Die Tage der Anna Madrigal - Armistead Maupin - E-Book

Die Tage der Anna Madrigal E-Book

Armistead Maupin

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Beschreibung

Im Mittelpunkt des neunten und letzten Bandes der «Stadtgeschichten» steht Anna Madrigal, die legendäre Transgender-Dame und Hausherrin der Barbary Lane 28. Madrigal ist zweiundneunzig Jahre alt und wünscht sich nichts mehr als einen ladyliken Abgang. Mit ihrem früheren Mieter Brian fährt sie nach Winnemucca, wo Madrigal mit sechzehn Jahren aus dem Puff, der ihr Zuhause war, weggelaufen ist. Auf dieser Reise bringt sie Geheimnisse ans Licht und stellt sich lange verdrängten Konflikten. «Die Tage der Anna Madrigal» ist spannend, lustig, berührend und ein würdiger Abschluss einer traditionsreichen Serie. «Wunderbar … Genauso fesselnd zu lesen und liebenswert wie alle bisherigen Romane.» Booklist

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Seitenzahl: 347

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Armistead Maupin

Die Tage der Anna Madrigal

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Michael Kellner

 

Über dieses Buch

Das Ende eines Sommers. Der Höhepunkt einer Ära. Die letzten Tage eines Lebens.

 

Mit Anna Madrigal hat alles begonnen, mit Anna Madrigal wird es enden. Im Alter von zweiundneunzig Jahren scheint die Transgender-Matriarchin ihren Frieden in San Francisco gefunden zu haben. Die Mitglieder ihrer Wahlfamilie sind auf dem Weg in die jenseitige Landschaft des Burning-Man-Festivals. Shawna will schwanger werden, Michael befürchtet, den Anschluss an die jüngere Generation zu verlieren, und Jake möchte seiner Mrs. Madrigal ein Denkmal setzen. Doch Anna hat ein anderes Ziel vor Augen: Winnemucca, Nevada, wo sie einst aus dem Bordell floh, das sie ihr Zuhause nannte. Mit ihrem früheren Mieter Brian reist sie in das staubige, gequälte Herz ihrer Kindheit, um eine lebenslange Reihe von Geheimnissen und Träumen auszugraben.

 

Ein emotionaler Roadtrip im Westen der Vereinigten Staaten: Auf spannende, lustige und berührende Weise nimmt die Clique aus der Barbary Lane Abschied.

«Das Buch ist ein unvergesslicher, überzeugender Höhepunkt.» Publishers Weekly

Vita

Armistead Maupin, geboren 1944 in Washington, studierte Literatur an der University of North Carolina und arbeitete als Reporter für eine Nachrichtenagentur. Er schrieb für Andy Warhols Zeitschrift Interview, die New York Times und die Los Angeles Times. Seine Geschichten aus San Francisco, die berühmten «Tales of the City», verfasste er über fast zwei Jahrzehnte als täglichen Fortsetzungsroman für den San Francisco Chronicle. Maupin lebt mittlerweile in Großbritannien.

Impressum

Die englische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel «The Days of Anna Madrigal» bei HarperCollins Publishers, New York.

Die vorliegende deutsche Fassung von «Die Tage der Anna Madrigal» wurde für diese Neuausgabe sprachlich durchgesehen. Im Zuge dessen waren einzelne zum Zeitpunkt der ursprünglichen Übersetzung gewählte Begrifflichkeiten zu ändern, da sie den Differenzierungen des Originals keine Rechenschaft trugen. Weitere damals noch übliche Formulierungen des englischen Originaltexts wurden aus Gründen der Werktreue äquivalent übersetzt beibehalten.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2025

Copyright © 2017 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«The Days of Anna Madrigal» Copyright © 2014 by Literary Bent, LLC

Redaktion Elisabeth Mahler und Lisa Kuppler

Liedtext «Smoke Gets in Your Eyes» von Otto Harbach

Liedtext «San Francisco» von Gus Kahn

Liedtext «Did I Remember» von Harold Adamson

Covergestaltung FAVORITBUERO, München

Coverabbildung Shutterstock

ISBN 978-3-644-02454-0

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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Natürlich für Olympia,

und wieder einmal für Chris

The way to love anything is to realize that it may be lost.

 

Etwas zu lieben, heißt zu verstehen, dass man es verlieren kann.

G.K. Chesterton

Some people drink to forget.

Personally, I smoke to remember.

 

Manche Menschen trinken, um zu vergessen.

Ich dagegen rauche, um mich zu erinnern.

Anna Madrigal

Eine Dame tritt ab

Es war ein ungewöhnlich warmer Sommer, aber die über der East Bay brütende Hitze lockte bereits fahle Nebelfinger in die Stadt. Anna spürte es auf ihrer Haut, spürte die kühle Liebkosung, die sie «Kerzenwetter» nannte. Seit ihrer Zeit als Hausbesitzerin in Russian Hill hatte sie keinen Kamin mehr gehabt, aber für sie brachte auch der richtige Einsatz von Kerzenlicht all das mit, was die archaische Behaglichkeit eines Lagerfeuers ausmachte.

Sie griff nach dem lila Stabfeuerzeug aus Plastik, das auf der Anrichte im Wohnzimmer lag. Allerdings machten ihre Beine nicht richtig mit, und sie suchte einen Augenblick Halt, stand albern verkrümmt da, die Hand auf der Hüfte wie Joan Crawford als Gangsterbraut in den Vierzigern. Das Ding in ihrer zittrigen alten Hand sah einer Pistole tatsächlich beängstigend ähnlich, inklusive Abzug und Lauf.

Denk nicht an eine Pistole. Stell dir lieber einen Zauberstab vor.

Sie zielte mit dem Anzünder auf den Docht der Kerze, einer stattlichen Säule, deren Rand vom Gebrauch schon hübsch wellig war, konnte sich jedoch nicht daran erinnern, sie schon einmal gesehen zu haben. Sie fragte sich, als optimistische Möglichkeit, ob ihr Mitbewohner Jake sie in seinem Zimmer benutzt hatte.

«Stopp!» Jake hatte über den Rand seiner Zaubertafel hinweg gesehen, was sie vorhatte, und sprang vom Sofa auf. «Die da nicht!» Die Bestürzung in seiner Stimme ließ an jemanden denken, der in letzter Minute vor der Gaskammer auftaucht und die Aussetzung der Exekution durch den Gouverneur verkündet.

Anna gehorchte auf der Stelle und ließ den Arm mit dem Feuerzeug sinken. «Tut mir leid, mein Lieber. Ist die für jemand Speziellen?» Das war ein bisschen bösartig, denn Jake war leicht in Verlegenheit zu bringen, aber ihr gefiel die Vorstellung, dass er vielleicht jemanden getroffen hatte, der ihm schummriges Kerzenlicht wert war.

«Sie ist für dich», sagte er sanft und beschämte sie mit seiner würdevollen Teddybärart. «Habe sie heute Morgen bei Pottery Barn gekauft.»

«Aha, wie aufmerksam.» Dieser angeschmolzene Rand verwirrte sie immer noch.

«Ich kann noch mehr besorgen, wenn sie dir gefällt.»

«Ja … doch.» Sie hoffte, dass es ehrlich klang; was konnte man über eine schlichte weiße Kerze schon sagen? «Und warum darf ich sie nicht anzünden?»

Er nahm die schlanke Säule in die Hände, fummelte an der Unterseite herum und brachte sie zum Leuchten – als stünde eine Kerze im Innern. «Woalla!», krähte er.

«Meine Güte.» Mehr fiel ihr dazu nicht ein. Gab es nichts auf dem großen weiten Erdenrund, das dieses Kind nicht durch etwas rätselhaft Elektronisches ersetzen konnte?

«Man muss sie nicht anzünden», sagte er. «Und man muss sie nicht auspusten.»

Anna riss amüsiert die Augen auf. «Und man kann damit das Haus nicht in Brand stecken.»

«Das auch, genau.» Jake lächelte, ohne etwas von seiner elternhaften Entschlossenheit zu verlieren – eine echte Leistung, wenn man bedachte, dass er fast sechzig Jahre jünger war als sie. Wie könnte sie ihm ernsthaft vorwerfen, dass er sich deswegen Sorgen machte? Schließlich war er im letzten Winter, kurz nach dem ersten Kälteeinbruch, eines Nachmittags aus dem Fitnessstudio nach Hause gekommen und hatte sie schlafend in ihrem Stuhl gefunden, während die Reste einer violetten Kerze über den Rand des Beistelltischchens tropften wie eine Uhr von Dalí. Seither musste sie sich ständig anhören, was alles hätte passieren können.

«Und das ist richtig cool.» Er strahlte sie beharrlich an. «Es gibt einen Timer! Den kannst du so einstellen, dass er sich ein- und ausschaltet, wann immer du willst. Spitzenmäßig – was?»

Sie hatte sein ständiges «spitzenmäßig» etwas über, ließ es ihm aber durchgehen; sein Eifer bei dieser Aktion rührte sie. Sie vermutete nichts als Freundlichkeit, bis sie seinen Blick bemerkte. «Also das ist dann das Ende des Kerzenlichts?»

Er zögerte. «Na ja … wenn du es so formulieren willst.»

«Wie sollte ich es deiner Meinung nach denn formulieren?»

«Himmel, Anna … das Ende des Kerzenlichts? Du sollst einfach nichts mehr anzünden, wenn ich nicht hier bin, das ist alles.»

«Ich verstehe», sagte sie gefasst und meinte es auch so; ein paar ihrer Spielsachen bedurften jetzt eben elterlicher Aufsicht. Ihre Tage waren inzwischen voller kleiner Gesten der Kapitulation – warum sich darüber aufregen? Man konnte das als Verlust sehen oder aber als Vereinfachung. Ihre Tochter Mona hätte es als Vertrauensbeweis bezeichnet, dieses zenartige Loslassen von geliebten Beschäftigungen. Anna zog es vor, darin ein «Abtreten wie eine Dame» zu sehen.

«Ich habe der Flamme Lebewohl gesagt», deklamierte sie und hob die Hand mit einer wellenartigen theatralischen Geste, in der Hoffnung, damit jeglichen Anschein von echter Melancholie zu überspielen. «Noch ein Gepäckstück weniger für die Reise.»

Er seufzte erleichtert. «Danke, aber … du musst ‹der Flamme nicht Lebewohl sagen› oder was auch immer. In deinem Leben wird es noch eine Menge Flammen geben. Glaub mir.»

Das klang so merkwürdig absichtsvoll, dass sie ganz betroffen war. «Was in aller Welt soll das denn heißen?»

«Nichts.» Jake lief unter seinen Stoppeln rot an, offenbar war es ihm peinlich, weil er mehr gesagt hatte, als er eigentlich hatte sagen wollen. Der Junge war seinen Gefühlen wie immer hilflos ausgeliefert und reagierte wie ein Chamäleon. «Das heißt gar nichts», sagte er.

«Ich erwarte keinen Scheiterhaufen», sagte sie.

Er schaute sie finster an. «Das ist nicht lustig.»

«Aber was heißt denn dann ‹eine Menge Flammen›?»

«Das ist einfach – du weißt schon, so eine metaphorische Redensart.»

Sie wusste, dass Jake viele Qualitäten hatte, aber ein Meister der Metaphorik war er bestimmt nicht.

 

Wie üblich lasen sie im Wohnzimmer, bis es Zeit war, ins Bett zu gehen. Anna hatte einen alten Freund aus ihrer Kindheit wiederentdeckt: Richard Halliburton’s Book of Marvels. Noch immer war es von geradezu biblischen Ausmaßen; als Kind musste es sie überwältigt haben. Sie blätterte die vergilbten Seiten langsam um, ließ düstere Schwarz-Weiß-Fotos von Machu Picchu, dem Taj Mahal und einem Luftschiff an sich vorüberziehen, das albernerweise an der Spitze des Empire State Building festgebunden war. Die Bebilderung hatte sie nie beeindruckt, aber die rasante Prosa des Autors hatte das mehr als wettgemacht. Seine Beschreibung der Iguatzú-Fälle war selbst ein Wasserfall, eine Sturzflut von Nebensätzen, die sich in einem weißen Gischtnebel über die Seiten ergossen. Mr. Halliburton war bei all seiner Prahlerei doch auch so etwas wie eine Queen gewesen, und vielleicht hatte Anna auf diese unterschwellige Tatsache reagiert, lange bevor sie ihre ganz eigene Art von Transgender-Adel herausgebildet hatte.

«Was liest du?», fragte Jake und hob den Blick von seiner Zaubertafel.

«Halliburton.»

Er verzog das Gesicht. «Dick Cheneys Firma?»

«Nein.» Es schüttelte sie bei dem Gedanken, dass dieser schreckliche kleine Mann etwas mit ihrer geliebten alten Schwarte zu tun haben könnte. «Der Abenteurer. Richard Halliburton.»

Von Jake kam keine Reaktion.

«Du weißt doch – der Mann, der sich selbst als Schiff bezeichnet hat, um durch den Panamakanal schwimmen zu können?»

Er schüttelte den Kopf. «Nie gehört.»

«Er war sehr attraktiv.» Sie starrte auf das Bild eines braungebrannten Blonden, der rittlings auf einem Kamel saß. «Er ist mit nicht einmal vierzig gestorben.»

«Was ist passiert?»

Anna zuckte mit den Schultern. «Er segelte 1939 auf einer chinesischen Dschunke von Hongkong zur Weltausstellung auf Treasure Island. Sie gerieten auf See in einen Taifun. Man hat sie nie gefunden.»

«Sie?»

«Er hatte einen Kapitän und eine Mannschaft mit an Bord. Und einen Liebhaber, Paul soundso, mit dem zusammen er die Bücher schrieb. Sie haben gemeinsam die ganze Welt bereist. Eine hochromantische Angelegenheit, könnte man sagen. Zwei schwer verliebte Männer, verschollen auf See.»

«Woher weißt du, dass sie schwer verliebt waren?»

«Das kann ich ihnen nur geraten haben.»

«Was meinst du?»

«Na ja, sonst wäre das doch absurd. Eine chinesische Dschunke? Was in aller Welt sollte das Ganze? Es ging nicht mal um einen Weltrekord. Sie waren einfach nur lebenslustig.»

Er warf ihr ein schräges Lächeln zu. «Aber nicht, wenn sie verliebt waren.»

«Es wäre ganz hilfreich», stellte sie fest. «Ich wäre dann wesentlich weniger ungnädig mit ihnen.» In ihrem Alter war es schwierig, nicht wenigstens ein bisschen pikiert über jeden zu sein, der sich für immer verabschiedete.

Jake schwieg ein paar Augenblicke. «Wie lange hast du dieses Ding schon?»

Er meinte das Buch. Sie strich mit der Hand darüber, als würde sie einen alten Hund streicheln. «Seit bevor ich ich wurde», sagte sie. Sie hob das Buch an ihre Nase und sog den Geruch ein, der sich in den Buchdeckeln festgesetzt hatte: Ein Hauch von Rosenwasser vermischt mit dem Desinfektionsmittel Lysol, der wie der Geist aus der Flasche die Blue Moon Lodge heraufbeschwor. Dieses Buch war wie ganz Winnemucca in einer Nussschale, das einzige ihrer Besitztümer, das sie immer noch zuverlässig von hier nach dort befördern konnte.

Ich wette, dein Buch kann so etwas nicht, dachte sie.

Aber sie wusste ja, dass Jake gar kein Buch las. Das verräterische Schnattern seines Lieblingsspiels war ihr nicht fremd, das mit den bösen Vögeln und den Wurfmaschinen. Das Geräusch hatte sie so lange gestört, bis sie verstand, dass es untrennbar zu Jake gehörte, zu seiner endlosen verspielten Neugier. Es gab sogar Zeiten, in denen sie es als beruhigend empfand, wie eine Spieluhr im Kinderzimmer. Es bedeutete, dass Jake zu Hause war.

«Gewinnst du?»

«Eigentlich gewinnt man nicht wirklich», antwortete er.

«Aha», sagte sie und wandte sich wieder ihrem Buch zu.

Nein, dachte sie, man gewinnt nicht. Man kommt nur ans Ende.

 

Notch, ihre alte Katze, die sie vor ein paar Jahren aus dem Tierheim gerettet hatte, kam hereinstolziert und kletterte auf Annas Schoß. Eine Weile dösten sie zusammen vor sich hin. Als sie die Augen wieder öffnete, hatte Jake sich auf dem Sofa ausgestreckt. Das Licht der Zaubertafel schien seine Wange zu vergolden, gab ihm etwas Rembrandthaftes. Jetzt las er offenbar – sie nahm an, seine letzte Neuerwerbung mit dem Titel American Gods, von einem Autor, mit dem er einmal als höchst ergebener Fan getwittert hatte. Er hatte ihr sogar aus dem Buch vorgelesen, eine Passage, in der ein Mann von einer riesigen Vagina verschluckt wird und über die sie beide sich amüsiert hatten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Oder vielleicht, wenn sie es sich genau überlegte, aus den gleichen Gründen.

Das Großartige an Jake war, dass er es selbst schon weit gebracht hatte, bis sie sich endlich trafen. In all den Jahren hatte sie versucht, sich vorzustellen, wer ihr am Ende ihres Lebens wohl Gesellschaft leisten würde. In diesen ängstlichen und/oder hoffnungsvollen Visionen hatte es sowohl Männer als auch Frauen gegeben (eine Ex-Frau, eine Reihe von alten Geliebten und die lange verloren geglaubte Tochter, die sie gefunden und dann wieder verloren hatte), aber auf Jake wäre sie nie gekommen. Er war aus dem Nichts aufgetaucht, wie ein Einhorn aus dem Wald, und dieser junge Mann kannte ihren Weg ebenso gut wie seinen eigenen.

Trotzdem machte sie sich Sorgen um ihn. Er sollte sein eigenes Leben leben, eigene Träume träumen, wer ihm am Ende wohl Gesellschaft leisten würde. Er war inzwischen gut Mitte dreißig und nach seiner Hysterektomie vor zwei Jahren deutlich kontaktfreudiger geworden. Inzwischen brachte er sogar Freundinnen und Freunde mit nach Hause – ein vielfältiges Ensemble, gelinde gesagt, einige mit Gesichtsschmuck und im schrillen Fummel, andere angeberisch mit Elvis-Tolle oder manierlich wie Film-Bibliothekarinnen, Pop-Personae ihrer Innenleben. Sie mochten Jake, das freute sie zu sehen, und ein paar von denen mit männlichen Vornamen blieben sogar über Nacht.

Aber genau darüber machte sie sich Sorgen: ob sie ihn allzu sehr einschränkte.

«Weißt du», sagte sie, «der Sessel in meinem Zimmer ist viel bequemer.»

Er schaute sie abwesend an. «Wie bitte?»

«Ich kann genauso gut in meinem Zimmer lesen.»

«Meinst du – jetzt?»

«Nein, mein Lieber – wenn du Besuch hast. Du sollst deinen Spaß haben können, auch ohne so ein anthropologisches Museumsstück in der Ecke sitzen zu haben.»

Er verdrehte die Augen. «Lies dein Buch.»

«Verstehst du, was ich meine?»

Jake grunzte.

«Und du solltest wissen, dass ich überhaupt nichts höre, wenn du Besuch in deinem Zimmer hast. Diese alten Wände sind dick. Kein Grund zu flüstern. Tu einfach, was du tun willst.»

Jake kniff argwöhnisch die Augen zusammen. «Woher weißt du, dass wir flüstern, wenn du gar nichts hörst?»

«Widersprich deinen Altvorderen nicht», antwortete sie.

 

Bevor sie zu Bett gingen, holte Jake den «Vulkan» hervor, ein neumodisches Gerät, das Anna in jeder Phase seines unsinnigen Betriebs stets zu amüsieren wusste. Es war silberfarben und gedrungen, kegelförmig wie eine Raumkapsel für Mäuse und diente dazu, die mit Wasserdampf freigesetzten Wirkstoffe der Kräuter rauchfrei in einen durchsichtigen Plastikballon abzugeben, der über dem oberen Ende des Kegels tanzte. Sobald diese hin und her pendelnde Blase prall gefüllt war, wurde sie abgenommen und Anna überreicht, die über ein Mundstück, das zu einem Blasinstrument zu gehören schien, vielleicht einem Dudelsack, einen tiefen Zug nahm, aber nur einen. Jake vollzog dieses Ritual jedes Mal mit feierlichem Ernst, deshalb machte Anna immer respektvoll mit, obwohl sie nie das Gefühl loswurde, Teil einer osteuropäischen Clownerei oder eines Studentenstreichs zu sein, bei dem Kondome und eine Flasche Helium zum Einsatz kamen.

Der Vulkan war das Weihnachtsgeschenk einer Freundin, einer früheren Mieterin in ihrem alten Haus in Russian Hill. Mary Ann hatte ihre mittleren Jahre mit einem vermögenden Republikaner als Ehemann an der Ostküste verbracht und war kurz vor ihrem sechzigsten Geburtstag an die Westküste zurückgekehrt, die Taschen voller Scheidungsdollar und mit dem verzweifelten Bedürfnis, wieder einen Fuß in ihre Vergangenheit zu bekommen. Jake musste nur wie nebenbei erwähnen, dass diese abgefahrenen Verdampfer «so etwa verdammte siebenhundert Dollar» kosteten, und schon war Mary Ann auf und davon, um einen zu kaufen. Sie präsentierte ihn in einer geradezu förmlichen Geste auf einem Mittagspicknick, das sie bei Occupy San Francisco organisiert hatte. Allerdings gab es dort keine Steckdose, und so dauerte es noch, bis Anna und Jake das Geschenk richtig zu schätzen lernten.

«Was ist das?» Anna hielt das Mundstück des Ballons fest, als erwarte sie, dass er furzend durchs Zimmer fliegen würde, wenn sie ihn losließ.

«Was ist was?»

«Wie heißt das? Ich mag die Namen.»

«Ach so.» Er griff nach dem goldglänzenden Tütchen des Cannabis-Clubs. Das elegante Design erinnerte an die Verpackungen in einem japanischen Lebensmittelladen. «Blue Dream, blauer Traum», sagte er mit Blick auf das Etikett. «Das Gleiche wie letztes Mal.»

Sie inhalierte das süße rauchlose Nichts und hielt es einen Augenblick in der Lunge. «Allerliebst», sagte sie schließlich. «Ich glaube, das mag ich am liebsten. Das Purpurarsch war ein bisschen harsch.»

Jake kicherte. «Gras.»

«Wie bitte?»

«Purpurgras, nicht Arsch.» Jake nahm ihr den Ballon aus der Hand. «Purpurarsch – igitt!»

Schließlich begriff sie, was er meinte. «Trotzdem, harsches Purpurarsch.»

Jake kicherte wie ein Kind, das gerade gekitzelt wurde.

«Dafür muss es doch eine Wundsalbe geben», fuhr sie fort, um seine Fröhlichkeit weiter anzuheizen, wurde aber vom lustigen Grillenzirpen in seinen Jeans unterbrochen.

Er zerrte das Telefon aus der Tasche und warf einen Blick darauf. «Es ist Brian», stellte er fest.

«Hey, Alter», sagte er ins Handy. «Ja … wo bist du? … genau, der Vulkan … schon klar, was?» Jake lachte und wandte sich Anna zu. «Er sagt, wir sind verhaftet.»

«Sag ihm, dass ich das verdammt noch mal verschrieben bekommen habe», antwortete sie.

Jake reichte ihr grinsend das Telefon. Sie hielt es so, wie sie glaubte, es halten zu müssen, war sich bei diesen Dingen aber nicht mehr sicher. «Mary Ann ist schuld», sagte sie. «Sie wäre gekränkt, wenn wir diesen verrückten neumodischen Apparat nicht benutzen würden.»

«Ach Mensch», sagte er, «du fehlst mir.»

Diese wenigen Worte, die trotz des barschen Tons warm und vertraut wie gebutterter Toast klangen, waren alles, was sie brauchte, um das Bild ihres früheren Mieters wieder vor Augen zu haben: die smaragdgrünen Augen und das schneeweiße Haar, das Grübchen in seinem unrasierten Kinn. «Wo bist du, mein Lieber?», fragte sie.

«Pacifica. Winnie schafft’s nicht mehr.»

Wer?

Er erriet den Grund ihres Schweigens und erklärte: «Der Winnebago. Ich bin auf einem Stellplatz für Wohnmobile.»

«Aha.»

«Unsere Verbindung ist mies. Ich kann dich kaum hören.»

«Oh – na gut. Ich geb dich wieder an Jake.»

«Nein, ich will dich besuchen. Es gibt da jemanden, den ich dir vorstellen möchte.»

Sie wusste, was das üblicherweise bedeutete, aber bei Brian konnte man sich nie sicher sein. War es möglich, dass der Älteste ihrer Brut, der ständig herumvagabundierende Junggeselle von (um Himmels willen, nein) siebenundsechzig Jahren schließlich doch jemanden gefunden hatte, den er einer dauerhaften Nähe für würdig empfand? Als sie das letzte Mal mit ihm telefoniert hatte (da parkte er gerade irgendwo in den Great Smoky Mountains), schien er sich gelassen mit dem Alleinsein abgefunden zu haben. Sie war zu der Überzeugung gekommen, dass die Scheidung von Mary Ann ihm jegliche Form von Zusammenleben vergällt hatte. Mal davon abgesehen, dass Brian aus dieser Ehe eine reizende erwachsene Tochter hatte und Shawna – zumindest sagte er das so – für ihn immer Familie genug gewesen war.

«Ist es etwas Neues?», fragte sie.

«Na ja – ziemlich.» Der Gedanke schien ihn zu amüsieren. «Obwohl, nicht ganz. In gewisser Weise … machen wir da weiter, wo wir mal aufgehört haben.»

«Jemand, den ich gekannt habe?»

«Nein … ehrlich gesagt. Wenn ich’s mir recht überlege.»

«Also jetzt sprichst du in Rätseln.»

Er lachte. «Wir verabreden uns, sobald ich mich hier angeschlossen habe.»

«Angeschlossen?»

«Auf dem Stellplatz! Ich muss los, Mrs. Madrigal.»

Er hatte aufgelegt, also gab sie Jake das Telefon zurück.

«Was gibt’s?»

«Er hat eine Freundin. Er will mit ihr hierherkommen und sie uns vorstellen.» Sie fingerte an den Aufschlägen ihres chinesischen Kimonos herum und grübelte über das Rätsel nach, bevor sie es schließlich laut aussprach: «Es ist jemand, die er von früher kennt. Die ich aber angeblich nicht kenne.»

«Macht dir das Sorgen?»

«Es macht mich stutzig.»

 

Sobald ihr Jake ins Bett geholfen und die Pillen bereitgestellt hatte, fing sie an sich zu fragen, warum Brian Mrs. Madrigal zu ihr gesagt hatte. Es war wie ein Echo aus jener Zeit, als sie noch seine Vermieterin gewesen war, seltsam deplatziert, und sie konnte nur vermuten, dass er aus Rücksicht auf seine zuhörende Freundin auf diese Förmlichkeit zurückgegriffen hatte. Inzwischen duzte sie sich mit allen Mitgliedern ihrer logischen Familie, und der immer kleiner werdende Abstand zwischen den mittleren Lebensjahren und dem Ende beförderte eine gewisse Informalität.

Dabei war sie nie eine Mrs. gewesen. Die Anrede war vielmehr ihre Art, dem neuen Namen einen wohlklingenden, gefälligen Rhythmus zu verleihen: «Mrs. Madrigal». Manchmal erzählte sie allerdings Leuten, die ihre Vergangenheit noch nicht kannten, dass alleinstehende Frauen seltener Opfer von Belästigungen wurden, wenn man sie für verwitwet oder geschieden hielt.

Das stimmte zwar, aber es gab auch noch einen anderen Grund. Sie hatte in den 1960ern nach ihrer Rückkehr aus Dänemark die Anrede nicht nur gewählt, um ein achtbares Vorleben anzudeuten, sondern sie hatte sich damit auch einen schattenhaften Begleiter für ihre beängstigende Reise ins Unbekannte erfunden. Sie hatte sich im Grunde selbst geheiratet und würde so nie mit sich allein sein. «Einen Mr. Madrigal hat es nie gegeben», hatte sie immer zu neuen Mieterinnen und Mietern in der Barbary Lane 28 gesagt, und zwar von Anfang an. Es hatte nur den völlig verängstigten kleinen Andy Ramsey gegeben, den einzigen männlichen Bewohner der Blue Moon Lodge, aber niemand hatte je von ihm als einem «Mr.» gesprochen, am allerwenigsten er selbst.

Komisch, dachte sie, während sie tiefer im Schoß des welkenden Cannabis-Ballons versank. Blue Dream klingt ganz ähnlich wie Blue Moon.

Dann hörte sie irgendwo draußen, jenseits der Fenster, in der gleißenden Fata Morgana eines Wüstennachmittags etwas äußerst Merkwürdiges: ein gackerndes Huhn.

Ein echter Gentleman

Das Huhn hielt sich hinten im Gehege auf, und der Krawall, den es veranstaltete, weckte Andy aus einem Nachmittagsschläfchen. Sie hatten eine Zeitlang kein Geflügel gehabt, und er nahm an, dass Margaret es von dem Hinterwäldler weiter unten an der Straße bekommen hatte, der manchmal mit lebendem Vieh bezahlte. Er fragte sich, ob Violet das Huhn gehört hatte und ob sie beim Abendessen darüber herziehen und wieder Margarets Gefühle verletzen würde. Andy konnte nicht verstehen, warum es weniger achtbar sein sollte, es für eine gute Henne zu machen als für eine Handvoll Dollar.

Er wälzte sich auf die Seite und starrte die Jalousie an. Sie hatte während seines Schläfchens eine bernsteingelbe Farbe angenommen, und die Akazie davor sah aus wie Minze, die in einem Glas Eistee schwamm. Diese heißen Nachmittage machten ihn träge, träumerisch, und er musste an den Baskenjungen mit den rabenschwarzen Locken und den langen Augenwimpern im Drugstore denken.

«Alle mal herhören!»

Die Stimme von Margaret. An die Damen in den diversen Separees gerichtet.

«Wer hat sich mein Lysol geschnappt?»

Kein guter Zeitpunkt, um die Jalousie hochzuziehen.

«Hallo, hört mich jemand?»

Keine Antwort.

«Wenn ich angebumst werde …»

Brüllendes Gelächter. Wahrscheinlich Sadie.

«Im Ernst», schrie Margaret.

«Du kriegst bestimmt kein Baby mehr, Oma.» Es war Violet, die so gemein war. Margaret war fünfundvierzig, die älteste der Frauen in der Blue Moon Lodge, sogar älter als Andys Mutter, die den Betrieb leitete; und die anderen Frauen konnten ganz schön gehässig sein. Andy vermutete, dass sie schlicht eifersüchtig waren, weil Margaret Stammkunden hatte. Wenn die College-Jungs, sternhagelvoll vom Casino-Gin, aus Reno einfielen, fragten sie sogar explizit nach Margaret.

Violets Kommentar rief in den anderen Separees raues Gelächter hervor, nur Margaret reagierte nicht. Sie tat Andy leid, also legte er die Hände zu einem Trichter um den Mund und rief durch die Jalousie. «Im Scheißhaus steht eine Flasche Lysol.»

Wieder Schweigen, dann antwortete Margaret, schon etwas ruhiger. «Das nenn ich einen Gentleman.»

Andy wusste, worauf das hinauslief. «Soll ich sie dir holen?»

«Würdest du, mein Hase? Wenn ich mich auch nur ein Stück bewege, dann findet diese Wichse doch noch ihren Weg zum glorreichen Ziel.» Die Dringlichkeit der Mission wurde unterstrichen vom Spucken und Stottern einer Schrottkarre vor dem Gebäude. Der Kunde war bereits aufgebrochen.

Andy eilte hinaus zum Klo und nahm die Flasche. Als er mit einer Schüssel in Margarets Zimmer ankam, war auf dem Highway nur noch eine Staubwolke zu sehen. Margaret saß in ihrem pfirsichfarbenen Mieder auf der Bettkante. Als er die Schüssel neben ihr auf dem Bett abstellte, sah sie müde und resigniert aus.

«Das muss noch mit Wasser verdünnt werden», sagte sie.

Er nickte. «Hab ich schon gemacht.»

«Wirklich?» Sie betrachtete die pipifarbene Lösung mit liebevollem Erstaunen, als hätte er ihr gerade den Hope-Diamanten überreicht. «Das schlägt doch wirklich alles», murmelte sie. «Wo finde ich noch einen Mann wie dich, Andy?»

Er zuckte mit den Schultern, denn es war keine echte Frage.

Margaret nahm den Schwamm vom Nachttisch, tauchte ihn in die Schüssel, wandte sich ab und fing an, heftig zwischen ihren Beinen zu reiben. Andy ging mit gesenktem Blick zurück zur Tür, aber Margaret redete immer weiter.

«Darauf schwör ich. Was haben Frauen eigentlich gemacht, bevor es Lysol gab?»

Wieder zuckte er mit den Schultern.

«Ich lass es nicht drauf ankommen. Dieser Hinterwäldler hat schon dreizehn Kinder in die Welt gesetzt.»

Das wusste Andy bereits. Zwei der Mädchen waren in seiner Klasse an der Humboldt Highschool, zwanghafte Kichererbsen, die bei ihrer Tante an der Mizpah Street lebten. Eine von ihnen hatte gestern im Bus mit Andy geflirtet. Er fragte sich, ob dieses Mädchen wohl eine Unruhestifterin werden würde.

«Aber egal», sagte Margaret, «wir machen uns ein paar Eier zum Frühstück.»

«Das wäre prima», murmelte er.

Margaret war immer noch am Schrubben. «Ich weiß, dass du deine Eier magst», sagte sie.

 

Margaret wusste eine Menge über Andy. Sie wusste, was vor seiner Geburt passiert war, als Mama in Rapid City Klavierunterricht gab und Margaret, die mit ihr befreundet war, in einem Ramschladen arbeitete. Margaret hatte immer gesagt, sie beide sollten ihr Glück anderswo suchen, und die Gelegenheit dazu ergab sich, als Mama von einem Klavierschüler schwanger wurde, dessen Vater – in Margarets Worten – «ein hohes Tier bei der Handelskammer und dazu noch ein hitzköpfiger Grieche war». Margarets Fiesling von einem Ehemann war eine Woche vorher in der Zementfabrik tot umgefallen, also beglich sie ihre Schuld beim Allmächtigen, indem sie Mama in ihrem Martyrium beistand. Mama sagte immer: «Sie war unsere Rettung auf der Flucht vor den Pharisäern», und zog so den noch ungeborenen Andy in dieses biblisch klingende Ereignis hinein. Es sollte allerdings Jahre dauern, bis er erfuhr, dass ihre mitternächtliche Autofahrt nach Nevada mit Geld aus der Kasse des Ramschladens finanziert worden war. Das hatte ihm zugegebenermaßen Margaret erzählt, nicht Mama. Als er bei Mama mal nachgehakt hatte, hatte die nur gesagt, sein Vater sei «als Held im Weltkrieg seinen Verletzungen erlegen». Andy war da zwar erst neun, hatte aber diese Erklärung trotzdem nicht besonders überzeugend gefunden, vor allem, weil er das Hörspiel kannte, aus dem sie wörtlich zitierte. Sie hatten es sogar zusammen im Radio gehört, er und seine Mama, eines Nachts unten im Salon, als nichts los war. Ein GI und ein verkrüppeltes irisches Mädchen, die in New York City die wahre Liebe gefunden hatten, wenn auch nur für kurze Zeit.

Andy fand es jedes Mal peinlich, wenn Mama derart dreiste Lügen auftischte, aber er sah ein, dass ein Kriegstoter eine einfachere Erklärung war als ein geiler Fünfzehnjähriger, dem sie erfolglos versucht hatte, «Clair de Lune» beizubringen. Andy hatte selbst jetzt noch keine genaue Vorstellung von seinem Vater, denn es gab kein erwachsenes männliches Gesicht, das er diesem jugendlichen Phantom hatte verleihen können. Manchmal betrachtete er die Gesichter der Jungen in der Schulkantine von Humboldt High, andere Zehntklässler mit entfernt griechischen Gesichtszügen, und versuchte sie sich in Rapid City vorzustellen, mit einer jüngeren Version von Mama, damals. Aber auch das führte zu nichts. Jedenfalls zu nichts Angenehmem.

Mama hatte ihrem Sohn gegenüber nie ein Geheimnis aus ihrem Beruf gemacht. Sie war sogar stolz auf diese Geschichte, die sie und Margaret manchmal mit verteilten Rollen einer johlenden Truppe Kunden im Salon vorspielten. Wobei Mama die lustigen Teile mit viel Verve auf dem Klavier begleitete und dabei alles zur Geltung brachte, was sie hatte. Sie waren «zwei verdammt hübsche Mädels» gewesen, die «auf gut Glück» losgezogen waren, obwohl sich das Glück in Wahrheit erst in der dritten Nacht in einem Hotel an der Bridge Street eingestellt hatte, als ein Eisenbahner, «ein äußerst höflicher Herr im Anzug», Margaret fünf Dollar für einen Blowjob oben in seinem Zimmer angeboten hatte. Margaret war damals eine Wucht gewesen, ein richtiges Schwedenmädel mit kornblumenblauen Augen, das nie ihr Make-up vergaß. Mama bestand darauf, dass es ein verständliches Versehen gewesen war, bei all diesen potthässlichen Frauen da draußen in der Wüste, aber vielleicht auch ein Zeichen des Himmels gewesen. Vielleicht war einem netten Mädchen, das für etwas gehalten wurde, das sie nicht war, ihre wahre Bestimmung im Leben aufgezeigt worden. Besonders, wenn sie so bereitwillig wie Margaret mit nach oben ins Zimmer gegangen war.

Ursprünglich hatten sie eine einfache Abmachung getroffen: Mama suchte nach Freiern und kassierte das Geld, während Margaret «mit ihnen eine Nummer schob». In der Bridge Street hatte es schon damals ein paar Mädchen gegeben, die von zu Hause aus arbeiteten; die nahm Mama unter ihre starken Fittiche, bot ihnen ein verlässliches Einkommen und Schutz vor den Freiern. Als Andy im Frühjahr 1920 im Humboldt-Krankenhaus geboren wurde, hatte Mama sechs Damen (inklusive Margaret) im Angebot und ein großes Privatgrundstück an der Straße Richtung Jungo im Auge. Das alte Haus stand dort schon, und Mama ließ die Separees einbauen, einen Halbkreis von Hütten aus Betonschalstein, auf deren Außenwände orgelpfeifengroße Kakteen gemalt wurden, obwohl auf dem kargen Gelände weit und breit nichts Derartiges wuchs. Wenn die Leute schon für eine Runde Sex mitten in die Prärie fuhren, dann erwarteten sie einfach «einen Hauch Wilder Westen», und Mona Ramsey wollte diesem Wunsch nachkommen. (Wenn Mama sich in Rage redete, dann sprach sie von sich selbst in der dritten Person, als ginge es um einen völlig anderen Menschen.)

Andys erste Erinnerungen bezogen sich nicht auf das Haus oder den großen Neonmond, den Mama an der Straße hatte aufstellen lassen, sondern auf das kühle, hochgewölbte Innere der katholischen Kirche an der Melarkey Street. Mit seinen vier Jahren war Andy eigentlich zu alt für eine Taufe (und Mama war nicht einmal katholisch), aber die St.-Paul’s-Kirche war vor kurzem fertiggestellt worden und das größte Gebäude im Ort, ein Bauwerk im spanischen Stil mit zwei Türmen, wie eine Burg. Mama wollte den Leuten demonstrieren, dass ihr Sohn zu einem echten Gentleman erzogen wurde. Zu diesem Zweck hatte Margaret ihm einen Taufanzug mit irischer Spitze genäht, die sie in Denver bestellt hatte. Technisch gesehen war es ein Kleid, denn sie hatte einfach den Schnittmusterbogen für ein Babytaufkleid vergrößert, aber Andy hatte sich nicht beklagt. Er hatte es den ganzen Tag getragen und darin sogar eine Ziege über den Hof gejagt. Er konnte sich immer noch daran erinnern, wie zart es sich auf der Haut angefühlt hatte, und an den steinernen Blick in Mamas Augen, als er sich weigerte, es wieder auszuziehen.

Als die Zeiten schwieriger wurden und arme Leute scharenweise in den Westen zogen, verlor Mama nie den Glauben an ihr Geschäft. In der Stadt kursierten Gerüchte, dass Nevada das Glücksspiel legalisieren wollte, und sie hielt das für eine gute Sache, denn die Idioten, die sich an den Spieltischen ruinierten, brauchten umso mehr weiblichen Trost. Wie immer sollte sie recht behalten. Die Blue Moon Lodge florierte, bekam einen neuen Anstrich und einen scharlachroten Spielautomaten für den Salon, der wie ein neuer Hudson glänzte und von einem stereotypen Indianerkopf geschmückt war. Die Kundschaft kam jetzt von weit her, sogar aus Boulder City, wo Tausende Arbeiter einen riesigen neuen Staudamm bauten und vorhersehbarerweise nach Frauen hungerten.

Seit kurzem hatte Mama sich Gold in den Kopf gesetzt. Von der alten Mrs. Austen, deren Mann den Gemischtwarenladen in Jungo führte, hatte sie gehört, dass Mr. Hoover, der ehemalige Präsident, höchstpersönlich und mit einem Ölmenschen aus San Francisco in einem privaten Eisenbahnwagon angereist sei und Fragen zu George Austins Claim in den Slumbering Hills gestellt habe. Es sei allgemein bekannt, sagte Mama, dass der alte George und seine Söhne im College-Alter da oben in der Erde herumstocherten. Erst neulich hätten sie zwei Koffer mit Golderz zur Münze nach San Francisco geschafft. Der ganze Ort spreche darüber, aber Mama gegenüber habe Mrs. Austin auf verschwiegen gemacht und nur gesagt, dass Mr. Hoover ein ganz normaler Zeitgenosse sei und sie seit ihrer Zeit als Krankenschwester in San Jose an Berühmtheiten gewöhnt sei.

«Was für eine Frechheit von der Frau», sagte Mama und ließ die Gabel wie einen Säbel durch die Luft zischen. «Steht da, verkauft nichts als Kautabak an die Bahnarbeiter, aber mir kommt sie blöd.»

Eine kleine Flocke Kartoffelbrei löste sich von Mamas Gabel und landete auf einer von Violets hennaroten Korkenzieherlocken. Margaret zwinkerte Andy zu; Violet hatte es nicht einmal bemerkt.

«Diese alte Schachtel wird mit diesem Claim steinreich», fuhr Mama angesäuert fort, «und besitzt nicht mal genug Anstand, um es zuzugeben.»

«Was hast du in Jungo gemacht?», wollte Delphine wissen, das aufmüpfige Cajun-Mädchen, aber Andy fragte sich dasselbe. Jungo war über dreißig Meilen entfernt und ein heruntergekommener, kleiner Eisenbahnknotenpunkt, gegen den Winnemucca wie eine glitzernde Metropole wirkte.

Mama schaute finster drein. «Halt den Mund, Delphine.»

«Wenn du drauf aus bist, Land zu kaufen – ich weiß nicht, ob es in Nevada überhaupt so viele Mösen gibt.»

«Ich mein’s ernst, Delphine. Noch ein Wort, und beim nächsten Mal landet der Fettsack aus Battle Mountain, der einfach nicht abspritzen kann, bei dir.»

Delphine starrte auf ihren Teller, und am Tisch machte sich ein betretenes Schweigen breit. Andy wusste aus Erfahrung, dass sich jetzt jeder nichts mehr wünschte, als das Thema zu wechseln. Keine der Frauen wollte den Fettsack aus Battle Mountain haben, der endlos auf ihnen rumrödelte.

«Welche Berühmtheiten?», fragte Andy.

Mama schaute ihn schräg an.

«Mrs. Austin», erklärte er. «Wen kannte sie?»

Mama grunzte. «Einen Kerl namens London.»

«Jack London?»

«Nehm ich an. Ja.»

«Wow», murmelte Andy vor sich hin.

«Hast du schon mal was von ihm gehört?»

«Er hat Ruf der Wildnis geschrieben. Haben wir letztes Jahr in Englisch gelesen.»

Mama stieß die Gabel in ein Stück Kalbsbries und schob es sich in den Mund. «Na gut, aber kein Wort zu dieser alten Schreckschraube. Die ist sowieso schon größenwahnsinnig.»

Ein Lächeln stahl sich in Margarets Mundwinkel, und sie wandte sich schnell zu Andy um, damit niemand es sah. «Wie war’s in der Schule, mein Hase?»

Er zuckte mit den Schultern. «Okay.»

«Wie war die Geschichtsarbeit?»

«Eins minus.»

«Hört euch das an!», sagte Margaret strahlend. «Du bist wirklich viel klüger als der Rest von uns.»

Mama warf Margaret einen missmutigen Blick zu. «Was glaubst du wohl, vom wem er das hat?» Sie hatte die Highschool abgeschlossen, während Margaret früh abgebrochen und auf eine Kosmetikschule nach Rapid City gegangen war. Mama nutzte diese zweifelhafte Überlegenheit jedes Mal, um Margaret abzukanzeln, wenn sie sich in die Haare bekamen. In letzter Zeit stritten sie sich häufiger als üblich, jedenfalls hatte Andy den Eindruck. Aber vielleicht war Mama auch nur abgekämpft.

«Ich hab das Watson-Mädchen heute auf der Post gesehen», bekundete Mama und versuchte, für Andy ein freundlicheres Gesicht zu machen. «Sie hat sich nach dir erkundigt.»

Das bezweifelte er. Wenn überhaupt, dann hatte Mama das Thema selbst angeschnitten, denn die Familie von Gloria Watson galt als recht begütert. Ihr Vater war Arzt – ein verwitweter Arzt noch dazu –, der früher einmal die monatliche Gesundheitsprüfung in der Blue Moon Lodge durchgeführt hatte. Mamas kokette Avancen waren bei ihm auf wenig Gegenliebe gestoßen (und hatten ihm wahrscheinlich mehr Angst als Lust auf den Job gemacht), also arbeitete sie jetzt an der Tochter.

«Ich glaube, sie hat dich ins Herz geschlossen, Andy.»

Andy seufzte vernehmlich.

«Was ist mit Gloria Watson?»

«Nichts. Sie ist sehr nett. Sie geht allerdings mit dem Klassensprecher.»

«Na und? Das macht ja nun gar nichts.»

Margaret warf ihr einen Seitenblick zu. «Lass ihn doch, Mona.»

«Andy sieht verdammt noch mal besser aus als jeder Klassensprecher.»

«Mona …»

«Schau ihn doch an, Margaret. Er kann jedes hübsche Mädchen bekommen, das er will.»

Andy verdrehte die Augen. «Echt witzig, Mama.»

«Sei nicht so frech, Kleiner. Du weißt, dass ich recht habe.»

Er blieb ruhig und lächelte, während er aufstand und den Teller zum Spülbecken trug. Die Hälfte der Zeit suchte Mama nichts als Streit, und er hatte gelernt, sich nicht darauf einzulassen.

«Ich muss Hausaufgaben machen», sagte er und ging in sein Zimmer.

 

Abends um neun stand der Hof voller Autos, also blieb Andy in seinem Zimmer und las beim Licht einer Lampe, deren Schirm die Weltkarte zeigte. Von unten hörte er die übliche Musik aus dem Victrola-Grammophon, das übliche Gejohle der Kunden und das aufgesetzte Kreischen der Mädchen. Nicht wirklich schrecklich, aber doch schrecklich vertraut. Und nicht gerade die richtige Begleitmusik zu Richard Halliburton’s Book of Marvels. Er fragte sich, ob Mama wirklich immer so weitermachen und bis zu ihrem Tod Bons für «die ganze Nacht» verkaufen wollte oder jemals davon träumte, etwas völlig anderes zu tun. Dagegen hätte er nichts einzuwenden, es sei denn, Teil ihres Fluchtplans war eine reiche Schwiegertochter – in diesem Fall konnte er es sich genauso wenig vorstellen umzuziehen wie hierzubleiben.

Aber er war ja gerade erst sechzehn geworden. Noch genug Zeit, sich darüber klar zu werden.

«Bist du da, mein Hase?»

Margaret stand flüsternd vor seiner Tür, und er ließ sie herein. Sie trug einen dreiviertellangen samtgrünen Morgenmantel, der an den Armen und ein paar anderen Stellen abgewetzt wie ein altes Sofa war. Ihre goldbraunen Haare waren mit Haarklemmen lose gebändigt. Sie hielt ein etwa schuhschachtelgroßes Päckchen in den Händen, das in die Seite der Zeitung mit den Comics eingeschlagen und mit einer Schnur umwickelt war.

«Rat mal, was nächste Woche im American Theater läuft.»

«Wie bitte?», fragte er zunächst und riet dann drauflos: «Charlie Chan?»

Sie setzte sich auf die Bettkante und legte das Päckchen neben sich. «Viel besser – Jeanette MacDonald!»

«Oh», sagte er und erinnerte sich. «San Francisco.» Er war auf dem Weg zur Eagle-Drugs-Apotheke an dem verglasten Poster vorbeigekommen, aber die Vorstellung, den Baskenjungen gleich wiederzusehen, hatte den Eindruck nachhaltig getrübt. «Mit Clark Gable.»

«‹Zum ersten Mal in einem Film›», zitierte Margaret das Poster.

Clark Gable mit seinen grabsteingroßen Zähnen und seiner hölzernen Art war Andy herzlich egal, auch wenn er in Ruf der Wildnis mitgespielt hatte. (Am besten hatte Andy in diesem Film der Hund gefallen.) Andererseits war Jeanette MacDonald ein Sinnbild für damenhafte Eleganz, und das durfte man unter gar keinen Umständen verpassen.

«Ich frage mich, ob sie singt», sagte er.

«Ich denke schon.» Margaret schenkte ihm ein charmantes Lächeln. «Wollen wir am Samstag gehen?»

«Klar.»

«Es sei denn, du möchtest mit einem Kumpel hin.»

«Nein.»

Sie stützte die Hände auf die Knie und stand auf. «Na gut – okay. Abgemacht.» Sie ging zur Tür und ließ das Päckchen auf dem Bett liegen.

«Was ist das?», fragte er.

Sie blieb im Türrahmen stehen und gebot ihm mit dem Finger an den Lippen Schweigen. «Alles Gute zum Geburtstag, mein Hase. Verriegle die Tür hinter mir.»

Sein Herz klopfte heftig, als er ihre Anordnung befolgte und den Metallhaken in den rostigen Ring im Türrahmen gleiten ließ. Das hatte er schon Hunderte Male gemacht, ohne je einen Gedanken daran zu verschwenden, aber jetzt, als das Lärmen der Kunden aus dem Salon zu ihm durchdrang, schien ihm diese Verriegelung jämmerlich unzureichend für ein Geheimnis, was auch immer es zu bewahren galt.

Er ging zurück zum Bett, setzte sich auf Margarets Platz und zog das Päckchen auf seinen Schoß. Es war weich und knautschig, offensichtlich aus Stoff, aber leichter als das Wollhemd, das sie ihm letzte Weihnachten genäht hatte, oder auch leichter als der Seersucker-Anzug, ein früheres Geburtstagsgeschenk. Die Schnur war so fest verknotet, dass er schließlich aufgab und ein Loch in das Papier bohrte – einen Maggie-und-Jiggs-Comic, in dem Maggie wie üblich mit einem Nudelholz hinter Jiggs herjagte. Innerhalb von Sekunden hatte er den Inhalt hervorgezerrt, eine bauschige Wolke aus zitronenfarbenem Seidenchiffon, bedruckt mit blassrosa und pastellgrünen Rosen.

Der Verrat, der auf seinem Schoß in Schönheit erstrahlte, ließ seine Augen wieder zur Tür wandern. Der Haken war felsenfest an seinem Platz, aber die Tatsache, dass Mama das Victrola-Grammophon abgestellt hatte und anfing, Klavier zu spielen, war eine viel stärkere Beruhigung als der Riegel. Es bedeutete, dass die Leute noch eine Zeitlang bleiben würden. Mama spielte ihren Lieblingssong, «Smoke Gets in Your Eyes».

Er stand auf und lief zu dem blinden Spiegel an der Innenseite der Schranktür. Das Abendkleid war bodenlang und ärmellos. Die Schultern waren mit Rüschen besetzt und der Saum am Ausschnitt handrolliert, und alles so leicht und durchscheinend wie ein Traum, aus dem er jeden Augenblick zu erwachen befürchtete. Er streifte es sich über den Kopf, während Mama zu singen begann.

They asked me how I knew my true love was true