Die Tochter der Druidin - Birgit Jaeckel - E-Book
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Die Tochter der Druidin E-Book

Birgit Jaeckel

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Beschreibung

Skrupellose Machtspiele und verbotene Gefühle: der historische Roman »Die Tochter der Druidin« von Birgit Jaeckel jetzt als eBook bei dotbooks. Wem kannst du vertrauen, wenn du nur von Feinden umgeben bist? Süddeutschland im Jahre 101 vor Christus. Wie ihre Mutter besitzt auch Sumelis die Gabe, die Seelen der Menschen sehen und heilen zu können. Doch das droht nun, ihr zum Verhängnis zu werden: Der machthungrige König der Kimbern hat begonnen, Italien zu erobern – und ist von einem Fluch getroffen worden, den nur eine mächtige Druidin brechen kann. Darum entsendet er einen jungen Krieger, um Sumelis zu entführen. Aber kann Nando die Frau, zu der er sich auf rätselhafte Weise hingezogen fühlt, wirklich an seinen Herrn ausliefern? Ein Sturm über Europa und eine zarte Liebe, gefangen im brutalen Spiel der Mächtigen: »Psychologisch differenziert, von historischer Sachkenntnis ebenso wie von tiefem Einfühlungsvermögen geprägt und dabei flüssig und spannend erzählt. Ein echtes Highlight.« Karfunkel Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Die Tochter der Druidin“ von Birgit Jaeckel, ein packendes historisches Lesevergnügen über die Zeit der Kelten, Germanen und Römer. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 611

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Über dieses Buch:

Wem kannst du vertrauen, wenn du nur von Feinden umgeben bist? Süddeutschland im Jahre 101 vor Christus. Wie ihre Mutter besitzt auch Sumelis die Gabe, die Seelen der Menschen sehen und heilen zu können. Doch das droht nun, ihr zum Verhängnis zu werden: Der machthungrige König der Kimbern hat begonnen, Italien zu erobern – und ist von einem Fluch getroffen worden, den nur eine mächtige Druidin brechen kann. Darum entsendet er einen jungen Krieger, um Sumelis zu entführen. Aber kann Nando die Frau, zu der er sich auf rätselhafte Weise hingezogen fühlt, wirklich an seinen Herrn ausliefern?

Ein Sturm über Europa und eine zarte Liebe, gefangen im brutalen Spiel der Mächtigen: »Psychologisch differenziert, von historischer Sachkenntnis ebenso wie von tiefem Einfühlungsvermögen geprägt und dabei flüssig und spannend erzählt. Ein echtes Highlight.« Karfunkel

Über die Autorin:

Birgit Jaeckel, geboren 1980, studierte Ur- und Frühgeschichte, Paläontologie und Alte Geschichte. Während sie ihre Magisterarbeit über eine Siedlung der Kelten in Süddeutschland schrieb, reifte in ihr der Plan, ihr umfassendes Wissen in einen Roman fließen zu lassen. So entstanden »Die Druidin« und die Fortsetzung »Die Tochter der Druidin«. Birgit Jaeckel arbeitete außerdem als PR-Consultant – unter anderem für den »Alternativen Nobelpreis« – und ist als Drehbuchautorin, Story-Coach und Beraterin für die Buch-, Film- und Kommunikationsbrache erfolgreich.

Die Autorin im Internet: www.birgitjaeckel.com

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eBook-Neuausgabe März 2019

Dieses Buch erschien bereits 2009 unter dem Titel »Der Fluch der Druidin« im Knaur Verlag.

Copyright © der Originalausgabe © 2009 Knaur Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Shchipkova Elena und shutterstock/Natalia Yankelevich

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-96148-395-2

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Birgit Jaeckel

Die Tochter der Druidin

Historischer Roman

dotbooks.

Inhalt

Prolog 102 v. Chr.

101 v. Chr.

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Epilog 96 v. Chr.

Anhang

Nachwort zum historischen Hintergrund

Überblick über die wichtigsten Namen, Örtlichkeiten und Begriffe (keltisch, germanisch, römisch)

Personen

Völker

Orte und Flüsse

Gottheiten

Weitere Begriffe

Lesetipps

Prolog102 v. Chr.

Die von namenlosen Legionären festgetretene Erde der Straße hallte unter den Schritten des Mannes, der sie entlangwankte. Von Zeit zu Zeit streiften seine breiten Schultern das gespannte Leder der Mannschaftsunterkünfte, welche die Straße säumten, doch der Mann, der sein Volk zum Sieg über die Römer geführt hatte, war zu berauscht, um es zu bemerken. Seine ganze Aufmerksamkeit galt den Geräuschen, die über Graben, Wall und die Palisaden des Kastells hinweg an seine Ohren drangen: Gelächter, Lieder, das fröhliche Kreischen von Frauen und Kindern, Trinksprüche auf das siegreiche Heer und seinen König. Die Sprache des Triumphes. Die Sprache, die Boiorix am besten von allen beherrschte.

Die Zelte, in denen vor zwei Nächten noch römische Soldaten geschlafen hatten, verschwammen am Rande seines Gesichtsfelds. Genauso würde schon bald ganz Italien vor seinen Augen verschwimmen, dachte er trunken. Wie eine Flutwelle würden seine nordischen Krieger über das Land hereinbrechen, allen Staub und römische Arroganz hinwegfegen und ernten, was die Woge übrig ließ: Blut und Wein im Überfluss, Reichtum und unsterblichen Ruhm, dazu das fruchtbare Land für sein Volk. Offen wie die Schenkel einer Hure lag es vor ihm.

Sinnlose Wortfetzen trieben mit dem Abendwind an Boiorix’ Ohr, Fragmente der Siegessänge, die seine Männer über den heutigen Tag dichteten. Immer wieder hörte er seinen Namen heraus, begleitet vom triumphierenden Hall der Trompeten. Die Lieder erzählten, wie Boiorix seine Krieger zum Sieg über den römischen Konsul Catulus und dessen Heer an dem Fluss, den die Römer Athesis nannten, geführt hatte. Er hatte ihr Lager gestürmt und in seiner Großmut erlaubt, dass die römischen Soldaten unbehelligt abzogen. Er wollte, dass sie ganz Italien erzählten, dass die Kimbern sie wie Fliegen hätten zerquetschen können – trotz ihrer strengen Heeresorganisation, ihres Kastells und des von Barden besungenen militärischen Geschicks ihrer in blitzende Muskelpanzer gehüllten Anführer. Sie sollten ihre Niederlage nach Rom tragen, Schande und Angst verbreiten, bis auch der letzte römische Bettler aus Furcht vor den heranstürmenden Nordmännern unter den Rock seiner Mutter kroch und sich zitternd selbst benässte.

Der Gedanke ließ Boiorix den Druck in seiner Blase spüren. Er blieb stehen, um an den Schnüren zu nesteln, die seine Hose hielten. Dabei stellte er fest, dass seine rechte Hand noch immer ein Trinkhorn umklammert hielt, in dessen Inneren es verführerisch schwappte. Den Kopf in den Nacken gelegt, führte er das Horn an die Lippen. Schwerer dunkler Wein rann durch seinen Schnurrbart, spritzte ihm ins Gesicht und tropfte kühl auf seine Brust hinab. Rülpsend schleuderte er das Horn von sich und hörte befriedigt, wie es irgendwo in der einsetzenden Dunkelheit mit einem dumpfen Ton gegen eine Zeltwand prallte. Gerade wollte er sich wieder den Schnüren seiner Hose zuwenden, als er Stimmen hörte.

Boiorix wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und blinzelte. Trotzdem dauerte es einige Herzschläge, bis sich sein Blick klärte und er die beiden Männer und das Mädchen unterscheiden konnte, die den Platz vor den Stabszelten überquerten und sich ihm langsam näherten. Er spürte eine Bewegung hinter sich, aus den Augenwinkeln nahm er einen geschmeidigen, schwarzgekleideten Schatten wahr, der schräg hinter ihn trat, bereit, zu den Waffen zu greifen und seinen König zu verteidigen.

Auf diesen Jungen ist immer Verlass! Boiorix gestattete sich ein zufriedenes Schnauben, das sich allerdings unter seinem Schnurrbart verlor, bevor es die warme Luft kräuseln konnte. Der Mann im Schatten hörte es dennoch. Weiße Zähne blitzten in einem stolzen Lächeln auf und verschwanden sofort wieder, als der geneigte Kopf eine Verbeugung andeutete.

Boiorix wandte sich wieder der kleinen Prozession mit den zwei Männern aus seiner Leibgarde zu. Heute Nachmittag, als er seine über die Wanderjahre hinweg angehäuften Kostbarkeiten in das mit luxuriösen Möbeln eingerichtete Zelt des römischen Feldherrn hatte schaffen lassen, hatte er diesen beiden Männern und einer Handvoll anderen die Bewachung seiner Beuteschätze anvertraut. Daher gefiel es ihm überhaupt nicht, sie jetzt wie unterwürfige Diener in Begleitung dieses Mädchens zu sehen.

Boiorix trat von der Zeltwand, an der er sich hatte erleichtern wollen, weg und auf den Platz vor dem Hauptquartier. »Was wird das?«, fragte er, und nichts in seiner Stimme verriet den Wein, der durch seine Adern rauschte. Mit einer abgehackten Handbewegung deutete er auf die Trage, welche die zwei Männer trugen, und auf das von einem feinen Tuch verhüllte Gefäß auf ihr. Einer der Träger hatte eine Fackel angezündet; in ihrem Schein leuchtete reichverziertes, kühl schimmerndes Silber unter bestickter Seide.

»Es ist der Kessel, den die Skordisker Euch geschenkt haben.« Es war das Mädchen, das ihm antwortete. Mit anmutigen Schritten, bei denen die Füße kaum den Boden zu berühren schienen, schob es sich an den Kriegern vorbei und baute sich vor Boiorix auf. Es reichte ihm nicht einmal bis zur Brust, und obwohl der schmale Körper unter dem leichten, fließenden Gewand noch kaum Brüste und Taille zeigte, war sein Tonfall genauso herrisch wie der des Königs. Das Mädchen sprach den keltischen Dialekt der Tiguriner, die Sprache seines eigenen Volkes, und die Arroganz, mit der es annahm, dass der Anführer des Nordvolks ihm in derselben Sprache antworten würde, ärgerte Boiorix.

Das perlende Lachen des Mädchens verriet ihm, dass er seinen Gedanken laut ausgesprochen hatte. »Ich sehe, der Wein löst Eure Zunge, König der Kimbern. Oder ist es der Siegesrausch? Freut Euch nicht zu früh, denn dies war nur eine gewonnene Schlacht. Sollten Eure Freunde, die Teutonen und Ambronen, nicht ebenfalls über die Römer siegen, werdet Ihr den heutigen Tag womöglich noch verdammen, Boiorix. Dann, wenn Ihr Euch plötzlich alleine findet in einem feindlichen Land, umgeben von römischen Legionen, die gierig darauf sind, ihre frühere Schmach wettzumachen.«

»Unsere Brüder werden gewinnen!«, stellte Boiorix gereizt klar. »Wahrscheinlich haben sie die Berge bereits überquert und die römischen Armeen, die sie aufhalten sollen, überwältigt. Wir werden uns schon bald wieder vereinigen!«

»Und wenn nicht?«

»Dann werden wir hier in Italien viel Platz haben.«

Das Mädchen legte den Kopf schief. Die Bewegung löste den Knoten, der sein Haar gehalten hatte. In einer Kaskade aus Feuer flossen die roten Strähnen den Rücken hinab bis zu den schmalen Knöcheln. Die Männer, die hinter dem Mädchen standen und es beobachtet hatten, schnappten hörbar nach Luft. Einer von ihnen murmelte den Namen der Tigurinerin, eine für Boiorix unaussprechliche Folge halbgesungener Laute, doch womöglich war es auch ein Titel. Er wusste es nicht genau. Die einzigen Wörter, die er erkannte und verstand, waren Feuer und Schwan. Niemand hatte sich bisher die Mühe gemacht, ihm das Mädchen vorzustellen, oder seine Anwesenheit erklärt. Nicht dass dieses Kind den König interessiert hätte; er verstand nur nicht, weshalb es seinen Onkel, einen der höchsten Druiden der Tiguriner, begleiten musste. Die Druiden waren hier, von ihrem eigenen Stamm entsandt, um Boiorix zu Nutzen zu sein, nicht um ihren Gören die Welt zu zeigen! Einmal, als das Mädchen erneut an einer Besprechung mit den Druiden teilgenommen hatte, hatte Boiorix seinen Unmut über die Anwesenheit eines Kindes geäußert, doch die Tiguriner hatten ihn einfach ignoriert. Das Mädchen hatte gelächelt und geschwiegen, aber er hatte den überlegenen Spott in seinen keltischen Zügen erkannt. Am selben Abend hatte eine Priesterin von Boiorix’ eigenem Volk das Geheimnis gelüftet und ihm zugeraunt, warum das Mädchen niemals von der Seite seines Onkels wich: um mit ihm, in der Nacht, in der es zur Frau wurde, ein Kind zu zeugen.

»Diese Inzucht beleidigt unsere Götter!«, hatte Rascil gezischt. »Wodan wird das nicht zulassen. Er wird Unglück über uns bringen, wenn wir dieser Lästerung tatenlos zusehen! Schickt die Druiden und das Mädchen fort!«

»Wenn wir die Berge hinter uns gelassen haben«, hatte er geantwortet. »Wenn Rom vor uns liegt und es einzig die schwachen Götter der Römer sind, die wir herausfordern, dann werde ich sie fortschicken.«

Vielleicht war dieser Zeitpunkt nun gekommen. Catulus floh mit seinen Legionen zum Padus und hatte den nördlichen Rand der Ebene bis zu den Bergen den Kimbern überlassen. Die Zeit – waren es siebzehn Jahre? Achtzehn? Er wusste es nicht mehr –, in der das Nordvolk auf der Suche nach Land und Beute in der keltischen Welt umhergezogen und auf die Unterstützung keltischer Stämme angewiesen gewesen war, war endgültig vorbei.

Während Boiorix den Gedanken noch abwägte, richtete er sich zu seiner vollen, beeindruckenden Höhe auf. Er überragte das Mädchen auf eine Weise, als wolle er es mit einem Schritt unter seinen Füßen zermalmen. »Wo ist dein Onkel, Kind? Er hat das hier angeordnet, nicht wahr?«

»Die Kraftströme sind stark heute Nacht.« Das Mädchen senkte die Lider und deutete auf den verhüllten Kessel hinter sich. »Mein Onkel möchte in die Zukunft sehen und in die Gegenwart. In diesem Kessel wird er das Wasser aus einem Quell mit dem Blut der heute Gestorbenen im heiligen Dreiwirbel vereinen. Wenn sich das Mondlicht auf dem Wasser bricht, wird es ihm Bilder zeigen von dem, was ist und was sein wird.«

»Dieser Kessel soll die Zukunft zeigen? Das denkst du dir aus!«

»Der Wert dieses Kessels übersteigt Eure Vorstellungskraft, Boiorix.«

»Tatsächlich? Demnach sollte ich wohl vermuten, dass ihr vorhabt, meine Schätze zu stehlen?«

Das Mädchen ließ sich von der Drohung in den Worten nicht beeindrucken. »Ihr seid unwissend, Kimbernkönig. Unwissend und dumm, weil Ihr die Heiligkeit dieses Geschenks, das Euch irrtümlich gemacht wurde, nicht anerkennen wollt.«

»Des Geschenks?«

»Der Kessel.«

»Er gehört mir!«

»Das ist der Irrtum.«

»Wieso will dein Onkel ihn jetzt haben?«

»Er braucht ihn, um erkennen zu können, was unsere Angehörigen machen, unsere Krieger, die in den Bergen zurückgeblieben sind, um Euren Rücken zu decken. Boten haben uns erreicht, die von Kämpfen mit den Stämmen, in deren Gebiet wir um Euretwillen eingedrungen sind, berichten. Der Vater meines Onkels soll dabei schwer verletzt worden sein. Jetzt möchte mein Onkel wissen, ob er noch lebt.«

Boiorix spürte, wie es in seinen Fingern zuckte. Er hasste dieses Gerede von Mächten, die er nicht verstand. Sosehr er die keltischen Völker auch respektierte, ja, manchmal sogar bewunderte, war über die Jahre hinweg sein Misstrauen ihren oft wankelmütigen Absichten gegenüber gewachsen. Dabei hatte er selbst die Tiguriner, seine langjährigen keltischen Verbündeten auf dem Zug, der ihn durch die halbe ihm bekannte Welt geführt hatte, um Hilfe gebeten, ihn bei der Überquerung des Gebirges nach Italien zu unterstützen und seinen Rücken zu decken. Sie hatten getan, was er verlangte, mehr noch, sie hatten ihm ihre mächtigsten Druiden an die Seite gestellt, um sich gegen die bösen Mächte der Berge besser schützen zu können. »Eure nordischen Götter sind fremd in diesem Land«, hatten sie gesagt. »Womöglich können sie Euch hier nicht beschützen. Unsere Druiden dagegen kennen das Land, die Berge, Stämme, Geister und Götter, die hier hausen. Ihr werdet sie brauchen, Herr.« Ihre Worte hatten vernünftig geklungen, und so hatte Boiorix die Druidenabordnung als Berater und Beschützer an seiner Seite begrüßt und sie für ihre Dienste reich entlohnt. Die Ratgeber seines eigenen Volkes hingegen hatten diese Entscheidung nicht gutgeheißen. Das Nordvolk hatte seine eigenen mächtigen Priesterinnen, Heiler und Seher, wozu brauchten sie also die Druiden irgendeines keltischen Stammes?

Mittlerweile bedauerte Boiorix, dass er das Trinkhorn mit dem restlichen Wein fortgeschleudert hatte. Er hätte gut noch einen weiteren Schluck vertragen können.

»Stellt das verdammte Ding ab und dann verschwindet!«

Die Männer kamen seinem Befehl sofort nach. Beinahe wäre der wertvolle Kessel von der Trage gerutscht, als sie diese hastig absetzten und verschwanden. Der schweigende Schatten in Boiorix’ Rücken unterdrückte ein verächtliches Lachen.

»Was ist, König der Kimbern?« Das Mädchen, das sich Feuer-Schwan nannte, stellte sich neben den Kessel und strich mit schmalen Fingern über den silbernen Rand. »Wollt Ihr dieses heilige Gefäß etwa eigenhändig für mich tragen? Welche Ehre!«

Sein Spott trieb Boiorix die Hitze ins Gesicht. Er wusste, dass es den unverdünnten Wein in seinem Atem und in seinen Kleidern roch, dass es spürte, wie er durch seinen Kopf trieb und seine Wut anfachte. Und plötzlich wurde ihm klar, dass dieses Mädchen, dieses Kind, ihn verachtete.

»Nimm dich in Acht, Mädchen!«, knurrte er. »Niemand spricht in diesem Ton mit mir!«

»Das ist bedauerlich, denn es wäre besser für Euch, würdet Ihr lernen, Euch vor Dingen, die größer sind als Ihr, zu verneigen. Andernfalls wird Euch Euer Volk am Ende nur als Narr kennen, der sich für einen Gott hielt.«

Ehe Boiorix sich besinnen konnte, trat er einen Schritt vor und schlug das Mädchen mit der flachen Hand ins Gesicht. Feuer-Schwan taumelte zur Seite, ihre Arme griffen noch nach einem imaginären Halt in der Luft, dann stürzte sie auch schon der Länge nach auf die Straße. Ihr rotes Haar fiel in den Dreck, den Pferde zurückgelassen hatten, und obwohl es mittlerweile beinahe dunkel war, sah Boiorix Blut, das aus ihrer Nase lief.

Feuer-Schwan hatte keinen Laut ausgestoßen. Ihre Fingerspitzen berührten ihr herzförmiges Gesicht und das klebrige Rot, das schwerfällig zu Boden tropfte. Einen Atemzug lang starrte sie es regungslos an, dann rappelte sie sich auf Knie und Hände hoch, legte den Kopf in den Nacken, bis ihr Gesicht dem Mond zugewandt war, und schrie.

Es war ein langgezogener heulender Schrei, der als Fauchen begann und als unharmonisches Klagen endete. Boiorix zog unwillkürlich die Schultern in die Höhe, aber einen tiefen Atemzug später ließ er sie wieder fallen. Stattdessen griff er zwischen seine Beine, öffnete die Hose und holte sein Glied heraus. Einen Moment lang weidete er sich an dem entsetzten Blick des Mädchens, bevor er sich umdrehte, das Tuch vom Kessel zog und in hohem Bogen in dessen Inneres urinierte. In seinem Rücken hörte er Rufe, schnelle Schritte von Dutzenden Kriegern, die sich näherten, weil der Schrei des Mädchens sie herbeigerufen hatte. Doch Boiorix achtete nicht auf sie. Er entleerte seine Blase bis zum letzten Tropfen und nahm befriedigt den beißenden Geruch seines eigenen Urins wahr, der den Boden des silbernen Kessels mit seinen szenischen Darstellungen, Tieren, den Körpern und überproportionierten Gesichtern fremder Götter, füllte.

Als Boiorix sich schließlich umdrehte, stand der oberste Druide der Tiguriner hinter ihm, eine Hand auf dem geneigten Kopf seiner Nichte, die andere in einer Geste erhoben, die das Zeichen gegen das Böse schlug.

»Was habt Ihr getan?« Der Druide legte einen Finger unter das Kinn des Mädchens und hob dessen Kopf an, damit Boiorix das bleiche Gesicht sehen konnte, das sich dort, wo sein Schlag es getroffen hatte, dunkel färbte. Blut lief in einem dünnen Rinnsal über Feuer-Schwans Oberlippe und Kinn und verfärbte den Ärmel ihres Onkels. »Ihr habt Hand an jene gelegt, die die Heilige Hochzeit feiern soll! Die Jungfrau, die sich im Frühjahr mit Cernunnos, dem gehörnten Gott, vereinen wird!« Mit bebenden Nasenflügeln deutete der Druide auf den Kessel. »Derselbe Gott, dessen Abbild Ihr gerade entweiht habt! Wie könnt Ihr es wagen?«

Gegen seinen Willen flackerte Boiorix’ Blick zum Kessel, dessen ihm zugewandte Innenseite eine Gestalt im Schneidersitz zeigte mit einer Art Geweih auf dem Kopf, einen Hirsch zur einen und seltsam anmutenden Tieren zur anderen Seite. In der linken Hand hielt der Gott eine Schlange, in der rechten einen Halsring. Ein Tropfen Urin glitt das Silber zwischen den Brauen des gehörnten Gottes nach unten. Einen Moment lang verspürte Boiorix so etwas wie Furcht.

Unterdessen strömten immer mehr Menschen auf den Platz: Boiorix’ Leibgarde, seine Anführer, sogar zwei Priesterinnen seines Volkes. Mit gierigen Augen starrten sie von ihrem König zu dem Druiden der Tiguriner und warteten darauf, dass Boiorix den Fremden in seine Schranken wies.

»Eine Entschuldigung«, flüsterte der Druide und schüttelte dabei fast panisch den Kopf. Er sprach zu niemand Besonderem, sondern zu dem Kessel und den Götterbildnissen auf ihm. »Antworte mir, Cernunnos! Was soll geschehen? Vergeltung? Strafe? Aber wie kann ein einfacher Mensch diese Tat gutmachen? Welches Opfer muss er bringen?«

Vergeltung, Strafe, Entschuldigung: Die Vermessenheit, die in den Worten des Druiden mitschwang, zerriss auch den letzten Faden Geduld, den Boiorix in sich trug. »Ich denke, es ist an der Zeit, dass Ihr uns verlasst!«, hörte der König der Kimbern sich selbst sagen und so das Murmeln des Druiden unterbrechen. Rascil, die Priesterin, die ihm am nächsten stand, nickte ihm anerkennend zu. Lauter und kräftiger fuhr Boiorix fort: »Kehrt zu Euren eigenen Leuten zurück, Druide! Wir brauchen Euch hier nicht mehr, Eure Arbeit ist getan. Die Berge liegen hinter uns, der Sieg ist unser! Es gibt keinen Grund mehr für Euch, bei uns zu bleiben, und keinen für uns, Euren Rat noch länger zu suchen!«

Die Tiguriner sahen ihn mit einem Ausdruck an, als hofften sie, dass sie ihn falsch verstanden hatten. Nur das Mädchen, das noch immer zu Füßen seines Onkels kniete, zuckte nicht zusammen. Es legte seine Finger in die Handfläche des Oheims, dann hob es den Kopf und blickte ihn an. Der Druide schloss die Augen. Er nickte kaum wahrnehmbar.

Feuer-Schwan lächelte.

Sie stand auf und entzog ihre Hand dem schützenden Griff des Onkels. Ihre Finger waren voll mit ihrem eigenen Blut, das noch immer aus der Nase tropfte und träge über ihre Lippen floss. Sie leckte die zähe Flüssigkeit fort. Und als ihr Lächeln breiter wurde, entblößte es rotgefärbte, makellose Zähne.

»Verflucht sollt Ihr sein, Boiorix, der Ihr Euch König nennt!« Ihr Rücken straffte sich, und mit einer kraftvollen Bewegung trat Feuer-Schwan auf Boiorix zu, der sich plötzlich nicht mehr bewegen konnte. Hilflos sah er zu, wie sie die Hand ausstreckte und mit ihrem eigenen Blut ein Zeichen auf seine Stirn malte. Dann glitten ihre Finger tiefer, über sein Gesicht hinunter bis zum Hemdansatz, eine dunkle Spur auf seiner Haut hinter sich herziehend. Die Berührung ihrer Finger, ihres Lebenssaftes, schien sich in seinen Körper zu brennen wie ein Mal, geschaffen von glühendem Eisen. Boiorix versuchte, höhnisch zu lachen, aber er konnte keinen einzigen Muskel bewegen. Gefangen in seinem erstarrten Körper, blieb ihm nichts anderes übrig, als zuzulassen, dass die Worte des Fluchs auf ihn herabhagelten.

»Verflucht sollt Ihr sein, für immer zu versagen! Ihr werdet Euren Sieg verschenken, und wenn er Euch verlassen hat und Euch hämisch aus der Dunkelheit heraus zuwinkt, wird selbst der wahre Tod Euch fliehen! Cernunnos sei mein Zeuge: An Euren Körper gebunden, soll Eure Seele sein, Narr, der Ihr Euch König nennt! Fesseln aus kaltem Feuer, Ketten, stärker als Eisen, geschaffen für die Ewigkeit, zu halten in allen Welten.«

Die kalte Hand Feuer-Schwans verharrte auf der Stelle, unter der Boiorix’ Herz rasend schnell schlug. Dann, ohne Vorwarnung, bohrten sich ihre Fingernägel in sein Hemd, gebaren sichelförmige rote Zeichen wie aufsteigende Monde auf der pochenden Haut seiner Brust.

»Unter diesem Mond, im Angesicht des Gottes, den Ihr zu schänden wagtet, bestimme ich: Selbst wenn Ihr sterbt, König, soll Eure Seele Euer vermoderndes Fleisch und Eure brechenden Knochen nicht verlassen! Hört Ihr, was wir Euch sagen? Versteht Ihr es? Ihr werdet in dieser Welt als Seele gebunden sein, die nicht leben und nicht sterben kann. Ihr werdet erleben, wie Euer Name in Vergessenheit gerät. Im Gedenken Eurer Kinder werdet Ihr gescheitert sein, für Euer Volk ein Niemand. Einzig Eure Feinde werden sich Eures Namens erinnern, aber sie werden ihn ohne Ehre auf den Lippen tragen, denn es wird der Name eines Besiegten sein!«

Der Mann stand in der Finsternis, wo niemand ihn sah. Er war unsichtbar, außer für seinen König, der wusste, dass er ihm immer den Rücken freihalten würde. Stumm beobachtete er, wie sein Herr das Mädchen schlug, wie es zu Boden fiel und wie Boiorix sich in den seltsamen Kessel hinein erleichterte. Prüfend glitt sein Blick über die Menge, die rasch zusammenströmte, doch er wusste, von ihr drohte seinem König keine Gefahr.

Ein kalter Windstoß pfiff die Straße in seinem Rücken entlang, strich über die kurzen Härchen in seinem Nacken und bewegte einen Zelteingang neben ihm.

Das Schlagen des Ziegenfells lenkte ihn einen Moment lang ab. Während er sich vergewisserte, dass es tatsächlich nur der Wind gewesen war, der die Haut bewegt hatte, verpasste er, wie das Mädchen zu seinem König trat und ihn mit ihrem Blut zeichnete. Erst ihr Fluch, der klar und deutlich durch die Abendluft hallte und bis in jeden Winkel des Kastells zu kriechen schien, ließ ihn wieder herumwirbeln.

Er wusste nicht, was er tun sollte.

Es war nur ein Mädchen.

Es waren nur Worte.

Bedeutete dies wirklich Gefahr?

Die Finsternis der Nacht schien auf einmal schneller über den Gebäuden und den Menschen zwischen ihnen zusammenzuschlagen. Niemand rührte sich. Alle lauschten gefangen den Worten des Mädchens, unfähig, einzuschreiten, und noch ehe sie wieder Atem holten, war es auch schon vorbei. Die Lippen des Mädchens schlossen sich. Feuer-Schwans Hand berührte noch ein letztes Mal die Stelle über Boiorix’ Herzen, dann trat sie zurück. Von einem Moment zum anderen verwandelte sie sich wieder in ein Kind, griff haltsuchend nach der Hand ihres Onkels. Dieser gab den anderen Druiden ein Zeichen, und zusammen verschwanden sie in der Nacht.

Kein Nordmann rührte sich. Selbst die Priesterin, die Boiorix soeben noch aufmunternd zugenickt hatte, schien wie erstarrt. Ihr Blick flackerte von dem Kessel mit dem gehörnten Gott zu der Stelle, wo Feuer-Schwan gekniet hatte. Boiorix senkte den Kopf und stierte auf das Blut, das den Ansatz seines Hemds zierte.

Der Mann, der bis dahin einsam in den Schatten gestanden hatte, trat eilig vor. Er riss sich sein eigenes Hemd vom Leib, um es in eine Pferdetränke zu tauchen. Dann neigte er vor seinem König den Kopf. »Wenn Ihr erlaubt, Herr?«

Er begann, mit dem nassen Stoff sanft über Boiorix’ Gesicht zu reiben. Das Zeichen, welches das Mädchen auf dessen Stirn gemalt hatte, zerfloss, bevor er es genau erkennen konnte. Er rieb noch etwas stärker. Hellrote Flüssigkeit glitt seine Arme entlang und zu Boden, dann war es plötzlich klares Wasser, das eine flache Pfütze auf dem Platz bildete. Der Mond spiegelte sich darin, silbern und in voller Pracht. Und während der Mann den letzten Rest Blut vom Körper seines Königs wischte, stand dieser reglos da und starrte durch ihn hindurch, als sähe er ihn nicht.

Entsetzen lag in seinem Blick.

101 v. Chr.

»Über die Kimbern wird manches Unrichtige gesagt …«Strabon

»So zogen die Kimbrer hinein in das unbekannte Land, ein ungeheures Knäuel mannigfaltigen Volkes (…); ihre schwerfällige Wagenburg mit der Gewandtheit, die ein langes Wanderleben gibt, hinüberführend über Ströme und Gebirge, gefährlich den zivilisierteren Nationen wie die Meereswoge und die Windsbraut, aber wie diese launisch und unberechenbar, bald rasch vordringend, bald plötzlich stockend oder seitwärts und rückwärts sich wendend. Wie ein Blitz kamen und trafen sie; wie ein Blitz waren sie verschwunden …«Theodor Mommsen

Kapitel 1

»Und wenn schon? Er liebt mich!«

Sumelis betrachtete kritisch den grün-blau karierten Stoff, der auf ihren Knien lag. Die in den Stoff gewebten Goldfäden formten stilisierte Blumen und leuchteten dezent, sobald sie sie in das Licht drehte, das durch die offene Tür in die Stube der Näherin fiel. »Sogar in einem Kleid aus dem Zeug hier?«, fragte sie mit skeptisch hochgezogenen Brauen. »Was ist er? Eine Biene?«

Ihre Tante, die nur ein Jahr älter war als sie, lachte. »Glaub mir, er wird mich wie eine Göttin anbeten!«

»Falls er dich unter diesem Schleier überhaupt erkennt.« Sumelis strich über die blau schimmernde Seide. Federn und Bernsteinperlen waren in den Saum des Schleiers genäht und sollten die Trägerin vor bösen Wünschen schützen. Einen Moment lang überlegte Sumelis, was für ein Vermögen allein dieser Schleier darstellte, aber sie schob den Gedanken sofort wieder beiseite. In Alte-Stadt standen die Dinge nun einmal ein wenig anders als bei ihnen im Norden, dennoch fragte sie sich, ob irgendwann ein Tag kommen würde, an dem sie nicht sprachlos über die Schätze aus aller Welt staunte, die die vindelikischen Fürsten in ihren befestigten Städten und Herrensitzen anhäuften.

»Wie wirst du ihn tragen? Du möchtest ihn doch während der Vermählungszeremonie tragen, oder nicht?«

»Nein, erst abends während der Feier. Er wird mein Gesicht frei lassen, meine Haare jedoch vollkommen bedecken. Auf der Stirn wird er von einem Goldreif gehalten werden.« Samis’ schnelle Antwort zeigte, dass sie alles bis ins kleinste Detail geplant hatte. Bei der Hochzeit, die in fünf Nächten stattfinden würde, würde nichts, aber auch gar nichts, schiefgehen.

Die Hochzeit von Carans Tochter war das gesellschaftliche Ereignis des Jahres. Ganz Alte-Stadt sprach seit Monaten von nichts anderem. Man munkelte, Samis’ Auserwählter hätte an dem Abend, an dem Caran ihn erstmals zu sich gerufen hatte, ein gezäumtes Pferd vor dem Haus stehen gehabt, das schnellste, das in ganz Alte-Stadt zu finden gewesen sei. Er hatte es nicht gebraucht. Zwar war Litus kein Krieger, doch stammte er aus einer angesehenen Familie und hatte schon mit vierzehn Jahren begonnen, Handelsbeziehungen zu den Salzfürsten im Süden zu knüpfen. Als er Caran wenige Jahre später erstmals einen lukrativen Handel unter der Nase weggeschnappt hatte, hatte der mächtigste Herr von Alte-Stadt den jungen Mann zu sich zitiert. An jenem Abend hatte er Litus nicht nur zu einem seiner Handelspartner gemacht, sondern ihm ebenfalls erlaubt, Samis um ihre Hand zu bitten. Das Pferd jedoch, das damals wartend vor seiner Tür gestanden hatte, hatte Caran als Geschenk behalten.

Sumelis kicherte bei dem Gedanken daran. Typisch Großvater. Ihre Mutter, Carans ältere Tochter und Samis’ Halbschwester, würde dieser Teil sicherlich am meisten amüsieren, wenn sie ihr die Geschichte erzählte.

Einen Moment lang spürte Sumelis, wie Heimweh sie ergriff. Kurz vor Ende des alten Jahres war sie nach Alte-Stadt gekommen und hatte hier den Winter verbracht. Jetzt, fünf Monate später, begannen die ersten Schlüsselblumen zu blühen, während die Sonne stetig an Kraft gewann und der Tag ihrer Abreise näher rückte. Sobald auch die Nächte wärmer würden und kein Frost mehr drohte, würde Sumelis sich auf den Heimweg machen, zurück zu ihren Eltern und Geschwistern. Zwar hatte sie die Zeit im Haushalt ihres Großvaters genossen, und das Leben war so viel luxuriöser als im Norden, wo es keine Städte gab, keinen Handel mit Römern, Griechen und den keltischen Stämmen westlich des Rhenos’, dennoch freute sie sich auf ihr Zuhause, auf den gemütlichen Hof mit seinen riedgedeckten Dächern, auf den Geruch, den die getrockneten Kräuter ihrer Mutter unter dem Dach verbreiteten, und auf das Knallen der Holzschwerter, wenn ihr Vater mit ihrem kleinen Bruder den Schwertkampf übte. Nach einiger Zeit würde Hari mit hochrotem Gesicht hereingerannt kommen, übersät mit Schrammen und blauen Flecken, und voller Stolz verkünden, dass er seinem Vater einen Schlag in den Bauch versetzt hatte. Talia würde der Magd Haris zerrissene Kleider in die Hände drücken, den Jungen zu einem Eimer zerren und ihn mit einem feuchten Tuch abwischen. Dann würde sie Atharic eine Standpauke halten – »Ist es etwa nötig, ihn so zuzurichten?« –, nach der Hari seiner Mutter ernsthaft verkünden würde, dass sie eben keine Ahnung von Männerangelegenheiten habe. Talia würde ihm daraufhin erklären, dass er seine Kleider ab jetzt selber zusammenflicken könne, wenn er so gescheit sei. Atharic würde ihr einen Kuss geben und sie dann freundlich darauf hinweisen, dass Vebromara, ihre dreijährige Tochter, die Ablenkung nutzte, um die ausgekühlte Asche des Herdfeuers im gesamten Wohnhaus zu verteilen.

Durcheinander, dachte Sumelis sehnsüchtig und drehte gedankenverloren an einem der schmalen Zöpfe, die ihre Haare zusammenhielten. Ein Begriff, der in Carans Haushalt keinen Platz kannte. Wahrscheinlich fehlte ihr einfach etwas Aufregung.

»Streitet ihr euch eigentlich manchmal? Du und Litus?«

Ihre Tante, verblüfft von der plötzlichen Frage, winkte der Näherin, sie alleine zu lassen, und wandte sich der jüngeren Frau zu. »Nein, tun wir nicht. Wieso fragst du?«

Weshalb überrascht mich das nicht?

»Gibt es denn nichts, was dich an Litus stört?«

Samis legte ihre glatte Stirn in Falten und dachte nach. »Seine Haare«, meinte sie endlich. »Ich mag es nicht, dass er sie heller färbt.«

»Welch schreckliche Herausforderung für eine junge Ehe!«

»Du verspottest mich.«

»Nur ein wenig.« Sumelis umarmte ihre Tante. »Im Ernst, ich freue mich für dich. Es ist schön, dass du glücklich bist. Du und Litus passt bestimmt wunderbar zusammen.«

»Du hältst ihn für langweilig, nicht wahr?«

»Nein, ich …« Sumelis fiel nichts ein. Im Grunde war Litus nicht langweilig. Er war klug, witzig, geistreich. Für seine jungen Jahre hatte er viel erreicht, war ehrgeizig, ohne rücksichtslos zu sein. Er sah sogar gut aus. Nein, Litus war perfekt. Er hatte es nicht verdient, dass Sumelis ihn langweilig fand.

»Er ist nur nicht jemand, der meine Leidenschaft wecken könnte.«

»So, wie es zwischen deinen Eltern ist?«

»Vielleicht.« Sumelis nestelte einen ihrer dunklen Zöpfe auf und knotete ihn mit fliegenden Fingern neu. »Woher soll ich das wissen? Ich war noch nie richtig verliebt, glaube ich.«

Samis lächelte. »Es gibt doch genügend junge Männer, die sofort den Himmel für dich stehlen würden, wenn du sie nur ließest. Auch hier in Alte-Stadt. Zwar weiß niemand, wer du wirklich bist, aber ein paar meiner Freunde haben sich schon nach dir erkundigt.«

»Was erzählst du ihnen?«

»Was wir abgemacht haben: Dass du die Tochter eines von Carans Handelspartnern im Norden bist, unser Gast und meine beste Freundin. Und da sie wissen, wie streng das Nordvolk mit der Tugend seiner Frauen ist, halten sie sich zurück. Sie haben Angst, dass eines Abends ein zornentbrannter Nordmann mit einer Axt vor ihnen steht und die Ehre seiner Tochter wiederherstellt.« Samis’ Lachen war ansteckend.

»So streng sind die Nordmänner auch wieder nicht.«

»Das soll wohl heißen, dass du schon deine Erfahrungen gesammelt hast?«

»Nur ein paar.« Sumelis senkte die Stimme, obwohl sie alleine waren. »Es war nicht … Ich meine, es ging nicht sonderlich weit.« Eine leichte Röte kratzte an ihrem Halsansatz. »Wahrscheinlich war der Richtige einfach noch nicht dabei. – Hoffe ich zumindest.«

»Was sagt deine Mutter?«

Sumelis’ Röte wich einem breiten Grinsen. »Mutter meint immer: Wer einen schlechten Geschmack hat, braucht nicht zu jammern.«

»Das sagt sie?«

»Ja. Sie und Vater beweisen sich im Übrigen ihren schlechten Geschmack noch immer alle paar Nächte. Das Haus ist klein …«

Die beiden jungen Frauen kicherten. Samis stand auf. Die Stube der Näherin war so niedrig, dass ihre hochgesteckte Frisur die Holzdecke entlangstrich. Sumelis, die eine Handlänge größer war als ihre Tante und damit sehr groß gewachsen für eine Frau, musste den Kopf einziehen.

»Lass uns gehen!«, schlug Samis vor. »Wir kommen wieder, wenn alles zur Anprobe bereit ist. Dann werde ich dir zeigen, welches Kleid ich für dich habe anfertigen lassen!«

»Bitte sag mir, dass es keine goldenen Blumen hat!«

Samis stieß ihren Ellenbogen sacht in Sumelis’ Rippen. »Es wird dir gefallen. Vertrau mir!«

»Das tue ich doch.« Sumelis trat nach draußen. Sie wartete, aber als ihre Tante ihr nicht folgte, steckte sie noch einmal den Kopf durch die Tür. »Was ist?«

Samis stand da, die Hände in den Schleier gekrampft und mit einem fast flehentlichen Ausdruck in den blauen Augen. »Sag mir, wie seine Seele aussieht!«, bat sie leise. »Ist sie schön?«

Lächelnd löste Sumelis Samis’ Finger von dem Schleier, bevor sie den zarten Stoff zerreißen konnten. Sie legte ihre Hand über die ihrer Tante und drückte sie.

»Litus’ Seele und deine leuchten in denselben Farben. Wie Kornblumen. In ihr ist nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest.«

Natürlich schien die Sonne, als Caran Samis’ Hand in Litus’ größere gab und dann das weiße Hochzeitstuch über ihre ineinander verschlungenen Finger legte. Natürlich war es ein unangebracht warmer Tag für die Jahreszeit, und natürlich lief alles genau so, wie es geplant war, sogar die Übergabe des Brautpreises, bei dem Caran drei nachtschwarze Hengste vom Heiligtum bis zu seinem Hof galoppieren ließ, reich geschmückt mit in der Sonne blinkenden Bronzescheiben und silberverziertem Zaumzeug, ein Tribut an Epona, Schutzgöttin der Pferde und dieser Stadt. Keine Stimme wankte, die einen Segen oder ein Gelöbnis sprach, kein Ton war falsch, als ein Barde vom Geben und Nehmen in einer Ehe sang. Kein Hundebellen, kein Windstoß, falsch platziertes Lachen oder Kindergeschrei vermischte sich mit dem Schall einer einzelnen Carnyx, die vom höchsten Wachturm die Stadt mit ihrem bläsernen Triumph durchdrang, ein dem Krieg entrissener Rausch. Selbst das Opfer, ein prachtvoller Hirsch, der seine wilde Unbezähmtheit jäh vergaß, starb, ohne sich zu widersetzen, ohne Zuckungen, ein Sterben, dessen Eleganz selbst die Geweihten verblüffte. Aber wie hätte es auch anders sein können, da Samis heiratete und die Druiden das Datum bestimmt hatten? Acht Tage vor der Aussaat der Gerste. Sie hatten die Sterne nach dem richtigen Zeitpunkt der Eheschließung befragt, wofür Caran mit einem prächtigen Widder und dem Versprechen, dem Heiligtum seinen hofeigenen Schmied für einen ganzen Monat zu überlassen, bezahlte. Er hatte in seiner Weisheit einzig bei Sumelis über die Gier der Druiden gemurrt, denn er wollte weder seine Tochter noch seine Frau aufregen, die niemals zulassen würden, dass irgendetwas einen Schatten auf diesen Tag warf. Und sogar Caran musste zugeben, dass die Seher sich nicht geirrt hatten. Es war ein Tag, der alles Glück versprach, das ein Vater sich für seine einzige Tochter wünschen konnte.

»Samis ist nicht deine einzige Tochter«, hatte Sumelis widersprochen, als sie beide am Abend vor den Feierlichkeiten in der großen Halle nach draußen flüchteten, in den von Fackeln und ersten jungen Blüten verwandelten Hof. Die Frauen der Familie hatten während drei aufeinanderfolgender Nächte den Platz vor dem Haupthaus mit Besen aus Haselruten von jeglichem Unrat gereinigt, ein Ritual, das Glück bringen und alles Böse abwehren sollte.

Caran hatte bloß gegrinst. »In diesem Sinne schon. Ich kann mich nicht erinnern, dass deine Mutter mich jemals gefragt hätte, ob ich die Verbindung mit Atharic billige. Oder mit einem anderen Mann.«

»Gab es denn andere?«

»Nein.« Ein kurzes Zögern in Carans Stimme, der einen schrägen Blick in sein Trinkhorn warf und den Inhalt dann ausschüttete. Das einzige Zeichen, dass er sich über sich selbst und seine unbedachten Worte ärgerte.

»Du weißt, dass ich es weiß«, kam Sumelis ihm zu Hilfe. Einen Moment lang tauchte vor ihrem geistigen Auge ein markantes Antlitz auf. Augen von der Farbe frischen Grases leuchteten unter dunklen Haaren und dichten Wimpern. Sumelis hatte dieses Gesicht nur einmal gesehen, als sie sieben Jahre alt war. Ein kalter, selbstgefälliger, grausamer Blick. Dazu die Reaktion ihrer Mutter, eine durcheinandergewirbelte Seele. Rache. Und Rettung.

Caran schwieg. Seine Finger spielten mit dem goldenen Ringschmuck um seinen Hals. Sumelis wusste, es kostete ihn Anstrengung, nicht die Frage zu stellen, die er sich seit zehn Jahren stellen musste. Die er niemals an Talia richten würde, da sie keine Bedeutung bekommen sollte. Die ein schwächerer Vater schon längst gestellt hätte.

Wessen Tochter bist du?

»Lass uns über etwas anderes sprechen«, schlug Sumelis vor. Gelächter und Gesang schollen durch die offenen Fenster der Halle nach draußen, dann die sanften Klänge einer Leier. Sie wechselten sich ab mit den höheren Tönen einer Flöte, ein anmutiger Wechselgesang über die unsterbliche Hingabe eines Sehers, der einen Wassergeist liebte, welcher im Mondlicht als grünhäutige Frau die Seeoberfläche durchbrach und beim ersten Sonnenstrahl als moosbeschuppter Fisch in der wirbelnden Tiefe verschwand.

»Hast du dir schon einmal überlegt, ob du nicht hier bleiben möchtest?«, fragte Caran. »Die Zeiten haben sich geändert, wir haben einen neuen Hohedruiden. Vielleicht, wenn du dich zurückhältst, wäre es möglich …«

»Ich würde niemals meine Gabe verleugnen können. Zehn Jahre sind keine Ewigkeit, Großvater. Im Übrigen würde Mutter umkommen vor Sorge. Sie hat mir ja jetzt schon monatelang vorher immer wieder vorgetragen, was ich auf keinen Fall machen dürfe. Die Leute vergessen schnell, doch genauso schnell erinnern sie sich auch wieder. An vermeintlich Böses. Beängstigendes.« Sumelis ließ ihrem letzten Satz ein unbekümmertes, jugendliches Lachen folgen, das der Düsterkeit ihrer Worte die Gefolgschaft verweigerte. Sie streckte die Arme aus und drehte sich im Kreis, so dass der Saum ihres Kleids flog. »Außerdem, welcher vindelikische Mann würde eine Zauberin heiraten? Hier ist die Auswahl doch noch eingeschränkter als im Norden!«

Caran musste schmunzeln. »Wieso sind Hochzeiten für euch Weiber eigentlich immer ansteckend? Ist es ein besonderer Fiebergeist, der von Stirn zu Stirn springt und sich in die Menschen gräbt?«

Sumelis’ Antwort ging unter im fröhlichen Gejubel der aus dem Haus quellenden Menschenmasse. Wie ein Wasserfall brandeten die Gäste in den Hof. Mit Rädchenamuletten und Schmuck aus Gold, Silber, Bernstein, Koralle und Glas herausgeputzte Feiernde, zitternd und hüpfend zugleich in der kalten Abendluft. Die Männer trugen fast ausnahmslos bronzene Reitersporen, sorgfältig frisierte Schnurrbärte, doch als Gäste keine Waffen. Die Frauen führten bunte Hauben oder komplizierte, zu unzähligen kleinen Zöpfen geflochtene und von Bändern gehaltene Frisuren vor. Darunter von Fibeln gehaltene farbenprächtige Kleider und leichte Mäntel, die sie sich gegen die Kühle rasch übergeworfen hatten. Gläserne Armreifen und Ringe lugten unter langen Ärmeln hervor, als mit fliegenden Händen Holzscheite von Hand zu Hand gereicht und zu einem kleinen Stapel aufgeschichtet wurden. Jauchzen, als das Feuer zu züngeln begann. Frauen fachten die Flammen mit dem Wedeln ihrer Röcke an, Kinder warfen kleine Zweige, Kräuter und vereinzelte Fleischstücke hinein, deren Fett in der Hitze spritzte und zischte. Caran gesellte sich zu seiner Frau, die in die Hände klatschte und wie alle anderen laut die Namen des jungen Paares rief. Dann stürzten Litus und Samis durch die Tür des Haupthauses nach draußen, Hand in Hand. Der Goldreif, der Samis’ Schleier hielt, blitzte im Schein des Feuers, das strahlende Gesicht darunter so schön, dass so mancher Mann Neid auf Litus verspürte. Dieser griff Samis fester an der Hand. Sie sahen sich an, nickten sich zu, bevor sie Anlauf nahmen, um mit einem Satz über das Feuer zu springen. Die Leute klatschten und pfiffen. Sumelis johlte mit ihnen, bis sie unvermittelt einen kalten Hauch im Nacken spürte. Sie drehte sich um, aber hinter ihr war lediglich das breite, überdachte Tor mit seinen fratzenverzierten Pfosten. Es stand offen. Eines der beiden Feuer, die den Eingang zu Carans Gehöft erleuchteten, war erloschen, in dieser Ecke war alles dunkel. Neugierige gingen auf der Straße dahinter vorbei, um einen kurzen Blick auf das Brautpaar und die geladene Gesellschaft zu erhaschen. Nichts war daran ungewöhnlich, dennoch hatte Sumelis einen Moment lang das Gefühl, als hätte ein forschendes Augenpaar dieser vorbeischlendernden Schatten nicht Samis und Litus gegolten, sondern ihr.

Sumelis stand auf dem Wehrgang, fünfzig Schritt vom Osttor entfernt, den Blick nach Norden gerichtet. Sie zählte ungefähr vierzig Arbeiter, die damit beschäftigt waren, die Stadtmauer zu erneuern. Die Balken, die das Gerüst der alten Mauer bildeten, hatten zu modern begonnen, und so hatte der Rat vor wenigen Jahren beschlossen, dem alten Mauerring eine neue Mauer vorzublenden. Dazu wurden lange Pfosten aufgerichtet und rückwärtig in der alten Verteidigungsanlage verankert. Sie stützten die zwischen ihnen liegenden Mauerabschnitte aus sorgfältig aufgeschichteten Kalksteinen. Man hatte mit der Erneuerung am Osttor begonnen und war dann dem Lauf der Sonne gefolgt. Mittlerweile waren die Arbeiten beinahe abgeschlossen, und der Ring war fast geschlossen. Zehntausend Schritte brauchte es, so hatte Sumelis gehört, um die gesamte Länge der Stadtmauer abzuschreiten. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie viele Steine nötig gewesen waren, um diese Mauer zu bauen, aber ihre Vorstellungskraft reichte dafür nicht aus.

»Was hat es eigentlich mit diesem Pfahl dort auf sich?«, fragte sie, ohne den Kopf zu drehen. Ihr rechter Zeigefinger deutete zum Osttor. »Er soll verflucht sein, habe ich gehört.«

Caran, ihr Großvater, trat neben Sumelis, sein Blick folgte ihrem ausgestreckten Arm. Vor dem Tor erhob sich ein Pfahl in den Himmel, der an seinem oberen Ende mit Schnitzereien verziert und von einer Querstange durchbohrt war. An ihren Enden baumelten bunte Bänder, ein fröhlicher Anblick, obwohl die Querstange eigentlich dazu gedacht war, die Schädel jener aufzuspießen und zur Schau zu stellen, die es wagten, die Stadt und ihre Bewohner anzugreifen. Allein die Existenz dieses Pfahls bewies, dass niemand dem Frieden wirklich traute, selbst wenn den vindelikischen Stämmen in den letzten Jahren keinerlei Angriff von Feinden gedroht hatte. Wie ein mahnender Finger stand er vor der Stadt, eine Verbindung von Himmel und Erde, Vergangenheit und Gegenwart.

»Der Pfahl wurde letzten Herbst, kurz bevor du ankamst, aufgestellt«, beantwortete Caran die Frage seiner Enkelin. »Die Druiden wollten an ihm die Prozession beginnen, die während des Totenfests vom Tor durch die Stadt zum Haupttempel führt. Sie schickten einen ihrer höchsten Druiden, um den Pfahl bei seiner Errichtung zu weihen. Die Gebete und Zauber, die in ihn gewoben sind, sollen eigentlich die Stadt beschützen, aber während sie den Pfahl noch in die Höhe wuchteten, zog ein Gewitter auf. Ein Junge, der auf der Mauer stand, wurde vom Blitz getroffen und starb. Er war erst sechs Jahre alt. Seinem Vater, der dicht neben ihm stand, geschah nichts. Es war wirklich seltsam.«

»Was passierte dann?«

»Die Druiden bestimmten, die Götter hätten ein Menschenleben gefordert als Ausgleich für ihr Wohlwollen oder als Strafe, weil wir ein Bauwerk wie diese Mauer errichtet hatten, ohne ihnen zu opfern. Alle hofften, dass mit dem Tod des Jungen ihr Zorn besänftigt wäre. Das Kind wurde über Nacht zum Helden erklärt, weil es sein Leben für den Schutz der Stadt eingetauscht hatte. Um die Götter an ihren Handel zu erinnern, versenkten die Druiden das Skelett des Jungen in der Durchfahrt unter dem Osttor und brachten einen seiner Unterschenkelknochen in den Tempel. Dort liegt er jetzt, und durch ihn erneuern sie jeden dritten Vollmond die Gebete und Schutzzauber, die das Tor bewachen sollen.«

»Das ist keine schöne Geschichte.«

Caran kniff die Augen zusammen. »Für die meisten schon. Sie sind froh, dass die Götter ein Opfer gefordert haben. Das macht die Stadt stärker, glauben sie.«

Sumelis schnaubte abfällig, was Caran amüsierte. »Du bist wie deine Mutter«, murmelte er. »Nicht nur, dass du ihr ähnlich siehst, nein, du hast auch viel von ihrem Wesen geerbt.«

»Ich dachte, ich sähe dir ähnlich?«

»Das hat sich zum Glück für dich rechtzeitig gegeben.« Er warf ihr einen schrägen Blick zu. »Das mit der Gesichtsform, der Nase und dem Kinn tut mir leid. Aber ich mag unsere Augenfarbe. Nicht so aufdringlich wie die deiner Mutter.«

Sumelis lachte. Sie wusste, sie hatte Carans stolze Gesichtszüge geerbt, das etwas längliche Gesicht mit der langen geraden Nase und den fast schwarzen Augen. Zusammen mit ihrer hellen Haut, die sie mit ihrer Mutter teilte, und dem gewellten dunklen Haar war sie nicht nur im Norden eine ungewöhnliche Erscheinung.

Sumelis machte einen halbherzigen Versuch, ihre Haare unter die enganliegende Haube auf ihrem Kopf zu stopfen, gab es aber schnell wieder auf. Stattdessen hakte sie sich bei ihrem Großvater unter. Sie war so groß, dass ihre Stirn über Carans ergrauten Bart strich, als sie einen Moment lang eng beieinanderstanden. Dann trat sie seufzend wieder einen Schritt zurück. Offiziell war sie lediglich ein Gast in Carans Haus, die Tochter eines befreundeten Händlers. Niemand außerhalb von Carans Haushalt wusste, wer sie wirklich war: die Enkelin des mächtigsten Mannes der Vindeliker und Tochter Talias – der Frau, an die sich die Bewohner der Stadt noch immer, trotz der langen Zeit, die seither vergangen war, mit einer Mischung aus Schrecken und Ehrfurcht erinnerten.

Zehn Jahre war es nun her, seit Talia mit der damals siebenjährigen Sumelis aus Alte-Stadt geflohen war, kurz nachdem sie die Stadt vor Dago, dem König der Boier, und seinen zwanzigtausend Kriegern, die gekommen waren, um Alte-Stadt einzunehmen, gerettet hatte. Talia hatte Dago getötet – mit Hilfe jener einzigartigen Gabe, die auch in Sumelis’ Adern brannte und welche die vindelikischen Druiden ebenso sehr fürchteten wie neideten: die Macht, Seelen sehen zu können. Die Bewohner der Stadt hatten es Talia jedoch nicht gedankt, dass sie sie alle gerettet hatte. Angestachelt vom damaligen Hohedruiden, hatten sie Talia und ihrer Tochter nichts als Angst und Ablehnung entgegengebracht. »Hexe« hatten sie sie genannt, böse Zauberin und eine Gefahr für das Volk. Schließlich war Talia nichts anderes übriggeblieben, als fortzugehen. Sie und Sumelis hatten Atharic und seinen Stamm in den Norden begleitet, zu einem fremden Volk, das eine fremde Sprache sprach und fremde Götter anbetete. Sie waren niemals mehr nach Alte-Stadt zurückgekehrt.

»Ich kann dich leider nicht zurück zum Hof bringen«, sagte Caran entschuldigend. »Ich habe noch etwas zu erledigen. Eine Überraschung für Samis.«

Sumelis nickte. »Mach dir keine Sorgen, ich komme schon zurecht.«

Er drückte ein letztes Mal ihren Arm, dann kletterte er den Wall an der Innenseite der Stadtmauer hinab. Eine Zeitlang konnte sie ihn von oben noch beobachten, wie er die Straße entlanglief, bis er schließlich zwischen den mit Holzschindeln und Stroh gedeckten Gebäuden verschwand. Ein paar Tropfen fielen aus dem grauen Himmel, und Sumelis schlang sich ihren kurzen Umhang aus Schafswolle enger um die Schultern. Die Wachen am Tor blickten neugierig zu ihr hinüber, denn der Wehrgang in der Nähe der Tore war normalerweise kein Aufenthaltsort für Frauen, daher beeilte sie sich, die Stadtmauer zu verlassen.

Sie bemerkte nicht die dunkle Gestalt, die sich aus den Schatten neben dem Torhaus löste und ihr im Abstand von dreißig Schritten folgte.

Es nieselte leicht, als Sumelis die Hauptstraße hinter sich ließ und den Weg zu Carans Hof einschlug. Sie zog die Schultern hoch und senkte den Blick auf den Boden. Ihre Schritte trugen sie rasch die Straße entlang, obwohl sie immer wieder Pferdeäpfeln, Hundekot und Pfützen, in denen brackiges Wasser stand, ausweichen musste. Sie rümpfte die Nase über den Gestank aus den Gräben, die entlang des geschotterten Wegs verliefen, und war beinahe froh, dass die dunklen Wolken am Horizont heftigen Regen versprachen. Das Wasser würde den Unrat fortspülen und Alte-Stadt von dem Dreck, der sich den Winter über angesammelt hatte, reinigen. Das war auch bitter nötig: Der Geruch der Stadt, als Sumelis sie das erste Mal nach zehn Jahren wieder betreten hatte, hatte sie wie ein Schlag ins Gesicht getroffen. Sie war den Gestank von Tausenden von Menschen und Vieh einfach nicht gewohnt, denn wo sie herkam, im Norden, gab es keine Städte, keine Mauern aus Stein mit gewaltigen Tor- und Wachanlagen, die Höfe, Handwerkerhäuser, Speicher, Wohnhäuser reicher Händler oder Herren, Straßen, Tempel, Felder und Weiden schützend umgaben. Sumelis hatte auch nur ein einziges Mal mehr als tausend Nordmänner versammelt gesehen: vor zehn Jahren, als die Kimbern an Alte-Stadt vorbeigezogen waren, über vierzigtausend Krieger stark und dazu noch einmal mindestens dieselbe Zahl an Frauen und Kindern. Caran hatte Sumelis erzählt, dass die Kimbern im letzten Jahr abermals das vindelikische Gebiet durchquert hätten, diesmal aber weiter im Süden, am Rande der Berge entlang. Danach hatten sie das Gebirge überschritten und waren nach Italien eingefallen. Ein römisches Heer hatte versucht, sie aufzuhalten, war jedoch von der Flut aus dem Norden vernichtet worden.

»Glaubst du, den Kimbern wird es gelingen, Rom zu erobern?«, hatte Sumelis ihren Großvater gefragt. Dieser hatte den Kopf geschüttelt. »Niemand weiß das. Aber wie ich höre, haben die Kimbern ihren Vorteil nicht genutzt und sind nicht weiter vorgestoßen. Sie haben den Winter in der Ebene am Fuße der Berge verbracht, ohne einen Finger zu rühren.« Leiser hatte er hinzugefügt: »Hauptsache, sie kommen nicht mehr zurück.«

Ein Hund schoss vor Sumelis’ Füßen vorbei auf der Jagd nach einer Ratte, die zwischen den Brettern einer baufälligen Hütte verschwand. Sumelis schrak zusammen und presste unwillkürlich eine Hand gegen die Brust. Kurz darauf spürte sie eine Bewegung hinter sich und drehte sich um. Ein Stück hinter ihr näherte sich ein Mann. Er trug einen dunklen Umhang mit Kapuze und hielt wie sie den Kopf gesenkt. Der Regen wurde stärker.

Sumelis wartete, bis der Mann sie überholt hatte, dann hastete sie an der Gebäuderuine vorbei und auf einen mit einem Spitzdach versehenen Brunnen zu, der am Rande einer kleinen Pferdeweide stand. Sie setzte sich auf die Brunneneinfassung und zog die Knie an. Auf diese Art vorm Regen geschützt, wartete sie darauf, dass der Schauer vorüberzog.

Es dauerte länger, als sie vermutet hatte. Die dunkle Wolke schien sich über Alte-Stadt festgesaugt zu haben. Ein paar vereinzelte Hagelkörner fielen zu Boden; es klackte leicht, wenn sie auf die Holzschindeln des Brunnendachs trafen. Pfützen bildeten sich um den Brunnen herum, und Sumelis konnte in ihnen ihr verzerrtes Spiegelbild erahnen. Langsam begann sich auch die Dämmerung herabzusenken. Die wenigen Reiter und Fußgänger, die die Straße entlangkamen, hatten es eilig und bemerkten Sumelis nicht; sie hasteten vorbei, ohne nach links und rechts zu sehen. Sumelis gefiel der Anblick, wie die Flammen ihrer Seelen durch die Regenschleier hindurch zu ihr hinüberleuchteten, Signalfeuer, die ihr zeigten, wo menschliches Leben war. Die bläulichen Farben schimmerten warm vor dem Blick ihrer Gabe, unschuldig und verletzlich.

Schließlich wurde Sumelis die Zeit doch zu lang, zudem sie zu frieren begonnen hatte und ihr Magen knurrte. Sie verließ den geschützten Platz unter dem Brunnendach und stapfte leise schimpfend durch die Pfützen hindurch in Richtung Straße. An der Rückwand der Hütte blieb sie stehen, um sich ihren langen Rock hochzubinden, der sich am Saum mit Wasser vollgesogen hatte. Von hier aus konnte sie die Straße nicht mehr sehen, nur die Rückseiten der Gebäude, einen aus Weidenruten geflochtenen Zaun, der ein Gehöft umgab, die Weide, wo ein paar Pferde mit gesenkten Köpfen eng beieinanderstanden, und den Brunnen.

Hier könnte man fast glauben, ganz alleine in der Stadt zu sein, dachte sie. Zumindest für ein paar kurze Augenblicke.

Erst als es bereits zu spät war, bemerkte sie, dass sie nicht allein war. Es war die Wahrnehmung eines Schattens, wo kein Schatten sein sollte, die sie herumwirbeln ließ. Ein doppelter Schatten: ein Körper, in Schwarz gekleidet, und eine Seele, verborgen in Dunkelheit. Ihre Flammen …

Der Schlag, der Sumelis’ Kopf traf, erstickte ihr überraschtes Keuchen und vernichtete alle Gedanken. Sie spürte nicht mehr, wie starke Hände sie auffingen, kurz bevor sie auf den Boden schlug.

Geräusche.

Das Lachen von Kindern. Hundebellen. Dumpfe Schritte, deren Erschütterung sie mehr unter ihrer Wange spürte, als dass sie sie hörte. Neben ihrem Kopf blieben sie stehen. Es gelang ihr, die Lider einen Spaltbreit zu öffnen.

Dämmerlicht. Eine Hand, die über ihrem Mund schwebte. Was machte sie da? Die Frage kam als Stöhnen über die Lippen. Sofort presste sich die Hand auf ihren Mund und drückte zu. Sie bekam keine Luft mehr. Sie wollte sich aufbäumen, doch ihre Arme und Beine waren gefesselt. Ein Stofffetzen drängte sich zwischen ihre Lippen. Sie presste sie zusammen und drehte den Kopf weg. Finger aus Stahl drückten gegen ihre Kiefer, zwangen sie auseinander. Sie roch nasse Wolle, Moder und Schaf. War sie in einem alten Stall?

Das Kinderlachen entfernte sich. Sie versuchte, in die Hand zu beißen, die sie am Schreien hinderte. Ein Knie bohrte sich in ihren Magen, übte Druck aus. Bei jeder Bewegung spürte sie mehr von dem Gewicht des Mannes, der sie gefangen hielt. Sie spannte ihren Bauch an, dann konzentrierte sie sich darauf, still liegen zu bleiben, scheinbar aufzugeben. Der Druck auf ihrem Magen ließ nach. Als der Mann sein Gewicht von ihr nahm, zog sie mit einem Ruck die Beine an. Ihre Knie schnellten vor, zielten auf seinen Kopf. Sein linker Arm blockte sie ab, doch dabei lockerte sich sein Griff um den Knebel, der schon halb in ihrem Mund war.

Sie schrie.

Sein Schlag schleuderte sie abermals in die Dunkelheit.

Als Sumelis das nächste Mal erwachte, drang Sonnenlicht an ihre Augen. Was sie weckte, waren Hände auf ihrem Gesicht, die sie prüfend untersuchten. Sie zuckte zusammen, als die Finger eine wunde Stelle an ihrer Schläfe berührten, obwohl die Berührung nicht brutal war, lediglich forschend.

»Du kannst die Augen ganz öffnen. Ich weiß, dass du wach bist. Und hier kannst du auch schreien, so viel wie du willst. Niemand wird dich hören.«

Die Stimme war klar und emotionslos. Sie sprach helvetisch – mit einem vertrauten rauhen Akzent. Sumelis, die die ersten sieben Jahre ihres Lebens bei den Helvetiern, einem Nachbarstamm der Vindeliker, gelebt hatte, hatte keinerlei Mühe, sie zu verstehen. Dennoch weigerte sie sich, der Aufforderung nachzukommen.

Denk nach!

Sie wusste, ihr Entführer saß dicht neben ihr. Sie hörte ein metallisches Scharren, beinahe schon ein Kreischen, das in den Ohren weh tat; wahrscheinlich schärfte er gerade sein Schwert oder eine andere Waffe. Vögel zwitscherten, und ein kühler Wind strich ihren Hals entlang, raschelte in den Blättern der Bäume. Sumelis schloss daraus, dass sie im Freien lag, unter einem Unterstand, umgeben von Laubwald. Vorsichtig weitete sie ihre Wahrnehmung aus.

Nichts.

Niemand.

Keine einzige Seele in ihrer Umgebung. Da war kein Licht, das auf das suchende Tasten ihrer eigenen Seele reagierte, keine blauen Flammen, die ihr grüßend entgegenzüngelten. Sie und der Mann, der sie entführt hatte, waren allein.

Es dauerte einen Moment, bis der Widerspruch in ihr Bewusstsein drang.

Sie hatte überhaupt keine Seele gesehen.

Oder?

Sumelis setzte sich so abrupt auf, dass ihr schwindelig wurde. Ihr Schädel protestierte und jagte Übelkeit ihren Magen hinauf, bis sie würgen musste. Krampfhaft schluckte sie den Brechreiz hinunter und bohrte die Nägel in ihre Handflächen, um sich abzulenken. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie noch immer gefesselt war.

Der Mann, der gegen einen Baumstamm gelehnt vor ihr saß, war einige Jahre älter als sie. Seine Haare waren ungewöhnlich kurz, nicht einmal so lang wie die Dicke ihres kleinen Fingers, ihre Farbe daher nicht wirklich feststellbar. Eine schmale Narbe teilte eine seiner Augenbrauen und zog sich schräg über die Schläfe hin zum Haaransatz. Sie verlieh seinem Gesicht einen harten Ausdruck, der ansonsten, trotz der scharf geschnittenen Züge und des kantigen Kinns, nicht unbedingt zu sehen gewesen wäre. Sein glattes Gesicht ließ vermuten, dass er sich die Barthaare auszupfte, was ihn jünger erscheinen ließ. Sein breiter Mund hätte sinnlich genannt werden können, wenn ein echtes Lächeln ihn gekräuselt hätte und nicht diese Mischung aus leisem Spott und verstörender Selbstsicherheit. Sumelis’ Entführer trug schwarze Hosen, ein langärmliges dunkelgrünes Hemd von guter Qualität, das unter einem weiteren dunklen, mit Leder verstärkten Oberteil hervorschaute. Der schwere schwarze Umhang, den er getragen hatte, als er Sumelis angegriffen hatte, lag säuberlich zusammengerollt neben ihm, ebenso seine Waffen. Er wirkte entspannt, beinahe belustigt, während er zusah, wie Sumelis an ihren Fesseln zerrte. Doch Sumelis nahm gar nicht bewusst wahr, was ihre Hände taten. Sie hatte nicht beabsichtigt, die Stärke ihrer Fesseln zu prüfen. Sie war lediglich der unwillkürlichen Regung gefolgt, den Mann vor ihr zu berühren, sich zu vergewissern, dass das, was sie sah, wirklich war. Was sie nicht sah.

Wieso konnte sie seine Seele nicht sehen?

Der Schlag auf den Kopf, dachte sie verstört. Vielleicht ist es das? Die Kopfschmerzen …

Etwas Ähnliches war ihr noch nie passiert. Es war, als wäre sie plötzlich im Inneren erblindet und sähe die Welt nur noch durch einen Schleier, der den äußeren Schein hindurchließ und das wahre Leben ausschloss.

»Wer bist du?«, stieß sie atemlos hervor.

»Nando.«

Ein nordischer Name, mit Gleichgültigkeit ausgesprochen. Sumelis zwang sich, sich auf den Klang des Namens zu konzentrieren, der das Einzige war, was sie von ihrem Entführer fassen konnte, anstatt auf die nagende Verunsicherung, die sie zu lähmen drohte. Schlagartig hatte die vertraute Wirklichkeit der Welt mit ihren leuchtenden Seelen, in der sie sich zeitlebens wie selbstverständlich bewegt hatte, einen Riss bekommen. Der Schock wirbelte einen Strudel aus Fragen auf, doch sie war zu verwirrt, um klar denken zu können, und stellte wahllos die erste, die ihr sinnvoll erschien.

»Haben die Druiden dich hierfür bezahlt?«

Aus irgendeinem Grund hatte sie den Eindruck, dass die Frage ihn amüsierte, auch wenn sie nicht sagen konnte, weshalb, und sie auch keine Antwort erhielt.

Sumelis hob die gefesselten Hände und presste die Handballen gegen ihre Stirn. Sie hatte Kopfschmerzen, ansonsten ging es ihr gut. Sie wusste, sie sollte eigentlich Angst um ihr Leben haben, aber im Moment verstörte sie der Verlust ihrer Gabe mehr als alles andere.

Seit ihrer Geburt hatte sie Seelen sehen können; es fiel ihr so leicht wie das Atmen. Sie sah Seelen in der Form von Feuer, von Flammen, die den Kern eines jeden Menschen bildeten, in ihn eintraten, wenn er geboren wurde, und den Körper im Tod wieder verließen, um sich auf den Weg in die Andere Welt zu machen. Oft konnte Sumelis mit ihrer Gabe auch erkennen, ob es einem Mensch gutging oder schlecht, denn starke Gefühle veränderten den bläulichen Grundton einer Seele. Hass, Freude, Schmerz – all das konnte sie als schillernde, manchmal schreiende Farben sehen. Niemals, seit sie sich erinnern konnte, hatte sie einen Menschen getroffen, nach ihrer Gabe gegriffen und …

… nichts gesehen.

»Kannst du mir die Fesseln etwas lockerer machen?«, bat sie. »Sie schneiden ein.«

Nando löste sich von dem Baum, an den er gelehnt saß, und beugte sich näher zu ihr. Jetzt konnte sie erkennen, dass er graue Augen hatte – so klar und scharf wie das Metall, das er gerade noch geschliffen hatte. Ein Hauch von Neugierde gesellte sich zu der Kälte in ihnen.

»Hast du denn keine Angst vor mir?«, fragte er.

»Nein. Sollte ich das?«

»Ja.«

Sumelis zögerte. »Und du?«, gab sie die Frage schließlich mit mehr Trotz als Tapferkeit zurück. »Warum hast du keine Angst vor mir?«

»Weshalb sollte ich?«

Sie schwieg. Sie hatte keine Ahnung, was er über sie wusste, und sie wollte ihm nichts verraten. Nandos nächste Worte zeigten jedoch, dass ihm durchaus klar war, wer – oder besser was – sie war.

»Ich habe keine Angst vor Hexen, Zauberinnen und Dämonen, wenn du das meinst. Man hat mich schon oft verflucht, aber wie du siehst, erfreue ich mich nach wie vor besten Wohlbefindens.«

Sumelis hörte, was er sagte, doch ihr entging der Unterton, der in seinem letzten Satz mitschwang. Nando hatte ihre Handgelenke ergriffen und prüfte das Seil, das sie zusammenband. Seine Haut fühlte sich warm auf ihren kalten Händen an, eine beiläufige Berührung, die alles war, was Sumelis brauchte. Sie senkte die Lider und konzentrierte sich.