Ruths Geheimnis - Aroa Moreno Durán - E-Book

Ruths Geheimnis E-Book

Aroa Moreno Durán

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Beschreibung

»Ein wunderschöner Roman über drei Generationen von Frauen. Was für eine großartige Geschichtenerzählerin!« (El País) Aroa Moreno Durán taucht ein in die aufwühlende Geschichte einer Familie aus dem Baskenland.

Sie haben sich viele Jahre nicht gesehen. Kein Wort miteinander gewechselt. Nun treffen sie wieder aufeinander, in dem windschiefen, alten Haus, das ihrer Familie gehört. Drei Frauen, drei Generationen, die bislang nur das Schweigen miteinander verbindet. Adirane hat Mann und Kind in Madrid zurückgelassen, um ihr Leben neu zu ordnen. In dem Fischerdorf an der stürmischen baskischen Küste ist sie aufgewachsen. Allein großgezogen von ihrer Mutter Adriana, einer verschlossenen Frau, die aus gutem Grund nicht über die Vergangenheit sprechen will. Und dann ist da noch Ruth, die Großmutter, die krank und altersschwach das über allem lastende Schweigen schließlich bricht und zu erzählen beginnt. Von ihrer eigenen Kindheit, als sie während des Spanischen Bürgerkriegs nach Belgien fliehen musste. Und von dem Tag ihrer Rückkehr, als ihre Familie nicht mehr dieselbe war.

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Seitenzahl: 264

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Zum Buch

»Ein wunderschöner Roman über drei Generationen von Frauen. Was für eine großartige Erzählerin!« El País

Aroa Moreno Durán taucht ein in die aufwühlende Geschichte einer Familie aus dem Baskenland.

Sie haben sich viele Jahre nicht gesehen. Kein Wort miteinander gewechselt. Nun treffen sie wieder aufeinander, in dem windschiefen alten Haus, das der Familie gehört. Drei Frauen, drei Generationen, die bislang nur das Schweigen miteinander verbindet. Adirane hat Mann und Kind in Madrid zurückgelassen, um ihr Leben neu zu ordnen. In dem Fischerdorf an der stürmischen baskischen Küste ist sie aufgewachsen. Allein großgezogen von ihrer Mutter Adriana, einer verschlossenen Frau, die aus gutem Grund nicht über die Vergangenheit sprechen will. Und dann ist da noch Ruth, die Großmutter, die krank und altersschwach das über allem lastende Schweigen schließlich bricht und zu erzählen beginnt. Von ihrer eigenen Kindheit, als sie während des Spanischen Bürgerkriegs nach Belgien fliehen musste. Und von dem Tag ihrer Rückkehr, als ihre Familie nicht mehr dieselbe war.

Zur Autorin

Aroa Moreno Durán, 1981 in Madrid geboren, gilt als »große literarische Entdeckung« (El Cultural). Ihre Romane sind preisgekrönt und erscheinen in mehreren Sprachen. »Ruths Geheimnis« wurde mit dem Grand Continent Award 2022 ausgezeichnet. Für »Die Tochter des Kommunisten« erhielt sie den Premio del Ojo Crítico. Davor veröffentlichte Aroa Moreno Durán Künstlerbiografien über Frida Kahlo sowie Federico García Lorca. Aroa Moreno Durán lebt in Madrid.

Aroa Moreno Durán

Ruths Geheimnis

Roman

Aus dem Spanischen von Marianne Gareis

Die spanische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »La bajamar« bei Penguin Random House Grupo Editorial, S. A. U., Barcelona.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor.Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Dieser Roman erhielt 2022 den »Prix Grand Continent«. Es ist der erste Literaturpreis, der jedes Jahr eine große europäische Erzählung auszeichnet. Mit der Unterstützung von: Fondation Simone et Cino del Duca, Fondation Jan Michalski, Conseil Régional de la Vallée d›Aoste, Commune d›Aoste, Commune de Courmayeur, GEIE- Tunnel du Mont Blanc, Skyway Monte Bianco.

Copyright © 2022 Aroa Moreno Durán

Copyright © der deutschen Ausgabe 2024 btb Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Vermittelt durch Casanovas & Lynch Literary Agency

Lektorat: Susanne Wallbaum

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © Bridgeman Images / Hiroyuki Izutsu

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-641-26634-9V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Für meine Mutter, die uns behütet hat und Halt gibt

Txakur haundia etorriko da ta,zuk ez baduzu egiten lo.Der große Hund kommt,wenn du nicht schläfst.

Haurtxoa Sehaskan

Here we go mother on the shipless ocean.Pity us, pity the ocean, here we go.

Anne Carson

Schlick

- 1 -

Matías

Niemand hatte ihnen das Schwimmen beigebracht, obwohl sie an der Ria wohnten. Das Wasser hier an der Flussmündung war eisig kalt im November, schwarz. Die Fische zog es an die wärmere Oberfläche. Als der Junge es nicht schaffte, die Arme zu heben, und unterging, konnte das schon niemand mehr sehen. Ein wenig Schaum sprühte noch auf, als der andere Junge an der Brüstung sagte, ein Hund sei ins Wasser gefallen. Doch dann bereute er es und rief um Hilfe.

Eine Fischerin, die sich der Stelle näherte, brüllte, niemand solle sich ins Wasser stürzen, sonst werde es zwei Leichen geben. Und es stürzte sich niemand ins Wasser. Die Fischer auf den Steinstufen blickten nicht einmal von ihren Netzen auf. Boote wurden weiter angestrichen. Die Fabrik im neuen Viertel spuckte ihren schwarzen Rauch aus. Fensterläden wurden geschlossen. Ein Frachtschiff wühlte die Bucht auf.

Da tauchte die Fischerin das Ruder ins Wasser, einmal, zweimal. Doch sie kam nicht unter der Brücke durch, weil Flut war und die Wellen gegen die Brücke schlugen. Die Frauen aus der Nachbarschaft klammerten sich aneinander und traten, sich an den Armen fassend, ans Ufer. Alle Hände wurden vor den Mund geschlagen. Alle liefen sie durch die Straßen und suchten nach ihren Kindern, um ihre Sorge loszuwerden. Die Namen der Kinder erschollen im ganzen Dorf. Dann wurde es langsam still. Und sie gingen nach Hause.

Die Mutter packte den großen Jungen am Ellbogen und zerrte ihn fort. Sie sah ihn nicht an, doch ihre Finger drückten zu fest in sein Fleisch: Du rührst dich heute nicht von der Stelle. Und hältst den Mund.

Später kam der Junge gelegentlich an die Stelle zurück, und es war, als hörte er ihren Streit, ihren Wortwechsel, wer die Netze auswerfen durfte, noch immer. Der kleine Junge hatte zu Hause mit einer Schere die Köpfe von fünf Makrelen abgeschnitten und in den Sackleinenbeutel geworfen. Mit baumelnden Beinen saß er am Kanal, der sich bei Flut mit Wasser füllte und bei Ebbe bis auf den Grund leer war. Mehr als zwei Meter Unterschied zwischen Höchst- und Tiefststand. Der Junge wollte gerade das Netz auswerfen, als der andere neben ihm auftauchte. Und der andere sagte, er sei der Größere. Lass mich das machen. Du kannst das nicht. Nein, das sind meine Fische, antwortete der Kleine und klammerte sich mit aller Kraft an die Netze. Der Große schubste den Kleinen, ohne sich etwas dabei zu denken, und der Kleine fiel ins Wasser.

Und niemand hatte ihnen das Schwimmen beigebracht.

An diesem Nachmittag ging keiner mehr an die Flussmündung. Niemand spazierte am Ufer entlang. Nur die Fischerin blickte den ganzen Tag auf das schwarze Wasser der Bucht. Gesucht hat sie ihn nicht, doch als die Flut zurückging, fuhr sie mit ihrem Boot mehrmals über die Stelle und blickte in die Tiefe, blickte in alle Richtungen.

Die Sonne ging bereits unter, als eine Frau aus einer Straße herausgerannt kam. Eine Frau, die fünf tote Fische ohne Kopf auf ihrem Küchentisch entdeckt hatte. Und eine Schere. Die Einzige unter den Frauen, die an diesem Abend ihren kleinen Jungen nicht gefunden hatte. Eine schwarz gekleidete Frau, die zum Ufer rannte, sich hinkniete, die Arme bis zu den Ellbogen ins Wasser tauchte und sie hin und her bewegte in dem Versuch, die Dunkelheit zu vertreiben.

Und dann brach die Frau entzwei. Und dann war die Frau nicht mehr dieselbe. Und das Flussbett trug ihren Schrei über die ganze Bucht bis hin zur Hafeneinfahrt, wie ein Spiegel, ein Lautsprecher des Todes. Die Nachbarn erzitterten. Doch jeder in der eigenen Wohnung.

Als die Ebbe da war, gab der schwarze Schlick den kleinen Jungen frei, Gesicht und Handflächen nach unten.

Der Richter fragte an diesem Abend die Frau, was mit dem großen Jungen geschehen solle. Das ist mir gleichgültig, sagte sie, nahm einen Lappen und wischte den noch frischen Blutfleck weg, den die Fische hinterlassen hatten.

Die ganze Wohnung roch faulig.

Ebbe

- 2 -

Der Zwischenstopp

(Adirane)

Jon kommt den Paseo de Francia herunter, um sie zu treffen. Er trägt einen dunklen Mantel. Ist der nicht zu warm? Sie kann nicht erkennen, ob er Jeans anhat oder ob seine Schuhe abgenutzt sind. Weil sie nicht viel Zeit hat, ihn anzuschauen. Aber sie sieht diese zwei Augen in seinem Gesicht. Ist Kommen nicht genau das, was er gerade tut? Immer weniger fern sein.

Hat er auf die Nachricht, in der sie ihn nach so langer Zeit bat, sie abzuholen, nicht mit Ja geantwortet? Hat er nicht gefragt, wo kommst du an, im Dorf oder in der Stadt? Ist er nicht nach der Arbeit eine andere Strecke gefahren? Nennt man das nicht Vorsatz?, denkt sie. Hat er nicht das Meer zur Rechten zurückgelassen und zu Hause die Frau, und mit ihr all die Kosenamen, all die Jahre? Gebratenes Gemüse, Kalender, Bergstiefel. Sie ist sich sicher, dass sie oft mit Safran würzen.

Er muss in den letzten Tagen an sie gedacht haben, zumindest kurz, und vielleicht war er ja erregt auf dem Weg vom Büro hierher, auf der Straße, in diesem Mantel, unter dieser Hose.

Als sie noch drei Schritte voneinander entfernt sind, gibt es keine Bäume mehr, hinter denen sie sich verstecken können, und die Stadt im Hintergrund wirkt so vollkommen, dass dies ihr letzter Abend vor dem Weltuntergang sein könnte.

Sie umarmen sich ein erstes Mal, sie stellt sich auf die Zehenspitzen, klammert sich an seine Schultern, kann aber seinen Atem nicht spüren.

Warum bist du gekommen?

Wohin?, fragt sie zurück. Hierher? Und sie schleudert ihm das ganze Gewicht seiner Frage vor die Füße.

Der hohe Dopaminspiegel hat bereits ihre Gelenke lahmgelegt, sie nimmt den Rucksack ab, zieht ungeschickt die schwarze Jacke aus, und in Sekundenschnelle wird ihr kalt.

Die Ebbe hat den Flussgrund freigelegt, eine Möwe pickt am Ufer zwischen den mit Grünspan überzogenen Steinen herum.

Trinken wir was?, fragt sie. Hast du Zeit?

Ja. Ich habe Nora gesagt, dass ich zum Abendessen da bin, antwortet Jon.

Sie laufen ziellos Richtung Meer, überqueren die letzte Brücke über den Fluss, sie will keine Minute vergeuden, will nur, dass alles ein Zusammenprall glücklicher Worte wird. Sie will nirgendwo ankommen.

Sie haben sich Nachrichten geschickt, immer wieder mal, er schreibt Gemeinplätze, schießt einfach drauflos, abgedroschene Poetik auf Distanz, sie erschreckt das nicht, es gibt vielmehr Tage, an denen es ihr gefällt, an denen sie eine Zärtlichkeit verspürt, weil ihr die abartigsten Wahrheiten auf diesem Bildschirm vorkommen wie die allerreinsten. So viele Jahre und so viele Mails, in denen sie stets versuchten, alles ausgewogen zu halten, nicht laut zu werden, haben sie unbeschadet überstanden: Hallo, Jon. Hallo, Adi. Gestern habe ich deine Mutter gesehen. Was macht der Berg. Dicker Kuss.

Gerade interessiert es sie nicht, was er ihr erzählt, dass die Leute im Dorf jetzt jeden Monat den Fluss säubern, dass es seinem Vater nicht mehr gut geht und er nicht mehr mit ihm hoch zum Hof kommen kann oder dass er einen mittelgroßen Hund hat, schwarz-weiß und mit langem Fell, den seine Frau und er irgendwo aufgelesen haben und der nun jede Nacht zwischen ihnen schläft.

Adirane fragt nicht nach, denn sie könnte gerade nichts Neues in ihrem Gedächtnis speichern. Und es interessiert sie auch nicht. Doch sie versucht, das Schweigen zwischen ihnen zu überbrücken, indem sie etwas Geistreiches über die Stadt sagt, durch die sie nun gemeinsam wieder schreiten. Obwohl sie sich anstrengt, findet sie keinen Zugang zu dem Winkel ihres Gedächtnisses, in dem das genaue Datum abgespeichert ist, an dem Fremde einst das Stadtzentrum überfielen und die Häuser plünderten, die ganze Altstadt niederbrannten und die Frauen vergewaltigten. Und sie schweigt eine ganze Weile und sucht in ihrem Kopf. Sie denkt, dass das Erinnerungsvermögen begrenzt ist und das neu Erlebte das Alte nach und nach durch die Hintertür hinauswirft. Da holt er sie zurück, indem er seine Hand vor ihrem Gesicht hin und her bewegt. Adi?, fragt er. Sie murmelt etwas und zeigt auf eine Straße, und er versteht nicht, was sie meint, als sie genau an der Kreuzung stehen bleiben, wo eine Bresche in die Stadtmauer geschlagen wurde.

Wie lange haben wir uns nicht gesehen, und da, während sie an einer Ampel am Boulevard auf Grün warten, sieht sie ihn das erste Mal an.

Du warst schwanger, weißt du noch?

Natürlich weiß ich das noch.

Sie erinnert sich mühelos an alles, was mit ihm zu tun hat, muss es aber jedes Mal aus einem Ort hervorholen, der immer unzugänglicher wird. Ihr jetziges Zusammensein und das in Madrid Zurückgelassene haben nicht denselben Schweregrad. Sie lässt sich jedoch mitreißen von Jons Art, die alles so leicht, so einfach erscheinen lässt. Und sie erinnert sich an eine frühere Begegnung, als sie das letzte Mal beide solo waren und er für ein paar Nächte einen Zwischenstopp in ihrer Madrider Wohnung einlegte, bevor er nach Wien ging, weil er immer einen Vorwand brauchte. Das war kurz bevor sie Iván kennenlernte, noch gar nicht so lange her, bedenkt man die Länge ihrer Geschichte.

Sie erinnert sich, dass die Sonne durchs Fenster schien und ihre nackten Füße auf einem Stuhl lagen. Obwohl sie gerade frühstückten, sagt er in ihrer Erinnerung, dass sie das Rauchen aufgeben soll, und sie trinkt Weißwein. Alles ist ein wenig absurd. Das Foto ist rissig wie ein Traum, wie die ferne Vergangenheit.

Real ist aber, dass sie ihn danach in einem marineblauen Regenmantel begleitet hat, den sie nicht mehr besitzt, und dass sie nie eine Antwort auf die Frage fand, wie lange dieser Abschied gedauert hat. Ihre Hand bereits ohne die Hand, die sie im Bett am ganzen Körper berührt hatte. Der Blick der blauen Augen fest auf die braunen gerichtet. Die Frau außerhalb der Umarmung des Mannes. Der Mann bereits für immer außerhalb der Frau. Sie hätte damals nicht sagen können, wie viele Züge den Boden unter ihren Füßen erzittern ließen, während sich der Widerstand des einen mit dem der anderen maß. Als niemand sagte, bleib, oder, komm mit. Und der Geruch der Nacht noch an ihnen haftete. Wie viele Leute aus dieser U-Bahn-Station herauskamen, wie viele hineingingen, als sie zum Standfoto wurden. Beide hatten sie damals keine Kinder. Niemand hatte wegen niemandem auf etwas verzichtet. Hätten sie einen Schritt nach vorn getan, hätte die Druckwelle messbare Schäden verursacht. Doch sie taten ihn nicht.

Sie wussten beide, wie lange zwei Menschen, die nicht Mutter und Sohn sind, einander ansehen können, ohne ein Wort zu sagen.

Sie betreten eine Bar, und als sie zu reden anfängt, ist es sehr laut, und sie will nicht auf das antworten, was er so schnell aufs Tapet gebracht hat: warum sie wieder im Norden ist und warum sie ihn angerufen hat, damit er sie abholt. Sie wird nicht über das reden, was sie zurückgelassen hat, und mit dem, was sie vor sich hat, will sie sich auch noch nicht auseinandersetzen. An diesem Nachmittag will sie einfach nur für einen kurzen Augenblick in die jugendliche Sorglosigkeit zurückfinden.

Bist du etwa nicht bereit, mir einen Nachmittag zu schenken? Und sie bittet ihn wortlos: Lass mich glauben, dass es zehn Jahre früher ist, Jon. Schenk mir ein wenig von unserer Leichtigkeit. Lass mich glauben, dass es noch nicht zu spät ist.

Aber er scheint nicht bereit, sich auf ein unbequemes Schweigen einzulassen und auch nicht auf ein wenig Sarkasmus. Er will keine Leerstellen. Dafür hat er keine Geduld mehr und nicht den Kopf oder die Zeit. Jon stellt Fragen, auf die es eigentlich auch eine Antwort gibt. Lass es uns machen wie immer, sagt sie. Und insgeheim denkt sie: Lass uns an den Rand eines harmlosen Abgrunds treten. Sie antwortet ausweichend: Ich wollte nach all den Jahren nicht allein ins Dorf kommen und dachte, dass dein Betrieb ja auf halbem Weg zwischen hier und dort liegt.

Dort, wiederholt er und lacht über den verächtlichen Ton, in dem sie das alles gesagt hat. Dann trinkt er einen großen Schluck Bier. Und wie geht es deiner Großmutter?

Ich bin gekommen, damit sie mir ihr Leben erzählt. Du weißt, was ich meine. Ich habe Angst, dass mir ein Teil von ihr verloren geht, ohne dass ich sie ernsthaft dazu befragt habe. Dass sie ihn mitnimmt und ich keine Gelegenheit hatte, mit ihr darüber zu reden – als wäre es für mich ein Fakt, dass sie immer hier war, als hätte sie keine andere Geschichte und kein anderes Leben gehabt als dieses gemeinsame in der Familie. Sie kann jederzeit sterben.

Das weiß man nicht. Oder ist sie krank?

Manchmal weiß man das. Was für Krankheiten hat man in diesem Alter? Blutgerinnsel, Tausende von Löchern im Gedächtnis, Organschwäche. Ihr sind schon alle weggestorben. Sie hat niemanden mehr, den sie begraben kann. An manchen Tagen kommt sie mir vor wie die Frau, die mich aufgezogen hat, du kennst sie ja, so klug und mit diesem trockenen Humor, dieser klaren Art zu reden. Und an anderen erzählt sie mir unmögliche Dinge, verwechselt uns alle, bringt Orte und Namen und ihr Leben mit dem von anderen durcheinander. Oder sie ist auf einmal ganz geistesabwesend und legt einfach auf, und ich höre am anderen Ende nur noch Stille. Oder sie erzählt mir tausendmal dasselbe. Als hätten wir am Vortag nicht genau darüber gesprochen. Es ist, als würde sie sich zwischendurch immer mal verabschieden. Einen Tag ist sie hier, am nächsten nicht. Einen Tag ist sie in der Lage, Auto zu fahren, am nächsten zittert sie so, dass sie nicht mal den Löffel zum Mund führen kann. Nachts schreit sie nach ihrer Mutter, nach ihren Geschwistern. Nach der Belgierin.

Und deine Mutter?

Nein, nein. Mit meiner Mutter rede ich nicht. Ich weiß das alles, weil Naia es mir erzählt hat. Die wohnt unter ihnen. An den Tagen, an denen meine Großmutter mich nicht anruft, schicke ich ihr eine Nachricht und sie fragt ihre Mutter und berichtet mir dann.

Ihr macht es euch ja ganz schön schwer. Wie lange bleibst du?

Doch Adirane schweigt. Weil sie auf diese Frage keine Antwort mehr weiß, schon gar nicht, solange sie nicht dort angekommen und das Haus ihrer Großmutter betreten hat, das auch das Haus ihrer Mutter und ihr eigenes Zuhause ist.

Sie schüttelt den Kopf, versucht, alles darin zu löschen und in die Gegenwart zurückzukehren. Und sie bemüht sich, bei klarem Verstand zu bleiben, während sie ihm diesen Vortrag hält, warum sie mit ihrer Großmutter reden will. Aber er sitzt ihr direkt gegenüber, ist kaum einen Meter entfernt, ihr Gepäck zwischen seinen Beinen. Er ist ihr körperlich so nah. Diesmal ist es keine Nachricht. Keine gewagte Aktion in einer verzweifelten Nacht. Sie hat ihn herbestellt, als es ihr sehr schlecht ging, und er ist sofort gekommen.

Er, bei dem sie immer noch ganz genau weiß, wie er in bestimmten Augenblicken die Augen schließt, und sie erinnert sich, dass es einmal eine Zeit gab, in der sie sich gegenseitig mitrissen. Er, an dessen nackten Schatten am Fenster sie sich erinnert, an das straffe, glatte Fleisch, den Wirbel im Haar, das im Nacken immer länger ist. Bist du nicht schon zu alt für diese Frisur, Jon?

Er, der sie abholen kam. Das ist ihre einzige Verbindung zur Wirklichkeit: Er – ist – da. Und er wirkt echt. Doch sie ist sich darüber im Klaren, dass sie diese Begegnung nach der Niederlage, die sie gerade erlebt hat, nicht überbewerten, sondern lediglich als Zeichen alter und vielleicht inniger Zuneigung betrachten sollte.

Das Lächeln um seine Mundwinkel wird in keinem Moment von einer einfältigen Geste zunichtegemacht. Er scheint sich wohlzufühlen in ihrer Gegenwart, und sie antwortet mit einer Grimasse, weil sich ihr ganzer Körper versteift hat. Schließlich sieht sie ein, dass es nicht der Augenblick ist, um Spannung in die Begegnung zu bringen, zu vergessen, dass auf dem Boden die Linie gezogen ist, die zwei Fronten trennt: Es ist der Abstand zwischen zwei Körpern.

Sie reden eine gute Stunde lang über die alten Zeiten. Die Namen sämtlicher Freunde, die sie seit Jahren nicht mehr gesehen haben, werden erwähnt, die alten Geschichten hervorgekramt, tausendmal erzählt, aber so weit weg, dass sie schon wieder originell sind. Ihr ist nicht wirklich bewusst, wie sie die Sätze verbindet, wie der Gesprächsfaden verläuft, und es bleiben immer offene Enden. Sie erzählt ihm ein bisschen mehr über das Projekt, das sie angehen will, nämlich diesen Teil der Geschichte ihrer Familie, aber auch anderer Familien zu erzählen. Alles, was nur irgend möglich ist, aufzunehmen. Ein Zeugnis zu erstellen und diese letzte, noch lebende Erinnerung festzuhalten.

Was ich gern schaffen würde, wäre so etwas wie ein Mosaik aus Erinnerungen, sagt sie.

Und das versteht er, und er sagt, dass ihm das gefällt. Sie will ihre Großmutter beim Erzählen ihrer Erinnerungen filmen. Diesen ältesten Teil aufnehmen. Sie sagt, dass sie nicht weiß, wie sie es anfangen soll. Dass sie als Erstes sich selbst viele Fragen stellen muss. Was veranlasst sie, jetzt diese Geschichte zu erzählen? Wie viel von ihr selbst würde in diesem nicht-fiktionalen Film stecken, in den ja auch ihre eigene Familiengeschichte einfließt? Warum muss ausgerechnet sie sie erzählen?

Ein Teil davon ist Intuition, sagt sie, aber ich muss daran arbeiten, muss nachdenken. Ich habe so was schon lange nicht mehr gemacht. Bin feige geworden. Und dann sagt sie: Das glaube ich zumindest. Ich muss eine Struktur finden, habe aber nicht viel Zeit, deshalb werde ich morgen, falls es ihr gut geht, gleich anfangen und alles so vorbereiten, dass ich jederzeit weitermachen kann.

Ein innerer Konflikt bricht sich Bahn. Was redet sie da eigentlich. Und diese Ruhe? Will sie ihn beeindrucken? Als wäre in Madrid nichts passiert. Als würde sie nichts mit sich rumschleppen. Als wäre sie nicht von zu Hause abgehauen, hätte keine Tochter zurückgelassen, und nicht nur eine Tochter, sondern eine Familie. Als hätte sie nicht Brücken, Türen und ihr Wohnzimmer in die Luft gesprengt vor ihrem Entschluss, sie allein zu lassen. Vor der Erkenntnis, dass diese Traurigkeit nicht einfach dadurch weggehen würde, dass sie Distanz dazwischen packt. Ohne zu sagen, bis hier. Ohne sich zu einer radikalen Veränderung zu bekennen. Als wäre ihre Großmutter nicht eine Ausrede und gleichzeitig ein guter, gewichtiger Grund. Als wäre es ein Fehler gewesen, in dieser Situation jemanden anzurufen, einen Mann aus ihrer Vergangenheit. Um sich weniger allein zu fühlen, um sich daran zu erinnern, dass sie einmal geliebt worden ist, um sagen zu können, ich hatte einen Körper und wurde geliebt von diesen Händen, wenn auch nicht mehr.

Nach und nach beleuchtet er schlaglichtartig alles, woran sie während der Fahrt nicht hat denken wollen. Und während sie reden, flackert sein Bild auf und verschwindet wieder, wie ein Hologramm, das gerade ein Glas Bier austrinkt. Und sie denkt wieder an ihr Zuhause. Und fühlt sich zutiefst lächerlich, weil sie sich von ihm hat abholen lassen. Und sie will nicht mehr dort sein.

Gehen wir?, fragt sie unvermittelt.

Und da erst kann sie sich konzentrieren, als würde die Frage den parallelen Blödsinn, den diese Begegnung darstellt, entschuldigen, und sie rechnet auf die Schnelle mit der Vergangenheit ab. Während er bezahlt und ihr den Rücken zukehrt, betrachtet sie seine gute Haltung, die fest auf dem Boden stehenden Füße, die Krümmung in der Lendengegend. Die Haare am Ende dieser knappen Einsneunzig stehen ab, als hätte er sie sich gerauft. Sie zieht ihre Jacke an und erinnert sich an einen Tag, an dem es noch nicht hell war. Es war so gegen fünf oder sechs. Sie weiß nicht mehr, wie sie in diesen Winterstunden überhaupt zum Flughafen gekommen ist. Er lebte schon in Wien. Und hatte endlich gesagt, sie solle kommen, und sie hatte sich entschieden zu fliegen. Und vor dem Einsteigen ins Flugzeug bereute sie es. Und flog nicht. Er hat nie erfahren, warum sie sogar die Passkontrolle passierte, ob sie am Zoll lächelte oder nicht, oder warum sie sich sogar in die Abflugschlange stellte. Dass sie bis zur Tür kam. Und dann nicht einstieg. Nicht flog. Dass sie Angst hatte, alles kaputtzumachen. Und sie keine Freunde mehr wären. Nichts mehr wären. Dass sie immer noch das Ticket aufbewahrt, in einer Holzschachtel, die nicht geöffnet wird, denn ohne gewichtige Gründe dürfen diese Schachteln nicht geöffnet werden. Sie könnte ihm sagen, welches Buch sie auf dem Weg zum Flughafen gelesen hat. Wie sie sich seine Wohnung vorgestellt hatte, ohne sie zu kennen. Für welche Kleidung sie sich entschieden hatte.

Sie könnte ihm auch erzählen, dass sie an diesem Abend in das Kino an der Plaza San Telmo ging. Dass sie sich allein The Hours ansah. Dass sie danach ihre Nase in eine Umarmung steckte, die sie nicht berührt hat, dass jemand ihr sagte, diese gestreifte Jacke steht dir gut, die Stiefel, die Haare, dieser Blick. Dass sie danach lange die Heizung anmachten im Auto und niemand mehr darüber sprach, warum sie ein Flugzeug hatte abheben lassen, ohne selbst drinzusitzen. Sie weiß selbst immer noch keine rechte Antwort auf diese Frage, aber inzwischen macht es ihr nichts mehr aus. Eigentlich ist ihr schon lange egal, was mit Jon hätte sein können oder auch nicht.

Wirklichkeit, Erinnerung und Fantasie sind nun drei wirre Linien, die verschmelzen und sich wieder trennen. Die vielen immer wieder wie ein Rettungsring erinnerten Situationen – unmöglich, sie neu zu schreiben.

Ihre Realität sind die letzten Jahre: ihre Tochter, Madrid. Sie denkt an Iván und an sie. Und dann schaut sie auf diesen anderen Mann. Warum verurteilt sie sich die ganze Zeit dafür, dass sie gerade hier mit ihm zusammen ist? Und sie weiß nicht mehr, ob er derselbe ist wie immer oder nur der andere, der in Wahrheit gar nicht existiert, der sie immer ein wenig länger, ein bisschen fester umarmt, als man es einem Freund gestattet, sodass es fast unbehaglich wird, der aber trotzdem keine Tiefe zulässt.

Sind wir Freunde?

Wir sind Freunde.

Wie viele Leben passen in das, was nicht mehr passieren wird. Wie viele Leben haben sie beide gehabt, seit sie fünfzehn waren. Seit der feuchten Hitze am Strand, den ersten Östrogenen, die die Zügellosigkeit und das Lächerliche noch verstärkten.

Als sie die Bar verlassen, wissen sie beide nicht, wie sie die halbe Stadt durchquert haben. Sie spürt, wie ihr Adrenalinspiegel sinkt und sie unachtsam wird. Die fehlenden Überlebensmechanismen. Das Ende des Alarmzustands. Die Augen nehmen wieder die übliche abendliche Größe an. Die Enttäuschung. Weil er schließlich sagt: Beeilen wir uns? Dann komme ich noch rechtzeitig zum Abendessen.

Und jetzt können sie nur noch über einfache Dinge reden. Er betrachtet ihre Hände, die sich an die Rucksackträger klammern. Sie betrachtet ebenfalls ihre Hände. Weißt du etwa nicht, dass ich Nägel kaue? Die Wartenden werden nicht mehr erwähnt. Für ihre Münder existieren sie nicht, aber sie sind da, sind das eingebildete Publikum, das ihrer Begegnung beiwohnt. Er ist schlanker als in ihrer Erinnerung. Ist größer als in ihrer Erinnerung. Hübscher. Klüger. Lächelt schöner.

Auch älter.

Sie zählt die neuen Falten, die von seinen dunklen Augen abgehen und sich durch die Tage im Gebirge vertieft haben, durch die vielen Reisen an höher gelegene Orte, zu den Ruinen nicht mehr existierender Kulturen, wo die Sonne stärker knallt. Sie kann seine Iris nicht von seiner Pupille unterscheiden. Der rote Pulli, der sich an seine Arme und seine Atmung schmiegt.

Die Frisur steht dir gut.

Ich habe mir die Haare selbst geschnitten.

Nach dieser Fiktion in Zeitlupe heißt es jetzt nur noch, ohne allzu großen Schaden davonzukommen. Rette sich, wer kann. Als Jon den Schlüssel umdreht, geht das Radio an. Ein Lied erklingt: »Ich will dich immer, hungriger Wolf«, und sie lacht und greift nach dem Griff unterm Dach, versteckt das Gesicht im Arm.

Er entschuldigt sich: Na ja, sie mag so was.

Schon gut. Kein Problem. Lass mich hier raus, bittet sie, als sie in ihr Viertel kommen.

Was redest du da. Ich lass dich an deiner Haustür raus, und in den nächsten Tagen sehen wir uns.

Gegen zehn haben sie sich bereits verabschiedet, und er hat nicht einmal den Motor ausgemacht. Flüchtet er? Sie ruft ihm nach, als er beschleunigen will, schreit hinter ihm her. Da merkt sie, dass genau in diesem Augenblick ihr Handy in der Tasche anfängt zu vibrieren. Gleichzeitig kurbelt er das Fenster herunter, und sie sagt einfach nur, fahr nicht so schnell, Jon, du kommst noch locker rechtzeitig zum Abendessen. Und dann nimmt sie ab, ohne ihn noch einmal anzusehen, denn weitere Pausen würde der Abend nicht vertragen: Ich habe dir doch gesagt, dass du mich nicht anrufen sollst. Ist was passiert? Es ist noch kein Tag vergangen. Und sie legt auf.

Bevor sie klingelt, geht sie zu der Stelle, wo Matías gestorben ist, wo ein anderes Kind ihn mit einem Schubs umgebracht hat. Und sie denkt, dass diese heute so saubere Ria eine Familienlegende ist. Sie atmet tief durch, bis in den Bauch hinein, spürt, dass sie dringend aufs Klo muss, und drückt auf den Knopf, worauf der alte Klingelton ertönt. Sie betrachtet die Neigung des Hauses zur Küste hin. Das ganze Dorf immer kurz vor dem Einsturz. Alte Häuser, die sich an den neuen abstützen. Die Vergangenheit, die auf die Gegenwart drückt.

Jemand macht auf, fragt aber nicht, wer da ist. Als sie über die Schwelle zur Wohnung treten will, sieht sie am Ende des Flurs einen Schatten, der hastig ein Licht löscht. Ein anderes Licht brennt noch, in dem Zimmer, in dem sie als Kind immer geschlafen hat. Auf dem Schreibtisch ein Brötchen mit Tortilla und ein Glas Wasser. Eine Orange und ein Messer.

Es ist halb elf Uhr abends.

Sie lässt den Rollladen herunter, und sofort kommt ihr der Geruch der Wohnung wieder in Erinnerung.

- 3 -

Eine Orange und ein Messer

(Adriana)

Es ist ein magnetisches Erbe. Man hat keine Wahl. Aber wir brauchen lange, bis wir uns eingestehen, was es bedeutet. Die Frau, die gestern dieses Haus betreten hat, ist meine Tochter, aber meine Hände waren nicht in der Lage, sie zu berühren. Ihre Unterarme zu drücken und zu spüren, wie viel Raum dieses Fleisch und diese Knochen einnehmen.

Ob meine Hand diesen Arm wohl ganz umfassen könnte?

Eine Anfangsgeste: Ich möchte eine Hand auf ihre Stirn legen und die andere auf meine. Temperatur messen. Diese Gabe der Haut, unmittelbar herauszufinden, ob alles in Ordnung ist oder nicht. Ihren Puls fühlen. Eine Mutter, die feststellt, dass dieser Körper von bereits vierzig Jahren lebt. Dass diese Tochter noch existiert, auch wenn sie einem fern ist. Eine Tochter, die zurückgekehrt ist ins heimische Fruchtwasser.

Zwischen den Frauen der mütterlichen Linie einer Familie besteht eine merkwürdige Beziehung. Die Zelle, aus der meine Tochter geboren wurde, entstand zeitgleich mit mir in der Gebärmutter meiner Mutter. Meine Tochter war im ureigensten Sinne, im umfassendsten Nicht-Sinn, also auf die unerklärliche Weise von etwas, das vor seiner Existenz schon potenziell existiert, auch mit mir in meiner Mutter.

Und jetzt sind wir hier wieder zu dritt im Haus.

Das ist nicht der beste Zeitpunkt in unseren Leben.

Gestern konnte ich nicht sehen, ob ihre Haare noch so kräftig sind, ob ihr Gesicht seinen Glanz verloren hat, ob ihre Hüften breiter geworden sind oder ihre früher so stolze Brust flacher geworden ist. Ich kenne ihren jetzigen Geruch nicht. Rückkehr des Tiers in die Höhle nach dem längsten Sommer. Sie ist gekommen, um sich vor etwas zu retten. Das ist klar. Sie rettet sich vor etwas und setzt sich gleichzeitig mir aus. Es muss etwas sein, mit dem sie gar nicht mehr klarkommt. Meine Mutter hat mir gesagt: Sie kommt, und sie sagt, dass sie aufnehmen will.

Und das ist alles? Sie kommt zurück, drückt auf einen Knopf und hält dir die Kamera vors Gesicht, als wäre es nicht fünf Jahre her, dass sie zuletzt hier war. Als hätte sie nicht ein Kind bekommen, das wir nicht kennen. Das wir nicht sehen durften, weil sie es so wollte. Aus Gleichgültigkeit. Aus Wut. Was soll das gewesen sein, Wichtigtuerei oder was?

Ja, ich habe sie angeschrien.

Ein Mädchen, das wir auf den Fotos sehen, die sie schickt, wenn sie sich doch mal an uns erinnert. Das habe ich meiner Mutter gesagt. Und sie hat sie in Schutz genommen.

Das ist doch besser als nichts, hat sie geantwortet. Wenn du sie nicht sehen willst, dann fahr für ein paar Tage weg.

Soll ich etwa wegfahren und dich hier mit ihr allein lassen? Dich kann man doch mit niemandem mehr allein lassen.

Dann habe ich sie umarmt. Und sie hat die Umarmung nicht erwidert. Ihre Hand blieb auf der anderen liegen.

Natürlich wollte ich sie sehen. Weil ich auch weiß, dass sie was mit sich rumschleppt. Dass sie nicht nur hier ist, um etwas über die Nachkriegszeit zu erfahren oder über was auch immer, weil, was weiß ich, ich weiß doch sowieso nie was. Aber sie kann diesen unmöglichen, nicht zu löschenden biologischen Schwelbrand nicht einfach ignorieren.