Die Tochter des Fechtmeisters - Sabine Weiß - E-Book
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Die Tochter des Fechtmeisters E-Book

Sabine Weiß

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Beschreibung

Rostock 1608. Als Tochter eines Fechtmeisters ist Clarissa von der Kunst des Fechtens fasziniert. Für sie geht ein Traum in Erfüllung, als sie ihren Vater nach Frankfurt begleiten darf, wo sich die besten Schwertkämpfer des Reiches messen. Doch zwischen den verfeindeten Fechtbruderschaften schwelt ein Krieg, und dann wird Clarissas Vater bei einem Überfall ermordet.

Mit dem jungen Räuber Leander macht sie sich auf die Suche nach den Mördern. Dabei stößt sie auf eine Verschwörung, die das ganze Reich bedroht: Kaiser Rudolf soll ermordet werden - ausgerechnet von einem Fechter ...

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Inhalt

Cover

Über die Autorin

Titel

Impressum

Zitat

Personenverzeichnis

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Glossar

Anmerkung und Dank

Über die Autorin

Sabine Weiß, 1968 geboren in Hamburg, war nach ihrem Germanistik- und Geschichtsstudium als Journalistin tätig. 2007 veröffentlichte sie ihren ersten historischen Roman, der zu einem großen Erfolg wurde und dem fünf weitere folgten. Für Die Tochter des Fechtmeisters tauschte die Autorin Schreib- gegen Stahlfeder – und wurde mit Muskelkater und tieferen Einsichten über die Fechtkunst belohnt. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nordheide.

Sabine Weiß

Die Tochter desFechtmeisters

HISTORISCHER ROMAN

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Ulrike Strerath-Bolz, FriedbergTitelillustration: Johannes Wiebel | punchdesign, München, unter Verwendung von Motiven von © shutterstock /DarkBird; shutterstock /rticknor; © akg-imagesUmschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, MünchenE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-3058-8

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

Erschrickst du gerne, das Fechten nimmer lerne.

Fechtbuch von Johannes Liechtenauer

Personenverzeichnis

ROSTOCK

Clarissa Nykrantz, Tochter des Fechtmeisters

Fritjoff und Lievke Nykrantz, Fechtmeister und seine Frau, Clarissas Eltern

Alf, Knecht

Hilde, Magd

Carl, Fritjoffs Bruder

Barbara, Bierbrauerin und Clarissas Freundin

Bernhard, Barbaras Mann und Rechtsgelehrter

Diethard von Reipenstein, Student

Gerold Grammig, Meister der Federfechter

GANZEKENDORP

Benedicta, Carls und Fritjoffs Mutter

Wutzow, Großbauer

SCHWERIN

Meister Thies, Messerschmied

Joachim Meyer, Fechtmeister*

Jodocus Thies, Messerschmied

Thekla, seine Frau

Maria, seine Schwester

FRANKFURT AM MAIN

Paulus, Christoff Rösener*, Levin und Gerd, Fechtmeister der Marxbrüder

Benjamin und Ezra, Fechtschüler aus Prag

Irmel, Paulus’ Frau

Salvator Fabris, Fechtmeister*

Rudolf Eisenhut, genannt Capo Ferro, Fechtmeister*

Gaukler

Leander Marvig, Klopffechter

Gallus Marvig, Baumeister und Klopffechter

Engelin, Gallus’ Geliebte, Seiltänzerin

Sixt, Klopffechter

Caspar, Feuerschlucker

Freihart, Grimassenschneider

Ursel, Wahrsagerin

PRAG

Arkadi, Spielmann

Donna Felicitas, jüdische Geschäftsfrau

David, ihr Sohn

Jaro, ihr Gehilfe

Rudolf II., Kaiser*

WIEN

Erzherzog Matthias*, Bruder des Kaisers

Dorle, Hure

Heinrich Julius, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg*

PASSAU

Erzherzog Leopold, Bischof von Passau*

Seraphim, Jesuitenpater

Jan, Novize

NÜRNBERG

Ambrosius, Leanders Kindheitsfreund und Bruder der tödlich verunglückten Ninchen

Grietgen, seine Frau

Meister Thomas, Baumeister

* Historisch verbürgte Persönlichkeiten

1

Ganzekendorp, nördliches Mecklenburg, Sommer 1566

Hüfthoch steckte der Mann im Erdloch. Obgleich er halb bewegungslos war, fürchtete sich der Junge vor ihm. In dem wutverzerrten Gesicht des Mannes bleckten die Lippen wundrot. Der dichte Bart gab die Zähne frei, als wären es Reißer, wie die Wölfe sie hatten, die ständig ums Dorf strichen. Noch mehr schüchterte den Jungen der Streitkolben ein. Es war eine scharfkantige, schwere Waffe, aber der Mann schwang sie über dem Kopf, als wöge sie nichts. Die Mutter des Jungen war dagegen nur mit einem Feldstein bewaffnet. Der Fünfjährige streckte die Arme nach ihr aus, doch sein großer Bruder hielt ihn fest. Die Frau wickelte sich das Ende ihres Tuchs um die Hand. In die Mitte hatte sie den Stein gebunden, ein Band sollte ihn an seinem Platz halten. Die Waffe wirkte wie ein Spielzeug auf den Jungen – lachhaft, verglichen mit dem gewaltigen Streitkolben.

Seine Mutter richtete sich auf. Würde sie zu ihnen kommen? Er wünschte es sich so sehr! Leinenwäsche spannte um ihren Leib, deutlich zeichnete sich ihr Körper darunter ab. Die mageren Arme und Beine, die weichen Brüste, an die er sich so gerne schmiegte. Ihre Haare waren von einer Haube bedeckt. Sie blickte ihren Gegner an, stolz trotz ihrer Notlage und ihres unschicklichen Aussehens. Der Junge liebte und bewunderte sie mehr denn je. Den Streitkolben senkend lachte ihr Gegner sie aus. Wutzow war der reichste Mann im Dorf, ein Großbauer, dem alle nur mit zu Boden gerichtetem Blick begegneten.

Am Rande der Lichtung johlten die Zuschauer. Der Junge erkannte die Dorfbewohner kaum wieder. Keiner von ihnen hatte für ihre Mutter eintreten wollen. Sein Bruder mit seinen zehn Jahren und er waren hingegen noch zu jung, um sie zu verteidigen. Das Kind ballte die Fäuste. Er würde für sie kämpfen, wenn er dürfte. Warum war er noch nicht groß?

Noch immer redeten der Dorfvorsteher und der Pfarrer. Bange wandte sich der Junge seinem Bruder zu. »Vielleicht lassen sie Mutter doch gehen?«

Das Scheppern des Schwerts auf einem Schild zerschlug seine Hoffnungen. So ungestüm drängten die Dörfler nach diesem Signal heran, dass sie von den Bütteln zurückgehalten werden mussten.

»Nein, das glaube ich nicht. Gott steh uns bei.« Sein Bruder sank auf die Knie. Der Blick des Jungen verschwamm. Obgleich er sich auf die Lippen biss, konnte er die Tränen nicht zurückhalten.

Nun trat der Dorfvorsteher in den Kreis und forderte die Zuschauer zur Ruhe auf. Er wartete, bis nur noch das Scharren der Füße auf dem staubigen Boden und vereinzeltes Hüsteln zu hören war. Dann führte er die Regeln des Kampfes auf. Es war ein Wortschwall, den der Junge kaum verstand. Eines aber begriff er: Gott führte die Waffen der Kämpfenden. Und Gott würde demjenigen zum Sieg verhelfen, der im Recht war.

Ein himmelblauer Schmetterling fing den Blick des Jungen ein. Wie schön er war! Halb tanzend flatterte er an der Menge entlang. Als ein Mädchen ihn einzufangen versuchte, konnte der Falter im letzten Augenblick entkommen.

Der Pfarrer sprach ein Gebet. Die Stimme seines Bruders im Ohr, öffnete der Junge den Mund, um ebenfalls zu beten, doch ihm fiel kein einziges Wort mehr ein. Die Angst vertrieb jeden klaren Gedanken. Jetzt wurde gesungen. In Gottes Namen fahren wir … Der Fünfjährige hob den Blick und sah in das lächelnde Gesicht seiner Mutter. Tapfer wischte er sich den Rotz von der Nase.

Kaum war das Lied verklungen, begann Großbauer Wutzow zu brüllen. Der Streitkolben pfiff durch die Luft. Die Mutter hob den Stein in ihrer Schlinge. Sie schwang ihn hin und her, bis er gleichmäßig kreiste. Ihr zarter Körper wurde mitgerissen wie ein Schilfrohr im Wind. Wie viel Kraft musste sie diese Bewegung kosten! Dann schlug sie zu. Der Junge schnappte nach Luft. Dumpf knallte der Stein in die Erde. Der Mann konterte. Nur knapp verfehlte der Kolben die Schulter der Mutter. Einen tiefen Krater hinterließ er in der Erde. Sie sprang zurück. Die Zuschauer juchzten, manche buhten auch. Erneut hob sie den Stein, kreiselte ihn und tänzelte um die Grube. Immer wieder schlug der Großbauer nach ihr, aber sie war außer Reichweite. Abrupt sprang sie vor. Der Stein sauste hinab und fuhr haarscharf an der Brust des Mannes vorbei. Ihr Tuch hatte sich um seine Streithand gewickelt. Geschickt versuchte sie, ihrem Gegner den Kolben zu entwinden. Gleichzeitig zog und zerrte der Mann an dem Band. Mit einem Ruck riss Wutzow sie auf die Grube zu. Einige Dorfbewohner zischten erregt. Der Junge umkrallte die Hand seines Bruders. Dieser hielt die Augen zusammengekniffen und murmelte ein Gebet. Die Mutter lag auf der Erde und rang verbissen mit ihrem Gegner. Der Junge konnte ihr schweres Atmen hören, sah die dunklen Flecken, die sich unter ihren Achseln ausbreiteten, den Schweiß auf ihrer Stirn. Die linke Hand des Mannes packte sie am Nacken, die rechte drehte den Streitkolben ihrem Leib entgegen. Sie wand sich, aber ihr Gegner war stärker.

»Mutter!« Der Angstschrei des Jungen wurde von den blökenden Schaulustigen übertönt.

Mit einem Ruck befreite sie sich aus dem Klammergriff und sprang den Mann an, packte seinen Hals. Knallrot schwoll dessen Gesicht an. Jetzt hatte sie ihn! Da buckelte Wutzow und warf sie halb herum. Sie strampelte mit den Beinen, wollte Abstand gewinnen. Das Band hatte sich im Ringen von seiner Streithand gelöst. Taumelnd kam sie auf die Füße, den Feldstein hinter sich herschleifend. In diesem Moment holte der Mann mit dem Streitkolben aus und traf sie zwischen den Beinen. Sie klappte zusammen. Leinen riss, Blut strömte. Die Hände vor das tränennasse Gesicht geschlagen, hörte der Junge das Stöhnen der Mutter. Er zwang die Finger auseinander und sah, wie sie sich etwas entfernt von der Grube sammelte. Zitternd tasteten ihre Finger nach den Wunden an Oberschenkel und Gesäß. Da war der Schmetterling wieder. Dicht flatterte er über die Erde.

»Maak se doot!«, forderte ein Mann aus der Menge den Tod der Mutter.

Der Junge wollte zu seiner Mutter laufen, aber eine Hand packte ihn an der Schulter. Die Nachbarin.

»Las dat. Du bis doch plietsch. Die geiht to’n Deuwel.«

Der Junge schluchzte. Der Großbauer tat seiner Mutter weh. Er musste ihr doch helfen!

Erneut wollte seine Mutter den Stein schwingen, brachte ihn aber kaum noch hoch. Schwerfällig ging sie auf ihren Gegner zu. Sie holte aus, täuschte an und verletzte ihn am Kopf. Gleichzeitig schwang der Mann den Streitkolben. Hart traf er ihre Seite. Sie ging in die Knie. Das Gesicht des Bauern war schmerzverzerrt und blutig. Wutzow drehte den Kolben und zog sie zu sich heran. Als er nahe genug war, riss er den Streitkolben aus ihrem Fleisch. Noch einmal schlug er zu. Sie fiel. Triumphierend zerrte er sie mit seiner Waffe in die Grube. Gott hatte den Kampf zu seinen Gunsten entschieden.

2

Wien, April 1606

Mit angehaltenem Atem legte sie das Ohr an die Tapetentür. Noch war es still. Hoffentlich hatte niemand sie gesehen! In der Wiener Hofburg wimmelte es nur so von Bediensteten, ein Zustand, den Dorle in den letzten Wochen schätzen gelernt hatte. Sie fühlte sich selbst schon wie eine Prinzessin! Umso dümmer war es von ihr, ins Zimmer des Leibkammerdieners einzudringen. Ohne ein Risiko einzugehen, wäre Dorle allerdings niemals dort gelandet, wo sie jetzt war. Und dem Statthalter Österreichs schien es gerade zu gefallen, dass sie nicht so zimperlich war wie die Damen bei Hofe.

Schritte. Verhaltene Männerstimmen.

Würde sie wirklich etwas mitbekommen? Hoffentlich ging es nicht nur um langweilige Jagdgeschichten! Andererseits hatte Matthias sehr geheimnisvoll getan, was dieses Treffen anging. Vorhin, im Bett, hatte er bedeutungsschwanger verkündet, dass dieser Abend alles verändern könne. Während Dorle sich auf ihm abmühte, hatte er von seinen Verhandlungserfolgen mit den Ungarn und den Türken schwadroniert. Auch sein Bruder, der Kaiser, würde nicht umhinkommen, seine Leistungen zu würdigen, hatte er gesagt. Es war sein Lieblingsthema, und sie hatte allerlei Kniffe anwenden müssen, damit er sich ihr voll und ganz widmete. Ohnehin versagten seine Kräfte schnell, vor allem, wenn er, wie so oft, dem Wein zu stark zugesprochen hatte. Aber trotz ihrer jungen Jahre hatte sie einige Fertigkeiten, die Eheweiber ihren Männern nicht bieten konnten. Und damit brachte sie auch Matthias in Wallung. Am Ende hatte er sie bedauernd zurückgelassen; so sollte es sein. Dorle würde sich eilen müssen, um nach der Besprechung in die Schlafkammer zurückzukehren. Er würde keine Zeit verlieren, um ihr Liebesspiel fortzusetzen.

Geistesabwesend rieb sie über ihren gänsehautprickelnden Körper. Abgesehen von den gut beheizten Räumen der Herrschaften war es kalt und zugig in der Hofburg. Zudem trug sie das dünne Kleid, das der Erzherzog ihr geschenkt hatte und das ihm wegen seiner Schlitze so gut gefiel.

Dorle erstarrte. Vier Stimmen, nein fünf. Und da – das kriecherische Säuseln des Leibkammerdieners! Was, wenn er durch die Tapetentür treten würde? Aber nur ruhig. Matthias hatte gesagt, das Treffen sei so geheim, dass nicht einmal Diener in der Nähe geduldet würden.

»… die Verhandlungen auf einem guten Wege sind. Der Vertrag mit den Türken ist dank meines Geschicks so gut wie geschlossen.«

Erzherzog Matthias’ selbstgefällig vorgetragene Rede verklang. Tatsächlich ächzte das Habsburgerreich schon seit mehr als zehn Jahren unter den Kosten des zähen Türkenkrieges. Dass der Krieg nun mit einem Ausgleich statt mit einem Sieg enden sollte, verbitterte vor allem jene, die ihre Ehemänner und Söhne an der Grenze des Osmanischen Reiches verloren hatten.

»Wir werden allerdings nicht umhinkommen, den Ungarn Zugeständnisse zu machen«, fuhr Matthias fort. Eine weitere Stimme. Dorle kniff die Augen zusammen, um sich ganz aufs Lauschen zu konzentrieren. Wer war das? Kannte sie den Mann?

»Ja, mein ehrenwerter Ferdinand, ich weiß, es ist eine Zumutung. Ihr habt in Graz für unseren Glauben Großes geleistet. Aber in diesem Fall wird uns nichts anderes übrig bleiben. Wir werden den Protestanten schon noch früh genug die Ohren lang ziehen!«, verkündete Matthias.

Aha, Ferdinand – der Vetter des Kaisers. Erzherzog von Innerösterreich. Was Matthias als Großtat bezeichnete, war die Vertreibung Hunderter Protestanten, die Schließung evangelischer Kirchen und die Verbrennung lutherischer Bücher, das wusste selbst sie, die sich ansonsten aus Glaubensfragen heraushielt. Religion brachte nur Streit. Und sie musste schon genug kämpfen, um ihre eigene Zukunft zu sichern.

Ihre Ohrmuschel pulsierte von dem Druck gegen die Tür. Sie vernahm einen weiteren Mann, doch Dorle konnte sein Murmeln nicht verstehen. Vermutlich saß er im Gegensatz zu Matthias weiter von ihr entfernt.

»… stimme ich Euch voll und ganz zu, Exzellenz …«, antwortete Matthias seinem Gegenüber.

Er musste Melchior Klesl meinen, den Bischof von Wien. Matthias vertraute ihm. Nein, viel mehr: Er war froh, dass Klesl ihm den mühseligen Schreibkram und einen Großteil des politischen Strippenziehens abnahm. Klesl, Sohn eines Bäckers und früherer Protestant, war von den Jesuiten zum katholischen Glauben bekehrt worden und galt auf der Straße als gewiefte Ketzergeißel.

Sie wärmte ihre Brüste mit den Händen. Die kalte Haut schmerzte schon.

»Weshalb habt Ihr uns denn nun hierherbestellt? Wichtige Ordensgeschäfte warten auf mich.« Noch jemand. Gemessene Sprechweise, harter Tonfall. Ein weiterer Pfaffe?

»Nur die Ruhe, verehrter Maximilian.«

Sie lächelte. Ihr Liebhaber machte es ihr leicht: Erzherzog Maximilian, ein weiterer Kaiserbruder. Hochmeister des Deutschen Ordens und Statthalter von Tirol. Nur die Erzherzöge Albrecht und Leopold schienen zu fehlen, ansonsten war der engste männliche Familienkreis komplett. Tatsächlich eine illustre Runde.

Nachdem sie Matthias’ Gunst erlangt hatte, war sie eilends darangegangen, sich mit den Verwandtschaftsverhältnissen der Casa d’Austria vertraut zu machen, doch noch immer hatte sie nicht ganz durchschaut, wer mit wem paktierte. Sie kannte nur einen, der das komplizierte Machtgeflecht bei Hof durchschaute, und sie konnte sich glücklich schätzen, dass dieser hohe Herr ihr Vertrauen schenkte.

Matthias räusperte sich, dann senkte er die Stimme. Nun verstand sie nur noch einzelne Wörter. Es schien um den Kaiser zu gehen. Von »Verzagtheit« war die Rede, von »Desinteresse« und von »Geistesblödigkeit«. Meinte er etwa, dass Kaiser Rudolf verrückt war?

»So kann es nicht weitergehen. Ich habe bewiesen, dass ich fähig bin zu regieren«, verkündete Matthias.

»… Niederlanden?«

»Ich verbitte mir das, Maximilian Ernst! Das ist Geschichte!«, brauste Matthias auf.

Es war also noch ein Habsburger anwesend. Ein Vetter, glaubte sie zumindest. Maximilian Ernst war ein kleines Licht. Dennoch: Sein Einwand musste einen wunden Punkt bei Matthias getroffen haben. Sie würde sich nach dieser Geschichte um die Niederlande erkundigen. Vielleicht konnte sie die Information zu ihrem Vorteil nutzen.

Leise schlugen Dorles Zähne aufeinander. Ihre Füße kribbelten. Seit dem vorletzten Winter waren zwei ihrer Zehen taub, und sie konnte Kälte nur schwer ertragen. Lange würde sie hier nicht mehr ausharren. Und wie sollte sie später im Bett Matthias ihren Zustand erklären? Er war zwar eitel, aber nicht dumm.

»Als ältester der Erzherzöge bin ich bereit, Verantwortung zu übernehmen.«

»… Thronfolger. Mein Sohn …«, hörte sie Ferdinand einwenden.

»Natürlich werde ich die Heiratsverhandlungen entschlossen vorantreiben«, fiel Matthias ihm ins Wort. »Nachkommen werden nicht auf sich warten lassen. Ich bin noch jung genug …«,

Jung, nun ja, beinahe fünfzig war ihr Geliebter, und er scheute bekanntermaßen die Ehe wie der Teufel das Weihwasser. Erzherzog Ferdinand hatte einen Sohn, erinnerte sie sich jetzt. Doch genau wie Erzherzog Matthias war auch Kaiser Rudolf noch immer unverheiratet, ein unziemlicher Zustand, wie halb Österreich fand, weil die Thronfolge ungesichert war. Sie begann um ihre Zukunft zu bangen. Was würde mit ihr geschehen, wenn Matthias heiratete? Müsste sie auf die Straße zurück? Das wollte sie auf keinen Fall! Sie musste sich Matthias unentbehrlich machen. Noch nie hatte sie so gut gelebt wie als Geliebte des Erzherzogs. Vielleicht konnte er ja auch Kaiser werden, ohne zu heiraten. Sein Bruder machte es ihm doch vor. Es hieß, dass Kaiser Rudolf mit seinen verschiedenen Geliebten mehrere Kinder hatte. Wenn auch Matthias an ihr festhielte … Schon malte sie sich in schillerndsten Farben Gewänder, Kutschen und Schmuck aus. Warum sollte es ihr nicht gelingen, nach ganz oben zu kommen?

Matthias klang entschlossen: »Wir müssen unsere Bruder- und Vetternliebe vergessen und im Dienste des Reiches handeln. Rudolf muss Einhalt geboten werden. Er ist regierungsunfähig, das steht fest. Schon lange hätte er einen Nachfolger ernennen müssen. Aber er hat nur Alchemie im Kopf, Sternenkunde und die schönen Künste. In seinem Prager Schloss hat Rudolf sich verschanzt. Das allein ist doch schon ein Zeichen seiner Geistesblödigkeit – unser schönes Wien zu verschmähen! Es ist unverantwortlich, so einen an der Spitze des Staates zu belassen, wenn man die politischen Querelen in Ungarn und den Krieg mit den Türken bedenkt. Im ganzen Reich drohen die Protestanten, die Führung zu übernehmen. Im Norden sind weite Landstriche vollständig in protestantischen Händen. Sogar in den Erblanden kommen wir kaum noch gegen sie an. Es muss etwas getan werden, und zwar schnell!«

Einwände und Zustimmung brandeten auf. Erzherzog Matthias und Bischof Klesl dirigierten geschickt das Gespräch. Nach einer Weile schienen die Kritiker überzeugt. Der habsburgische Familienrat beschloss Rudolfs Absetzung und erkannte Matthias als Oberhaupt an. Beim spanischen König, dem Papst und anderen Fürsten wollten die Erzherzöge um Unterstützung nachsuchen – im Geheimen, verstand sich, denn schließlich planten sie ja nichts Geringeres als einen Sturz des Kaisers.

Dorle konnte ihr Zittern nicht mehr kontrollieren. Schnell unter die Federdecken und den Leib aufwärmen, bevor der Erzherzog zurückkam! Vorsichtig löste sie ihr Ohr von der Tapetentür und rieb die schmerzende Haut. Doch es war nicht nur die Kälte, die ihr zusetzte, es war auch das Gehörte.

Seine eigenen Brüder und Vettern wollten den Kaiser loswerden. Familienzusammenhalt schien keine Bedeutung für diese Männer zu haben. Dabei war Familie doch das Wichtigste, was man hatte! Sie, die als Waise aufgewachsen war, wusste das besser als jeder andere. Noch ein letztes Mal legte sie das Ohr an die Tür.

»… wenn nötig, mit Gewalt.« Dorle zuckte zurück. Würden seine engsten Verwandten Kaiser Rudolf tatsächlich etwas antun?

3

Rostock, Mecklenburg, August 1608

Der Kaufmann hieß den Knecht seinen Karren beiseitelenken, eine Patrizierin wechselte die Seite, selbst ein Ratsmann machte ihnen Platz, als sie forsch durch Rostocks Straßen schritten. Marius spürte das Wippen des Degens an seiner Seite, die bewundernden Blicke der Frauen auf seiner einnehmenden Gestalt und seinen Waffenbruder Alexander neben sich. Er fühlte sich unbesiegbar. Sogar Clarissa hatte ihn vorhin bewundernd angesehen. Sein neuer Radmantel aus tiefblauem Samt harmonierte aber auch ausgezeichnet mit seinen hellblauen Augen und seinem schulterlangen Blondschopf. Clarissa. Noch einmal spürte er den Gefühlen nach, die dieser Name in ihm auslöste. Die Tochter seines Fechtmeisters hatte ihn gleich fasziniert. Mit ihrer schwarzen Mähne, den tiefblauen Augen, ihrer vornehmen Blässe und den vollen Lippen strahlte sie eine Mischung aus Unnahbarkeit und Sinnlichkeit aus, die ihn ungeheuer reizte. Äußerlich würde sie einen hübschen Kontrast zu ihm abgeben. Und natürlich wäre sie eine gute Partie. Aber in den vier Wochen, in denen sie nun schon unter einem Dach lebten, hatte sie stets züchtigen Abstand zu ihm gehalten. Schon öfter hatte Marius versucht, sie allein abzupassen, aber stets war jemand dazwischengeplatzt. Heute musste es sein! Heute musste er herausfinden, ob sie ebenfalls etwas für ihn empfand! Schließlich würden sie bald getrennt.

Wenn ihm nur sein Freund und Waffenbruder nicht in die Quere kam! Alexander, dieser Schwerenöter. Schon oft hatten sie um die Gunst einer Frau konkurriert. Mal hatte der eine obsiegt, mal der andere. Es war Geschmackssache: Alexander war ein muskulöser, übergroßer Mann. Stets perfekt in Auftreten und Haltung, hatte er etwas von einer gespannten Armbrust. Bart und Haare glänzten tiefbraun, und er war ein geschätzter, weil großzügiger Kunde bei den Bartscherern der Stadt. Auch jetzt umgab ihn der feine Duft von Seife, wie Marius feststellte. Im Umgang mit dem weiblichen Geschlecht war Alexander geradlinig und ließ nichts anbrennen. Im Gegensatz zu Alexander betrachtete Marius sich als geschmeidig, charmant und gefällig. Glücklicherweise hatte sein Freund bislang kein Interesse an Clarissa gezeigt. Es gab allerdings auch so genügend Frauen, die ihm schöne Augen machten. Mit Alexander wurde es in dieser Hinsicht nie langweilig.

Sie hatten die Workrenterstraße und den Hafenbezirk hinter sich gelassen, in dem sich das Haus des Fechtmeisters befand. Inzwischen schritten sie an der Marienkirche vorbei auf den Neuen Markt zu. Zufrieden nahm Marius die Szenerie in sich auf. Seine Zeit in Rostock hatte seinem Leben eine neue Richtung gegeben. Von Anfang an hatte die alte Hanse- und Fürstenstadt ihn beeindruckt. Diese Fülle sattroter Giebelhäuser aus Backstein, die sich am Ufer der Unterwarnow ausbreiteten! Die unzähligen Kaufmannsläden und Braustuben! Die Vielfalt von Sprachen und Menschen! Rostock war eine quirlige Stadt. Schiffe aus dem gesamten Ostseeraum und darüber hinaus liefen den Hafen an. Auf den Straßen mischten sich Seeleute und Studenten aus verschiedensten Ländern mit den Einheimischen. Vor allem Holländisch und Brabantisch waren allerorten zu hören. Aber auch Schweden, Dänen und Norweger suchten die Hauptstadt des Landes Mecklenburg häufig auf, sogar Finnen und Isländer gab es hier. Viele schrieben sich an der Universität Rostock ein. Die Alma Mater Rostochiensis war die erste Universität im Ostseeraum gewesen und eine der ältesten und größten im ganzen Norden, was in Rostock gerne betont wurde.

Marius lüftete mit dem Zeigefinger die kleine Halskrause. Es war heiß, aber förmliche Kleidung war unabdingbar. Sie durften ihren Meister zu einem ganz besonderen Fest begleiten. Eine Doktorpromotion und Hochzeit auf einen Schlag, das kam nicht so oft vor. Es war ein feierlicher Abschluss ihrer Zeit in Rostock, dachte Marius. Hierhergekommen war er als einfacher Kürschner-Geselle aus dem mecklenburgischen Güstrow. Nun war er bald ein Meister des Schwerts. Er würde eine gehobene Stellung erringen, und niemand würde ihm mehr respektlos begegnen.

»Mach Platz da, du Schelm!«

Die Schulter des Entgegenkommenden rammte ihn. Marius wankte. Wer wagte es? Er griff nach seinem Degenknauf. Ein Pausbäckiger, ein Hagerer und ein Stämmiger bauten sich vor ihnen auf. Alle drei hatten sie die Hand am Degen. Diese Geste allein rechtfertigte schon einen Kampf! Es waren Studenten der Universität Rostock. Bestickte Wappen an den kurzen Überröcken, die sie zu Wams und Strumpfhosen trugen, wiesen sie als Adelige aus. Er hatte sie zu spät gesehen, gerade erst waren sie aus der Gasse gebogen.

Alexander stürzte vor. Oft suchten Studenten Streit mit Bürgern und Handwerkern. Gerade Adelige waren auf Ehrenhändel aus.

»Ihr Herren lasst es an Respekt mangeln«, sagte Alexander laut.

Der Pausbäckige schnaubte verächtlich. »Sagt einer, dem die Ehre versagt werden müsste, einen Degen zu tragen!«

»Ich verstehe gut, dass es Euch schwerfällt zu begreifen, dass Eure Zeit abgelaufen ist«, sagte Alexander maliziös lächelnd.

Eine alte Frau drängte sich mit ihrem Karren beinahe an die Häuserwand, um vorbei zu sein, bevor die Klingen gekreuzt wurden.

Der Hagere neigte sich zu seinen Kommilitonen. »Wie meint er das?«

»Ich meine, dass der Adel sich selbst zugrunde gerichtet hat, wie man ja an Euch sieht«, sagte Alexander laut, als wäre sein Gegenüber nicht nur begriffsstutzig, sondern auch taub.

»Du …« Zischend wurde der Stahl aus der Scheide gerissen.

Alexanders Körper spannte sich.

Marius’ Knie waren hingegen weich. Er hatte sich noch immer nicht an derartige Herausforderungen gewöhnt. Beschwichtigend legte er die Hand auf den Arm seines Waffenbruders. »Lass gut sein. Warum sollten wir wegen dieser Dummköpfe unsere Meisterprüfung gefährden?«, mahnte er leise.

Doch Alexander ignorierte ihn. Über seinen katzenfellglatten Bart streichend, lachte er seinen Herausforderer an. »Nur zu! Wenn Ihr Glück habt, finden sich bald Büttel ein, die Euch zur Strafe in den Finkenbauer oder den Karzer werfen. Ansonsten könnte diese Unverschämtheit auch Euer Leben kosten.«

Jahrelang war Studenten das Waffentragen verboten gewesen. Seit aber immer mehr Adelige auf die Universität drängten, verbreiteten sich die höfischen Sitten wieder. Inzwischen war es Studenten erlaubt, nachts einen Degen zu tragen, sofern gleichzeitig eine Laterne mitgeführt wurde. Diese Einschränkung wurde aber wenig beachtet, obgleich Raufhändel streng geahndet wurden.

Aus den Läden traten erste Schaulustige. Der Kampf würde sich schnell herumsprechen.

»Ein Ehrenkampf ist unausweichlich. Nenn mir Stunde und Ort für unseren Zweikampf!«

»Wir sind zu einer Festivität geladen. Seht uns also nach, dass wir für Raufereien keine Zeit haben.«

»Wir sind auch zu einem Fest eingeladen.«

Marius schwante, dass sie das gleiche Fest meinen könnten, auch wenn sie jetzt noch in unterschiedlichen Richtungen unterwegs waren. »Was für ein Zufall! Lasst uns also den Frieden wahren«, warf er dazwischen.

Aber es war zu spät.

Der Stahl fuhr in die Scheide zurück.

»Mitternacht im Rosengarten«, forderte der Pausbäckige leise.

Alexander neigte das Haupt. »Es wird mir ein Vergnügen sein.«

Weit ausholend schritt Alexander weiter. Marius folgte ihm eilig.

»Bist du verrückt, dich auf eine Herausforderung einzulassen?«, flüsterte er und ärgerte sich darüber, dass seine Stimme bebte. »Morgen reisen wir gen Frankfurt ab! Willst du alles riskieren, was wir erreicht haben, nur um ein paar dummerhaftige Adelige zu maßregeln?«

Bei der großen Fechtschule der Bruderschaft Sankt Marx, dem Turnier, das alljährlich zur Herbstmesse am Main stattfand, würden sie in wenigen Wochen ihr Können unter Beweis stellen. Wenn es ihnen gelänge, sich vor den vier Hauptleuten der Fechtbruderschaft zu behaupten, würden sie zu Meistern des Schwerts ernannt. Danach folgte nur noch die Probezeit von zwei Jahren, in denen sie sich nichts zuschulden kommen lassen durften, und danach könnten sie selbst Schüler ausbilden. Ein einträgliches Geschäft.

Beinahe mitleidig lächelte Alexander ihn an. Seine Halsmuskeln spielten dabei. »Du bist mein Waffenbruder und mir lieb und teuer – aber du bist ein solcher Feigling!«

Alexander wich einem Mann aus, der das Pflaster mit Wasser aus den hölzernen Leitungen besprühte, damit es nicht so staubte. Dabei hatte das Jahr nass angefangen, hatte ihr Meister erzählt. Im Februar war das Hochwasser bis an das Mönchtor gestiegen. Der Sommer war kühl und feucht gewesen, gerade erst waren die Wolken gewichen. Jetzt brannte die Sonne allerdings so unbarmherzig, als wollte sie Versäumtes aufholen.

Aus den Brauereien zog der süßliche Duft von Getreide. Ein kühles Bier wäre jetzt genau das Richtige, dachte Marius sehnsüchtig. Er hatte in Rostock so manchen Humpen geleert. Aber selbst wenn er jeden Tag ein anderes probiert hätte, hätte er es nicht geschafft, alle Rostocker Biere zu kosten, schließlich fand sich in etwa jedem dritten Haus eine Brauerei. Ans Kniesenack, das Gersten-Starkbier aus seiner Heimat Güstrow, kam aber kaum eines der Biere heran, fand er.

»Ich bin kein Feigling! Ich bin nur vernünftig. Du weißt, dass der Rostocker Rat hart gegen derartige Kämpfe vorgeht.«

Sie passierten das Rathaus und bogen in die Wasserstraße ein. Zu ihrer Linken prangte ein prächtiges Giebelhaus mit glasierten Ziegeln und aufwendigem Figurenschmuck. Nun ging es bergab; Rostock war auf mehreren Hügeln erbaut, zwischen denen Flussarme und wasserreiche Gruben lagen.

»Es ist unser letzter Abend! Wer will uns was, wenn wir erst mal weg sind? Wir dürfen uns nur nicht erwischen lassen«, sagte Alexander.

Marius legte theatralisch eine Hand auf die Brust. Da er durch die Fechtausbildung derzeit nicht mit der Verarbeitung von Fellen beschäftigt war, hatten sich die Entzündungen an seinen Fingern beruhigt, sodass er sich nicht mehr für ihren Anblick schämen musste.

»Wir? Ich werde auf keinen Fall zum Rosengarten gehen. Die Nachtwächter haben die Plätze um den Wall im Blick – so oft, wie dort Kämpfe stattfinden!« Er tätschelte Alexanders Schulter. »Nein, ich werde unseren Abschied gebührend feiern.«

Alexander lachte so laut, dass sich die Frauen, die auf dem Neuen Markt beim Garbrater anstanden, nach ihnen umdrehten. Es roch gut, sodass Marius das Wasser im Mund zusammenlief.

»Und der einen oder anderen Jungfrau das Herz brechen? Bei Hochzeiten sind die Jungfern ja immer besonders aufgeschlossen.«

Sie liebten nun mal die Frauen. Ihr Fechtmeister tolerierte ihre Eskapaden, denn Fritjoff war den Freuden des Leibes ebenfalls nicht abgeneigt. Regelmäßig waren die Schüler unfreiwillig Zeugen der Ehedramen in seinem Haus geworden. Wenn Fritjoff nach fremdem Duftwasser riechend nach Hause kam, machte ihm seine Frau stets die Hölle heiß. Sie schrie und weinte und zog sich dann schmollend zurück. Wenn Fritjoff ihr folgte, gelang es ihm allerdings schnell, sie zu besänftigen – bis zum nächsten Mal.

Marius erinnerte sich an einen Abend, an dem sich Fritjoff und seine Frau in ihrer Kammer gestritten hatten. Clarissa hatte, wie so oft, Laute gespielt, doch die Trauer auf ihrem Gesicht war nicht zu übersehen gewesen. Also hatte er versucht, sie mit einer Partie Tric-Trac abzulenken, was ihm auch gelungen war. Sie war ihm gewogen, das spürte er. Leider hatte die Magd ihnen Gesellschaft geleistet. Aber heute Abend würde er Clarissa ganz für sich haben, dafür würde er schon sorgen.

Er grinste. »Wie du schon sagtest: Es ist unser letzter Abend.«

Jemand rannte im Obergeschoss hektisch hin und her, bei Clarissa jedoch war es still. Noch einmal ließ sie die Finger über ihre Laute tanzen. Die Musik perlte durch das, was ihr Vater den Fechtsaal nannte. Tatsächlich war die Diele ihres Giebelhauses, abgesehen vom Waffenschrank und den Schilden, leer. Clarissa hoffte, dass die Musik ihre Mutter entspannen würde. Doch da hörte sie von oben Lievkes Stimme: »Meine Haare – die Flechten lösen sich!«, beschwerte sich ihre Mutter.

»Und mein Hut ist verschwunden!«, murrte nun auch noch Clarissas Vater lautstark.

Da war wohl Hilfe nötig. Clarissa legte auf dem Weg zur Treppe eine Hand auf den Hausbaum und drehte sich ein paar Mal um die tragende Säule im Kreis. Sie freute sich auf das Fest, war aber auch nervös. Ihre Mutter hielt sie von Vergnügungen fern. Sie fürchtete stets, Clarissa könnte etwas zustoßen oder sie könne in schlechte Gesellschaft geraten. Jetzt war Clarissa achtzehn Jahre alt, und die meisten Eltern hätten sich wohl darangemacht, einen geeigneten Ehemann zu finden. Ihre Eltern jedoch nicht. Clarissa war froh darüber. Sie liebte die Welt des Vaters, an der sie teilhaben durfte, solange sie in seinem Haus lebte. Wer wusste schon, ob es ihr mit einem Ehemann ebenso gut gehen würde?

Am Treppenfuß huschte Clarissa an dem Spiegel vorbei, den ihr Vater für seinen Unterricht benötigte. Sie sah nur flüchtig hinein. Sie hatte weder das grazile Aussehen, das sie bei manchen anderen Frauen bewunderte, noch eine besonders weibliche Figur mit ausladenden Hüften, weichen Armen und prallem Busen, wie viele Männer sie zu schätzen schienen. Die meisten ihrer Geschlechtsgenossinnen und viele Männer überragte sie um Haupteslänge. Tiefschwarz wellten sich ihre Haare den Rücken hinab. Das Einzige, was sie an sich bemerkenswert fand, waren ihre Augen – sie hatten das Meerblau von Aquamarinen und waren von langen Wimpern eingerahmt. Vor allem aber hielt die Kleidung sie vom Blick in den Spiegel ab: Ihre Mutter bestand auf üppigen Roben und buntem Haarschmuck. Auch heute baumelten Bommeln und Borten an ihrem Kleid. Das breite, noch zusätzlich wärmende Hüftpolster und das enge Mieder trugen auch nicht zu ihrem Wohlbefinden bei. Clarissa hatte schon oft versucht, schlichtere Gewänder durchzusetzen, aber ihre Mutter hatte darauf immer so empfindlich reagiert, dass Clarissa sich ihr zuliebe fügte.

Sie eilte die Stufen empor. Ihre Eltern waren oft spät dran, heute jedoch könnten sie das Beste verpassen. Noch nie waren sie zu einer Doktorfeier mit anschließender Hochzeit eingeladen worden. Nur weil es ihre Freundin und Nachbarin Barbara war, die heiratete, waren sie überhaupt in den Genuss einer Einladung gekommen. Der halbe Rat würde da sein, dazu die akademischen Stände und einige Herrschaften von Adel. Als wohlhabende Witwe eines Brauers, deren Vater zudem im Rat gewesen war, war Barbara eine gute Partie. Mehrere Doktoranden hatten um sie geworben. Sie alle verfügten über viel Wissen, aber über wenig Geld, um sich nach dem Studium eine Existenz aufzubauen. Barbaras Familie hatte den Vielversprechendsten ausgesucht, obgleich die Braut noch immer um ihren ersten Mann trauerte.

»Hilde, wo ist mein … Ach, verdammt, da hab ich den Hut ja!«, hörte sie ihren Vater brummen.

Clarissa trat in die Schlafkammer der Eltern, wo ihre Mutter auf einem Schemel saß. Die Magd stand hinter ihr und mühte sich mit den Haarnadeln. Hildes Unterlippe bebte, sie war vierzehn und erst seit wenigen Monaten bei ihnen angestellt.

»Als heute Morgen eine schwarze Katze über den Fenstersims spazierte, wusste ich, das bedeutet Unglück! Und nun die vielen Verzögerungen! Vielleicht sollten wir lieber im Haus bleiben.« Clarissas Mutter umklammerte den Talisman, den sie an einer Kette um den Hals trug. Es war ein silbernes Röhrchen mit einem Kreuz darauf. Als Kind hatte Clarissa oft darum gebeten, einmal das Röhrchen öffnen zu dürfen, aber ihre Mutter hatte es stets verweigert. Lievke war furchtbar abergläubisch.

Aufmunternd lächelte Clarissa sie an. »Aber Mutter, das bedeutet vermutlich nur, dass wir Mäuse unterm Dach haben. Wir sollten uns lieber selbst eine weitere Katze zulegen.« Sie war in all den Jahren Expertin für das Widerlegen böser Omen geworden. Aberglaube fand in ihr keinen Platz. Für unerklärliche Phänomene oder seltsame Zusammenhänge gab es immer eine vernünftige Erklärung, davon war sie überzeugt.

»Ich weiß nicht … Nicht einmal meine Haare wollen sitzen«, haderte Clarissas Mutter. Mit ihren neununddreißig Jahren war Lievke recht eitel. Sie war Näherin am Hof des Herzogs von Mecklenburg gewesen und wollte am liebsten alle anderen Bürgerinnen mit ihrem Aussehen übertrumpfen. Auch heute war sie sorgfältig zurechtgemacht und geschminkt. Sie streckte die Arme nach Clarissa aus. »Komm her, meine Blume. Wie schön du musiziert hast!«

Clarissa freute sich über das Lob; sie hatte das Lied nur einmal auf dem Jahrmarkt gehört und lange geübt, bevor sie es fehlerfrei nachspielen konnte. »Darf ich helfen?«, bot sie an.

»Lieber nicht! Du ruinierst meine Frisur noch ganz!« Lievke war überzeugt davon, dass Clarissa ein Pechvogel war und zudem zwei linke Hände hatte. Woher dieser Glaube rührte, wusste Clarissa nicht, aber seit frühester Kindheit ließ ihre Mutter sie kaum eine wichtige Aufgabe übernehmen. Allmählich glaubte Clarissa selbst, dass sie ungeschickt war.

Die Magd stocherte mit den verzierten Nadeln im Haar ihrer Herrin. Lievke warf Clarissa einen zweifelnden Blick zu. »Also gut, sonst zieht dein Vater noch ohne uns los.« Das kam natürlich nicht infrage. Eifersüchtig wachte Lievke über jeden Schritt ihres Mannes, was Fritjoff umso öfter zum Ausbüxen verleitete. Clarissa fand es furchtbar, wenn ihr Vater mit anderen Frauen poussierte. Andererseits konnte sie seinen Freiheitsdrang nachfühlen. Wer wollte schon ständig kontrolliert werden?

Nach wenigen Minuten waren die Haare geflochten und hochgesteckt. Statt eines Dankes blickte Lievke ihre Tochter prüfend an.

»Wo ist deine neue Schnebbe, Blümchen?«, fragte sie. Clarissa störten die ständigen Kosenamen. Es war, als wäre sie acht, nicht achtzehn. Hoffentlich hielt sich ihre Mutter später beim Fest damit zurück.

»Ich muss sie verlegt haben«, schwindelte Clarissa. Sie hatte die scheußliche Haube mit den aufdringlichen Spitzen, deren drei Ecken auf der Kopfhaut pieksten, unter ihrem Bett verschwinden lassen.

Ihre Mutter schürzte schmollend die Lippen. »Clarissa?«

»Aber Mutter …«

»Ich habe die Haube eigens für diese Hochzeit gefertigt. So viel Mühe habe ich mir gemacht! Willst du mir das wirklich antun?«

Willst du mir das wirklich antun? Die anderen Jungfern werden sich über mich lustig machen, hätte Clarissa gerne geantwortet, aber ihre Mutter war dünnhäutig und konnte leicht in Tränen ausbrechen, was nicht nur die Schminke zunichtemachen würde. Also fügte sie sich und ging, um angeblich nach der Schnebbe zu suchen.

»Es ist so still im Haus. Wo ist Alf?«, wollte die Mutter wissen, als sie wenig später die Haube auf Clarissas Kopf zurechtrückte.

Alf war der Gehilfe des Vaters, ein älterer Mann, der die Schüler mit seiner schroffen, urwüchsigen Art stets zunächst einschüchterte. Er verfügte über eine unendliche Geduld, die man als Schüler hasste, wenn man zum hundertsten Mal die vier Prinzipalhäue wiederholen sollte, später aber schätzen lernte. »Je mehr du dich im Spiel übst, desto mehr denkst du daran im Ernst«, zitierte ihr Vater oft die alten Fechtmeister. Clarissa hatte viel von Alf gelernt, was ihr hoffentlich helfen würde, wenn sie sich in den nächsten Wochen um die Schüler kümmerte.

»Alf lässt die Jungen vor den Toren der Stadt ihre Übungen machen«, berichtete Clarissa und folgte ihrer Mutter die Treppe hinab.

Vier Jungen zwischen zehn und zwölf Jahren lernten derzeit bei Fritjoff die Grundzüge der Fechtkunst. Sie stammten aus Familien, die nicht wohlhabend genug waren, sich eigene Fechtmeister zu leisten, aber dennoch auf diesen Teil der Ausbildung für ihre Kinder nicht verzichten wollten. Clarissa bewunderte ihren Vater für seine Fechtkunst und sein Geschick als Lehrer. Sie mochte viele der Fechtschüler, gerade die kleinen rührten sie. Einige waren während der Lehrzeit wie Brüder für sie geworden. Ihre Mutter umsorgte die Jungen liebevoll; dass sie keine weiteren Kinder hatten, war der wunde Punkt in der Ehe ihrer Eltern. Clarissa mied das Thema, soweit es ging. Sie hatte selbst lernen müssen, sich nicht mit zu viel Herz auf die Schüler einzulassen, um nicht jedes Mal traurig zu sein, wenn sie wieder gingen.

Lievke strich über ihre mit Kol nachgezogenen Augenbrauen. »Hoffentlich lässt er sie sich müde laufen. Ich will keinen Schlamassel im Haus, wenn wir unterwegs sind. Und die Herren Alexander und Marius?«

»Sie sind vorausgegangen.«

»Wenn das man gut geht! Bei jungen Männern weiß man nie! Die Katze heute Morgen … Ob meine Nerven das aushalten?«

Clarissas Vater polterte die Treppe hinunter. Für einen Mann, der sich beim Fechten so geschmeidig zu bewegen vermochte, war Fritjoff ohne Schwert in der Hand eher grobschlächtig. Er war siebenundvierzig, und seine buschigen Haare waren mehr grau als schwarz. Mit seinem muskelbepackten Körper, dem roten Gesicht und den lachenden Augen sah man ihm an, dass er das Leben liebte. Nun ging er zu seiner Frau und nahm ihr Gesicht in beide Hände. Lievke protestierte schwach, doch er küsste sie auf Wangen und Mund.

»Deinen Nerven wird die Feier guttun, warte nur ab. Wunderschön seht ihr beide aus!« Ihr Vater zwinkerte Clarissa zu; er wusste genau, wie sie diese Kleider hasste. Am Kannentisch schenkte er sich Bier ein. »Und übrigens: ›Die jungen Männer‹ wissen sich schon zu benehmen«, verteidigte er seine Schüler, als er getrunken hatte.

»Das hoffe ich sehr. Wir wollen doch einen guten Eindruck machen!«, erwiderte Lievke. Nervös zupfte sie an ihrem Mühlsteinkragen. »Wir sollten gehen. Hast du das Geld?«

Die Glocken der sieben Rostocker Kirchen begannen zu läuten. War es schon so spät?

Eilig wandten sie sich der Tür zu. Im Nebenraum lagen die ersten Reisebündel für Frankfurt. Eine Tür führte zur Schmiede des Vaters. Fritjoff war ausgebildeter Schwertfeger, die Endfertigung von Schwertern und Dolchen hatte er inzwischen allerdings seinem Altgesellen Tietke überlassen, um sich selbst ganz der Fechtschule zu widmen.

»Nur ein Schlückchen noch. Wenn ich an den Sermon in der Kirche denke, ist meine Kehle schon jetzt ausgetrocknet!« Er stürzte das Bier hinunter. Bedauernd tätschelte er den Beutel an seinem Gürtel. »So viel muss es ja wohl sein. Selbst eine reiche Witwe kann arm werden, wenn sie für ihren Zukünftigen Promotionsfeier und Hochzeit bezahlen muss – von dem Strafgeld ganz zu schweigen.«

Clarissa wusste nicht, was er damit meinte, und hakte nach: »Strafgeld?«.

»Das Strafgeld wird fällig, weil Barbara und ihr Zukünftiger so etwas Hehres wie die Promotion durch eine profane Vermählung entweihen. Die Regeln der Universität Rostock sind strikt. Deshalb weiß ich ja auch nicht, ob sie mit mir altem Querkopf auskommen würden.«

»Wie meinst du das?«, wunderte sich Clarissa.

»Es heißt, die Universität wird einen neuen Fechtmeister einstellen. Darüber will ich mit dem Vizekanzler sprechen.«

Clarissa stutzte; davon hörte sie zum ersten Mal. War ihr Vater mit seinem Leben als freier Fechtmeister nicht zufrieden? Als Meister des Schwerts unterrichtete er vor allem Bürgersöhne und Handwerksgesellen in den sieben ritterlichen Wehren: Schwert, Dusack, Rapier, Dolch, halbe Stange, Hellebarde und langer Spieß. Mokierte er sich nicht oft über den plumpen Fechtstil der Studenten? Aber vielleicht wäre gerade das ein Grund, an der Universität anzufangen.

Sie traten auf die Straße hinaus. Die Platea Wokrenten stellte die Verbindung zum Stadthafen her, weshalb hier ständiger Betrieb herrschte. Hügelan stiefelten sie los. Vor dem Amtshaus der Krämer hielten Kaufleute einen Klönschnack. Bürgerpaare gingen spazieren, Kinder tollten kreiseldrehend, reifenschlagend oder auf Steckenpferden über das Pflaster.

Lievke grüßte hoheitsvoll in alle Richtungen. Als Frau eines Fechtmeisters war sie ein angesehenes Mitglied der Gemeinde. Vor ihnen mühte sich ein altes Mütterchen, ihren Handwagen die Kellertreppe hinunterzubugsieren. Fritjoff kam ihr zu Hilfe. Auch Clarissa wollte mit anfassen, aber ihre Mutter stieß ihr den Ellbogen in die Seite, also hielt sie sich zurück. Aber auch so brachte sie der weite, hügelige Weg über den Neuen Markt bis zur Altstadt ins Schwitzen.

Am Juristenkolleg in der Altschmiedestraße hatte die Prozession schon begonnen. Die Musik der Studenten hallte durch die Gassen. Zwei Männer in Ornat gingen, die Universitätszepter tragend, voraus. In Zweierreihen folgten die Doktoranden. Neben Bernhard, Barbaras Zukünftigem, wurden sieben weitere junge Männer »in doctorem jurae« promoviert, wie es offiziell hieß. Danach kamen die Braut und ihre Eltern. Barbara sah bildschön aus in ihrem neuen Kleid. Sie war nur fünf Jahre älter als Clarissa, hatte aber durch die Krankheit und den Tod ihres Mannes schon die Härten des Lebens erfahren müssen. Clarissa hatte ihr im letzten Jahr oft beigestanden und freute sich, die Freundin jetzt wieder glücklich zu sehen.

Ihre Familie wartete, bis die Academici und die Adeligen sie passiert hatten, dann reihten sie sich in die Prozession ein. Wie feierlich alle aussahen mit ihren Spitzenkragen und den glänzenden Schauschwertern an der Seite! Clarissa wollte ihren Vater zu seinen Plänen befragen, aber sie spürte Alexander und Marius hinter sich. Die Nähe der jungen Männer machte sie befangen, außerdem wollte sie die Pläne ihres Vaters nicht vor ihnen ansprechen. Und die Zinken und Posaunen dröhnten ohnehin zu laut für jedes Gespräch.

Nun ging es wieder hügelan zum Neuen Markt. Was für ein Hin und Her! Clarissas Mutter atmete schwer, sie war so weites Laufen nicht gewöhnt. Wenn Rostock nur nicht so groß wäre! Clarissa hakte Lievke unter, um sie zu entlasten. Endlich hatten sie die Ebene der Mittelstadt erreicht. Hinter den Giebelhäusern wirkte die Marienkirche gewaltig groß und klotzig wie eine Festung. Die Pforten waren bereits geöffnet. Clarissa fühlte sich in Sankt Marien oft verloren. Dennoch mochte sie die Kirche, weil sie die astronomische Uhr beherbergte, ein Wunderwerk der Mechanik, das ihr Vater ihr, als sie ein kleines Mädchen gewesen war, ausführlich erklärt hatte. Manche Gemeindemitglieder forderten die Abschaffung der Uhr, weil sie nach wie vor die Namenstage der papistischen Heiligen anzeigte und deshalb für den alten, in Rostock abgeschafften katholischen Glauben stand, aber Clarissa hoffte, dass sie sich nicht durchsetzen würden. Was hatte ein Zeitmesser denn schon mit Religion zu tun?

Die Feierlichkeiten in der Marienkirche waren langwierig. Nach der Promotion verteilten die Studenten Geschenke an Professoren und Würdenträger: zwei Pfund Konfekt, fünf Pott Malvasier-Wein, diverse Ellen Damast und Seide sowie zwölf Paar Handschuhe. Erst dann folgte die Trauung. Anschließend zog die Gemeinschaft zum Neuen Haus an der Südseite des Hopfenmarktes, wo das Festmahl stattfinden sollte. Zahlreiche junge Männer in feiner Kleidung und mit Degen am Gürtel warteten bereits. Das wunderte Clarissa nicht, der Hopfenmarkt war das Zentrum des universitären Lebens in Rostock. An diesem Platz befanden sich auch viele der Regentien, in denen die Studenten untergebracht waren. Der benachbarte evangelische Damenstift zum Heiligen Kreuz lag hingegen wie verrammelt da. Weltliches und geistliches Leben blieben streng getrennt.

Sie bemerkte, wie Marius seinem Freund den Ellbogen in die Seite stieß. »Noch mehr Studenten, so scheint es. Das kann ja heiter werden.« Er klang nicht begeistert. »Was soll’s, solange getanzt werden kann! Clarissa, wirst du mir deine Gunst schenken?«, fragte er.

Er sah gut aus, fand sie, und sie war überzeugt, dass sich die Frauen darum reißen würden, von ihm zum Tanz geführt zu werden.

In diesem Augenblick nahm Alexander ihre Hand und deutete einen Kuss an; sein Bart kitzelte ihren Handrücken. »Oder gebührt mir der erste Tanz, holde Maid?«

Clarissa spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen schoss. Alexander konnte Frauen gefährlich werden. Manche Freundin hatte von gestohlenen Küssen berichtet. Aber da sie, seit sie denken konnte, mit den Schülern des Vaters unter einem Dach lebte, hatte sie gelernt, mit Avancen umzugehen.

»Ihr wollt euch doch nicht etwa um mich schlagen?«, scherzte sie, wohl wissend, dass den jungen Männern so etwas streng verboten war. Auf den strafenden Blick ihrer Mutter hin setzte sie hinzu: »Natürlich werde ich euren galanten Bitten nachkommen und mit jedem von euch tanzen.«

Diener öffneten die Pforten des Neuen Hauses, Musik strömte auf den Platz hinaus. Mit einem Kribbeln im Bauch reihte sich Clarissa in die Schlange der Gratulanten ein. Schließlich umarmte sie ihre Freundin. Zu ihrer Überraschung brach Barbara in Tränen aus.

»Oje, was ist denn, min Leew? Weine nicht! Das soll doch dein schönster Tag werden!«, versuchte sie die Freundin zu trösten.

»Ich weiß nicht … ob ich das alles schaffe! Die vielen hohen Herren! Sie sind so viel gebildeter als ich! Ich werde meinem … Mann Schande machen!«, schluchzte Barbara.

Clarissa drückte sie fest. »Du musst doch nicht mit ihnen disputieren! Das erwartet keiner von dir. Und selbst wenn … Wenn ich an manches Verkaufsgespräch denke, das ich belauscht habe – da bist du doch auch nicht so verlegen!« Sie lachte bei der Erinnerung an die Schlagfertigkeit ihrer Freundin.

Ein Lächeln stahl sich auf Barbaras Gesicht. »Das stimmt. Und diese Heirat hat in gewisser Weise auch mit Handel zu tun. Zwanzig Gulden für die Kasse der Universität, zwölf Taler als Strafe dafür, dass wir heute Hochzeit feiern, und weitere Gelder für die Universitäts- und Kirchendiener. Dann die Geschenke!«

Was Geld anging, behielt Barbara immer einen klaren Kopf. Vor allem über die Übergabe der Handschuhe, die in der Kirche in einer Silberschale von Knaben dargebracht worden waren, hatte Clarissa sich gewundert.

»So viel ist das! Das ist ja ungeheuerlich! Dann hat sich erst recht niemand zu beschweren! Sei einfach du selbst, dann …« Bevor Clarissa den Satz beenden konnte, wurden sie von einer fülligen Patrizierin mit Mühlsteinkragen beiseitegeschoben.

Ihre Freundin tupfte sich die Tränen ab und warf Clarissa ein Lächeln zu, ehe sie sich der Gratulantin zuwandte.

Suchend sah Clarissa sich nach ihrer Familie um. Überall hatten sich Grüppchen gebildet. Ihr Vater sprach mit einem Mann in Robe, der ein Barett auf dem Kopf trug. War das der Vizekanzler der Universität? Die Schüler ihres Vaters tranken Bier und liebäugelten mit jungen Frauen. Ihre Mutter stand neben einer Bürgerin und plauderte, immer wieder Diener anhaltend, um sich von den silbernen Konfekttabletts Zuckermandeln und Braunen Kuchen zu picken.

Wenig später wurden sie zu Tisch gerufen. Das Festmahl begann. Clarissa nahm sich nur mäßig von Braten, Pastete, geräuchertem Fleisch und Austern. Die Vorfreude vertrieb ihren Hunger. Die anderen sprachen reichlich dem Rheinwein und den leckeren Gerichten zu. Vielen stieg der Wein zu Kopf. Ihr Vater erzählte Witze, die Mutter kicherte, und selbst die Gelehrten wurden ganz unakademisch laut.

Endlich war es so weit, die Tafel wurde aufgehoben. Zunächst wurde der Fakultätentanz der Universitätsangehörigen abgehalten. Es war ein würdevoller Tanz, bei dem die Paare gestelzt wie Pfauen daherschritten. Heiterer wurde es, als das frisch verheiratete Paar den Brauttanz vorführte. Schließlich wurde die Tanzfläche auch für alle anderen freigegeben. Als Vortänzer führten die Brautleute den Reigen an, die anderen Paare bewegten sich in einem Schreittanz hinterher. Clarissa konnte es kaum abwarten, dass der Rhythmus schneller und die Schritte und Drehungen fröhlicher wurden. Ihr fiel auf, dass trotz der gelösten Stimmung die Gesellschaft in zwei Teile zerfiel: hier die Bürger und Handwerker, dort die Studenten und Akademiker. Im Verlauf des Abends gab es zwischen diesen Gruppen immer wieder Rangeleien darüber, wem es zustand, den Vortanz auszuführen. Barbara und ihr Bräutigam versuchten dabei stets zu vermitteln. Es waren zwei Welten, die in ihrer Stadt und auch in Barbaras Ehe zusammenkamen.

Am Anfang war Clarissa noch unsicher – zu selten war sie auf einem Ball gewesen. Als sie aber immer häufiger aufgefordert wurde und sich keiner ihrer Tanzpartner beschwerte, genoss sie das Fest in vollen Zügen. Clarissa drehte sich auf dem Parkett, bis sie den Schweiß auf ihrem Rücken spürte und die Füße in ihren engen Schuhen schmerzten. Die Luft war zum Schneiden dick.

Sie sah sich nach ihren Eltern um. Ihr Vater schwang eine fremde Frau im Tanz, und ihre Mutter fixierte die beiden von ihrem Stuhl aus, als würde sie am liebsten dazwischengehen. Lautstark tranken sich die Studenten mit Humpen zu. Andere sprangen wie Kälber über die Tanzfläche. Glaubten sie, sie könnten damit jemandem imponieren?

»Wollen wir an die frische Luft?«, fragte Marius, dem sie bereits einige Tänze gewährt hatte, in diesem Moment.

Auch Alexander hatte sie aufgefordert, war aber schnell von Marius abgelöst worden. Marius hatte die ganze Zeit über geredet. Er hatte von Rostock geschwärmt, ihren Vater gelobt und über den Verlauf der Fechtschule in Frankfurt spekuliert. Clarissa hatte sich auf ihre Tanzschritte konzentriert und ihm gelauscht; sie wäre wohl ohnehin kaum zu Wort gekommen. Für ihren Geschmack sprach Marius etwas zu viel über sich selbst. Oft rühmte er sich oder forderte von anderen ein Lob ein.

Über dem Hopfenmarkt standen die Sterne am Himmel. Im Fackelschein des Neuen Hauses hatten sich Menschentrauben gebildet. Viele Hochzeitsgäste genossen die warme Nacht. Der Rest des Platzes lag im Dunkel. Ein Windstoß trug den Geruch des Meeres zu ihnen. Hinter ihnen torkelten Studenten aus dem Festsaal. Offenbar suchten sie jemanden.

»Ich bin wohl nicht der Einzige, der auf diese Idee gekommen ist. Komm, wir gehen ein Stück«, sagte Marius. Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er sie bei der Hand und zog sie in eine nahe gelegene Gasse.

Clarissa zögerte, doch die Aufregung trieb sie weiter. In der Gasse zog Marius sie an sich. Sein Atem roch nach Bier. Er wollte sie küssen, und Clarissa spürte die Lust, etwas Verbotenes zu tun.

»Was macht ihr Turteltäubchen denn hier?« Eine rauchige Stimme ließ sie zusammenfahren.

Alexander schob sich aus den Schatten, gefolgt von einer jungen Frau, deren Lippen sehr rot waren und deren Kleidung leicht derangiert wirkte. Clarissa hatte sie vorhin bei einem der Universitätsangehörigen gesehen, vermutlich war sie seine Tochter. Marius wollte seinen Freund konsterniert weiterkomplimentieren, doch Alexander dachte gar nicht daran.

»Bist du sicher, dass es deinem Vater gefällt, wenn du dich in dunklen Gassen herumdrückst?«, fragte er mit schwerer Zunge und legte Clarissa eine Hand an die Wange. »Ich sorge mich um dich, Vögelchen.«

Alexanders Berührung verwirrte sie. Gleichzeitig fühlte sie sich ertappt und beschämt.

Überreizt eilte Clarissa auf den Platz zurück. Ihre Mutter hatte sie oft genug gewarnt: Die Ehre einer Frau war ein hohes Gut. Sie durfte keine Dummheiten machen.

Als sie auf den Hopfenmarkt einbogen, schrie jemand auf. Drei Studenten stürzten auf sie zu. Neben einem, der ihr besonders stämmig, und einem anderen, der ihr besonders hochgewachsen erschien, war da noch ein Student, der durch seine Pausbacken und die flachsblonden Haare wie ein Pennäler wirkte.

»Da ist meine Schwester ja! Du schon wieder! Was hast du ihr angetan?!«, brüllte der Flachshaarige Alexander an.

Meinte er die andere junge Frau? Schon zog er seinen Degen und fuchtelte damit herum. Clarissa wurde es angst und bange. Abgesehen davon, dass Marius und Alexander angetrunken waren und sie in einem Kampf ihr Leben verlieren könnten, dürften sie gar nicht kämpfen – ebenso wenig wie die Academici.

Die beiden Studenten hielten ihren Kumpan auf. »Nicht hier!«

Auf Alexanders Erwiderung entbrannte ein giftiger Wortwechsel zwischen den jungen Männern.

Clarissa nahm ihren Rocksaum in die Hände und rannte los, um ihren Vater zu holen. Als sie ihn in einer Ecke des Festsaals gefunden hatte, verzweifelte sie fast. Er war betrunken! Hochrot und zornig, mit glasigen Augen, steckte er mitten in einem Streit mit einem anderen Mann. Ihre Mutter stand daneben und nestelte nervös an ihrem Talisman. Der Fremde trug, den Kopf mit den öligen Haaren hochmütig in den Nacken gelegt, einen Degen an der Seite.

»Es ist mir egal, wer Ihr seid und wie berühmt Eure Lehrmeister waren und wem Ihr alles gedient haben wollt! Auf Eure Fähigkeiten kommt es an, auf nichts sonst! Und die müsst Ihr erst mal beweisen, bevor Ihr mir mein Auskommen als Fechtmeister abspenstig machen wollt!«, zischte ihr Vater gerade.

Sein Gegenüber stemmte eine Hand in die Hüfte. Es sollte lässig wirken, aber Clarissa sah die Anspannung in seinen Gliedern. »Ihr sprecht mit Gerold Grammig, einem Meister der Federfechter vom Greifenfels!«

Ihr Vater lachte laut. »Habt Ihr Euch den Namen selbst ausgedacht, damit er schön grimmig klingt?! Überhaupt, was ist das schon?! Ihr sprecht mit Fritjoff Nykrantz, einem Meister der Fechtbruderschaft von Sankt Marx.«

Fritjoff hatte schon oft die Rivalität der beiden Fechtergesellschaften erwähnt, Clarissa wusste aber nichts Genaues darüber. Sie wollte ihn gerade auf sich aufmerksam machen, als der fremde Fechter die Stimme hob: »Ich bin zumindest nicht dabei, mir meinen Ruf zu ruinieren so wie Ihr! Man hört, Ihr werdet ständig betrunken und in Begleitung loser Weiber aufgegriffen. Vor so einem ist mir nicht bange!«

Was erlaubte sich dieser Laffe! Beschämt sank ihre Mutter noch tiefer in sich zusammen. Clarissa sah, wie sehr sich ihr Vater zusammennehmen musste, um nicht loszubrüllen oder sein Gegenüber zu schlagen. Wahrlich nicht der richtige Moment, ihn zu unterbrechen, aber ihr blieb nichts anderes übrig. Die Sicherheit seiner Schüler ging vor.

»Vater, auf ein Wort«, ging sie dazwischen.

Ihr Vater hob die Hand, um sie aufzuhalten.

»Es ist wichtig!«

Fritjoff wandte sich dem anderen Fechtmeister zu. »Ich fordere Genugtuung für Eure Unverschämtheit.«

»Ihr sollt Euren Zweikampf bekommen.« Mit zackigen Schritten ging Grammig davon.

Nun fuhr ihr Vater herum. »Was ist denn?!«

»Alexander und Marius«, sagte sie nur, als er schon hinausstürmte.

Lievke legte die Hand auf Clarissas Arm. Es war eine zarte Berührung, die zeigte, wie erschöpft ihre Mutter war. »Ich wusste, heute droht uns Böses. Lass uns nach Hause gehen, bevor noch mehr passiert.«

Fritjoff fluchte. Auf dem Hopfenmarkt waren seine Schüler nicht zu sehen. Er hätte sich nicht so lange mit diesem Möchtegern-Fechtmeister abgeben sollen, der angekündigt hatte, sich in Rostock niederzulassen. Junge Männer durfte man nie aus den Augen verlieren! Aber er konnte hier keine Konkurrenz gebrauchen. So viele Bürger und Handwerker gab es in der Hansestadt nicht, die sich am Schwert ausbilden ließen. Fechtschulen waren im Süden des Reiches wesentlich verbreiteter, das wusste Fritjoff nur zu gut. Jahrelang war er zwischen den Fechterhochburgen Frankfurt, Nürnberg und Augsburg gependelt. Aber dann hatte ihn die Liebe nach Rostock verschlagen, und jetzt musste er sehen, wie er hier seinen Lebensunterhalt bestritt.

Die Nachtluft kühlte schnell ab, ein Hauch von Herbst lag in der Luft. Fritjoff schüttelte die Schwere seiner Glieder ab. Vielleicht hätte er doch die eine oder andere Kanne Bier weniger trinken sollen. Es gab einen Ort, der für Herausforderungen bevorzugt wurde. Er würde sich sputen müssen, dass er in den Rosengarten kam.

Marius und Alexander hörten die Rufe des Nachtwächters und drängten sich in einen Hauseingang. Sie durften sich nicht erwischen lassen. Wo ihre Kontrahenten wohl steckten? Sie hatten sich am Hopfenmarkt getrennt. Die Studenten hatten die junge Frau weggeführt. Ob sie damit rechnen mussten, hinterrücks von ihnen überfallen zu werden?

Vor ihnen ragte die aus Back- und Feldsteinen gefertigte Stadtmauer mit ihren hölzernen Wehrgängen auf. Marius hielt die Luft an und versuchte den Schluckauf loszuwerden, der ihn immer quälte, wenn er aufgeregt war. Er war ungern im Dunkeln unterwegs – und jetzt musste er zu einem Degenkampf! Sie würden einen Höllenärger bekommen, denn Meister Fritjoff war, was den Ehrenkodex der Fechter anging, sehr streng. Das hatte er nur Alexander zu verdanken mit seiner ewigen Leichtfertigkeit! Außerdem waren sie viel zu betrunken, um zu kämpfen.

Marius rang nach Luft. »Dass der Zufall dir ausgerechnet die Schwester unseres Herausforderers in die Arme treibt … Hätte es nicht eines von den Bürgermädchen sein können? Oder eine Handwerkermaid?«, beschwerte er sich erneut hicksend.

Alexander unterdrückte das Grinsen nicht einmal.

»Moment mal … Du … hast es gewusst?«, fragte Marius mit schwerer Zunge.

Ein Achselzucken. »Sie ist ja zusammen mit den Studenten angekommen. Hübsches Ding. Konnte nicht widerstehen.«

Unwillen wallte in Marius auf. »Du, du …« Was hatte Alexander ihnen da nur eingebrockt! Das wurde ja immer schlimmer! Konnten sie diesen Vorfall nicht irgendwie ungeschehen machen? Trunken rieb er sich über das Gesicht. »Vergessen wir die ganze Sache«, murmelte er. »Lass uns einfach zum Meister zurückgehen. Wir holen uns unser …« Das Wort fiel ihm nicht ein. Er hickste. »… unser Donnerwetter ab und gut.«

»Wir können jetzt nicht mehr zurück.« Alexander streckte den Kopf aus dem Hauseingang und sah sich um. Der Nachtwächter war verschwunden.

Sein Freund eilte los, und Marius mühte sich, Anschluss zu halten. »Unsere Eltern werden uns die Hölle heißmachen, wenn das Geld für die Fechtausbildung verschwendet ist«, sagte er. Denn dass sie ihre Meisterprüfung verdarben, stand für ihn fest. All die Mühen, die Quälerei umsonst. Fechten zu lernen war für Marius eine ungeheure Anstrengung gewesen. Es fiel ihm nicht leicht, sich die Schritte und Schläge zu merken. Er hatte auch keine Freude daran. Das Einzige, was er wollte, war der Titel: Meister des Schwerts. Und nun war er dabei, auch diesen zu riskieren.

An Alexander perlte die Warnung ab: »Meine nicht«, sagte er nur gelassen.

Geld war nicht Alexanders Problem. Sein Problem war, dass er sich nirgendwo zu Hause fühlen konnte. Sein Vater hatte Alexander seit seiner Kindheit herumgeschickt. Erst hatte der Junge auf der Domschule gelebt, dann bei seinem Handwerksmeister, und ab und zu hatte er Freunde besucht. Vermutlich war Alexander mehr bei Marius’ Familie gewesen als zu Hause. Doch natürlich war es sehr großzügig, dass der Vater so viel Geld für die Ausbildung des Sohnes ausgab. Und bei zwei älteren Brüdern konnte Alexander nicht damit rechnen, jemals die Goldschmiede des Vaters zu übernehmen, sondern würde sich beim Militär oder der Geistlichkeit verdingen müssen. Fritjoff hatte ihretwegen bereits Kontakte zum Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel geknüpft – der Herzog hatte ein großes stehendes Heer. In Mecklenburg war in dieser Hinsicht ja nichts zu holen.

»Meister Fritjoff reißt uns den Kopf ab.«

»Als ob er uns, was Frauen angeht, ein Vorbild wäre«, lachte Alexander.

»Du lässt es an Respekt mangeln.«

Alexander wandte sich ihm zu. Marius sah, wie die Kinnmuskeln seines Waffenbruders arbeiteten. »Verschwinde, wenn du willst. Ich schaffe das allein.«

Auch wenn er es dieses Mal nicht aussprach, schwang der erneute Vorwurf, ein Feigling zu sein, in Alexanders Worten mit. Marius spürte, wie sein Stolz sich regte, und er preschte voraus.

»Wo bleibst du denn?«, rief er Alexander über die Schulter zu.

Der Rosengarten war ein verwirrendes Gemälde aus Grautönen und Schwarz. Wer konnte da alles in den Schatten lauern? Aber ihre Herausforderer hatten sich nicht versteckt, das bemerkte er jetzt. Nebeneinander standen sie zwischen den hoch aufragenden Lindenbäumen, drei Schatten vor Mauergrau. Der süße Duft der Linden ließ Marius schwindeln. Seine Knie waren weich. Es stimmte, schalt er sich innerlich selbst, er war ein Angsthase. Wenn er aber daran dachte, wie viele schon bei ähnlichen Auseinandersetzungen ihr Leben gelassen hatten! Selbst seine Nase zu verlieren, wie es dem berühmten Astronomen Tycho Brahe hier ergangen war, wäre grauenvoll. Aber immerhin hatte Brahe es von Rostock aus auch mit Kupfernase bis an den Hof von Kaiser Rudolf nach Prag gebracht. Man scherzte, er habe sich dort eine goldene Nase verdient. Marius musste schmunzeln – vielleicht sollte er die Geschichte vor Clarissa zum Besten geben.

Eine Klinge blitzte im Mondschein, als der pausbäckige Student den Degen zückte. »Wir haben meine Schwester nach Hause gebracht und bestraft. Sie hat gesagt, du hättest sie geschändet. Ich fürchte, die kleine Hure wird nicht zu schätzen wissen, dass du dein Leben für sie lassen wirst.« Alexander schob seinen Umhang beiseite und legte die Hand auf den Degenknauf. Allein ihn zu duzen war eine Anmaßung.

»Euch scheint nicht klar zu sein, dass Ihr Euch selbst beschädigt, wenn Ihr so über Eure Angehörige sprecht. Das bestätigt meine Vermutung, dass der Adel an seinem Niedergang selbst die meiste Schuld trägt. Abgesehen davon: Sie lügt. Ich habe nichts getan, was sie nicht gewollt und genossen hätte.«

»Du Hurenbock!« Der Pausbäckige stürmte vor, wild mit dem Degen fuchtelnd.

Wenn Meister Fritjoff das sehen würde, er würde ihm die Waffe abnehmen und ihm erst einmal ein paar Wochen Bein- und Armarbeit verpassen, dachte Marius. Oft erzählte ihr Meister, dass manche Schüler im ersten Lehrjahr kein Schwert anrühren dürften, weil sie noch nicht würdig seien.

Warum zog Alexander seinen Degen nicht? Marius sog die Luft ein. Sirrend fuhr die Klinge über den Kopf seines Freundes. Alexander duckte sich im letzten Augenblick. Wieder holte der Student aus. Jetzt machte Alexander einen Satz und rammte seinem Gegner den Kopf in den Leib. Der Student stürzte zu Boden, der Degen flog ihm aus der Hand. Alexander trat die Waffe weg. Doch da hatten schon die beiden anderen ihre Degen herausgerissen und griffen den Fechtschüler an.