Die Tochter des Kommunisten - Aroa Moreno Durán - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Tochter des Kommunisten E-Book

Aroa Moreno Durán

0,0
14,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das Leben einer spanischen Emigrantenfamilie, die vor dem Franco-Regime geflohen ist und in Ostdeutschland Zuflucht gefunden hat.

Die literarische Entdeckung aus Spanien: In ihrem preisgekrönten Debüt erzählt Aroa Moreno Durán eine mitreißende Geschichte über Familiengeheimnisse, späte Geständnisse und den Preis der Freiheit. »Dieses Buch ist schlicht perfekt.« Almudena Grandes

Katia wächst in den 1950er-Jahren in Ostberlin im Schatten des Eisernen Vorhangs auf. Kurze Zeit später teilt die Mauer die Stadt. Für ihre Eltern, die vor dem faschistischen Franco-Regime und dem Bürgerkrieg in Spanien geflohen sind, steht die kommunistische Seite Deutschlands für alles, wofür sie in ihrer Heimat gekämpft und gelitten haben. Sie haben sich eingerichtet in der winzigen Wohnung, in der es im Winter kalt ist und nach Kohlsuppe riecht, auch wenn das Exil schmerzhafter ist, als sie sich eingestehen wollen. Katia kennt kein anderes Leben, bis eine zufällige Begegnung mit einem jungen Mann aus dem Westen ihre Neugierde auf den Rest der Welt weckt. Sie folgt ihm mit falschen Papieren, nichtsahnend, welches neue Leben sie erwartet und welchen Preis ihre Entscheidung fordert.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 176

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

Eine aufwühlende Familiengeschichte in Zeiten des Umbruchs.

In ihrem preisgekrönten Debüt erzählt Aroa Moreno Durán eine mitreißende Geschichte über späte Geständnisse und den Preis der Freiheit. Katia wächst in den 1950er-Jahren in Ostberlin im Schatten des Eisernen Vorhangs auf. Kurze Zeit später teilt die Mauer die Stadt. Für ihre Eltern, die vor dem faschistischen Franco-Regime und dem Bürgerkrieg in Spanien geflohen sind, steht die kommunistische Seite Deutschlands für alles, wofür sie in ihrer Heimat gekämpft und gelitten haben. Sie haben sich eingerichtet in der winzigen Wohnung, in der es im Winter kalt ist und nach Kohlsuppe riecht, auch wenn das Exil schmerzhafter ist, als sie sich eingestehen wollen. Katia kennt kein anderes Leben, bis eine zufällige Begegnung mit einem jungen Mann aus dem Westen ihre Neugierde auf den Rest der Welt weckt. Sie folgt ihm mit falschen Papieren, nichtsahnend, welches neue Leben sie erwartet und welchen Preis ihre Entscheidung fordert.

»Dieses Buch ist schlicht perfekt.« Almudena Grandes

Zur Autorin

AROA MORENO DURÁN, 1981 in Madrid geboren, gilt als »große literarische Entdeckung« (El Cultural). »Die Tochter des Kommunisten« wurde als bester Debütroman des Jahres mit dem Premio del Ojo Crítico ausgezeichnet und erscheint in mehreren Sprachen. Davor veröffentlichte Aroa Moreno Durán zwei Künstlerbiografien über Frida Kahlo sowie über Federico García Lorca.

Aroa Moreno Durán

Die Tochter des Kommunisten

Roman

Aus dem Spanischen von Marianne Gareis

Die spanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »La hija del comunista« bei Penguin Random House Grupo Editorial, Barcelona.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Übersetzung dieses Buches wurde von Acción Cultural Española (AC/E) unterstützt.Reiner Kunze: »Er wußte, was brücken wissen …« aus: ders., auf eigene hoffnung. Gedichte. © S. Fischer Verlag, 1981. Abdruck mit frdl. Genehmigung des Verlags.

Copyright © 2017 Aroa Moreno Durán

Copyright © der deutschen Ausgabe 2022 btb Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München

unter Verwendung eines Motivs von © Chiara Fidele

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-641-26629-5V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Für Gregorio und Pablo Ulises, Nord- und Südgrenze

Er wußte, was brücken wissen: Sie verbinden über wasser, was unter dem wasser verbunden ist

Doch das eine ufer war sumpf, das andere feuer

REINERKUNZE

Katia Ziegler nimmt die Kappe des Füllfederhalters ab, mit dem sie alle wichtigen Dokumente ihres Lebens unterschrieben hat. Auch zu ihrer Hochzeit in den Siebzigern hatte sie ihn dabei. All die unbekannten Gesichter später auf den Kirchenbänken. An sein Gesicht erinnert sie sich nicht mehr, nur noch daran, dass er sie die ganze Zeit angelächelt hat. Es ist, als wäre sein Gesicht aus diesen alten Zeiten ausgelöscht und alles, was von dem Mann geblieben ist, ein einziges Bild von damals, dieses Foto: er, mit dem Rücken an dem silbergrauen Wagen, die Hände in den Hosentaschen, die blonde Haarsträhne über dem linken Auge.

Es ist Oktober. Draußen prasselt der Regen nieder wie ein sich leerender Wasserfall. Schwer klatscht er auf die Dächer. Es ist der gleiche Regen wie früher, bei dem immer der Strom ausfiel. Weshalb ihr Vater stets Streichhölzer und Kerzen in den Schubladen bereithielt. Dennoch nahm er lieber die Taschenlampe, die gleiche verwendet auch die Polizei, sagte er. Da die Mädchen abends immer damit spielten, war sie nie zur Hand, wenn es plötzlich dunkel wurde.

Der Regen lässt den Garten nach Erde riechen. Der Horizont fast nicht mehr zu erkennen. Nebenan der Nachbar, ein ordentlicher Garten, der Gehweg gefegt. Anfangs hatte sie jeden Monat ein Foto von den Bäumen gemacht. Während sie Kaffee kochte, sah sie zu, wie sie ihre Farbe änderten. Der Regen erinnert sie auch an das alte, graue Pferd, damals auf der Wiese. An die Tropfen, die Kreise formten, die sich berührten und wieder auflösten. In einem Oktober wie diesem hatte sie hundert Blumenzwiebeln gesetzt, über den ganzen Garten verteilt. Zwischen den roten Pflastersteinen wuchert das Gras. All das ist nun vorbei. Die Natur schläft. Bis mit der nächsten Frühjahrswärme das Gelb wieder hervorbricht.

Es ist Oktober. Der Monat der Revolution.

Nach dem Regen kam der Winter.

Schnee macht beim Fallen kein Geräusch.

DER OSTEN

1 Alle tanzen gerne Lipsi

Berlin, 1956

Der Tag, an dem Papá abends nicht rechtzeitig wiederkam, um den Ofen anzumachen, war der kälteste des ganzen Winters. Schließlich ging Mamá selbst runter in den Keller und holte Kohle und ein paar Holzscheite. Das Holz war feucht. Wieder nur Schüttkohle, dieser Mann begreift es einfach nicht, sagte sie, den Kohleneimer in den Händen. Martina und ich liebten es, in der Kohle herumzustochern, vor allem in dieser weicheren. Manchmal, wenn Mamá nicht zusah, rieben wir zwei Kohlebröckchen aneinander, bis unsere Finger schwarz waren und die Kohlestücke wie Pechkohle glänzten.

Papá kam erst, als es draußen schon stundenlang dunkel war. Was ist denn hier los?, fragte er. Das siehst du doch, antwortete Mamá. Der kleine Raum, der als Wohnküche und auch als Schlafzimmer für uns Mädchen diente, war vollkommen verqualmt. Papá nahm meine Hände und sah meine kleinen, geschwärzten Finger. Er legte seine rauen Fingerkuppen auf meine und drückte kräftig zu.

Mit Mamá sprachen wir immer Spanisch, mit Papá Deutsch. Wir fragten uns nicht, warum. Mein Vater hatte in der Fabrik Deutsch gelernt, in Dresden, aber richtig gut sprechen konnte er es nicht. Also setzte er sich zu Martina und mir, wenn wir Hausaufgaben machten, und lernte dabei nach und nach, richtig zu deklinieren und das Verb an den Schluss zu stellen. Doch er verzweifelte: Wie soll ich denn wissen, was man mir sagen will, wenn ich das Verb nicht kenne, wenn ich erst, wenn die Leute zu reden aufgehört haben, weiß, worum es geht? Nach und nach schaffte er es, diese Sprache in seinen Kopf zu kriegen, doch auch wenn er sich immer verständlich machen konnte, verstand ich nie wirklich alles, was er sagte. Es war eben Papás Deutsch. So viele Buchstaben hintereinander, diese Sprache ist unmenschlich, jammerte er. Mamá hatte sich geweigert, Deutsch zu lernen, und obwohl Papá in der ganzen Wohnung Zettel mit den Namen der Gegenstände für sie anbrachte – Fenster, Topf, Bett, Ofen –, konnte sie nie einen vollständigen Satz sagen. Sie verständigte sich mit Gesten und einzelnen Wörtern. Kartoffeln, ein Kilo, sagte sie, zerrte ihren Daumen aus dem Handschuh und wedelte damit vor den Augen des Verkäufers herum, während Martina und ich uns kaputtlachten. Schaff dir Kinder an, damit sie sich über dich lustig machen, sagte sie.

Auf dem Herd kochte die Suppe. Das Brummen des Radios versetzte die Zimmerluft in Schwingungen. Papá trat aus dem Schlafzimmer, wo er lange mit Mamá geredet hatte. Sie ging ins Badezimmer, und als sie wiederkam, wusste ich, dass sie geweint hatte. Es ist wegen dem Qualm, sagte sie. Dann nahm sie den Topf vom Herd, und der Dampf des säuerlichen Kohls vermischte sich mit dem Rauch im Raum.

Ich mag keinen Kohl, der schmeckt nach Schleim.

Wir haben aber nichts anderes.

Aber gestern gab es das auch schon.

Martina, sagte Mamá sehr ernst, ich würde dir ja gern eine Hammelkeule braten, aber es gibt hier keine Hammel, weil es so kalt ist.

Papá, Hammel frieren nicht, oder? Die haben doch ein wolliges Fell.

Lieber Himmel, Manuel, mach das aus.

Im Radio lief gerade das Abendprogramm mit Lipsi, diesem züchtigen Tanz, mit dem die Regierung den Rock ’n’ Roll bekämpfen wollte. Heute tanzen alle jungen Leute im Lipsi-Schritt, nur noch im Lipsi-Schritt. Allen hat der Takt sofort gefallen. Sie tanzen mit im Lipsi-Schritt. Papá stellte das Radio lauter und tanzte durch den Raum, kreiste, die Arme in die Hüften gestemmt, mit den Schultern, machte kleine Schritte nach rechts und nach links, nach vorn und nach hinten, die Augen halb geschlossen, lächelnd. Er stellte sich hinter unsere Mutter und löste den Knoten ihrer Schürze. Mamá drehte sich weg, ich bin nicht in Stimmung, doch sie konnte sich seinen Armen nicht entziehen. Na, komm schon, Frau. Stell dir einfach vor, das ist eine Copla.

Sie tanzten, bis der Schlager zu Ende war, während Martina und ich, beide mit dem Füller in der Hand, erstaunt zusahen und unsere Körper von etwas erfüllt wurden, das sich wie Wärme anfühlte. Auf dem Papier breitete sich derweil ein blauer Tintenfleck zwischen den Linien aus. Ist gut, sagte Mamá, es reicht mit dem Zirkus, lasst uns essen.

Papá fasste mit den Fingern ins Suppenwasser und holte ein fast durchsichtiges Kohlblatt heraus. Wisst ihr, was das ist?, fragte er. Das ist eine Scheibe Serranoschinken. Köstlich, Katia. Magst du? Ja. Magst du, Martina? Nein. Was ist Serranoschinken? Papá ignorierte sie. Sicher? Na dann.

Diese gelbe Wohnung: Einmal kratzte ich unterm Bett die Tapete ab und entdeckte acht verschiedene Schichten übereinander. Als hätte jeder, der in dieser Mansarde im vierten Stock gewohnt hatte, hier eine Spur hinterlassen, etwas von seinem Leben bewahren wollen, das der Nächste wiederum mit einer neuen Tapete überdeckte. Um zu unserem Treppenaufgang zu gelangen, musste man den Hof überqueren, einen kleinen anarchischen Wald. Die könnten ruhig mal die Fassade streichen, sagte Mamá, wir sind doch nicht mehr im Krieg. Von außen war das Haus dunkelgrau. Alle Häuser waren damals grau, mit abgeblättertem Putz, Skelette, die schmutzige Kleider trugen. Aber ich kannte nur dieses eine Haus, in dem es immer kalt war. Papá hatte uns anfangs sämtlichen Nachbarn vorgestellt, und wenn wir die Treppe zu unserer Wohnung hochstiegen, konnten wir auf jedem Treppenabsatz sehen, womit die Bewohner im Vorderhaus gerade beschäftigt waren; wir machten ein Spiel daraus, ihren Alltag zu überwachen: Frau Zengerle, die vor ihrem Wasserkessel saß und alles im Blick hatte; Ekaterina, die am Fenster las. Als Herr Schmidt, der mit der kleinen Nickelbrille auf der Nasenspitze, eines Morgens nicht an seinem Fenster stand und uns grüßte, wussten wir sofort, dass er gestorben war: Da stimmt was nicht, sagte Papá. Später erfuhren wir, dass Herr Schmidt, der seit dem Kriegsende nicht mehr auf die Straße gehen wollte und von hilfsbereiten Nachbarinnen mit Essen versorgt wurde, dort oben in seiner Wohnung auf dem Boden gelegen hatte, für immer eingeschlafen.

Anfangs wachten wir morgens mit dem süßlichen Geruch aus dem Bäckereiofen im Erdgeschoss auf, dessen Abzugsrohr an der Hauswand entlangführte und an unserem Fenster endete. 1962 machten sie den Ofen und fast alle Läden in unserer Straße dicht. Wir besaßen nur wenig: Im Wohnzimmer gab es einen dunklen Holztisch und vier Stühle; das wacklige Regal, das man nicht berühren durfte, weil darauf die vier Teller und Gläser und Vaters Bücher standen; ein schmales Bett und ein Sofa. Im Badezimmer eine Haarbürste, die nach Kölnischwasser roch; ein Stück Seife, bereits verschlankt durch unsere Hände und Papás Rasuren. Als Kind setzte ich mich morgens immer mit baumelnden Beinen auf die Toilette und sah zu, wie er sich mit dem Pinsel das Gesicht einseifte. Dann drehte er sich zu mir um und sagte: Wer bin ich? Ein dicker Zwerg, Papá!, und er ging in die Knie, rieb seine Nase an meiner und machte mich ganz weiß. Der Schimmelgeruch: Als wir einzogen, hatte Mamá die grünen Kacheln mit einem scharfen Mittel geputzt, und danach glänzten sie nicht mehr. Jetzt sehen sie noch schlimmer aus, meinte sie. Aber immerhin sind sie sauber, sagte Papá. Außerdem gab es da noch das Elternschlafzimmer: das Bett, unter das wir nicht schauen durften, zwei übereinandergestapelte Kisten, die als Tisch dienten, Mamá hatte sie mit einem bestickten Stofffetzen bedeckt, und der Kleiderschrank. Zwei Dinge hüteten wir, als wären es lebendige Wesen: das Radio und den Ofen. Von ihrer guten Pflege hing ab, wie wir durch den Winter kamen.

Von dem einzigen, nach vorn hinausgehenden Fenster blickte man auf eine Brache. Der Krieg, er macht alles platt, sagte Papá, der häufig vor dieser Scheibe stand, stumm. Als wollte er hinter den Schnee blicken, hinter den einzigen Widerstand leistenden Baum, hinter die Nacht. Der Krieg war ein Gespenst, ein weißer Fleck, für mich hatte er vor langer Zeit stattgefunden, und obwohl man überall noch die Luft seiner Detonationen einatmete und alle Kinder Schützengraben spielten, konnte ich ihn mir nicht vorstellen. Hoffentlich erlebt ihr nie einen Krieg, sagte Mamá immer. Meine Töchter nicht, sagte Papá jedes Mal und verbot ihr den Mund.

Wir aßen die heiße Suppe mit vorsichtigen Schlucken und hielten immer wieder unsere steifen Finger über die Teller. Papá pustete auf seinen Löffel, pfeifend. Unsere Mutter kochte Lindenblüten auf. Als sie den Tee abgoss, verbrühte sie sich das Handgelenk. Papá rannte ins Bad und schmierte Zahnpasta auf die verbrannte Stelle. Er drückte einen langen Kuss auf ihre Hand und sah sie dabei an, während meine Mutter den Blick zu unserer fleckigen Zimmerdecke erhob.

In dieser Nacht, der kältesten des Jahres 1956, vernahm ich zum ersten Mal das Geräusch, das zwei Körper machen, wenn sie sich in einem Bett aneinanderpressen. In der dunklen Wohnung stand immer noch das Glas mit den vertrockneten roten Nelken vom letzten Ersten Mai herum.

2 Dinge, die man auf Reisen mitnimmt

Berlin, 1958

Ich erinnere mich daran, wie ich im Hof auf den Stufen zu unserem Aufgang sitze: Ich habe ein metallenes Abzeichen in der Hand. Es ist rot und rund. Ich liebe es, es mit meinen Fingern zu umschließen. Es ist ein kalter Schatz. Seit dem letzten Abend trage ich es mit mir herum, und ich betrachte es unentwegt, spüre, wie mich etwas, das ich nicht kenne, fesselt. Es ist ein Anstecker für eine Uniform. Mit einer Sichel darauf, wie man sie zum Getreidemähen verwendet, und einem Hammer. Es ähnelt dem Abzeichen der Partei, das man hier überall sieht, ist aber anders. Ein paar Kinder spielen in meiner Nähe zwischen den frei liegenden Baumwurzeln. Sie versuchen, mit Steinen ein Feuer zu entfachen. Doch sie schaffen es nicht, es ist zu nass. Martina hockt neben ihnen und malt mit einem Stock Bilder in den Sand. Wenn ich das kleine Abzeichen in die Sonne halte, glänzen die drei in Gold eingravierten Buchstaben: PCE. Partido Comunista de España.

Vor zwei Tagen war Papá weggefahren. Er musste zu einer Fortbildung, die seine Fabrik in der Nähe von Potsdam abhielt, und würde erst am späten Abend wiederkommen. Das sagte uns Mamá, als sie uns in der Musikschule abholte. Ich hasse Tonleitern, brummte Martina und lief, an ihrem Apfel knabbernd, ein paar Schritte voraus. Papá war noch nie alleine weg gewesen. Damals waren wir erst ein Mal aus der Stadt herausgekommen, um Freunde unserer Eltern in Leipzig zu besuchen. Sie sprachen auch Spanisch, und das ganze Wochenende über wurde nur über alte Zeiten und eine andere Stadt geredet. Es waren angenehme Tage, und wir lachten über alles, über die vielen Regeln, das Essen, die sowjetischen Freunde, die Lieder, die man uns in der Schule beibrachte. Es war Papá, der sagte, es reicht, Leute, wir müssen dieser Republik dankbar sein.

Wir haben sie nie wiedergesehen.

Für den nächsten Sommer meldete Mamá mich für ein Ferienlager im Harz an, das Papás Fabrik für die Kinder der Arbeiter organisierte. Dort sah ich zum ersten Mal eine Dampflok, die ihre Waggons durchs Gebirge zog wie ein metallener Wurm.

Die Tage waren länger geworden: Der Wohnzimmertisch lag in der prallen Nachmittagssonne. Martina und ich breiteten unsere Schulsachen darauf aus und setzten uns einander gegenüber. Jetzt könnt ihr ein bisschen spielen, sagte Mamá, nachdem sie unsere Hefte kontrolliert hatte. Mit den Mathe-Hausaufgaben hatte sie sich länger aufgehalten, sie teilen sogar anders, sagte sie. Dann ging sie hoch auf den Dachboden, um die Wäsche abzunehmen. Martina wollte Verstecken spielen. Ich nahm einen Strumpf und band mir damit die Augen zu. Eins, zwei, drei und weiter bis zehn. Wo bist du? Hier? Nein, rief Martina aus dem Badezimmer. Wir spielten es ein paarmal. Das ist jetzt das letzte Mal, sagte ich, ich will lesen. Na los: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun und zehn. Ich komme. Wo bist du? Doch Martina antwortete nicht. Du musst was sagen. Zumindest heiß oder kalt. Ich suchte Martina in der ganzen Wohnung, aber sie war nirgends zu finden. Es gab nur einen Ort, an dem ich nicht nachgesehen hatte: unter dem Bett unserer Eltern. Ich nahm den Strumpf ab und schob meinen Fuß unter den Lattenrost: Bist du hier? Ich konnte sie nicht spüren. Dann bückte ich mich. Hinter ein paar Koffern tauchte der Kopf meiner Schwester auf. Ich streckte meinen Arm aus und zog sie heraus, wobei auch die Koffer zum Vorschein kamen. Wir blickten uns an, und ich zog einen davon am Griff zu uns heran. Er war aus Pappe und mit zwei völlig eingestaubten Stricken verschnürt. Ich löste die Knoten und sah Martina an, die sich, noch immer halb unter dem Bett, auf die Lippen biss.

Der Wäschekorb, den unsere Mutter unter dem Arm trug, verursachte ein dumpfes Geräusch, als er zu Boden fiel. Mir fielen ebenfalls die Fotos herunter, die ich gerade in der Hand hielt. Mamá kam herein, sie bewegte sich ganz langsam, als wäre ihr Körper tonnenschwer. Sie lehnte sich gegen die Wand und rutschte daran herunter, als hätten ihre kleinen Knochen keinen eigenen Antrieb mehr. Sie sah auf den Koffer und fing schließlich an, meinen Zopf aufzuflechten. Immer wieder fuhren ihre Finger durch die dicken Strähnen. Sie sagte nichts. Martina hielt noch ein Foto in der Hand. Dann griff sie nach den Papieren, die wir herausgeholt hatten, vergilbte Schriftstücke, und schickte meine Schwester zum Malen ins Wohnzimmer. Doch die blieb einfach an der Tür stehen. Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging. Mamá sah uns an, blickte aber durch uns hindurch. Unser Vater kam nach Hause und pfiff bereits an der Tür nach uns: Kinder, ich bin wieder da. Da ihm keiner antwortete, trat er ins Zimmer. Er sah unsere Mutter auf dem Boden sitzen und fing an, in der ganzen Wohnung herumzubrüllen. Er sagte Sachen, wie man sie in einer solchen Situation zu seinen Kindern sagt. Und er sagte sie auf Spanisch. Das Einzige, worum wir euch gebeten haben, das Einzige, worum eure Mutter und ich euch gebeten haben, wiederholte er immer wieder, bis ich schließlich die wütenden Schritte seiner Stiefel auf der Treppe hörte. Der Abend war gelaufen.

Es gibt viele Dinge, die du nicht verstehen kannst, weil du noch nichts über den Krieg weißt.

Ich weiß schon was drüber, Mamá. Manchmal weiß ich auch was.

Ich meine nicht den von hier, sondern unseren Krieg.

Mamá strich mit ihren Fingern über die Fotos, fast ohne sie zu berühren, als hätte sie Angst, sie auszulöschen.

Du hast eine Tante in Madrid, meine Schwester, sie heißt Carola, das ist die hier, und das bin ich. Und einen Onkel, der Bruder von Papá, er heißt Gabriel und hat zwei Kinder wie dein Vater, Moisés und Manuel, die leben in Moskau. Das ist der hier.

Und schreibt ihr euch Briefe?

Selten.

Und macht es dir nichts aus, dass du nicht bei ihnen bist?

Doch. Viel.

Warum musstet ihr gehen?

Mehr Antworten gab Mamá nicht.

Das sagte Papá, als er wiederkam und wir immer noch dort saßen und unsere Mutter umarmten: Das sind die Dinge, die wir mitgenommen haben, als wir weggegangen sind. Obwohl Mamá schließlich aufgehört hatte zu weinen, war meine Nase immer noch warm, weil ich seit meiner frühen Kindheit nicht mehr so lange geschluchzt hatte, und ich flüchtete mich auf den Hof und suchte nach Thomas oder Alexandra, aber Mamá kam mit gekreuzten Armen hinterher und zwang mich, zwischen den Sträuchern herauszukommen. Sie gab mir einen Klaps auf den Po und zerrte mich hastig und stolpernd nach oben. Das ist alles, was wir mitbringen konnten, sagte Papá wieder, hier habt ihr es. Dann haute er mit der Faust gegen die Schlafzimmertür, stellte sich ans Fenster und dachte eine gute Weile an den Krieg. Mamá war nie böse. Sie weinte mit der ihr eigenen Traurigkeit, rot im Gesicht und still. Bis zum nächsten Tag sprach niemand mehr ein Wort.

In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich prägte mir die Gesichter ein, die ich gesehen hatte. Tante Carola war hübscher als Mamá oder jünger, keine Ahnung. Aber sie lächelten beide, während sie auf zwei Korbstühlen vor einem Haus saßen und stickten. In meiner Hand hielt ich wie einen Talisman das kleine rote Abzeichen von der Jacke, die unser Vater auf dem Foto getragen hatte, und das legte ich nie wieder zurück in dieses seltsame Gepäck. Auf der Rückseite des Fotos stand: Madrid, 1937, mit meinem Bruder Gabriel.

3 Sardinenblut

Berlin, 1961