Die Sundea Chroniken - Finja C. Buck - E-Book

Die Sundea Chroniken E-Book

Finja C. Buck

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Beschreibung

"Fünf Tote, Jako! Einfach so?" Wieder eine unverständliche Erwiderung ihres Vaters. "... nicht die Einzigen in letzter Zeit, oder?", flüsterte Monte und Lille presste die Lippen aufeinander. Wovon sprachen die beiden da? Sie rutschte eine Stufe hinunter, um sie besser zu hören. "Lille?" Sie zuckte zusammen, als hätte man sie mit Eiswasser übergossen. Die Stimmen verstummten. Als Lille, die Tochter des Stadtkommandanten, ein geheimes Gespräch belauscht, fragt sie sich, was in ihrer Heimat, dem Fürstentum Sundea, unbemerkt vor sich geht. Die Erwachsenen schweigen. Lille beschließt, mit ihrem Zwillingsbruder Lias und Kindheitsfreund Aldan mehr herauszufinden. Doch als ein rothaariger Fremder in Sundea auftaucht, überschlagen sich die Ereignisse und drohen, die ganze Stadt mitzureißen. Ein rasantes Fantasy Abenteuer für alle, die gern von Freundschaft, Geheimnissen und dem Vertrauen in sich und andere lesen.

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Seitenzahl: 441

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhaltsverzeichnis

LILLE

ELLIAN

RENA

LIAS

RENA

FUCHS

RENA

LILLE

FUCHS

LILLE

FUCHS

RENA

ELLIAN

LIAS

FUCHS

RENA

LILLE

ELLIAN

FUCHS

RENA

LILLE

LIAS

ELLIAN

RENA

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LILLE

RENA

ELLIAN

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FUCHS

RENA

LILLE

FUCHS

LILLE

RENA

ELLIAN

FUCHS

RENA

LIAS

RENA

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RENA

ELLIAN

RENA

FUCHS

RENA

LILLE

LIAS

LILLE

RENA

LILLE

LIAS

RENA

LILLE

ELLIAN

FUCHS

LIAS

LILLE

FUCHS

RENA

FUCHS

LIAS

FUCHS

LILLE

RENA

LILLE

PERSONENREGISTER

LILLE

Ein Dutzend kleiner Fischerboote trieb ein Stück oberhalb der Stadt auf dem aufgewühlten Meer. Der Wind frischte auf, die trüben Lampen auf den Schiffen flackerten und machten ihr Auf und Ab sichtbar. Die Ellenbogen auf die Mauer gestützt, stand Lille an der Fensteröffnung. Sie schloss die Augen und spürte dem Wind auf ihrem Gesicht nach, doch auch diese Nacht brachte wenig Abkühlung und die Hitze lag wie ein klebriger Film auf ihrer Haut. Sie hörte, wie die Wellen kräftig gegen die Stadtmauern schlugen, als klopften sie immer wieder an und würden doch nie eingelassen.

Als sie die Lider öffnen wollte, spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Sie wusste, wer zu dieser späten Stunde noch wach war und hinter ihr stand. Ihr Mund verzog sich unwillkürlich zu einem Lächeln, sie öffnete ihre Augen und drehte sich um.

„Was meinst du, sieht es nicht wunderschön aus, wie die Lichter auf und ab tanzen?“ Ihr Vater Jako legte ihr den Arm um die schmalen Schultern und sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

„Ja, das tut es. Aber es sind wenig Fischer hinausgefahren heute Nacht. Dieser Wind ist ungewöhnlich und es ist so warm. Da bleiben die Fische lieber im tieferen Wasser und die Fischer gehen leer aus“, flüsterte Lille.

„Da hast du recht. Und die Wirbelwasser haben momentan eine unbändige Strömung. Monte hat berichtet, dass die Strudel im letzten Monat zwei Boote in die Tiefe gezogen haben müssen. Sie sind einfach nicht mehr in den Hafen zurückgekehrt. Dieser Strömung hat man nicht viel entgegenzusetzten.“ Er blickte mit ernstem Gesicht auf das Meer hinaus. Ein paar Sekunden später fuhr er fort. „So, mein Mädchen, ich muss langsam los, sonst wundern sich die anderen, wo ich bleibe. Schlaf noch etwas, Lille, auch wenn es dir bei der Hitze schwerfällt. Versuch es.“ Mit diesen Worten drückte ihr Vater sie noch einmal kurz an sich und verschwand die Treppe hinunter. Gleich würde er seine Arbeit bei der Stadtwache beginnen und in den schmalen Gässchen und breiten Straßen Sundeas für Sicherheit sorgen.

Lille atmete tief durch. Eine Strähne ihres langen, blonden Haares flog ihr ins Gesicht und sie schob sie zurück in ihren Zopf. Sie wussten beide, dass es nicht an der Hitze lag, dass sie nicht schlafen konnte.

Sie versuchte, sich genauso lautlos zu bewegen wie ihr Vater, um in ihr Zimmer zu gelangen. Auf keinen Fall wollte sie ihre Geschwister wecken. Sie hatte den Flur halb durchquert, als ein durchdringendes Klopfen an ihre Ohren drang. Lille hörte, wie ihr Vater das Hoftor öffnete. Eine hektische Stimme erklang. Was war da los? Wer klopfte mitten in der Nacht bei ihnen?

Sie verstand die Erwiderung ihres Vaters nicht, doch er klang aufgeregt. Lille tastete sich ein paar Schritte zurück zur Treppe und kauerte sich auf die Stufen. Sie sah nichts, erkannte allerdings die Stimme des Besuchers. Es war Monte, ein Fischer, mit dem ihr Vater schon lange befreundet war, genauso wie sie mit seinem Sohn Aldan. Sie lauschte angestrengt, verstand aber nur Wortfetzen.

„… ganze Familie ist tot, wenn ich es dir doch sage!“

„Und hat man wirklich …“ Hier wurde die Stimme ihres Vaters so leise, dass sie das Satzende nicht hörte.

„Nichts! Aber fünf Tote, Jako! Einfach so?“

Wieder eine unverständliche Erwiderung ihres Vaters.

„… nicht die Einzigen in letzter Zeit, oder?“, flüsterte Monte und Lille presste die Lippen aufeinander. Wovon sprachen die beiden da? Und konnten sie das nicht so laut tun, dass sie sie verstand? Lille rutschte eine Stufe hinunter, um sie besser zu hören.

„… Sorgen! … niemand etwas erzählen, versprochen. Ich …“

„Danke! Ich werde …“

„Lille?“

Sie zuckte zusammen, als hätte man sie mit Eiswasser übergossen. Die Stimmen verstummten.

Sie drehte ruckartig den Kopf und sah in ein vertrautes Gesicht.

„Ich wollte dich nicht erschrecken“, sagte ihr Zwillingsbruder Lias entschuldigend.

Sie schob ihn die Stufen hoch und presste den Zeigefinger auf die Lippen. Das Hoftor quietschte.

„Was hast du denn da auf der Treppe gemacht?“

„Ich … es hat jemand geklopft und ich …“ Lille brach mitten im Satz ab, weil sie nicht wusste, wie sie ihr Verhalten erklären sollte, ohne die Worte belauschen und Neugier zu benutzen. Lias zog die Brauen zusammen, und seine Augen, die den ihren exakt glichen, blickten sie fragend an. Sie musste nach oben schauen, denn ihr Bruder war ein ganzes Stück größer als sie.

„Konntest du nicht schlafen? Ich sehe die Sorgenfalten auf deiner Stirn, Lille! Denkst du wieder an …“, wisperte er und streckte den Arm aus, als wollte er sie umarmen. Doch Lille machte zwei Schritte zurück und unterbrach ihn eilig, denn sie hasste es, wenn er davon anfing und sie mit diesem verständnisvoll mitleidigen Blick ansah.

„Nein, es ist nichts. Gute Nacht.“ Noch im Sprechen zog Lille ihre Zimmertür auf und schlüpfte hindurch. Sie atmete aus und lauschte darauf, wie einige Sekunden später die Treppe knarrte, als ihr Bruder die Stufen zu seinem Zimmer hinaufstieg.

Sie strich ihrer kleinen Schwester Nela, die friedlich träumend in ihrem Bett lag, sanft über die wuscheligen Haare. Meo, ihr Hund, lag an ihrer Seite, obwohl ihr Vater es verboten hatte. Er war der hässlichste Köter, der jemals Lilles Weg gekreuzt hatte. Einäugig, mit unbändigem schwarzem Fell und grimmigem Gesicht. Nela und der zottelige Hund waren unzertrennlich, seit sie ihn vor vier Jahren gefunden hatte, nachdem … ja, kurz nach dem Ereignis.

Lille legte sich ins Bett, aber jetzt waren ihre Gedanken wieder in der Vergangenheit. Sie warf sich auf die andere Seite und befahl sich, nicht weiter zu grübeln. Sie war dem, was sie nachts nicht schlafen ließ, bedrohlich nahegekommen.

Ob sie Lias verstimmt hatte? Sie rieb sich die Stirn. Sie hatte ihn nicht stehen lassen wollen, aber sie hätte es nicht ertragen, wenn er davon angefangen hätte. Lille zwang sich, ihren Geist auf etwas anderes zu richten. Sie schloss die Augen und versuchte noch mal, sich an den Wortwechsel zwischen Monte und ihrem Vater zu erinnern. Es war dringend gewesen, sonst wäre der Fischer nicht nachts vor der Tür gestanden. War wirklich das Wort Tote gefallen? Wer war gestorben? Und warum weckte man ihren Vater? Er war der Kommandant der Stadtwache, aber man rief ihn und seine Männer nur, wenn es um einen Mord ging.

Also wurde jemand ermordet, in Sundea. Oder gar mehrere Personen, grübelte sie und war wacher denn je. Sie stopfte ihr Kopfkissen zurecht und drehte sich auf den Rücken. Sundea war die Hauptstadt des Fürstentums und zählte über zehntausend Einwohner, doch meist war es friedlich und beschaulich hier.

Lille rollte sich erneut hin und her und versuchte, zur Ruhe zu kommen. Einschlafen konnte sie in dieser Nacht trotzdem lange nicht. Ihre Atemzüge verlangsamten sich erst, als am Horizont das zarte Licht der Morgensonne erschien.

Obwohl sie sich sagte, dass es nicht ihre Sache war, und keine nächtlichen Besucher mehr kamen, konnte Lille in den folgenden Nächten kaum schlafen. Sie saß stattdessen am Fenster im Flur und blickte auf das tintenschwarze Meer hinaus.

Nun waren bereits vier Nächte vergangen, seit Monte aufgetaucht war, und wieder war sie zu unruhig, um zu schlafen. Ihre Gedanken kreisten und wirbelten umher, als würden auch sie vom Sog der Wirbelwasser angezogen. Lille rieb sich die müden Augen. Zu gern hätte sie mit ihrem Vater über das Gehörte gesprochen, weil es ein dumpfes, ungutes Gefühl in ihr auslöste.

Aber dann denkt er, ich habe ihn belauscht. Das geht nicht! Das kann ich ihm nicht antun, vor allem nicht jetzt.

Jeden Tag sah ihr Vater eine Spur grauer und abgekämpfter aus, sodass Lille sich um ihn sorgte. Dennoch drängte es sie immer stärker, mit jemandem darüber zu reden, der mehr wusste. Daher hatte sie einen Entschluss gefasst.

Sie streckte sich noch einmal und gähnte. Vielleicht würde sie heute Nacht, da ihre Entscheidung gefallen war, endlich richtig schlafen können. Sie legte sich in ihr Bett und fiel in einen unruhigen Dämmerzustand. Das Gesicht, das ihr schon lange in ihren Träumen begegnete, erschien vor ihrem inneren Auge und blickte sie liebevoll an. Es verflüchtigte sich, wie jedes Mal, wenn sie sich in diesen Traum verstrickte, den sie nicht mehr durchleben wollte.

• • •

Die Sonne stand bereits eine Weile am Himmel und die kühle Morgenluft wandelte sich langsam zu der Gluthitze, die Sundea in den Sommermonaten fest im Griff hatte. Lille schlüpfte in ihre ausgetretenen Sandalen und schlich sich die Treppe hinunter. Norvid und Nela hatten sie bereits mit dem Frühstück aufgehalten, mehr Zeit wollte sie nicht verlieren und vor allem wollte sie nicht, dass sie der Mut verließ. Sie trat gerade aus der Tür, als ihr Vater die staubige Gasse entlangkam.

„Na, wohin geht‘s?“, fragte er freundlich, aber sie merkte ihm seine Verwunderung darüber, dass sie um diese Zeit aus dem Haus wollte, an. Für gewöhnlich mied sie die Vormittagszeit, denn da war immer viel los und sie lief Gefahr, Bekannten zu begegnen.

„Nur schnell zum Markt und vielleicht noch zum Hafen“, antwortete Lille. „Heute ging deine Wache aber besonders lange“, fügte sie hinzu, als ihr Vater neben ihr stehen blieb.

„Ja, ich musste mir dringend die Anwärter für den freien Posten bei der Stadtwache ansehen. Das gehört leider auch zu den Aufgaben eines Kommandanten.“

Lille runzelte die Stirn, sagte aber nichts darauf. Es war bereits nach neun Uhr und somit ungewöhnlich spät, selbst wenn ihr Vater noch Bewerber geprüft hatte. Doch für Gespräche hatte sie jetzt keine Zeit. Sie wollte zu Aldan, dem Sohn von Monte, dem Fischer.

Aldan war etwas älter als sie und Lille wusste, dass er sie sehr mochte. Für ihren Geschmack ein bisschen zu sehr.

Doch Aldan, Lias und sie waren schon lange die besten Freunde und so versuchte sie, seine unverhohlene Freude, als er ihr die Tür öffnete, zu ignorieren. Wobei das, bei dem strahlenden Lächeln, das auf seinem Gesicht erschien, nur schwer möglich war.

„Lille, wie schön dich mal wieder zu sehen! Komm rein, komm rein! Es ist bestimmt Wochen her, dass du hier warst“, empfing er sie.

„Hallo Aldan, ich war etwas … also … es freut mich auch, dich zu sehen“, antwortete sie weit weniger überschwänglich und trat in das Fischerhäuschen. Aldan musste wie immer den Kopf an der Tür einziehen, damit er ihn sich nicht anstieß. Überhaupt wirkte er mit seinen breiten Schultern und seiner Körpergröße, als wäre ein Riese in eine Puppenstube eingebrochen. Doch so groß er war, so freundlich strahlten sie seine grünbraunen Augen unter den markanten Brauen an und seine Grübchen zeigten sich. Er deutete einladend auf die Holzbank in der düsteren kleinen Küche.

Sie setzte sich und da sie sich noch nicht überwinden konnte, vom Grund ihres Besuches zu erzählen, blickte Lille sich um. Auf dem Tisch stand eine Schale mit Orangen, Trauben und Feigen und von der Decke hing ein Bündel Lavendel, der auf den Feldern vor der Stadt wuchs. Wenn sie sich konzentrierte, konnte sie den schwachen Geruch der Kräuter in der Luft wahrnehmen. Aldan strich eine Strähne seines halblangen Haares zurück, das wie meistens in einem kleinen Zopf gebändigt war. Es zeigte, wie gut er sie kannte, dass er nicht nachfragte, sondern ihr die Zeit gab, die sie brauchte.

„Ist dein Vater nicht da?“, fragte sie.

„Nein, der verkauft den Fang von heute Nacht auf dem Markt, obwohl sich das kaum lohnt. War wenig in den Netzen diesmal. Aber nur deshalb“ – an dieser Stelle hellte sich Aldans Miene auf – „bin ich überhaupt zu Hause. Er meinte, die paar Fische kann er auch allein verkaufen. Und wir beide können endlich mal wieder reden. Ist schon viel zu lange her.“

Lilles Ohren wurden heiß. Er hatte ja recht – sie war kaum unter Leute gegangen in den letzten Wochen, oder gar Monaten. Es wurde immer schlimmer damit. Aber in seinem freundlichen Gesicht lag kein Vorwurf und sie musste unwillkürlich lächeln. Aldans Freude über ihren Besuch war so ehrlich, dass sie sich nicht dagegen wehren konnte. Sie nahm ihren Mut zusammen und kam auf das zu sprechen, weshalb sie überhaupt hergekommen war.

„Aldan, dein Vater hat vor ein paar Tagen nachts bei uns an die Tür geklopft. Ich habe nicht alles verstanden, aber es ging um irgendwen, der gestorben ist.“

„Hm. Und weshalb geht er dann zu deinem Vater?“ Aldan kratzte sich am Kopf und überlegte einen Moment. „Das macht eigentlich nur Sinn, wenn …“ Er stockte. „Also … wenn jemand umgebracht wurde. Hat er das gesagt? Bist du dir sicher?“

Lille antwortete nicht gleich, dann überwand sie sich und nickte. Hoffentlich hielt Aldan sie nicht für übergeschnappt, wenn sie weiterredete.

„Sie haben von mehreren Personen gesprochen. Von einer ganzen Familie. Und Monte hat gefragt, ob das nicht schon mal in letzter Zeit passiert ist. Und mein Vater … also, er hat zugestimmt.“

„Meinst du nicht, wir hätten mitbekommen, wenn Morde in Sundea geschehen?“, meinte Aldan.

„Mein Vater versucht, es geheim zu halten, glaube ich. Deshalb ja der Besuch mitten in der Nacht“, gab Lille zu bedenken.

„Wir könnten sie natürlich fragen“, meinte er zögernd. „Aber denkst du, dass sie uns etwas sagen würden?“ Er hielt kurz inne, bevor er weitersprach. „Wir könnten meinen Vater vielleicht dazu bekommen, wenn wir ihn überrumpeln. Am besten auf dem Markt, da ist er im Stress.“

Er lächelte sie an und Lilles Gesichtszüge entspannten sich. Er nahm sie also ernst. Bevor sie antworten konnte, klopfte es an der Tür.

ELLIAN

Die Sonne stand im Zenit und brannte unbarmherzig auf die Menschen hinunter, die wie Ameisen aufgeregt hin und her wuselten, als Ellian mit den anderen Montaniern am Strand ankam.

Begrüßungen und Gelächter flogen über die Köpfe der Bewohner der Insel Ascana hinweg und verfingen sich zwischen den bunten Zelten, genauso wie der Rauch der ersten Kochfeuer. Die salzige Meeresluft und der Geruch nach gegrilltem Fisch stiegen Ellian in die Nase. Sein Stiefvater hob nur kurz die Hand und stapfte dann wortlos weiter, in Richtung des Festplatzes. Ellian atmete auf. Den würde er die restliche Woche nicht mehr sehen, da war er sich sicher. Zumindest hier konnte er ihm aus dem Weg gehen, was ihm zu Hause oft, aber nicht immer gelang.

Leider.

Ellian schirmte seine dunklen Augen gegen das Sonnenlicht ab und hielt Ausschau nach seinen Freunden. Er hatte Suna und Fuchs seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen und er brannte darauf, seine besten Freunde um sich zu haben. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, in der Hoffnung, Fuchs schlaksige, großgewachsene Gestalt auszumachen. Der überragte die meisten Ascaner um ein, zwei Köpfe, doch Ellian konnte ihn bei dem Gedränge um ihn herum nicht ausfindig machen. Auch Suna konnte er nirgends entdecken. Ob sie ihn ebenfalls suchten?

Die Oasier, der Stamm, zu dem die beiden gehörten, hatten es zum Versammlungsort am Meer nicht so weit gehabt wie die Montanier, zu denen Ellian selbst zählte. In der Menge sah er immer wieder das Smaragdgrün ihres Stammes aufleuchten. Manche trugen es als Kleidungsstück, als Tuch um den Kopf geschlungen, als Schmuck an Hand oder Hals. Jeder der vier Stämme, die die Wüsteninsel besiedelten, hatte eine Stammesfarbe. Seine geliebte Großmutter, bei der er eine Zeit lang gelebt hatte, hatte sich stets ein smaragdgrünes Band ins graue Haar geflochten. Seit ihrem Tod sah er Suna und Fuchs nur noch zwei Mal im Jahr, bei den Versammlungen.

Ein Mann mit einem ebensolchen Bändchen am Handgelenk und einem struppigen Bart eilte an ihm vorbei.

Ellian sprach ihn an. „Entschuldige, ich bin auf der Suche nach zwei Oasiern. Sie heißen Suna und Fuchs. Sie ist Jägerin bei euch in der Oase und er ist rothaarig, ziemlich groß …“

„Du meinst den blassen Sonderling? Den brauchst du nicht genauer zu beschreiben! Hab‘ ihn vorhin am Festplatz gesehen. Was willst du denn von dem?“ Der Bärtige schaute ihn mit gerunzelter Stirn an und sprach weiter, bevor Ellian ihm antworten konnte: „Ich weiß ja nicht, was du mit dem zu tun hast, aber such dir lieber andere Leute, der ist –“

„Stimmt, du hast keine Ahnung, deshalb solltest du besser nicht weiter sprechen!“, fuhr Ellian ihn an. Wie konnte der Mann so abfällig über Fuchs sprechen?

„Also so eine Frechheit!“ Der Mann drängte sich kopfschüttelnd vorbei.

Wäre Ellian von dem kilometerlangen Ritt durch die Berge Montanias und die Wüste nicht erschöpft gewesen, hätte er diesem Kerl die Meinung gesagt, aber so verdrehte er nur die Augen und setzte sich in Richtung des Festplatzes in Bewegung. Es war unglaublich, wie stur manche Ascaner an ihren Vorurteilen gegenüber allem Fremden festhielten. Seine Großmutter hatte ihn immer zu besänftigen versucht und die Ablehnung auf die unbarmherzige Natur und die Abgeschiedenheit der Insel geschoben: „Das macht viele Ascaner engstirnig und hart. Sie kennen ja kaum jemanden, der nicht von hier kommt. Aber sie meinen es nicht böse. Und je länger Fuchs hier bei uns ist, desto leichter wird es für ihn.“

Tja Großmutter, ich weiß es inzwischen besser. Fuchs ist für viele immer noch der Sonderling, schoss es ihm durch den Kopf.

Er war so in Gedanken versunken, dass er fast in jemanden hineingestolpert wäre. Als er aufblickte, strahlten ihm zwei bekannte Gesichter entgegen. Suna funkelte ihn unter den markanten Brauen fröhlich an und Fuchs, der sich mit seiner blassen Haut und seinen schrägstehenden blauen Augen deutlich von den anderen Menschen um sie herum abhob, zog ihn in eine Umarmung. Suna und Ellian hatten, wie die meisten Ascaner, braune Haut und nachtschwarzes Haar, aber Fuchs war kein Kind der Wüste wie sie. Eines Tages war ein schmaler, rothaariger Junge in Oasia aufgetaucht und niemand wusste, woher er kam oder zu wem er gehörte. Sunas Eltern hatten ihn aufgenommen und zusammen mit ihrer Tochter aufgezogen.

„Ellian, na endlich haben wir dich gefunden!“, rief sein Freund, zog ihn in eine Umarmung und ließ ihn erst Sekunden später los. Ellian klopfte ihm auf den Rücken und schlang Suna einen Arm um die Schulter, um auch sie zu begrüßen. „Es tut so gut, euch wiederzusehen!“, fügte er hinzu und Suna nickte lachend.

„Sperren die dich in dieser Schreibstube in Montania ein, oder hast du eine andere gute Ausrede, warum du uns die letzten Monate nicht besuchen konntest?“, fragte sie.

„Quatsch, aber es ist einfach viel zu tun im Moment und Cariena zählt auf mich“, antwortete er.

Seit er in der Schreibstube in Montania arbeitete, sah er seine beiden Freunde wirklich nur noch selten. Früher hatte seine Mutter ihn oft wochenlang zu seiner Großmutter in die Oase geschickt, damit er seinen Stiefvater nicht störte. Dort hatten sich die drei angefreundet.

„Natürlich nicht – wie hat die große Stammesführerin der Montanier es nur all die Jahre ohne dich geschafft?“, spöttelte Suna und Fuchs gab ihr einen spielerischen Knuff in die Seite.

„Hör auf, den armen Kerl verlegen zu machen! Kommt, wir holen uns etwas zu trinken und quatschen ein bisschen.“ Fuchs steuerte einen Tisch neben einer Bude an, über den ein farbenfrohes Stoffdach Schatten warf, und ließ sich fallen. Ellian nahm gegenüber Platz und Suna besorgte ihnen einen Krug Wasser, bevor sie sich zu ihnen setzte.

„Tut wirklich gut, wieder zusammen zu sein! Auf uns!“, sagte Suna und prostete ihnen zu. Ellian erhob sein Glas und ihn durchströmte das wohltuende Gefühl ihrer Vertrautheit. In Montania kam er sich oft einsam vor, doch mit Suna und Fuchs an seiner Seite verblasste das Gefühl in kürzester Zeit und er wusste, dass es seinen Freunden genauso ging.

Fuchs stellte sein Glas ab und nickte ihm zu. „Ellian, bitte erklär mir, wie du in deiner Schreibstube den lieben langen Tag nichts anderes machen kannst, als Schriften zu verfassen und Texte zu lesen. Und wieso hast du mir nie erzählt, wie schwer es ist, das zu lernen? Ich habe mir das viel einfacher vorgestellt. Mein Meister verlangt von mir, dass ich jeden Tag eine Stunde übe, damit er mich behält. Es ist grässlich!“

Ellian lächelte. Er liebte die Arbeit in der Schreibstube, doch er kam nicht dazu, etwas zu erwidern, denn Suna war schneller: „Er ist seinem Meister aber jetzt schon unentbehrlich, der würde ihn nicht mal rauswerfen, wenn er sich noch blöder dabei anstellen würde. Wobei du dir alle Mühe gibst, nicht wahr? Also mit dem blöd Anstellen.“

Fuchs boxte ihr gespielt empört auf den Arm.

„Sonst ist mein Meister sehr zufrieden. Letzte Woche habe ich mit den Berechnungen für eine Brücke begonnen und er war begeistert. Ich habe eine Idee, wie die Brückenpfeiler gestaltet sein müssen, damit sie die Regenzeit unbeschadet überstehen. Die Wassermassen haben die alte Brücke weggespült.“

Fuchs‘ Augen strahlten, als er davon erzählte, und Ellian freute sich mit ihm. Es war schwierig gewesen, einen Meister zu finden, der seinen Freund in die Lehre genommen hatte. Mit seiner schnellen Auffassungsgabe, seinem Talent zum Zeichnen und seiner körperlichen Stärke war er ein Gewinn für jeden Baumeister, aber sein fremdartiges Aussehen war für einige Ascaner Grund für scheele Blicke oder Zurückhaltung.

Ellian war sich sicher, dass Fuchs das spürte, doch sein Freund ließ sich nie etwas anmerken. Vermutlich auch, weil Suna der betreffenden Person sonst gehörig den Kopf waschen würde. Sie nahm die Schwächen ihrer Freunde gern aufs Korn, aber wenn jemand sie mies behandelte, ging ihr Temperament mit ihr durch.

„Und du? Was hast du in Montania gemacht, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben?“, fragte Suna mit ihrer dunklen, immer etwas kratzigen Stimme. Sie stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch und ihre Haare fielen nach vorn, obwohl sie versuchte, sie in einem geflochtenen Zopf zu bändigen.

„Also ich arbeite immer noch in der Schreibstube unserer Stammesführerin Cariena. Und das sehr gern.“ Er warf Fuchs einen vielsagenden Blick zu. „In letzter Zeit haben wir viel zu tun. Manche Briefe diktiert mir Cariena selbst, da geht es um wichtige Dinge. Es scheint, als –“ Ellian biss sich auf die Lippe. „Tut mir leid! Ihr wisst ja …“

„Schon klar. Ein Schreiber ist zur Verschwiegenheit verpflichtet“, antwortete Suna. Den letzten Teil betonte sie übertrieben feierlich. Dann lachte sie spöttisch.

„Und wo hast du Kili gelassen?“, fragte Ellian seine Freundin.

„Der ist im Zelt. Muss sich noch etwas von der Reise erholen“, gab sie zurück.

Kili war ihr Klippenfalke, der normalerweise auf ihrer Schulter saß oder für sie jagte. Diese Falkenart war die kleinste auf Ascana, aber die Tiere waren wagemutig und klug. Er und Suna, die in der Oase als Jägerin arbeitete, waren ein eingespieltes Team.

„Kommt, wir sollten uns langsam zum Festplatz bewegen, sonst bekommen wir keinen guten Sitzplatz, um die Eröffnungszeremonie zu sehen. Und wenn wir ein wenig früher da sind, besorgen wir uns etwas Leckeres zum Essen – geröstete Nüsse, Muschelsuppe oder diese Gemüsebällchen!“, forderte Fuchs sie auf und erhob sich.

„Oh, und ein paar leckere Heuschrecken in Honig!“, fügte Suna im Aufstehen hinzu, unschuldig zu Fuchs blickend.

Der machte ein Würgegeräusch. „Bloß nicht! Bleib mir ja mit diesen Viechern vom Leib!“

Ellian, der sich aufgerappelt hatte, wusste natürlich genauso gut wie die beiden anderen, dass Fuchs diese Insektendelikatesse verabscheute. „Keine Heuschrecken für dich, geht klar!“, lachte er und sie machten sich auf den Weg.

Ringsum wurden langsam Fackeln entzündet, die ein schummriges Licht verbreiteten. Ellian ging zwischen seinen Freunden und legte ihnen die Arme um die Schultern. Suna lächelte ihn an und ein warmes Gefühl breitete sich in seiner Brust aus. Gut, dass sie wieder zusammen waren.

RENA

Auf der Burg Pantherra, hoch über den terrakottafarbenen Dächern der Stadt Sundea, erwachte Rena an diesem Morgen sehr früh. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages hatten sie geweckt und sie hielt es keine Sekunde länger im Bett aus. In den letzten Nächten hatte die Sommerhitze sie kaum zur Ruhe kommen lassen und jedes Geräusch von irgendwo im Gemäuer hatte sie aus ihrem unruhigen Schlaf aufgeschreckt. Sie stand auf, zog an der Samtschnur neben ihrem Kissen, damit ihre Zofe Flora wusste, dass sie mit dem Frühstück kommen konnte, und huschte durch das angrenzende Speisezimmer auf den Balkon.

Das Meer erstreckte sich unter der Empore in allen Schattierungen von Blau, Grün und Türkis bis zum Horizont. Der sachte Wind, der von dort zu ihr hinaufwehte, fühlte sich an wie kühle Seide, die über ihre warmen Glieder strich. Rena setzte sich auf die steinerne Bank, die fast die Hälfte des Balkons einnahm und neben der eine zierlichen Palme Schatten spendete. Sekunden später hörte sie, wie Flora das Zimmer betrat und zu ihr hinauskam.

Die Zofe brachte ihr ein Tablett, auf dem wie jeden Morgen alles für das Frühstück bereitstand, heute aber auch noch ein Strauß Rosen und eine mit Zuckerblüten bedeckte Torte. Flora schaffte es trotz ihrer Last, einen Knicks zu machen, und strahlte Rena an.

„Mögen sich all Eure Wünsche im neuen Lebensjahr erfüllen! Das wünsche ich Euch von Herzen, liebste Fürstin Rena!“

Das Mädchen lächelte zurück und erwiderte: „Danke, Flora. Komm später noch einmal, um mir beim Ankleiden zu helfen.“

„Natürlich, wie Ihr wünscht!“, meinte die Zofe und entfernte sich.

Rena lehnte sich an die Mauer in ihrem Rücken und schloss für einen Moment die Augen. Sie freute sich auf den Ansturm an Gratulanten, der später auf sie einprasseln würde, doch nun genoss sie noch etwas die Ruhe und träumte vor sich hin. Endlich fünfzehn! Endlich war sie kein Kind mehr, sondern eine Erwachsene. Nun würde sie sich ihrem Vater als wertvolle Hilfe erweisen und ihm bei der Führung seines Fürstentums zur Seite stehen können.

„Auf dich, Rena, und ein großartiges Lebensjahr, das dir neue Möglichkeiten bietet!“, flüsterte sie sich selbst zu, öffnete die Augen und pflückte eine Zuckerblüte von der Torte. Sie steckte sie in den Mund und lächelte.

Rena schwelgte noch in ihren Vorstellungen, als ihre Cousine Lanna und Marla, ihre beste Freundin, auf dem Balkon auftauchten. Lanna drückte sie an sich und Zuneigung lag in ihren runden blauen Augen, als sie ihr gratulierte. Marla wirkte gegen die jüngere, etwas pummelige Cousine besonders anmutig und erwachsen. Ihre hellbraunen Haare dufteten nach Rosenwasser, als sie Rena umarmte.

Lanna gab ihr ein Päckchen und erklärte: „Rion hat das hier für dich ausgesucht und meine Mutter gebeten, es mir zu schicken, damit es auch pünktlich zu deinem Geburtstag ankommt, du es aber nicht schon vorher siehst. Das war deinem Bruder sehr wichtig.“

Rena zog die Brauen hoch und ihre Finger schlossen sich rasch um das Geschenk ihres jüngeren Bruders. Lanna stammte, genau wie Renas Mutter, die Fürstin Cosmina, aus dem Königreich Kendra. Ihre Mutter war vor zehn Jahren an einer Krankheit gestorben, die harmlos für Kinder war, Erwachsene aber töten konnte. Zuerst war Rion erkrankt, dann sie selbst und schlussendlich die Fürstin. Rena schluckte bei der Erinnerung.

Ihr jüngerer Bruder lebte mittlerweile seit drei Jahren am königlichen Hof von Tendara, bei den Geschwistern ihrer Mutter, um dort zu einem fähigen Regenten ausgebildet zu werden. So hatte ihr Vater, Fürst Raikon, seine Entscheidung ihr gegenüber zumindest begründet. Rena vermutete aber, dass es daran lag, dass ihr Vater Rions Anblick nur schwer ertrug. Rion glich seiner Mutter Cosmina ungemein. Er hatte ihre lebhaften grünen Augen, ihr herzförmiges Gesicht und ihr rabenschwarzes Haar.

Rena erinnerte sich gut an ihre Mutter, obwohl sie damals noch so klein gewesen war. Sie selbst kam mehr nach der Familie ihres Vaters. Sie war groß, hatte goldbraune Augen und lockiges, kastanienbraunes Haar. Ihre Haut war leicht gebräunt und mit ein paar Sommersprossen auf der Nase versehen. Rena hätte gern ihrer Mutter geähnelt, aber so sah man direkt, dass sie die Tochter ihres Vaters war, und das war durchaus richtig für seine Nachfolgerin und die zukünftige Fürstin.

Lanna blickte sie fragend an, aber Rena steckte das Päckchen ein und drückte ihren Arm. Sie wollte Rions Geschenk lieber ohne Zuschauer öffnen. „Danke, liebste Cousine.“

Das Mädchen lächelte und errötete. Rena wusste, dass Lanna sie vergötterte, und mit weiteren kleinen Zuneigungsbekundungen würde das auch sicher so bleiben.

„Und nun? Was meint ihr, sollen wir auf den Markt gehen? Dann suchst du dir etwas Schönes als Geschenk aus“, schlug Marla vor, aber Rena schüttelte den Kopf.

„Mit meinen Leibwächtern? Nein danke, darauf habe ich keine Lust!“

„Gehen wir doch einfach ohne sie!“, erwiderte Marla und blinzelte wie eine Katze unter ihren Lidern hervor.

Nun stahl sich ein Lächeln auf Renas Lippen. „Das klingt schon besser.“

Die Mädchen suchten aus Renas Garderobe die drei schlichtesten Kleider heraus und zogen diese über. Rena zupfte sich ein paar Strähnen aus dem Haar und wickelte Floras Schultertuch, das die Zofe vergessen hatte, um ihre Schultern. Sie waren immer noch prächtiger gekleidet als die meisten Sundeerinnen, aber es würde gehen.

Die Mädchen verließen die Gemächer über eine kleine Treppe, die außen an der Burgmauer entlang in den Garten führte und von dichten Efeuranken verdeckt wurde. So schafften sie es, Renas Leibwächtern Nebi und Skara unbemerkt zu entwischen. Vor allem die stets pflichtbewusste und ziemlich furchteinflößende Skara hätte sie sicher nicht alleine in die Stadt gelassen. So aber stahlen sich die drei ungesehen durch das verborgene Tor in der Außenmauer des Gartens aus der Burg.

LIAS

Auf dem Markt war schon einiges los, sodass er hinter Aldan und seiner Zwillingsschwester herlaufen musste, aber das machte Lias nichts. Er sprach einfach ein wenig lauter.

„Ich wäre viel besser für die Wache geeignet als diese Bewerber, auch wenn ich noch nicht fünfzehn bin! Vater hat erzählt, dass die beiden echt mies waren. Stellt euch vor, der eine ist halb taub und hört nur, sofern man brüllt. Der andere ist stark wie ein Ochse, allerdings nicht besonders hell im Kopf. Er hatte Schwierigkeiten, die einfachsten Befehle zu befolgen. Aber ich bin ja noch nicht fünfzehn … lächerlich! Wegen der paar Wochen! Ich habe Schwerttraining, seit ich sechs Jahre alt bin, und Augen wie ein Adler. Und beide Ohren funktionieren auch.“

„Na ja, er will sich nicht angreifbar machen, weil er für seinen eigenen Sohn eine Ausnahme macht. Und vermutlich braucht er jemanden, der einen wachen Verstand hat“, meinte Aldan.

Lilles Schultern zuckten und er hörte ihr unterdrücktes Lachen. Lias warf seinem Freund einen vernichtenden Blick zu, bevor er selbst grinsen musste. Er freute sich, das Aldan seine Schwester zum Lachen gebracht hatte. In letzter Zeit war sie wieder besonders in sich gekehrt und schlief schlecht. Dass sie sich abkapselte, war ja nichts Neues, aber sie war kaum aus dem Haus gegangen und er sorgte sich um sie. Seine Fragen und Versuche, sie unter Leute zu bringen, hatte sie vehement abgewehrt.

Wenig später stand seine Schwester an einem Verkaufstisch mit duftenden Seifen, denn die Gasse, die weiter zu den Gemüse- und Fischhändlern führte, war von einem Karren blockiert. Sie schaute sehnsüchtig die mit Lavendel-, Oliven- oder Rosenöl versetzten Seifenstücke an. Diese waren in hauchfeine Säckchen eingepackt und dufteten bis zu ihm herüber. Jemand drückte sich an ihm vorbei und rempelte Lille neben ihm heftig an. Seine Schwester stieß an den Verkaufstisch, eine der Seifen fiel zu Boden und zerbrach in zwei Teile. Sie rieb sich den Rücken und hob die Stücke fluchend auf.

Aus den Augenwinkeln nahm er drei Mädchen wahr, die eilig hinter dem nächsten Stand verschwanden. Der Händler aber schaute Lille entrüstet an und murrte: „Pass doch auf! Die kann ich so nicht mehr verkaufen!“

„Ich wurde angerempelt von …“ Seine Schwester drehte sich nach beiden Seiten um, konnte die Rempler jedoch nicht entdecken.

„Ich sehe hier nur dich! Und wer bezahlt mir meinen Schaden?“, erwiderte der Seifenverkäufer.

„Schön!“, fauchte sie, „dann nehme ich sie!“

Lilles Wangen röteten sich und sie schaute sich suchend um, während sie in der Geldtasche kramte.

„Ich kann das auch für dich zahlen, Lille. Kein Problem, das mache ich gern“, meinte Aldan, doch das wehrte sie ab. Lias nahm ihr den Geldbeutel aus der Hand und bezahlte den Händler, der sie noch immer missbilligend ansah, seine Hände in die Seiten gestemmt.

„Mach dir nichts draus“, versuchte er, sie zu trösten. „Du gibst so gut wie nie Geld für dich aus, da wollte das Schicksal dir etwas Gutes tun.“

Er sah in dieselbe Richtung, in die Lille nun böse starrte. „Ach, sieh an“, murmelte er, „das waren ja die hübsche kleine Fürstin und ihr Gefolge, oder?“

Jetzt erkannten sie auch die beiden anderen.

„Na warte. Für die ist das vielleicht witzig, aber für mich ganz und gar nicht“, zischte Lille und wollte in Richtung der drei Mädchen davonlaufen, doch Lias hielt sie fest.

„Mach keinen Aufstand, Lille. Falls du sie auffliegen lässt, wimmelt es hier gleich von Leibwächtern. Was meinst du, wie die das finden, wenn du die Tochter des Fürsten auf offener Straße angehst?“

„Auffliegen?“, wunderte sich Lille. Ihre Augen weiteten sich. „Die haben sich davongeschlichen, deshalb tragen sie auch keine auffälligen Kleider und Frisuren! Und es erklärt, warum Fürstin Renas Schatten Skara nicht zu sehen ist.“

Die drei Mädchen bogen in die nächste Gasse ein und verschwanden damit aus ihrem Sichtfeld. Lille seufzte und schimpfte vor sich hin, aber Lias war froh, dass sie die Fürstentochter nicht angesprochen hatte. Bestimmt war es Fürstin Rena nicht bewusst gewesen, dass sie seine Schwester geschubst hatte und diese daraufhin die Seife hatte kaufen müssen. In der Stadt hielt man die Thronfolgerin für ein eingebildetes, verwöhntes Gör, doch Lias glaubte, sie war eher unbedacht, aber nicht böswillig. Sein Vater hatte einmal angedeutet, dass der Fürst sehr viel von ihr verlangte und sie damit überforderte. Zudem war ihre Mutter verstorben, als Rena noch sehr klein war und ihr Bruder lebte seit einigen Jahren im Königreich seines Onkels. Bestimmt war ihr Leben angenehm, aber ziemlich einsam. Lias hätte nicht mit ihr tauschen wollen.

Gedankenverloren folgte er Aldan und seiner Schwester. An Montes Stand angekommen kaufte das Mädchen einen stattlichen Fisch und sein Freund versuchte, seinen Vater in ein Gespräch zu verwickeln. Worum ging es dabei?

Lias hatte keine Ahnung und hörte aufmerksam zu.

„Ja, ich war bei Jako. Aber warum, das geht euch nichts an!“, zischte Monte, legte ein paar Krebse zurecht und wischte seine Hände an der speckigen Schürze ab, die er trug.

„Monte, du hast erwähnt, dass eine Familie tot im Bett lag! Das konnte ich nicht überhören und du hast es ganz gewiss nicht vergessen! Was ist mit ihnen passiert?“, fragte Lille, blickte ihm fest in die Augen und versuchte, ihn mit ihrem Blick zum Weiterreden zu zwingen. „Sind die etwa er-“

„Sie sind gestorben“, unterbrach der Fischer sie. „Manchmal kommt der Tod überraschend und das ist schrecklich, denn man fragt sich, warum. Aber es passiert nun mal. Nur Questa kennt den Grund. Wenn die armen Menschen verbrannt wurden, dann können Körper und Seele in den Himmel aufsteigen und sich bei unserer Göttin wieder vereinen. Mehr habe ich nicht zu sagen. Und du solltest nachts besser im Bett liegen. Es war eine Angelegenheit zwischen deinem Vater und mir, nicht dir.“ Er sah Lille unter buschigen Brauen streng an, aber keiner von beiden blickte weg.

„Vater, wieso weckt man dann Jako? Das heißt, dass es um einen Mord geht“, versuchte es Aldan noch einmal.

Monte machte eine ruckartige Geste und blickte sich nach beiden Seiten um. „Schluss jetzt! Es reicht! Falls hier jemand etwas aufschnappt, bekommt er ja Angst, wenn du so einen Blödsinn daherredest.“

Der Fischer war zwar kein Freund von unnötigem Geplauder, aber heute Morgen war er alles andere als wortkarg gewesen. Doch nun schüttelte er den Kopf, als sein Sohn noch mal ansetzte.

Sie brauchten eine ganze Weile, um aus dem Gedränge zwischen den Ständen zu gelangen. Lias hatte seine Verwunderung zurückgehalten, nun konnte er sie nicht länger zähmen.

„Erklärt ihr mir jetzt endlich, worum es ging? Ich habe nur die Hälfte verstanden von dem, was ihr da erzählt habt.“

Lille seufzte und Aldan und sie berichteten von dem nächtlichen Treffen zwischen ihren Vätern.

„Dann lass uns doch einfach mit Vater reden!“ Lias war stehen geblieben und strich sich das braune Haar aus der Stirn.

Lille war dagegen. „Er wird uns ganz gewiss nichts sagen! Außerdem fehlt es der Stadtwache momentan an Männern, sodass er ständig arbeiten muss. Vermutlich kommt er heute Nacht nur kurz nach Hause.“

„Wir können es uns ja noch überlegen“, gab er zurück, während sie die Stufen hinunterstiegen, die vom Markt ins Hafenviertel führten, wo sie wohnten.

Sie brachten den gekauften Fisch nach Hause und machten sich auf den Weg zu Aldan. Dort hatten sie eher etwas Ruhe als bei ihnen, wo ihre Geschwister ständig mithörten.

Als sie durch die Gluthitze der Mittagszeit liefen, bereute Lias diese Idee aber schon. Die weißlich gelben Steine, aus denen die Häuser Sundeas gebaut waren und die die Straßen pflasterten, warfen das Sonnenlicht zurück, sodass er die Augen zusammenkneifen musste. Oleanderbüsche und Rosen, die sich in der ausgezehrten Erde, die jemand aufgeschüttet hatte, festkrallten, spendeten nur einen mageren Schatten. Sie liefen so nah an den Häuserwänden entlang wie möglich, um ihn auszunutzen. Seine Schuhe wirbelten Staubwölkchen auf.

Es war einfach unerträglich heiß und trocken im Moment. Im Sommer schossen die Temperaturen stets in die Höhe, aber schon das Frühjahr war ungewöhnlich warm gewesen und alles sehnte sich nach Regen.

Als sie fast vor Aldans Haustür standen, blieb ihr Freund stehen.

„Was ist los?“, fragte er ihn und Aldan setzte sich auf eine Treppe.

„Schon wieder ein Stein in meinem Schuh“, brummelte der und zog ihn aus. Neben der Treppe wuchs eine mächtige Dattelpalme, die etwas Schatten bot.

„Wirst du mir auch verraten, warum ich stillschweigen muss?“ Lias zuckte zusammen. Das war Monte, dessen Stimme er da hörte. Warum war er schon zu Hause? Er war doch eben noch auf dem Markt gewesen. Und worüber durfte er kein Wort sagen?

Aldan richtete sich langsam auf, den Schuh in der Hand.

„Ich wünschte, ich könnte es, aber … besser nicht, Monte“, antwortete eine müde Stimme. Das war sein Vater!

„Verzeih mir, Freund, das wird sich nicht mehr lange geheim halten lassen. Es ist schon das zweite Haus, in dem jemand einfach so stirbt, aber wie du meinst. Ich akzeptiere, dass du mir nichts Genaueres erzählen willst oder kannst, und ich werde dich auch weiter informieren, falls ich etwas mitbekomme. Wenn du irgendwann doch reden willst … wir sind doch schon lange befreundet, Jako.“ Das war wieder Monte gewesen.

Lille schaute ihn verwundert an, aber er presste den Zeigefinger an die Lippen, als sie den Mund öffnete. Der Fischer sprach weiter: „Deine Kinder und Aldan waren heute Mittag bei mir, um über …“ Er hörte den Rest des Satzes nicht mehr, weil Monte die Stimme senkte, dachte ihn sich aber. „Sie sind neugierig. Und hartnäckig. Ich finde, du solltest das wissen.“

Sein Vater seufzte. Die beiden sprachen so leise weiter, dass er nichts mehr verstehen konnte. Aldan hatte seinen Schuh wieder zugeschnürt und sich vorsichtig von der Treppe erhoben, nun scheuchte er sie einige Schritte die Gasse hinab, wo sie hastig einem Reiter auswichen. Dann bogen sie um eine Ecke und pressten sich an die Wand eines Hauses. Lias Gedanken wirbelten umher. Wenn sich ihr Vater, der Kommandant der Stadtwache, so sorgte, hatte das einen Grund. Wurden in Sundea tatsächlich Menschen umgebracht?

„Was war –“, begann Lille, doch Lias schubste sie weiter. Schritte näherten sich. Wenn ihr Vater sie hier traf, würde er bestimmt Fragen stellen.

„Los!“, zischte Aldan und blieb stehen, aber Lille und er betraten hastig eine Taverne, die um diese Zeit noch nicht für Gäste geöffnet hatte, in deren offener Tür sich aber ein paar Kisten Gemüse stapelten. Sie kauerten sich eilig dahinter. Hoffentlich kommt der Wirt nicht gleich um die Ecke gebogen und entdeckt uns, dachte Lias. Jemand rannte ihren Freund fast über den Haufen und er erkannte sofort, wer das war.

„Entschuldigt bitte … Aldan? Was …?“ Jako schaute ihn an und kniff die Augen zusammen. Sein Vater stierte zurück in die Gasse, aus der er eingebogen war. Lille zog ihn tiefer hinter die Kiste, aber Lias las seinem Vater die Gedanken von der gerunzelten Stirn ab. Er blickte zur Taverne und Lias machte sich noch kleiner.

„Stein!“, stieß Aldan hervor. „In meinem Schuh war ein … ein Stein. Den musste ich rausholen. Tat tierisch weh.“

Jakos Augen wurden schmal, aber er blickte wieder zu Aldan. „Hier an der Wand konnte ich mich abstützen. Und wo kommt Ihr her?“, fragte sein Freund und wischte sich mit der Hand über die Stirn.

„Ich war bei deinem Vater“, antwortete der Kommandant langsam.

„Da wird er sich gefreut haben. Erst gestern hat er erwähnt, er müsse Euch mal wieder besuchen. Da seid Ihr ihm wohl zuvorgekommen.“ Jako nickte verhalten und Aldan plapperte weiter. Der Arme, das Lügen lag ihm überhaupt nicht, dafür war er zu ehrlich und offen.

„Dann werde ich jetzt mal nach meinem alten Herrn sehen und ihm helfen. Wir wollten heute Abend an unserem neuen Schiff arbeiten. Es sieht schon gut aus, ein bisschen größer als die Carissima und hoffentlich wendiger. Die Carissima lässt sich nicht mehr so gut lenken, wir sind auf ein Riff aufgelaufen und seitdem klemmt das Ruder immer wieder. Nicht, dass wir mal in die Wirbelwasser geraten.“

Was redete sein Freund denn da?

„Ich muss los! Grüßt Lille von mir. Und Lias natürlich.“

Der Junge drehte sich auf dem Absatz um und lief seinem Zuhause entgegen. Lias sah, wie er sich beherrschen musste, um nicht loszurennen. Jako schüttelte den Kopf und ließ seinen Blick noch einmal schweifen. Er verharrte kurz auf der Taverne, dann setzte ihr Vater sich in Bewegung und Lias atmete auf.

RENA

„Das gibt es doch nicht! In Questas Namen, geh schon auf, du dummes Ding!“, zischte Rena und rüttelte energisch an dem Tor in der Mauer des Burggartens, aber es rührte sich nicht. Irgendwer musste es geschlossen haben, während sie auf dem Markt gewesen waren.

Wütend strich die Fürstentochter sich eine verschwitzte Locke aus der Stirn. Es wäre so demütigend, durch das Haupttor in die Burg zurückzumüssen, denn dann würde sich ihr kleiner Ausflug garantiert nicht verbergen lassen. Sie gab dem Tor einen Tritt, da schob Marla sie beiseite und versuchte sich daran. Rena kniff die Lippen zusammen und sah schon Skaras missbilligend erhobene Brauen vor ihrem inneren Auge, oder noch schlimmer – den enttäuschten Blick ihres Vaters.

„Lass mich mal“, murmelte Lanna und probierte nun, das Tor zu sich zu ziehen und gleichzeitig zu öffnen.

„Das bringt doch nichts“, gab Rena ungehalten zurück, da gab das Tor seinen Widerstand auf und öffnete sich mit einem hässlichen Quietschen. Eilig schob Rena ihre Cousine in den Garten und folgte ihr. Marla schlüpfte hinter ihnen durch das Tor und zog es zu. Sie blickten sich vorsichtig um, aber hier war keine Menschenseele.

„Und nun? Ich denke, wir sollten nicht in der Nähe des Tores gesehen werden, denn Skara stellt bestimmt gerade die Burg auf den Kopf“, flüsterte Lanna.

„Wir könnten es unten bei der kleinen Terrasse versuchen. Ihr wisst schon, die am Meer. Die sieht man von oben nicht und ich kann mir vorstellen, dort war noch niemand“, schlug Marla vor.

Rena nickte stumm. Die Fürstentochter schaute nach rechts und links, bevor sie und ihre Freundinnen über den Weg huschten. Sie mieden die belebteren Teile des Gartens und gelangten an eine steile ausgetretene Treppe. Rena lächelte. Fast geschafft!

Sie stieg die Stufen mit der Eleganz einer Tänzerin hinab und sah schon die Wellen, die gegen den unteren Teil der Terrasse schlugen. Immer wieder spritzten ein paar Tropfen Meerwasser auf den gelblichen Stein, aus dem die Burg und die Terrasse herausgeschlagen waren. Wie das Nest einer Seemöwe klebte die Burg Pantherra über dem Wasser.

Rena erlaubte sich ein Lächeln, als sie einen heftigen Schlag im Rücken spürte. Sie verfehlte die nächste Stufe und stolperte ein Stück die Treppe hinab. Marla schrie. Rena versuchte, ihr Gleichgewicht wiederzugewinnen. Ihr Knie knallte hart auf eine Stufe und ein stechender Schmerz durchzuckte es. Verzweifelt krallten sich die Finger ihrer rechten Hand an eine vorstehende Felsnase, um den Sturz zu bremsen. Sie fiel nicht weiter. Zitternd atmete sie ein und bewegte vorsichtig ihre Finger, nachdem sie sicher war, dass sie ihr Gleichgewicht wieder gefunden hatte.

„Es tut mir so leid, Rena! Marla ist an mich gekommen und dann bin ich gestolpert und … geht es dir gut?“

„Ich bin doch kaum an dich gestoßen, Lanna, was –“, empörte sich Marla, da unterbrach Rena ihren Redeschwall.

„Alles gut! Kein Grund zur Sorge.“ Vorsichtig richtete sie sich auf. Ihr rechtes Knie brannte unangenehm, aber es ging. Ihr Kleid war zum Glück heil geblieben, nur ihre Handfläche blutete ein wenig. „Es ist nichts Schlimmeres passiert!“, meinte sie, selbst etwas verwundert darüber, denn der Stoß war heftig gewesen. Lanna entschuldigte sich noch mal und hielt beim restlichen Abstieg viel Abstand zu Rena.

Diese tauchte unten angekommen ihre Hand ins Meerwasser. Es brannte in der Wunde, aber Rena spürte es kaum. Sie lächelte ihren Freundinnen beruhigend zu und um sie abzulenken, sagte sie: „Jetzt bin ich mal gespannt, was die anderen sagen, wenn sie uns finden.“

Marla lachte. „Skara bestimmt nichts Nettes. Was erzählen wir ihr, wenn sie uns fragt, wo wir waren? Dass wir hier unten geplaudert haben?“

Lanna nickte nur. Sie war immer noch etwas zittrig und setzte sich auf eine der Steinbänke.

„Ich mache das schon. Sie sollen sich nicht zu viel Zeit lassen, schließlich ist heute Abend ein großes Bankett geplant und davor möchte ich noch ein Bad nehmen.“ Rena löste ihren Zopf und ließ Floras Schultertuch unter ein paar Steinbrocken verschwinden. Sie schüttelte ihre kastanienbraunen Locken und lächelte die anderen beiden Mädchen an. „Aha, da oben sehe ich etwas. Wenn das nicht Skara ist.“

Die Leibwächterin hatte sie nach wenigen Minuten erreicht. „Wir haben Euch gesucht. Keiner hatte eine Ahnung, wo Ihr abgeblieben seid. Romy meinte, Ihr könntet außerhalb der Burg sein. Zum Glück hatte sie unrecht mit ihrer Vermutung.“

„Ich bin die Tochter des Fürsten von Sundea und heute volljährig geworden. Ich kann gehen, wohin ich möchte und muss meiner Wache nicht sagen, wenn ich mich irgendwo in der Burg aufhalte.“

Und Romy sollte besser ihr vorlautes Mundwerk halten. Wollte sie, dass ich erwischt werde?, setzte sie in Gedanken hinzu.

Skara öffnete den Mund zu einer Erwiderung, doch dann hielt sie inne.

„Marla, Lanna, wir gehen wieder hinauf in die Burg! Wir waren lang genug hier unten.“

Rena stellte sich direkt vor ihre Leibwächterin, die nach wenigen Sekunden den Weg nach oben freigab. Ihre Freundinnen beeilten sich, ihr zu folgen. Skara ging ihnen hinterher.

„Ich bleibe an Eurer Seite, kleine Fürstin.“

Rena hasst diesen Spitznamen, denn sie wusste genau, was Skara ihr damit sagen wollte: „Du bist ein verwöhntes, ungehorsames Kind, für das Ältere und Klügere Entscheidungen treffen sollten.“ Sie ignorierte die Äußerung ihrer Leibwächterin aber genauso wie das Stechen in ihrem Knie.

In der Burg angekommen, ging sie direkt in ihre Gemächer, wo Flora sie empfing und ihr ein Bad einließ. Als sie begann, über ihre Sorgen wegen Renas Abwesenheit zu lamentieren, schnitt sie ihr das Wort ab, schickte die Zofe aus dem Zimmer und ließ sich in das wohltuende Wasser des Bades gleiten, bis sie komplett untergetaucht war.

Rena liebte das Wasser. Früher war sie oft mit Rion schwimmen gewesen, aber seit er weg war, tat sie das nicht mehr. Es schickte sich für eine fast erwachsene Fürstentochter wohl auch nicht. Sie tauchte auf und holte Luft.

Rion.

Sie hatte ihn schon lange nicht mehr gesehen. Wie es ihm wohl ging? Sein Geschenk hatte sie auch noch nicht ausgepackt. Rena stieg aus der Wanne, wickelte sich in ein Handtuch und nahm das Päckchen vom Tisch mit ihren Geburtstagsgaben.

Als sie den Stoff aufgewickelt hatte, kam ein kleiner, aus nachtschwarzem Stein gefertigter Panther zum Vorschein. Sein Maul war aufgerissen, als würde die Figur gleich zubeißen. Die Raubkatze war das Wappentier ihres Hauses und sie selbst hatte Rion oft kleiner Panther genannt, weil er ebenso schwarze Haare hatte wie ein Pantherfell. Sie wussten beide, dass ihr Vater ihre Briefe las, weshalb sie sich nur Belanglosigkeiten schrieben, aber ihr jüngerer Bruder hatte einen Weg gefunden, ihr ohne Worte mitzuteilen, dass er sie nicht vergessen hatte.

FUCHS

Fröhlich wehte die Musik zwischen den Zelten hin und her. Kinder sprangen um sie herum und quietschten vor Lachen. Der letzte Abend des Treffens der vier Stämme Ascanas war fast vorbei und Fuchs wurde ein wenig wehmütig. Er liebte die Zusammenkünfte, weil er Ellian wiedersah und mit seinen Freunden zusammensein konnte. Aber er genoss sie auch wegen der ausgelassenen Stimmung und den Neuigkeiten, die so eifrig getauscht wurden wie Lebensmittel, bestickte Kleidung und duftende Gewürze auf dem Markt. Andererseits erntete er bei den Treffen mehr irritierte oder abweisende Blicke als in der Oase. Auch viele Oasier wollten nichts mit ihm zu tun haben, aber sie waren an seinen Anblick gewöhnt und wussten, bei einer abfälligen Bemerkung würde Suna zurückgiften. Ihre spitze Zunge war berüchtigt.

Er seufzte und sog den Geruch von gegrilltem Fleisch und angeschwemmten Algen tief ein.

Der letzte Abend war wie so oft an ihnen vorbeigeflogen und der Krug Wein, den Fuchs geholt hatte, war bereits leer. Suna erhob sich und schüttelte den Sand von ihrer Hose. Kili, ihr Falke, klammerte sich Halt suchend in das Schulterpolster und sein Kopf ruckte. Die Freunde waren unter den letzten Zuschauern, die das Fest verließen.

Die Wege zwischen den Zelten waren verstopft, sodass sie kaum vorankamen. Fuchs schlug vor, am Meer entlangzugehen. Der Weg war zwar ein gutes Stück länger, aber aus diesem Grund waren dort fast keine Leute unterwegs. Einträchtig stapften die drei am Wasser weiter.

Fuchs blickte gedankenverloren in die Ferne. Irgendwo am Horizont mussten die gewaltigen Wasserstrudel sein, die mitten im Meer entstanden, wo sich das Salzwasser der See und das Süßwasser eines Flusses namens Dea trafen. An diesem Fluss lag eine Stadt, die Sundea genannt wurde, auf einer weit größeren Insel als Ascana.

Die Ascaner mochten die Bewohner dieser Stadt und des zugehörigen Fürstentums nicht, obwohl Fuchs außer Beltan niemanden kannte, der dort gewesen war. Beltan, der Anführer der Oasier, war in seiner Jugend auf Sundea gestrandet. Er hatte von den Sundeern als grausames, kaltherziges Volk berichtet. Da der Sog der Wasserwirbel eine Schiffsreise dorthin sehr gefährlich machte und die Ascaner lieber unter sich blieben, war es gut, dass ihre Insel so einsam und geschützt im Meer lag. Fuchs fragte sich dennoch manchmal, ob die Menschen dort drüben auch rote Haare hatten wie er.

Seinen Gedanken nachhängend ging er am Saum des Meeres entlang. Auch Suna und Ellian schwiegen schon eine Weile. Nur vereinzelte, fast erloschene Fackeln glommen noch hinter ihnen, als er ein kleines Feuer zu ihrer Rechten wahrnahm und gedämpfte Stimmen hörte.

„Nein! Das können wir nicht tun! Das wäre Mord!“ Der Ausruf einer Frau peitschte durch die Nachtluft.

Im selben Augenblick saß er im Sand, ohne zu wissen, wie er dort hingekommen war. Ellian blickte ihn beschwörend an und zog Suna noch tiefer herunter, die genauso wie er auf dem Boden gelandet war und sich verärgert aufrichten wollte. Kili stieß an ihrer Stelle einen klagenden, leisen Schrei aus, blieb aber sitzen. Ellian presste den Finger auf die Lippen und krabbelte in Windeseile hinter einen Sandhügel. Suna und Fuchs folgten ihm, so eilig sie konnten. Seine Freundin hielt Kili, der wieder protestieren wollte, den Schnabel zu.

„Das war nur ein Vogel. An der Küste gibt es eben Vögel“, hörte Fuchs eine männliche Stimme sagen. Der Schatten einer anderen Person zeichnete sich vor dem Lichtschein des beinahe erloschenen Feuers ab. Sie wandte sich in Richtung der kleinen Sandhügel und machte ein paar Schritte darauf zu.

„Semon, wenn das deine Taktik ist, um Gegenstimmen nicht zu Wort kommen zu lassen, gehe ich!“, war eine energische Frauenstimme zu hören. Ellians Augen weiteten sich. Kannte er die Stimme etwa?

Derjenige, der Semon genannt worden war, drehte sich um und ging zum Feuer zurück.

„Noch mal: Ich bin dagegen! Das kann nicht die einzige Möglichkeit sein.“ Die Stimme der Frau klang bestimmt, aber Fuchs hörte auch die Verzweiflung, die sie zu verstecken versuchte.

„Liebste Cariena, und welche Lösung? Ich bin zu gern bereit, einen anderen Weg zu gehen. Denkt nicht, mich ließe das kalt. Aber unser Volk leidet. So kann es nicht weitergehen.“ Das war wieder die samtweiche Männerstimme, die er als Erstes gehört hatte.

Suna hauchte Fuchs einen Namen ins Ohr. „Beltan!“

Er nickte. Der, der da sprach, war Beltan, der Anführer ihres Stammes.