möglichst viele Blätter trugen. Ryun wandte sich ab und drehte auch Bemion weg. Nachdem er das Blut von seinem Schwert abgewischt und es gegen einen Baum gelehnt hatte, blickte Gwalhaid auf Zikomas Leiche hinab. Das Geräusch, mit dem die Harpunenschwerter die Zweige abtrennten, klang unheimlich.
»Ich bin nicht gut bei Trauerreden«, sagte Gwalhaid leise. »Außerdem war ich auch nicht der beste Freund dieses Mannes.« Die Soldaten senkten die Schwerter und betrachteten Gwalhaid. »Was ich über ihn weiß, ist, dass er ein großer Burgherr in Kalido war, der mit seiner Weisheit für viele ein Vorbild war. Das ist sicher nicht alles, was es über Zikoma Peldox zu sagen gäbe. Dennoch begleite ich ihn hier auf seinem letzten Weg, denn die vier Jahre, die ich mit ihm zusammen verbringen durfte, wiegen schwer, weil ich mit meinen Händen seinem Leben ein Ende gesetzt habe.«
Überraschenderweise roch es kaum nach Blut. Wahrscheinlich war das dem herankriechenden Nebel zu verdanken. Ryun warf einen kurzen Blick auf Bemion. Dieser stand noch genauso da, wie er ihn weggedreht hatte.
»Für seine Kameraden war Zikoma Peldox ein großartiger Lehrer und weiser Ratgeber, und wenn er vor seinen Feinden stand, glich er einem Feuer speienden Drachen. Ich habe mich nicht gut um ihn gekümmert, und es ist meiner Rücksichtslosigkeit geschuldet, dass ich ihm nicht einmal einen Bruchteil dessen zurückgeben konnte, was er mir geschenkt hat. Und so blieb er mit seiner schrecklichen Last alleine. Eine solche Last kann auch den mächtigsten Helden in die Knie zwingen, und so ist er schließlich der Verwirrung anheimgefallen.« An diesem Punkt hielt Gwalhaid kurz inne. »Das war nicht seine Schuld.«
Die Soldaten senkten die Köpfe.
»Ich bereue es. Ich bereue, was ich versäumt habe. Ich bereue, dass ich ihm nicht zur Seite gestanden habe und ihm deswegen den Kopf abschlagen musste. Die endlosen Kämpfe gegen einen grausamen Feind sind keine Entschuldigung für meine Gleichgültigkeit. Zikoma Peldox war kein Mann, der mit einer solchen Gleichgültigkeit zurückgelassen werden darf.«
In diesem Moment sagte Bemion plötzlich: »Aber zwischen der einen und der anderen Schlacht, zwischen dem einen und dem anderen Sieg habe ich ihn letztlich verloren.«
Ryun sah ihn überrascht an. Bemion stand nach wie vor mit dem Rücken zu dem Hingerichteten. »Ich wollte weniger darüber wissen, was meinen Verwandten durch den Kopf ging, sondern vielmehr, woran meine Feinde dachten. Weniger darüber, was ich meinen Freunden schenken könnte, sondern vielmehr, was ich meinen Feinden heimzahlen konnte. Ich war neugieriger, wie meine Feinde auf einen Angriff reagieren würden, als auf die Reaktion der Personen in meiner Nähe auf mein Handeln. Als die Leute mir sagten, ich sei eine große Kriegerin, meinten sie damit eigentlich, dass ich meine Feinde mehr liebe als sie. Als die Leute mir die glorreiche Bezeichnung ›die Erretterin‹ zum Geschenk machten, verkam ich zur Sklavin der rachsüchtigen Schwachen. Deswegen habe ich ihn verloren. Weil auch ich ein schwacher Mensch war.«
Sowohl Gwalhaid als auch die Soldaten starrten erstaunt Bemions Rücken an. Ryun allerdings konnte einen Blick auf sein Gesicht erhaschen. Es wirkte seltsam. Bemions Augen sahen in die ferne Vergangenheit, seine Mimik wirkte, als erinnerte er sich an glücklichere Tage.
»Aber ich werde nicht länger schwach bleiben. Ich werde den Momenten, die ich noch habe, Sinn verleihen und stark werden. Ich werde wiederfinden, was ich nie hätte verlieren dürfen. Ich werde den Pol, den ich verloren habe, wiederfinden. Ich weiß nicht, wo auf dieser weiten Welt er sich befindet, deswegen werde ich alle Orte dieser Welt miteinander verbinden. Damit er zu mir zurückkehren kann. Damit ich ihm auf meiner Suche entgegeneilen kann. Diese Worte, die ich hier im Königsgemach im Turm Pansai hinterlasse, sind mein letzter Wille. Das sind die letzten Worte der Schwester, die aufgrund ihrer Torheit den Bruder verlieren musste.«
Obwohl Ryun Pey kaum etwas über die Könige des Altertums wusste, die einst den Norden regiert hatten, sah er dank seiner erstaunlichen Sensibilität den Namen von Königin Pol-Pol in den Gesichtern von Gwalhaid und den drei Soldaten.
Bemion, der seine Rede beendet hatte, sah Ryun strahlend an. »Seht Ihr? Ich habe Euch doch gesagt, dass ich es auswendig kann.«
Ryun wusste genau, was er jetzt sagen sollte. Wenn er wollte, konnte er jedem Gegenüber genau das sagen, was dieser hören wollte.
»Das ist sicherlich in der Arasit-Sprache festgehalten worden. Wie hast du das lesen können?« Es waren Worte, die Bemions Lehrer aus seiner Kindheit ihm so hätte sagen können.
»Habt Ihr nicht gewusst, dass es in jenem Turm mittlerweile auch Übersetzungen in die heutige Sprache gibt?«
»Ist das so? Aber das sind die geheimen Aufzeichnungen der Könige! Ich muss dich dafür bestrafen, dass du es gewagt hast, den Turm zu betreten, obwohl du nicht einmal ein Maripgan bist, und auch dafür, dass du mir etwas aus den geheimen Aufzeichnungen der Könige erzählt hast!«
Bemion lachte auf und rannte davon. Während Ryun zusah, wie der Nebel Bemion verschluckte, überkam ihn für einen Augenblick ein Verlustgefühl.
Gwalhaid trat zu Ryun. »Herzog, was war das denn?«
»Ein Rückschritt in Bemions Vergangenheit, hervorgerufen durch Eure Trauerrede. Der Bemion, den wir gerade erlebt haben, war Bemion Guldoha in seiner Kindheit. Er hat den Schlüssel seines Onkels gestohlen, des Maripgans, und konnte damit einen der sechs Türme von Pansai betreten. Es war das ehemalige Königsgemach. Anscheinend dachte er, dass er dort die Geister der Könige antreffen könnte, aber er hat nichts dergleichen entdeckt. Stattdessen hat er einen Ort gefunden, an dem etliche Schriftstücke waren, die er lesen konnte. Die Person, die die königlichen Aufzeichnungen in die heutige Sprache hat übersetzen lassen, war … König Autorität, wobei ich gestehen muss, dass ich mir dabei nicht ganz sicher bin. Es scheint mir aber, als hätte er das veranlasst, weil er es nicht ertragen konnte, dass er die Aufzeichnungen nicht selbst lesen konnte.«
Gwalhaid fühlte, wie Panik ihn ergriff. »Eure Fähigkeiten sind so unerschöpflich, dass ich mich nie an sie gewöhnen werde, Herzog. Habt Ihr all das gespürt, sobald Ihr Bemion gehört habt?«
»Ja, und auch während ich mit ihm gesprochen habe. Aber ist mit der Schwester, die ihren Bruder verloren hat, tatsächlich Königin Pol-Pol gemeint?«
»So ist es. Sie wäre ein hervorragendes Vorbild für meine Vorfahrin Kenarin gewesen, wenn ich meine private Meinung dazu äußern darf. Aber dass sie die zahlreichen Straßen errichtet hat, um ihren verlorenen Bruder zu finden, ist … na ja. Man sollte es besser als Mischung aus einem Sinn für das Wohlergehen ihres Landes und ihrem persönlichen Anliegen betrachten, denke ich.«
»Warum ist ihr Bruder verschwunden? Gut, ich werde Generalmajor Rasu Gyuriha fragen, wenn sich die Gelegenheit ergibt«, sagte Ryun und setzte sich in Bewegung, ehe Gwalhaid realisierte, dass der Herzog seine Antwort vorweggenommen hatte. Als er sich noch einmal zu Gwalhaid umdrehte, blitzten seine Augen kurz auf – doch er sah nicht Gwalhaid an, sondern die Zweige, die Zikomas Leichnam bedeckten. Auch ohne die besonderen Fähigkeiten eines Drachenmenschen verstand Gwalhaid, dass in Ryun Pey abgeschnittene Zweige, die eine Leiche bedeckten, ein anderes Gefühl auslösten als bei Menschen. Ein Mensch würde sagen, dass sich ein schauderhafter Leichnam unter den Zweigen verbarg. Aber was empfand ein Naga, der Bäume über alles liebte, bei diesem Anblick?
»Ich hole Maripgan Bemion. Er scheint sich noch in der Vergangenheit zu befinden«, sagte Ryun.
»Gut.«
Damit verschwand Herzog Donnerdrache im Nebel. Gwalhaid ließ die Soldaten wissen, dass sie ihre Arbeit gut gemacht hätten, und kehrte zu seinem Vetter zurück.
Der Aufruhr, der in Simograzu herrschte, hatte sicherlich nicht darauf abgezielt, den obersten Strategen der Nordarmee in Selbstzweifel zu treiben. Hätten die Hüter-Generäle, die eine tragende Rolle dabei gespielt hatten, das gewusst, hätte es sie zumindest kurz gefreut. So einen Sieg hatten sie bitter nötig.
Hüter-General Insillop, der Truppenkommandant des Amurlindekorps, Stratege und Befehlshaber der Verteidigungsoperationen Simograzus, war wütend. Angesichts der Situation, in der er sich befand, erwiesen sich seine grandiosen Titel als vollkommen wertlos.
Insillops Wut kümmerte Kanbiya Gosori, die Vorsitzende des Rats für die Gleichheit der Häuser von Simograzu, jedoch kein bisschen.
[Soll ich Euch etwa zum Rückzug zwingen? Ich mache keine Scherze, Truppenkommandant!]
[Ist das wirklich Euer Ernst? Wenn Simograzu fällt, ist Hatengrazu als Nächstes dran! Wollt Ihr etwa, dass die Nordarmee auch nur einen Fuß in unsere Heilige Stadt setzt?]
[Habt Ihr mir nicht voller Zuversicht genirmt, dass Ihr Simograzu problemlos verteidigen könnt? Wollt Ihr mir jetzt erklären, dass Ihr dasselbe nicht auch für Hatengrazu garantieren könnt?]
[Die Umstände sind doch völlig anders! Wir haben in Hatengrazu keine weitere Rückzugsmöglichkeit! Dort müssten wir uns dem Feind bis zum letzten Mann entgegenstellen! Seine mächtigsten Waffen sind List und Tücke. Dementsprechend ist jetzt kühle Berechnung von uns gefragt.]
[Simograzu ist kein Bauer, der auf dem Weg nach Hatengrazu geopfert werden kann!]
[Das habe ich nicht gemeint, und das wisst Ihr auch!]
[Oh doch, genau das habt Ihr gemeint! Wenn es noch einen Ort gibt, an den man sich zurückziehen kann, zieht man sich am Ende auch zurück. Wenn sich die Lage weiter zuspitzt, werdet Ihr dem Feind maximalen Schaden zufügen wollen, und zwar hier in Simograzu, und Euch anschließend nach Hatengrazu zurückziehen. Dort werdet Ihr versuchen, den bereits geschwächten Feind endgültig zu vernichten. Aber dann sind die Bürger Simograzus bereits alle tot!]
Insillops Schuppen rieben rasselnd aneinander. Obwohl er sage und schreibe vierundfünfzig Hüter-Generäle zusammengezogen und hierhergeführt hatte, lehnte die Ratsvorsitzende jede Kampfhandlung kategorisch ab, anstatt seine Strategie zu loben. Und jetzt befahl sie ihm sogar, seine Männer aus Simograzu abzuziehen!
Er unterdrückte seine Wut. Sowohl ihm als auch Kanbiya war eine Sache glasklar – doch wenn er sie jetzt erwähnte, würde er als Verlierer aus dieser Verhandlung hervorgehen. Also tat er so, als wäre sie ihm nicht in den Sinn gekommen.
[Seid Ihr denn ernsthaft der Meinung, dass die Nordarmee einfach so durch Simograzu marschieren würde, wenn wir uns zurückziehen?]
[Das hoffe ich doch.]
Insillop gestand Kanbiya nicht, dass er genauso dachte.
[Ihr glaubt also wirklich, dass die Nordarmee Simograzu verschont, weil sie ihre Streitkräfte vor dem Angriff auf Hatengrazu nicht aufreiben will. Aber Gwalhaid wird sicherlich den Teufel tun und einen Feind in seinem Rücken stehen lassen. Er wird Simograzu zerstören, um zu verhindern, dass wir sie von hinten angreifen. Wenn wir uns zurückziehen, könnte er Simograzu ohne Probleme vernichten. Warum, denkt Ihr, sollte er diesen Vorteil nicht nutzen?]
[Er hat den Drachennaga bei sich. Er wird also wissen, ob sich hier Streitkräfte versteckt halten oder nicht.]
[Alle Nagas, denen das Herz entnommen wurde, sind Streitkräfte!]
[Das mag in der Vergangenheit so gewesen sein. Aber in diesem Krieg nicht, Truppenkommandant! In diesem Krieg sind nicht die herzlosen Nagas, sondern die Hüter die Soldaten. Das wisst Ihr nur allzu gut, deswegen habt Ihr so viele Hüter-Generäle mitgebracht, oder liege ich da falsch?]
[Wollt Ihr behaupten, dass es in Simograzu keine Hüter gibt?]
[Natürlich gibt es die. Verlasst Simograzu und nehmt sie mit! Ich nehme an, dass sie in Hatengrazu hilfreich sein werden.]
Insillop starrte die Ratsvorsitzende schockiert an.
[Ich habe es bisher nicht erwähnt, weil ich davon ausging, dass Ihr bereits selbst darauf gekommen seid, Truppenkommandant. Aber Ihr ignoriert diese offenkundige Sache und nirmt weiter von unwahrscheinlichen Eventualitäten, womit Ihr mir keine andere Wahl lasst, als es Euch ganz klar zu nirmen: Verlasst Simograzu und nehmt die hiesigen Hüter mit!] Um Kanbiyas Lippen spielte ein verächtliches Lächeln.
[Heißt das, dass die Bewohner von Simograzu … ohne die Hüter zurechtkommen sollen? Das ist doch kein Leben für Nagas!]
[Ihr könnt sie nach dem Sieg ja wieder zurückschicken. Ihr werdet den Krieg doch gewinnen, oder?]
Insillop kochte vor Wut. [Ihr legt Euch wahrlich alles so zurecht, wie es Euch am besten passt. Glaubt Ihr, dass die anderen Nagas den Bewohnern Simograzus jemals verzeihen werden, wenn sie den Kampf gegen die Feinde unserer Göttin aufgeben und sich aus der Affäre ziehen? Wollt Ihr Eure eigenen Leute zu Feinden der Nagas machen, einzig um der augenblicklichen Gefahr zu entrinnen?]
Jetzt wurde Kanbiya ebenfalls wütend. [Truppenkommandant Insillop! Ihr habt wohl so viele Auseinandersetzungen mit den Ungläubigen gehabt, dass Ihr schon ihre Logik anwendet. Wer mir nicht zur Seite steht, ist mein Feind – das nirmt Ihr doch gerade? Die Stadt Simograzu will lediglich nicht zum Schlachtfeld werden. Wir haben uns für die Wehrlosigkeit entschieden, indem wir unsere Hüter Eurem Kommando unterstellen, und nehmen dafür das Risiko in Kauf, den Ungläubigen zum Opfer zu fallen! Später, wenn Ihr die Nordarmee in Hatengrazu besiegt habt, was ich natürlich stark hoffe, könnt Ihr mich für diese Entscheidung kritisieren. Aber wollt Ihr uns jetzt auslöschen, nur weil wir Euch unsere Stadt nicht als Schlachthaus anbieten?]
Insillop zögerte. [In diesem Krieg gibt es keine Neutralität, Ratsvorsitzende Kanbiya Gosori!]
[Bis jetzt nicht. Aber ob das auch in Zukunft so bleibt, gilt es abzuwarten. Da bin ich ehrlich neugierig.]
Insillop dachte insgeheim, dass es ihm diesbezüglich nicht anders ging. War er an dem Punkt angekommen, an dem er Kanbiyas Position tatsächlich unterstützte, oder hatte er nur den Schwanz eingezogen? Was auch immer zutraf, er beschloss, sich zunächst zu erkundigen, ob Generaloberst Gallotek diese Frage auch neugierig machte, und ließ ihm Kanbiyas Entscheidung übermitteln.
Gallotek hatte erst zwei Tage zuvor die Ruinen Aktagrazus hinter sich gelassen. Wegen des überaus strengen Marschtempos, das er seit seinem Aufbruch im Siguriat-Gebirge angeschlagen hatte, kam sein erschöpftes Bambuskorps nur noch ziemlich langsam nach Süden voran. Das war Kanbiyas Glück, denn Gallotek, die grausamen Erinnerungen an die Ruinen von Perograzu und Aktagrazu noch sehr frisch im Gedächtnis, konnte gut nachvollziehen, warum Kanbiya Gosori nicht wollte, dass Simograzu das Schicksal dieser beiden Städte teilte. Dennoch war er wütend, weil sie sich weigerte, sich an den Kampfhandlungen zu beteiligen. Enttäuscht darüber, dass seine Optionen so dermaßen ausgedünnt worden waren, rief Gallotek Zuquedo.
Doch der tauchte nicht auf. Gallotek überlegte, ob er eine andere Seele hervortreten lassen und sich auf die Suche nach ihm begeben sollte, doch dann fiel ihm Karindol ein, deren Seele tief in ihm lauerte. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als hartnäckig weiter nach Zuquedo zu rufen. Endlich antwortete dieser.
»Was ist los?«
»Ich bin’s, Gallotek. Der Naga. Der Generaloberst. Könnt Ihr Euch noch an mich erinnern?«
»Was willst du?«
»Ich möchte mich mit Euch beraten, Zuquedo. Aber mir scheint, dass wir uns zuerst um Euren Ton kümmern sollten, falls Ihr vorhabt, weiter so barsch mit mir zu reden.«
»Du vertreibst mich, wenn ich dir auf die Nerven gehe, und willst, dass ich höflich bin, wenn du mich brauchst … Mann, was bist du doch für ein Riesenarschloch!«
»Zuquedo!«
»Schrei nicht so, Kleiner! Das tut dir nur in deinen Ohren weh.«
»Wenn Ihr von Höflichkeit reden wollt, dann nur zu! Wer hat denn die wertlose Torfestung angegriffen und dabei sein Leben riskiert?«
»Wertlos? Ging es dabei etwa nicht um die Rettung des Großhüters?«
»Worum es auch gegangen sein mag, wir, die Nagas, haben doch Euren Traum verwirklicht, oder nicht? Aber Ihr habt keine Silbe des Dankes verloren!«
Zuquedo schwieg kurz. »Es tut mir leid, aber ich kann mich nicht bei dir bedanken. Der Angriff auf die Zollstraße war ein Fehler.«
»Genau das ist das Problem! Ich wäre nicht so sauer, wenn Ihr wenigstens einen Hauch von Freude gezeigt hättet. Warum war der Angriff ein Fehler? Weil Ihr mithilfe der Nagas Euer eigenes Volk getötet habt?«
»Gallotek, ein Seelenwandler hat kein eigenes Volk. Selbst die anderen Seelenwandler sind nicht sein Volk. Es ist nicht in Ordnung, dass du mir mit einem so sentimentalen Argument kommst.«
»Was ist dann Euer Problem? Vor zweihundert Jahren wolltet Ihr genau das erreichen und habt dafür alle Mittel eingesetzt, die Euch zur Verfügung standen, aber heute, nachdem Eure Mühen endlich von Erfolg gekrönt sind, meint Ihr, dass es ein Fehler war. Das hört sich für mich nach dem Gejammer eines Kindes an.«
Zuquedo schwieg erneut. Gallotek bemühte sich, seinen aufwallenden Zorn zu unterdrücken. Plötzlich bewegte sich sein Mund und ein Stöhnen entkam ihm. »Mit dem Angriff auf die Zollstraße habe ich nicht sie, sondern mich selbst vernichtet, Gallotek.«
»Nein! Mit einem unerschütterlichen Willen, dem niemand Einhalt gebieten konnte, habt Ihr Eure Vollendung erreicht, Zuquedo. Jetzt seid Ihr der Eroberer von Siguriat!«
»Das ist keine Vollendung. Das ist eine verfluchte Nachbesserung!«
»Nachbesserung?«
»Selbst ein beschissener Pinselstrich muss in einem Zug ausgeführt werden. Mit einer einzigen Handbewegung, Gallotek. Ich habe kein schlechtes Leben geführt, im Gegenteil. Das Leben von Zuquedo Sarmak war brillant. Ja, das war es wirklich. Ich war der Meister des Todes. Weißt du, wann ich am besten war? Die ganze Zeit meines Daseins über! Ich war immer der Beste! Mein letztes Versagen war ebenso kostbar, der Höhepunkt in meinem Leben, eben weil es sich um mein Versagen handelte. Es war kein Schandfleck inmitten der Vollkommenheit. Dieses Versagen eingeschlossen, war mein Leben die Vollkommenheit schlechthin. Aber dieses wertvolle Versagen habe ich mit den Füßen getreten. Ich habe das Werk, das ich selbst aufgebaut hatte, eigenhändig ruiniert!«
»Zuquedo …«
»Gallotek …« Zuquedos Stimme war voller Reue. Gallotek war von dieser fremden Emotion in seiner eigenen Stimme bewegt. »Du stehst mir in Sachen Sturheit in nichts nach. Nur zu, sei so stur, wie du willst! Stell deinen unerschütterlichen Willen zur Schau! Lass die banalen Beschwerden jener Schwächlinge, die es nach Moral dürstet, links liegen! Die Moral ist lediglich ein Werkzeug, das all das zum Zweck des Lebens umformt. Und das Leben, das eigentlich der Zweck ist, wird zum Werkzeug der Moral. Kümmere dich nicht darum. Diejenigen, die dich kritisieren, dass du Leben und Tod missachtet und deine Schwester in ein Monster verwandelt hast, denen kannst du sagen, dass sie gefälligst das Maul halten sollen. Piss denen ins Gesicht, die zu Tode verängstigt sind, weil du die Göttin eingesperrt hast! Der Meister des Todes segnet dich! Aber tu all das nur so lange, bis du stirbst. Ich werde fortan sehnsüchtig darauf warten, dass sich das Schicksal, das du einst deutlich in Worte gegossen hast, erfüllt. Werde keine wandelnde Seele, sondern stirb! Ich bitte dich darum! Hör nicht auf mich, falls ich später meine Meinung ändern und etwas anderes sagen sollte. Erinnere dich an die Worte, die ich dir jetzt gerade gesagt habe!«
Gallotek dachte lange über das Gehörte nach.
Schließlich meinte Zuquedo wie nebenbei: »Jetzt sag schon, was du von mir willst.«
Gallotek erzählte in groben Zügen, was sich in Simograzu zugetragen hatte. Er verzichtete darauf, die Ereignisse zu interpretieren – er wollte Zuquedos unverfälschte Meinung hören.
»Simograzu erklärt sich also für neutral. Sag der Vorsitzenden, dass sie tun soll, was sie nicht lassen kann.«
»Wäre das denn in Ordnung?«
»Dieser Krieg hat in der Stadt der Stille begonnen, und dort muss er auch zu Ende gehen. Du musst nach Hatengrazu, sowohl um den Großhüter zum König von Kiboren zu machen als auch um Vias Makerow und die Matriarchinnen, die nach ihrer Pfeife tanzen, aufzuhalten. Genauso das von Insillop angeführte Amurlindekorps. Du musst gleichzeitig mit ihm in Hatengrazu ankommen. Richte Insillop aus, dass er sofort losmarschieren soll.«
»Wird Simograzu denn unbeschadet davonkommen?«
»Simograzu hat sich selbst für diesen Weg entschieden. Denk nicht weiter darüber nach. Aber ich glaube, dass die Nordarmee Simograzu umgehen wird.«
Zum ersten Mal seit Beginn des Krieges war Rasu Gyuriha wirklich erstaunt. Weder das Auftauchen von Shiuse noch Ryuns Erwachen als Drachennaga hatte den Strategen der Nordarmee dermaßen in Erstaunen versetzt. In seiner Verwunderung war er nicht allein: Auch die anderen Generäle um ihn herum waren nicht nur aufgebracht, sie waren wie von Sinnen.
Generalleutnant Semiquo und Generalleutnant Mupinto mussten einiges von ihrer respektablen Selbstbeherrschung aufbringen, um nicht auf der Stelle loszustürmen. Sie ließen Generalleutnant Kitata Zaboro keine Sekunde aus den Augen. Sie besaßen zwar nicht die Fähigkeit der Nagas, Wärme zu sehen, aber sie hätten schwören können, dass sie die Hitze, die von Kitata ausströmte, deutlich wahrnahmen. Grom Bilpa aus Balkene schlug seinem Bruder vor, ihren Grundsatz »erst handeln und dann bewerten« einmal mehr in die Tat umzusetzen, also ihre Dokebi-Hüte aufzusetzen und ihren Gast heimlich aus der Welt zu schaffen. Tokari Bilpa schmetterte den Vorschlag seines Bruders jedoch ab, denn Herzog Donnerdrache würde sie sofort erwischen. Dann sah er verwirrt seinen Vater an, der zusammenzuckte, als wäre er auf frischer Tat ertappt worden.
Nur Gwalhaid Gyuriha verhielt sich glücklicherweise so, wie man es von ihm erwartete.
»Heißt das, dass Simograzu eine Neutralitätserklärung abgibt, Ratsvorsitzende Kanbiya Gosori?«, fragte er angemessen höflich.
»Ja. Wir schicken alle unsere Hüter zusammen mit den Naga-Truppen aus der Stadt. Spätestens übermorgen sind sie fort.«
Die Generäle der Nordarmee schienen in ihrer Aufregung vergessen zu haben, dass ihnen dank Ryun Naga-Stimmen eigentlich vertraut waren, und tuschelten über die wunderschöne Stimme dieser Frau, als hätten sie zum ersten Mal eine Naga sprechen hören. Gwalhaid schien Rasu über den Tisch hinweg einen Blick zuzuwerfen, sah aber in Wahrheit Ryun Pey an. Das brachte Ryun in eine recht sonderbare Lage, denn in demselben Moment sandte Kanbiya ihm ein Nirm.
[Darf ich das so verstehen, dass dieser Mensch wissen möchte, ob er mir vertrauen kann? Du bist ein Drachennaga, du weißt um meine Aufrichtigkeit.]
Daraufhin nickte Ryun leicht – eine Geste an beide Personen.
»Das ist eine riskante Strategie, um Eure Stadt zu retten«, sagte Gwalhaid. »Es geht mich eigentlich nichts an, aber wenn ich meine Meinung dazu äußern dürfte, glaube ich, dass Ihr von den anderen Nagas dafür mit einem weißäugigen Blick angesehen werdet.«
»Mit einem weißäugigen Blick?«
»Äh, tut mir leid. Damit meint man die Lederhaut im Auge. Ich weiß nicht, ob auch die Nagas den weißen Teil im Auge Lederhaut nennen, wir Menschen nennen ihn so, und mit dem weißäugigen Blick ist gemeint, dass man jemanden so ansieht, dass der weiße Teil im Auge sehr stark zum Vorschein tritt. Das ist sehr unhöflich und bringt Verachtung zum Ausdruck.«
Kanbiya lächelte. »Wie amüsant! Generaloberst, auf dem Weg zu diesem Treffen habe ich mich auf vieles gefasst gemacht, aber dass ich hier ein wissenschaftliches Gespräch über kulturelle Unterschiede zwischen unseren beiden Völkern führen würde, habe ich nicht in Betracht gezogen. Im Gegensatz zu dem, was man über Euch so erzählt, seid Ihr sehr aufmerksam und rücksichtsvoll.«
Mit so einem Kompliment hatte wiederum Gwalhaid nicht gerechnet.
»Und ich habe nicht erwartet, dass ich von einer Naga-Frau ehrende Worte zu hören bekommen würde.«
»Ich bin der Meinung, dass in einem Gespräch gegenseitiger Respekt unabdingbar ist. Ich habe jedenfalls Eure Bedenken verstanden. Das ist etwas, womit Simograzu nach dem Krieg zurechtkommen muss. Die Stadt hat sich für ihren Herzturm entschieden und somit gegen das Wohlwollen der Nagas der anderen Städte, das wir ohnehin noch nie zu spüren bekommen haben, wenn ich mich recht entsinne.«
»Das habe ich verstanden. Allerdings ist es recht vorteilhaft für meine Feinde, wenn die Hüter aus Simograzu fortgeschickt werden und sich dem Amurlindekorps der Nagas anschließen.«
»Was soll ich Eurer Ansicht nach sonst tun, Generaloberst? Ich denke, dass Ihr mehr Schwierigkeiten damit hättet, wenn ich die Hüter-Generäle von Simograzu weiter hier, also in Eurem Rücken lassen würde.«
»Da habt Ihr recht. In Ordnung, ich verstehe, Ratsvorsitzende.«
Anschließend sah Gwalhaid Rasu an. Als er keine Antwort bekam, verstand er dieses Schweigen als Zustimmung.
»Ratsvorsitzende Kanbiya Gosori, wir, die Nordarmee, akzeptieren mit Freude Eure Neutralitätserklärung. Wir versprechen Euch, dass wir keine feindseligen Handlungen gegen Simograzu ausführen werden, wenn unsere Bedingungen klar erfüllt sind, die da wären, dass Simograzu alle Hüter aus der Stadt fortschickt und keine Naga-Truppen militärisch unterstützt. Wollt Ihr, dass wir das schriftlich festhalten?«
»Das wäre bedeutungslos. Euer Versprechen genügt.«
Gwalhaid lächelte. Kanbiya Gosori war eine durchaus aufgeschlossene, generöse Frau, dachte er bei sich.
Kanbiya äußerte den Wunsch, ein paar Tage im Lager der Nordarmee zu verweilen, obwohl sie die Feindseligkeit ihr gegenüber nur allzu deutlich zu spüren bekam. Sie bot sich selbst als Geisel an, um den Rückzug der Verteidigungstruppen und der Hüter aus Simograzu zu gewährleisten. Nicht alle verstanden ihre feinfühlige Aktion, und für die drei Bilpas stellte die Situation eine große Verlockung dar. Gwalhaid befahl Ryun, Kanbiya Gosori zu beschützen, mehr konnte er für sie nicht tun. So kam ihr das Glück zuteil, sich zu Ashwaritals Füßen zu setzen und in vollkommener Sicherheit an seinem kolossalen Drachenkörper hinaufschauen zu können.
[Er ist sagenhaft! Ich könnte ohne Weiteres glauben, dass dieser Drache einen Himmelsfisch auffressen kann], nirmte sie voller Begeisterung.
[Sich in einen Himmelsfisch zu verlieben wie Quidoburita wäre vielleicht möglich, aber einen aufzufressen würde sich als schwierig erweisen, Ratsvorsitzende. Ihr habt anscheinend noch nie einen Himmelsfisch gesehen.]
[Nein, noch nie.]
Ryun schickte ihr seine Erinnerung an den Himmelsfisch, den er im Großtempel Hainsha gesehen hatte.
[Sind sie wirklich so groß?]
[Ich werde Euch meine Aufmerksamkeit schenken, wenn Ihr etwas zu nirmen habt. Ihr könnt Euer Anliegen direkt vorbringen, wenn Ihr möchtet.]
Kanbiya war verblüfft von Ryuns Sensibilität, an die sich auch die Generäle der Nordarmee nicht gewöhnen konnten, obwohl sie bereits über vier Jahre mit ihm verbracht hatten. Ryun sah zu Boden und wartete, bis Kanbiya ihn verstand.
[Heißt das also, du merkst, dass ich nur ein wenig mit dir plaudere, bevor ich ein heikles Thema zur Sprache bringen will?]
[Ja, so ist es.]
[Das ist wirklich erstaunlich.]
Verblüfft hob Ryun den Kopf. [Denkt Ihr wirklich so?]
[Was? Dass das erstaunlich ist?]
[Nein, nicht das. Ihr seid sicher, dass ich Euch niemals missverstehen würde. Ihr seid absolut davon überzeugt.]
Kanbiya nickte. [Ist das nicht so?]
[Doch, da habt Ihr recht. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass ich Euer Nirm missverstehe, solange Ihr Euch selbst nicht missversteht. Die meisten Leute werden sehr still, wenn sie den Umfang meiner Fähigkeit erkannt haben. Sie schließen ihren Geist, würden wir nirmen. Ihr seid da eine Ausnahme.]
[In meinem hohen Alter und als Ratsvorsitzende habe ich Unmengen an nutzlosem Nirm von mir gegeben und ebenso von anderen empfangen. Was ich dabei für mich mitgenommen habe, ist einzig die ärgerliche Feststellung, dass es kein Nirm auf der Welt gibt, bei dem sich zwei Personen vollkommen einig sind. Aber heute, glaube ich, habe ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Person getroffen, die mich nicht falsch verstehen und auch nicht so tun wird, als hätte sie mich missverstanden. Deswegen ist es auch nicht nötig, dass ich genau auf die Bedeutung jedes einzelnen Wortes achten muss. Liege ich damit …]
[… vollkommen richtig.]
Kanbiya lachte im Geiste auf. Ryuns Bewunderung für die Vorsitzende des Rats für die Gleichheit der Häuser von Simograzu ging weit über die Ehrfurcht hinaus, die er allgemein gegenüber älteren Naga-Damen empfand.
Kanbiyas Lachen versiegte schließlich. [Ich werde nicht länger um den heißen Brei herumreden. Wo ist die Göttin?]
[Mit Eurer Vermutung liegt Ihr richtig.]
Aus Kanbiyas Nirm, das sonst kontrolliert und zurückhaltend war, strömte eine tiefe Enttäuschung heraus. [Du weißt, auch wenn ich es nicht ausdrücklich nirme, wie sehr ich mir gewünscht habe, dass ich unrecht habe, nicht wahr?]
[Ja, das weiß ich.]
Kanbiya sah wieder zu Ashwarital.
[Wer eins und eins zusammenzählen kann, dem ist klar, dass es nur diese Antwort geben kann. Die Nordarmee wünscht sich die Befreiung unserer Göttin genauso wie wir, daran gibt es keinen Zweifel mehr. Ihre Bräutigame, die die Macht der Göttin in der Hand halten und einzusetzen wissen, sind grausam. Da die Nordarmee nach Hatengrazu unterwegs ist, ist auch klar, wer die Göttin verraten hat. Dass das wirklich wahr sein soll! Kannst du mir Beweise dafür geben?]
Ryun überlegte kurz, dann sandte er ihr die Erinnerung an das, was im Großtempel Hainsha geschehen war. Sie nahm sie umsichtig entgegen, und Ryun fügte einige kurze Erläuterungen hinzu. Es waren Orte und Personen dabei, die ihr fremd waren, und viele Emotionen. Dann dachte Kanbiya über die neuen Erkenntnisse nach.
[Hüter in Hatengrazu haben die Verkörperung der Göttin gefangen genommen. Aber welche Hüter sind das genau?]
[Das ist auch mir nicht bekannt. Außer der Tatsache, dass sie sich im Herzturm von Hatengrazu aufhalten, weiß ich nichts über sie.]
[Ich verstehe. In Ordnung. Die Nordarmee wird die Göttin befreien. Und somit die Nagas retten.]
[Die Nordarmee tut das, um sich selbst zu retten.]
[Man nirmt doch, dass man nach unten schauen soll, wenn man auf der Straße Geld finden will. Ich wäre der Nordarmee dankbar, wenn sie auch nach unten schauen würde, und wenn es nur auf der Suche nach Geld ist, und dabei die Nagas, die dort am Boden liegen, sehen und nicht auf sie treten würde.]
Auf Kanbiyas seltsamen Gebrauch der Redewendung hin lächelte Ryun.
[Einer der Gründe, warum ich mich für die Neutralität entschieden habe, ist, dass ich die Hüter bereits im Verdacht hatte. Aber das weißt du natürlich schon.]
[Ja, aber ich weiß auch, dass es nötig ist, zu nirmen beziehungsweise zu sprechen, um die eigenen Gedanken zu sortieren oder um sich selbst zu bestätigen. Ihr braucht Euch keine Sorgen zu machen, dass Ihr mich belästigt, indem Ihr etwas nirmt, das ich schon weiß. Nirmt ruhig, was Ihr nirmen wollt.]
[Das ist sehr nett von dir. Dann nirme ich einfach frei heraus. Die Ratsmitglieder in Simograzu haben meiner Entscheidung zugestimmt, weil Perograzu und Aktagrazu sich letzten Endes nicht behaupten konnten und gefallen sind. Natürlich habe ich die Mitglieder von meiner Sichtweise überzeugt. Aber meine wahre Absicht ist eine andere. Wie ich bereits nirmte, hatte ich die Hüter im Verdacht. Ich habe mich gefragt, ob die Rollen des Verräters und des Befreiers unserer Göttin in Wirklichkeit anders verteilt sein könnten, als wir glauben. Also habe ich beschlossen, mich sowohl von dem einen als auch von dem anderen unabhängig zu positionieren. Letzten Endes ist einzig Simograzu für mich von Bedeutung. Deswegen kann ich auch der Nordarmee nicht helfen.]
[Ich weiß, warum Ihr mir das nirmt. Die Ungläubigen der Nordarmee sind schon allein davon überrascht, dass sie südlich der Grenzlinie eine Stadt angetroffen haben, die sich für neutral erklärt. Es ist nicht nötig, Euch den Kopf darüber zu zerbrechen, dass Ihr der Nordarmee nicht offen zeigen könnt, dass Ihr alles tut, was in Eurer Macht steht, um die Göttin zu retten.]
[Dennoch wird uns die Nordarmee Vorwürfe machen, wenn sie ihre Überraschung überwunden hat. Warum die Stadt Simograzu ihr nicht geholfen hat. Warum wir den Leuten, die aus dem einzigen Grund gekommen sind, die Göttin der Nagas zu retten, nicht geholfen haben.]
[Die Nordarmee ist nicht wie Insillop.]
Kanbiya bemühte sich, ihren Schock unter Kontrolle zu bekommen.
[Ich kann diesen Namen spüren], nirmte Ryun sanft. [Wer ist … ah, ich verstehe. Er hat also so etwas genirmt. Ich werde sicherlich nicht behaupten, dass niemand in der Nordarmee denkt, dass jeder, der ihr nicht zur Seite steht, unweigerlich ihr Feind ist. Aber die Nordarmee wird nicht tun, worüber Ihr Euch jetzt Gedanken macht. Es besteht kein Grund zur Sorge, dass die Nordarmee die Stadt Simograzu für ihren Feind hält und angreift, nur weil sie sie nicht mit Rat und Tat unterstützt.]
Kanbiya war von Ryuns Fähigkeit, ihre Sorge wesentlich genauer auszuformulieren, als sie es selbst vermochte, zutiefst beeindruckt.
[Darf ich dir das glauben? Im Moment scheint Generaloberst Gwalhaid dankbar für Simograzus Neutralität zu sein. Aber ich bin nicht sicher, ob er das auch in Zukunft bleiben wird.]
[Die Nordarmee hat nie auch nur eine Sekunde erwartet, südlich der Grenzlinie Unterstützung zu erhalten. Ihr habt selbst gesehen, wie positiv sie von der Neutralitätserklärung überrascht war.]
[Das gilt auch für die Nagas. Wie erstaunt und wütend Insillop war, weißt du ja.]
[Ja. Aber Ihr solltet Euch keine unnötigen Sorgen machen, dass die Nordarmee wütend werden könnte, weil Simograzu keine Verstärkung angeboten hat, obwohl es durchaus in der Lage dazu gewesen wäre.]
Mit ruhigem Blick sah die Ratsvorsitzende Ryun an. [Ich danke dir vielmals. Deine Fähigkeit, alle meine Fragen zu beantworten und Sorgen zu zerstreuen und mich dabei von meinen Schuldgefühlen zu befreien, ist zweifelsohne die Fähigkeit eines Drachennagas. Aber ein Werkzeug ist bloß ein Werkzeug. So wie ein Xyker mal ein Schwert ist, das einen tötet, und mal eines, das einem das Leben rettet. Deswegen will ich nicht der Fähigkeit eines Drachennagas dankbar sein, sondern dem Naga Ryun Pey, der weiß, wie diese Fähigkeit einzusetzen ist. Vielen Dank.]
Ryun erwiderte Kanbiyas Blick. Weil er ihre wahre Absicht nicht missverstehen konnte, spürte er auch zwangsläufig ihr schreckliches Gewicht und die damit verbundenen Folgen sehr genau. Die Fähigkeit, selbst angesichts der offensichtlichen Tatsachen Zweifel zu hegen und zu zögern, verhindert die Annäherung an die Wahrheit, schützt aber auch vor ihrer grausamen Härte. Ryun mangelte es an solchen Schutzmechanismen.
Ihm war danach, in Tränen auszubrechen.
Als Kanbiya sah, dass Ryun den Kopf senkte, fragte sie sich, was mit ihm los war.
»Bist du die Frau, die Kanbiya heißt?«
Kanbiya blickte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Eigenartig – wie hatte sie den Neuankömmling hören können, wo sie doch gar nicht auf Geräusche geachtet hatte? Aber sie vergaß solche Kleinigkeiten sofort.
Shiuse musterte sie.
Sie sah den Flammengott der Dokebis zum ersten Mal, und er wurde ihr auch nicht vorgestellt, dennoch wusste sie augenblicklich, dass er Shiuse war. Es konnte kein anderer sein.
Er stieß sengende Flammen aus. »Ich habe dich etwas gefragt.«
Kanbiya gab es auf, ihr Zittern unterdrücken zu wollen. »Ja, das bin ich. Und Ihr seid zweifellos Shiuse.«
Ryun hatte den Kopf gehoben, weil er Shiuses Wärme gespürt hatte. Jetzt stand er rasch auf und stellte sich vor die Naga. Damit versetzte er sowohl Shiuse als auch Kanbiya und sogar Ashwarital in Erstaunen.
Shiuse machte ein fragendes Gesicht und sagte: »Ich habe nicht vor, diese Frau zu töten, Ryun Pey.«
»Ist das so?«
»Ja, das ist so.«
»Ich begreife immer noch nicht, warum Ihr die Flut aus Körperteilen getötet habt.«
Shiuse lachte durch die Flammen. Statt etwas zu entgegnen, bedeutete er Ryun mit einer Handbewegung, zur Seite zu treten. Es war eine einfache, vielleicht auch unverschämte Geste, dennoch wohnte ihr der Wille eines Gottes inne. Mit gesträubten Schuppen machte Ryun Platz.
»Ihr seid viel beeindruckender, als ich gehört habe, jetzt, da ich Euch persönlich sehe«, meinte Kanbiya vorsichtig.
»Du hast mich noch nicht gesehen. Und das wirst du auch nie.«
Kanbiya verstand ihn, obwohl ihr die genaue Bedeutung hinter seinen Worten verborgen blieb. Doch ihr blieb keine Zeit, darüber nachzudenken.
»Ich habe gehört, dass deine Stadt sich für neutral erklärt hat.«
»Das stimmt.«
»Gut. Tu mir einen Gefallen.«
»Was für einen?«
Shiuse antwortete nicht. Stattdessen loderten seine Flammen auf, und Kanbiya bekam es mit der Angst zu tun, weil sie sein Verhalten als Drohung auffasste. Sie atmete erst aus, als Ryun, der ihre Furcht gespürt hatte, ihr nirmte: [Er ordnet nur seine Gedanken.]
»Keine Ahnung, wie sie aussehen wird. Auf jeden Fall wird es ein Lekon sein. He, hör zu, ein Lekon wird deine Stadt aufsuchen.«
»Ein Lekon?«
»Ja, ein Lekon. Die Inkarnation der Göttin.«
»Die Göttin, die niedriger steht als alle anderen!«, rief Ryun verblüfft aus.
»Genau. Es wird auch langsam Zeit, dass sie hier ankommt!« Shiuse nickte. Dabei stoben Funken von seinem Kinn auf.
»Hat der Suchtrupp Erfolg gehabt? Woher wisst Ihr das?«, fragte Ryun hastig.
»Weil ich es eben weiß.«
Ryun verzog das Gesicht, er verstand nicht, wovon Shiuse da redete. Kanbiya erging es nicht anders, aber sie fürchtete vor allem eine Sache. »Eine weitere Inkarnation kommt in unsere Stadt?«
»So ist es. Wenn der Lekon kommt, richte ihm aus: ›Das Licht wurde enthüllt.‹«
»Was?«
»Richte ihm das aus, das genügt. ›Das Licht wurde enthüllt.‹ Das ist nicht zu lang, das wirst du dir doch merken können. Nicht wahr?«
Er sagte es wie im Scherz, der Druck jedoch, den er dabei auf sie ausübte, war so massiv, dass sie daran hätte ersticken können. Kanbiya schüttelte hastig den Kopf und antwortete: »Ja, das kann ich mir merken, und so werde ich es auch der Göttin ausrichten.«
Zufrieden drehte Shiuse sich um und stapfte davon.
Er verschwand, aber seine Wärme blieb noch eine ganze Weile zurück.
Kanbiya hatte die ganze Zeit den Atem angehalten; erst jetzt holte sie wieder Luft und strich sich über die Arme, um ihre aufgerichteten Schuppen zu glätten.
[Er ist wesentlich mehr als das, was ich gehört hatte. Ryun Pey, ich denke, dass die Göttin mit Sicherheit gerettet wird.]
[Wie bitte? Ach ja, natürlich. Sie wird auf jeden Fall gerettet werden.]
Seit sie Ryun kennengelernt hatte, erlebte Kanbiya zum ersten Mal, dass er nicht alles wahrnahm. Das war nur verständlich, dachte sie. Ryun wiederum wusste, dass sie ihn verstand, und konnte so ungestört lange in die Richtung schauen, in die Shiuse verschwunden war. Doch seine Drachennaga-Fähigkeiten versagten, als er die Bedeutung der Worte »Das Licht wurde enthüllt« zu erfassen versuchte.