Die Tochter meines Vaters - Mareike Krügel - E-Book

Die Tochter meines Vaters E-Book

Mareike Krügel

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Beschreibung

F. Lauritzen Bestattungen lautet die schlichte Botschaft auf dem Schild im Fenster. Felix - eigentlich Felizia -, die Tochter des Bestatters, weiß schon in der Wiege, welches Erbe sie in Kleinulsby bei Eckernförde antreten soll. Ihre Kindheitsjahre stehen unter dem Zeichen der elterlichen Prinzipien: Höflichkeit, Diskretion und Unauffälligkeit, denen sie jedoch mit ihrem stummen Freund Gunnar auf Mauern, Bäume und Häuser kletternd entflieht. Mareike Krügel erzählt geschickt auf zwei Ebenen. Sie kontrastiert die Welt des Kindes Felix mit der der erwachsenen Felizia, die aus Kleinulsby ausbricht und ihr Geld mit der Deutung des Lebens aus Tarotkarten verdient. Die großen Gefühle, die sie täglich aus den Karten liest, meiden sie, und nur Cary Grant scheint sie aus ihrer pragmatischen Leidenschaftslosigkeit erlösen zu können. Doch der heißt eigentlich Schmidt und ist von einem Traumprinzen weit entfernt. Mareike Krügel legt mit Die Tochter meines Vaters sowohl einen nicht alltäglichen Entwicklungsroman vor, wie eine ergreifendkomische Familiengeschichte. Ihr trockener Sprachwitz wahrt dabei elegant die Distanz zwischen Schwarzem Humor und Empathie.

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Seitenzahl: 354

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Inhalt

[Cover]

Titel

Kleinulsby

Eckernförde

Die weite Welt

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

[Leseprobe – Elly]

Kleinulsby

F. Lauritzen Bestattungen hatte auf dem Schild gestanden, das im Fenster des Beratungszimmers hing. Ein kleines, schwarzweißes Schild mit einer klaren Schrift. Mein Vater hatte es selbst entworfen. Meine Mutter fand es zu klein und hätte gern noch ein schwarzes Kreuz oder etwas Ähnliches zur Verzierung gehabt, aber mein Vater wollte es so diskret wie möglich.

Wenn man die Straße zum Strand nahm, die am Ortskern von Kleinulsby vorbeiführte, ungefähr auf der Höhe des Neubaugebiets, lag das Haus mit dem Schild im Fenster auf der rechten Seite. Wenn jemand das Beratungszimmer von der Straße aus betrat, leuchtete in unserem Wohnzimmer ein Lämpchen. Dann rückte mein Vater seinen Krawattenknoten zurecht und ging, um den Kunden zu empfangen. Meine Mutter hätte lieber eine hübsche Türglocke gehabt; die Meldelampe im Wohnzimmer störte sie, weil sie nur aus einer Glühbirne bestand, auf eine Art Ständer geschraubt, mitten auf der Anrichte, und weil das Kabel unter der Decke verlief, wo mein Vater es mit Klebeband befestigt hatte. Aber mein Vater bevorzugte es, wie ein Geist aus dem Nichts aufzutauchen, allwissend und diskret.

Wir hatten nicht viele Kunden. Die alten Leute in Kleinulsby gingen zu den Bestattern in Eckernförde oder Kappeln, weil sie niemandem trauten, der erst so kurze Zeit im Ort wohnte wie wir, und aus dem Neubaugebiet starben nicht so viele. Da wohnten junge Familien in Häusern, die sie sich aus einem Katalog ausgesucht hatten, mit Gärten davor, in denen noch nichts wuchs außer ein paar kleinen Papiertütchen auf Holzstöckchen. Die Todesfälle im Neubaugebiet waren besonders traurig, und wir übernahmen sie mit besonders viel Sorgfalt. Mein Vater spekulierte auf Stammkundschaft. Er machte sich nichts daraus, daß das Geschäft nicht gut lief, weil er wußte, daß er den Boden bereitete für die kommende Generation. Also für mich. Wenn ich ungefähr dreißig war, würden die Leute aus dem Neubaugebiet anfangen, eines natürlichen Todes zu sterben, einer nach dem anderen, und dann würden sie alle zu F. Lauritzen Bestattungen kommen, weil sie meinem Vater vertraut hatten und nun mir. Das war das Prinzip eines Familienunternehmens, und mein Vater hatte eines gegründet. Deshalb heiße ich Felizia. So brauchte ich später nicht einmal das F in »F. Lauritzen« zu ändern.

Meine Mutter, die gern im voraus an alles dachte und einen feinen Sinn für Ästhetik hatte, fing im sechsten Monat an, Namen zu sammeln und eine Liste zu erstellen, die sie nachts unter ihr Kopfkissen schob. Friedrich, Fridolin, Frieder, Fileas, Ferdinand, Florian, Frederic stand auf der Liste. Als ich geboren wurde und ein Mädchen war, wußte sie keinen Namen mit F für mich.

»Sag schnell was, dann kann ich gleich zum Standesamt und es anmelden«, sagte mein Vater.

»Felizia«, sagte meine Mutter. Als mein Vater weg war, fielen ihr auf einmal viel schönere Namen mit F ein (Floriane, Franziska), aber es war zu spät. Und es war auch egal, solange mein Name nur F. Lauritzen war.

Meine Mutter gab die Hoffnung nicht auf und behielt die Liste unter ihrem Kopfkissen, aber nach mir kam keiner mehr.

Mein Vater war ein kleiner Mann mit sehnigen Händen und ledriger Haut. Er trug stets einen dunklen Anzug. Gerade in den ersten Jahren bemühte er sich, in seiner freien Zeit (und davon hatte er mehr, als ihm lieb war) recht oft unter Menschen zu kommen, damit sie sich an ihn gewöhnten. Wann immer es ihm angemessen erschien, nahm er mich mit, während meine Mutter zu Hause die Stellung hielt, und wir verbrachten viel Zeit damit, uns bei Veranstaltungen und Vereinsfesten herumzutreiben, bei der Knochenbruchgilde und der Eckernförder Beliebung und natürlich bei den Gemeindefesten und den regelmäßigen Feiern und Veranstaltungen der Kirche. Ich stand dann dicht neben ihm und lernte. Mein Vater unterhielt sich bei diesen Gelegenheiten selten, es sei denn, jemand sprach ihn an. Er war ausgesprochen höflich. Er brachte mir bei, daß es die wichtigste Disziplin eines Bestatters war, immer da zu sein, wenn man gebraucht wurde, sich aber nie in den Vordergrund zu spielen. Der bloße Anblick eines Totengräbers konnte eine ganze Festgesellschaft zum Schweigen bringen, andererseits konnte in extremen und schwierigen Situationen seine Anwesenheit augenblicklich Trost spenden. Mein Vater glaubte außerdem an die Wirkung der Werbung auf das Unterbewußtsein.

»Wenn einer von diesen Leuten hier einen Todesfall in der Familie hat, dann schlägt er das Telefonbuch auf, um ein Bestattungsunternehmen zu suchen und mit der Angelegenheit zu beauftragen«, sagte er zu mir. »Und er wird uns anrufen. Weißt du auch, warum? Wir sind in seinem Unterbewußtsein. Wenn er sich einen Bestatter vorstellt, dann erscheint unser Bild vor seinem inneren Auge. So funktioniert Werbung, und deshalb stehen wir jetzt einfach hier herum und sind unauffällig sichtbar. Hast du das verstanden, Felix?«

Ich nickte.

***

An einem der letzten sonnigen Herbsttage dieses Jahres saß ich aus Gründen, die mir selbst nicht ganz einleuchteten, in der Krone eines Baumes und schaute durch mein Opernglas.

Die Astgabel, in der ich saß, ächzte unter meinem Gewicht. Sie war an Kinder gewöhnt, nicht an großgewachsene Frauen um die dreißig. Der Baum – eine Linde – stand in einem Hinterhof in der Holtenauer Straße in Kiel, und wenn ich durch das Opernglas guckte, sah ich verschwommene grüne und gelbe Flecken, das waren die Blätter, und irgendwo dazwischen die Fenster der Wohnungen und, wenn der Winkel stimmte, durch die Fenster in die Räume, die dahinter lagen. Auf einem Balkon im vierten Stock stand ein graues Fahrrad, und auf diesen Balkon konzentrierte ich mich.

Ich konzentrierte mich lange. Das Fahrrad war sauber und kaum verrostet, der Besitzer mußte es vier Stockwerke hochgetragen haben, weil er dem Fahrradkeller nicht traute. Das Glas der Balkontür reflektierte das späte Sonnenlicht und verhinderte, daß ich in das Innere der Wohnung sehen konnte. Solange ich schaute, gab es keine Bewegung, keine Veränderung, nur die verschwommenen Flecken wiegten sich sanft vor der Linse; ich starrte angestrengt, weil ich wie jeder normale Mensch wußte, daß es auf die Details ankam und auch der komplizierteste Mordfall sich lösen ließ, wenn man nur genau genug hinsah, aber es blieb dabei: ein kahler Balkon mit einem grauen Fahrrad. Meine Hand fing an zu zittern und das Bild zu verwackeln. Ich mußte das Opernglas absetzen und ließ für einen Moment den Ast los, an dem ich mich festhielt, um mir mit der freien Hand die Augen zu reiben, als plötzlich eine Stimme von irgendwo weit unter mir rief: »Was machen Sie da?«

Ich fiel beinahe herunter vor Schreck. In Windeseile stopfte ich das Opernglas in meinen Hosenbund, kletterte von der Linde, befand mich für einen kurzen Moment Aug in Auge mit einem hutzeligen alten Mann mit Schubkarre, der den Bösen Blick zu haben schien, und machte mich, so schnell ich konnte, aus dem Staub.

Als ich zurückkam in die Yorckstraße, warteten Randi und Kohlmorgen auf mich. Randi saß vor meiner Wohnungstür auf der Treppe und schaute mir mit gespielter Langeweile entgegen. Als sie sah, daß ich eine Hose und ein Männerhemd trug, hob sie die Augenbrauen.

»Kohlmorgen ist drinnen«, sagte sie.

»Danke für die Vorwarnung«, sagte ich und setzte mich neben sie.

Sie hatte ihre Haare in zwei Gummis gezwängt und sah aus wie ein kleiner Teufel, weil ihr Haar nicht lang genug war, um richtige Zöpfe zu ergeben. Sie trug ein bauchfreies Oberteil trotz der spürbaren herbstlichen Kühle, und man konnte allzu deutlich das Nichtvorhandensein einer entsprechenden Oberweite erkennen.

»Hast du mir Zigaretten gekauft?« fragte sie.

»Rauchen ist schlecht für die Gesundheit, man kriegt Lungenkrebs und Raucherbeine und stirbt, weil man keine Luft mehr bekommt. Also hör auf mit dem Scheiß«, sagte ich und friemelte die Zigaretten aus meiner Hemdtasche. Randi riß mir die Packung aus der Hand, öffnete sie und steckte sich eine an, schneller, als ich ihr mit den Augen folgen konnte. Sie nahm einen tiefen Lungenzug und lehnte ihren Oberkörper zurück. Ich sah sie an.

»Fang jetzt nicht damit an. Erzähl mir lieber, wieso du eine Hose anhast«, sagte sie.

»Ich mußte auf einen Baum klettern«, antwortete ich. Ich suchte in der zweiten Hemdtasche nach den Mandeln, die ich mir als Proviant für meine Expedition eingesteckt hatte, fand sie und stopfte mir ein paar in den Mund. Randi richtete sich mit einem Ruck auf und stieß mir ihren Ellbogen in die Seite.

»Hey«, sagte sie. »Kannst du mir beim nächsten Mal vielleicht was zu trinken besorgen?«

Wieder sah ich sie an.

»Was denn?« fragte sie.

»Du bist dreizehn«, sagte ich, lehnte mich nun meinerseits zurück und ließ mir eine Handvoll Mandeln in den Mund fallen. Wir schwiegen eine ganze Weile, und erst als Randi sich die zweite Zigarette ansteckte, merkte ich, daß sie mir eine Reaktion schuldig geblieben war, und begriff, daß ich sie beleidigt hatte, als ich sie auf ihr Alter hinwies. Ich beugte mich vor, legte ihr den Arm um die Schultern und sagte: »Ich verrate dir, was ich auf dem Baum gemacht habe, und du versprichst mir, nicht so viel zu trinken.«

Ihre Mundwinkel waren leicht herabgezogen, auf der Stirn zeigte sich eine kleine senkrechte Falte, ich konnte Randi dabei zusehen, wie Stolz und Neugierde miteinander kämpften, bis die Neugierde langsam einen Sieg errang.

»Das brauche ich dir gar nicht zu versprechen«, sagte sie. »Du bringst mir ja sowieso nichts zu trinken mit.«

»Also gut«, sagte ich, nahm ihr die Zigarette aus dem Mund und drückte sie unter meiner rechten Schuhsohle aus. »Ich habe ihn gefunden.«

Randi verstand mich sofort.

»Im Ernst? Cary Grant?« Sie zündete sich eine neue Zigarette an.

Cary Grant war vor vielen Jahren verstorben, und vorher hatte er in Hollywood gelebt, was aus meiner Sicht ein unglücklicher Umstand war, da ich mir von einer Begegnung mit ihm einiges versprochen hätte. Aber ich hatte ein Foto gesehen, auf dem das Gesicht eines Mannes gewesen war, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Cary Grant hatte. Oder wenigstens eine Ahnung, ein Hauch von ihm war in seinem Gesicht, irgend etwas um den Mund herum und in den Augen, vielleicht.

Das Foto gehörte einer Kundin, die ein paar Tage zuvor bei mir gewesen war. Eine komische, verklemmte Frau, die sich an mich wandte, weil ihr der Mann abhanden gekommen war, ebenjener auf dem Foto. Ich legte ihr eine Kelch-Königin und eine Auferstehung, eine Schwert-Königin und eine Kelch-Sieben, woraufhin die Kundin sich in ihrem Verdacht bestätigt sah, daß »eine Andere Frau« hinter der ganzen Sache steckte, noch bevor ich etwas dazu sagen konnte. Manchmal tat meine Arbeit sich ganz von selbst, ich brauchte nur dazu zu nicken. Leider fühlte sich die Kundin von mir so verstanden, daß sie mir gleich die ganze Geschichte ihrer Ehe erzählte und alles mit einem Handtaschenfach voller Fotos belegte.

»Und jetzt willst du ihn der Anderen Frau wieder ausspannen?« fragte Randi.

»Ich will ihn mir nur mal ansehen, mehr nicht«, sagte ich.

»Felix«, sagte Randi streng, »das ist deine Chance jetzt, begreifst du das nicht? Du suchst seit Jahren nach Cary Grant, dann findest du ihn, und alles, was du willst, ist, ihn dir mal ansehen?«

»So«, sagte ich, »nun geh mal besser wieder rein. Du holst dir noch den Tod hier auf den kalten Stufen.«

»Oder wenigstens eine anständige Blasenreizung.«

»Keine Witze über Krankheiten«, sagte ich. Sie grinste unverschämt und stand auf. Bevor sie hinter ihrer Wohnungstür verschwand, drehte sie sich noch einmal um und sagte laut: »Nierenbeckenentzündung.« Ich rappelte mich schnell hoch.

Dann streckte ich mich ein bißchen, zog meine Kleidung zurecht, atmete durch und bereitete mich darauf vor, meine eigene Wohnung zu betreten und Kohlmorgen zu begegnen.

***

Mag sein, daß ich das war, was man ein überbehütetes Kind nennt. Natürlich gab es andere Kinder in Kleinulsby, mehr als genug sogar, aber ich hatte wenig Interesse an ihnen. Ich brauchte sie nicht. Bei uns im Haus gab es immer etwas zu tun, immer war jemand da, und meine Eltern freute es, wenn ich ihnen bei der Arbeit zusah. Um mitzuhelfen, war ich noch zu klein, und um zu begreifen, worum es in den Telefonaten ging, die meine Eltern ständig führten, auch. Ich hatte keine Ahnung von Friedhofsverordnungen, Dokumentenbeschaffung, Anträgen auf Witwenrente oder dem Layout von Todesanzeigen. Aber ich war zufrieden, ihnen bei diesen Erledigungen zuzuhören, meinen Vater auf seinen Werbefeldzügen zu begleiten und zu sehen, wie glücklich meine Anwesenheit sie machte. Wenn sie einen Verstorbenen abholten, mußte ich zur Nachbarin gehen und dort eine Weile auf sie warten. Mein Vater konnte die meisten Verstorbenen nicht alleine tragen, deshalb mußte meine Mutter mitfahren. Manchmal waren sie fürchterlich gehetzt, wenn sie wiederkamen, mein Vater setzte meine Mutter mit dem Auto ab und fuhr weiter, zu einem Trauergespräch oder einem unvorhergesehenen anderen Termin. Meine Mutter jammerte dann, zwei Personen seien einfach zuwenig, um ein solches Unternehmen anständig zu führen, wer wisse denn schon, wie oft die Meldelampe geleuchtet habe, während sie weg waren, wie oft das Telefon geklingelt habe. Meistens aber gab es bei uns zu Hause viel zu viel freie Zeit.

Sie hatten nicht vor, mir so früh schon eigene Pflichten zu übertragen. Aber ich wollte mithelfen. Wenn ich schon nicht telefonieren konnte oder Anträge ausfüllen, so wollte ich wenigstens Aktenordner tragen, das Schild im Fenster polieren und meinem Vater den Tee bringen, wenn er am Schreibtisch saß.

Ein erstes sinnvolles Betätigungsfeld fand mein Eifer, wenn es um den Blumenschmuck ging. Nie wieder konnte ich mich so für Blumen begeistern wie in dieser Zeit, als ich noch nicht zur Schule ging und für keine andere Aufgabe im Unternehmen wirklich geeignet war. Meine Mutter bedauerte das noch Jahre später zutiefst.

»Früher hast du mir so gerne beim Dekorieren geholfen. Weißt du das denn nicht mehr?« sagte sie manchmal. Ich tat dann so, als könne ich mich nicht erinnern.

Der Blumenschmuck fiel in ihren Zuständigkeitsbereich, sie war froh, wenn sie mit den Verstorbenen selbst möglichst wenig zu tun hatte. Sie war auf ihre Art genauso gründlich wie mein Vater und legte großen Wert darauf, die Arbeit des Floristen stets persönlich zu überprüfen. Ich durfte mit ihr kommen, wenn sie kurz vor Beginn des Trauergottesdienstes noch einmal in die Kirche ging, um die Kränze und Gestecke auf und um den Sarg herum zurechtzurücken, an irgendwelchen Blüten zu zupfen, empört »Das gibt’s doch gar nicht« zu murmeln und am Ende ein paar Schritte zurückzutreten und kritisch den Kopf schief zu legen. Ich half ihr, die verwelkten, abgefallenen Blätter und Blüten aufzusammeln, zog die Schleifen glatt, damit man die Aufschriften lesen konnte, brachte ihr die Kamera, mit der sie schließlich noch ein Foto machte, entweder als Beleg für den Floristen, damit sie ihm seine Unzulänglichkeiten daran nachweisen konnte, oder weil die Dekoration besonders gelungen war und Einzug halten durfte in das Album für die Kunden. Sie fand mich ausgesprochen begabt im Bereich Floristik/dekorativer Trauerschmuck. Sie behauptete, ich hätte ein angeborenes gutes Auge für das korrekte und phantasievolle Schmücken des Sarges (und das hätte ich ja nun ganz bestimmt nicht von meinem Vater geerbt).

Ich war sehr gern mit meinen Eltern zusammen.

Ich kam in die erste Klasse der Grundschule von Kleinulsby, als ich gerade sechs geworden war. Meine Mutter hatte schon vorher versucht, mich in den Kindergarten zu stecken, aber ich muß einen so verstörten Eindruck gemacht haben, als ich nach dem ersten Tag wiederkam, daß sie mich lieber noch ein bißchen zu Hause behielt.

»Sieh zu, daß du Kontakte knüpfst«, riet mir mein Vater am ersten Schultag. »Es ist wichtig, daß du die Menschen kennenlernst. Ein großer Teil unserer Arbeit besteht darin, mit Menschen zu reden, und es ist gut, wenn du mit ihnen aufwächst und dich zwischen ihnen bewegst. Also geh in die Schule und such dir Freunde.«

Ich war ein wenig verzagt angesichts der vielen Kinder, aber ich war wild entschlossen, meine Sache gut zu machen. Ich verhielt mich genau so, wie mein Vater es mir beigebracht hatte: unauffällig, diskret, höflich, schweigsam. Ich wurde neben einen sommersprossigen Jungen gesetzt, der Gunnar hieß und einen Dreckrand am Hals hatte. In der ersten Stunde bekamen wir jeder ein Blatt Papier von der Lehrerin und den Auftrag, ein Selbstporträt zu malen.

Also legte ich das Blatt vor mich hin und den Kugelschreiber, den mein Vater mir zur Einschulung geschenkt hatte, auf dem F. Lauritzen Bestattungen eingraviert war, schloß die Augen, um mich ganz auf mich selbst zu konzentrieren und auf mein eigenes Gesicht zu besinnen. Als ich die Augen wieder öffnete, hatte Gunnar meinen Kugelschreiber geklaut und malte damit auf der Tischplatte. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Die Lehrerin ging durch die Reihen und beachtete uns nicht, und unter gar keinen Umständen wollte ich laut nach ihr rufen.

»Gib mir den Stift zurück«, flüsterte ich. Aber Gunnar schien mich gar nicht zu hören. Er war völlig vertieft in seine unsinnige Beschäftigung.

»Gib her!« zischte ich und versuchte, ihm den Kugelschreiber zu entreißen, den er merkwürdigerweise in der linken Hand hielt, aber Gunnar wich geschickt aus, ohne mit dem Malen aufzuhören. Er malte Linien und Gekrakel, er versaute den ganzen Tisch, und noch immer sah die Lehrerin in eine andere Richtung. Ich beugte mich zu ihm hinüber, so daß mein Gesicht sehr nahe an seinem Oberarm war, und dann, ganz plötzlich, biß ich hinein. Ich preßte die Kiefer so fest zusammen, wie ich konnte, und ließ nicht locker, bis ich hörte, wie der Kugelschreiber auf den Tisch fiel.

Als ich Gunnar freiließ, sah er mich stumm an und legte eine Hand auf die Stelle, wo ich ihn gebissen hatte. Ich nahm meinen Kugelschreiber und begann zu zeichnen. Gunnar saß einfach da und tat gar nichts. Ich zeichnete meine Augen, meine Nase, meinen Haaransatz, erst da begriff ich, daß er keinen Stift hatte. Ich suchte in meiner Federtasche und schob ihm wortlos einen grünen Filzstift zu. Wir zeichneten eine ganze Weile, dann warf ich einen Blick auf sein Blatt. Gunnar malte ein Schiff. Da verlor ich ein bißchen die Geduld.

»Gib mir das, bitte«, flüsterte ich und griff nach seinem Bild. Ich drehte das Blatt um und begann auf der Rückseite, ihn zu zeichnen. Ich schaute ihn mir genau an, dann malte ich ihm eine Nase, die dreieckig war und in deren Nasenlöcher man geradeaus hineinschauen konnte wie bei einem Schwein. Als ich anfing, die Sommersprossen zu malen, begriff er endlich, daß er es war, den ich da porträtierte, und er griff sich seinerseits mein Blatt, drehte es um und begann, mich zu zeichnen.

»Sehr schön, alle beide«, sagte die Lehrerin, als sie im Vorbeigehen unsere Bilder mit einem flüchtigen Blick streifte.

Am Ende der Stunde wurden alle Bilder im Klassenraum aufgehängt, fünfzehn mehr oder weniger gut getroffene Porträts. Und als der erste Schultag zu Ende war, war Gunnar mir treu ergeben und bis in den Tod verpflichtet, weil ich ihn davor bewahrt hatte, als einziger ein Schiff zu malen.

***

Kohlmorgen mußte sich irgendwann den Schlüssel nachgemacht haben, ohne mich zu fragen. Da er oft mitten in der Nacht kam, war das an sich sinnvoll, aber es gefiel mir trotzdem nicht, und ich war froh, daß Randi mich gewarnt hatte. Kohlmorgen schlief. Das war immer das erste, was er tat, wenn er kam: Er legte sich hin, um zu schlafen, denn meistens kam er von einer Tour.

Ich machte mir einen Tee, so konnte ich ihn ungestört weiterschlafen lassen und ein bißchen nachdenken über das, was ich an diesem Nachmittag gemacht hatte – auf Bäume klettern und fremde Wohnungen ausspionieren – und wie sich ein sauberes graues Fahrrad mit Cary Grant zusammenbringen ließ. Aber Kohlmorgen mußte mich gehört haben; er kam in die Küche, nur mit einer Unterhose bekleidet, ein Hüne von einem Mann mit vereinzelten blonden Haaren auf dem Bauch.

»Tag Kohlmorgen«, sagte ich.

»Felizia, mein Augenstern«, sagte Kohlmorgen, kratzte sich an der Schulter und holte sich eine Tasse aus dem Schrank.

»Seit wann bist du wieder in der Gegend?« fragte ich überflüssigerweise, denn er kam immer direkt zu mir.

»Seit heute«, antwortete er, ließ sich auf den zweiten Stuhl fallen und schenkte sich Tee ein.

»Aha«, sagte ich.

Er trank einen Schluck und bekam Gänsehaut an den Armen.

»Wie lange bleibst du?« fragte ich.

»Fünf Uhr früh«, sagte er. »Ich bin ganz leise und laß dich schlafen, versprochen.«

Ich hatte keine rechte Lust auf eine ganze Nacht mit Kohlmorgen. Es war jedesmal derselbe Ablauf, wenn er auftauchte, und ich konnte meine Rolle auswendig. Ich wünschte, er würde sich etwas überziehen, anstatt frierend in Unterhose in meiner Küche zu sitzen. Der Anblick der Gänsehaut auf seinen hellen Oberarmen mit den Leberflecken machte mich ganz beklommen. Mein Blick verirrte sich auf seiner genoppten Haut, und für einen Moment verlor ich jedes Zeitgefühl. Weil ich spürte, daß ich mich ekelte, bekam ich ein schlechtes Gewissen, und das brachte mich wieder zur Besinnung.

»Mußt du nicht was zu essen haben, Kohlmorgen?« fragte ich, und er sah mich geradezu erleichtert an, weil ich endlich gefragt hatte.

»Wäre nicht schlecht, weißt du«, sagte er. Er wußte, daß er sich in meiner Küche nehmen durfte, was er wollte, wenn ich nicht da war, aber er machte niemals von diesem Recht Gebrauch. Er war wohlerzogen. Er benutzte Ausdrücke wie »Das weiß ich zu schätzen« und »Wenn es keine Umstände macht«.

Während ich aufstand und mich auf die Suche nach etwas Vorzeigbarem machte, fing er zögernd an zu reden. Von der Fahrt erzählte er, von der Ladung, von einem Freund, der eine ganz andere Ladung hatte, schließlich von seinem neuen Auftrag, von seinem Chef und von der Einsamkeit. Ich versteckte meinen Kopf im Kühlschrank, als er mit der Einsamkeit anfing.

»Felizia«, sagte er. »Ich liebe dich.«

Also zog ich meinen Kopf wieder aus dem Kühlschrank heraus, ging zu ihm und ließ mich umarmen. Er fing an, sich an meinen Hemdknöpfen zu schaffen zu machen. Er sagte nichts dazu, daß ich eine Hose trug, er fand mich in jeder Aufmachung entzückend (so hatte er mir bei anderer Gelegenheit versichert). Ich versuchte, ihm tief in die Augen zu sehen. Aber seine Augen hielten nicht still, sie fuhren meinen Körper entlang, sie folgten seinen eigenen Händen, sie streiften die Spüle hinter mir. Ich griff nach seinem Kinn und hielt es fest. Für einige Augenblicke sahen wir uns direkt an. Ich bemühte mich, seinen Blick einzusaugen und hinuntergleiten zu lassen in meinen Bauch, um dort ein Gefühl zu erzeugen. Manchmal klappte das, meistens nicht. Kohlmorgen hatte blasse Augen mit unsichtbaren Wimpern, und ich spürte im Bauch höchstens ein leichtes Unwohlsein, wenn ich hineinsah. Ich ließ sein Kinn wieder los. Er machte sich über meine Hose her.

Ich bestand darauf, ins Bett zu gehen. Ihm war es egal, er schlief auch auf dem Küchentisch mit mir oder auf dem Flurfußboden, wenn es sich so ergab, aber ich wollte ungern die ganze Zeit seine Gänsehaut vor Augen haben. Wir ließen die Kleider in der Küche liegen, ich würde das später aufräumen, hinterher, wenn Kohlmorgen noch ein bißchen schlief. Ich hatte es nicht gern, wenn Sachen auf dem Boden herumlagen, meine Wohnung mußte jederzeit kundentauglich sein.

Kohlmorgen war von einer gutmütigen Unerbittlichkeit. Er faßte mich fest an, aber nicht grob, schob mich rückwärts zum Bett und bog mich, bis ich auf dem Rücken lag. Er entledigte sich seiner Unterhose mit einer Hand, was für einen Moment irritierend kompliziert war, dann hatte er es geschafft, und wir konnten anfangen. Ein paar Mal versuchte ich noch, seinen Blick einzufangen, dann gab ich es auf und konzentrierte mich auf die Zimmerdecke.

Als Kohlmorgen später seinen Kopf in meiner Armbeuge abzulegen und eine bequemere Position zu finden versuchte, dieser Hüne von einem Mann, vertrieb ich mir die Zeit damit, mich an die Eigenarten der Männer zu erinnern, mit denen ich zusammengewesen war. An ihre Geräusche, ihr Verhalten danach, die ersten Sätze, wenn sie wieder zu sprechen anfingen; ich hatte all das in meinem Kopf gespeichert, ohne daß es mich wirklich interessierte. Es waren einige, die da durch mein Gedächtnis wanderten, und keiner hatte mir besonders viel bedeutet. Das konnte sich jetzt ändern. Ich wußte nur noch nicht, wie ich es anstellen sollte, Cary Grant für mich zu erobern. Dann würde ich das Türschloß austauschen, damit Kohlmorgen sich nicht mehr, ohne zu fragen, in mein Bett legen konnte. Ich würde aufräumen in meinem Leben, wer wußte schon, was sich alles ergäbe, wenn ich mich endlich verliebte: ein richtiger Job, Freunde, vielleicht eine Familie. Und dort, in den großen Krakenarmen von Kohlmorgen, der leise neben mir durch die Nase blubberte und hörbar mit den Zähnen knirschte (der Arme hatte noch immer einen leeren Magen), machte ich ein kleines Geschäft mit den großen Mächten: Wenn sie mir halfen, Cary Grant zu bekommen, würde ich ihnen ein Opfer bringen und meine Eltern anrufen.

***

Ich war sehr zufrieden, daß ich gleich am ersten Schultag einen Kontakt geknüpft hatte. Leider blieb es vorläufig bei diesem einen, was mich persönlich nicht weiter störte, denn ich mußte feststellen, daß dort, wo mehr als zwei Kinder zusammen waren, immer Lärm entstand, den ich nur schwer ertragen konnte. Gunnar war in erholsamer Weise stumm, aber er sprach, wenn es nötig war, und seit dem ersten Tag hielt er sich in der Schule stets an mich, weshalb ich sozusagen von Anfang an besetzt war. Bald begannen wir, uns auch nachmittags zu treffen.

Mein Vater teilte mich gern mit Gunnar, solange ich nur weiterhin genügend Zeit hatte, mich unserem Beruf zu widmen. Ich war inzwischen alt genug, um ab und zu auch in der Leichenhalle dabeizusein, wo wir die Verstorbenen versorgten, umkleideten und einsargten.

»Je früher man damit zu tun bekommt, desto selbstverständlicher wird einem der Umgang damit sein«, sagte mein Vater.

Meine Mutter dagegen war nicht sehr angetan von Gunnar. Er hatte einen schlechten Einfluß auf mich, sie gab ihm die Schuld an all den dummen Angewohnheiten, die ich an den Tag legte, und sie beklagte sich darüber bei meinem Vater.

Aber der sagte: »Sie braucht eben einen Ausgleich. Wenn ich einen schwierigen Fall habe, brauche ich doch auch meine Gartenarbeit.«

Meine Mutter schnitt mir meine Haare alle zwei Monate. Sie waren dunkelbraun und glatt, von Anfang an, obwohl meine Eltern beide blond waren. Ich mußte mein Haar kinnlang tragen, gerade abgeschnitten, und ich mochte es nicht, wenn die frischgeschnittenen Haare noch zu kurz waren, um sie hinter die Ohren zu klemmen. Sie hingen mir immerzu vor den Augen, blieben im Mundwinkel kleben, hinderten mich daran, mich beim Klettern mit beiden Händen festzuhalten, weil ich mir immerzu den Blick freikämmen mußte. Ich gewöhnte mir an, sie aus der Stirn zu pusten, und das tat ich so oft, daß es meine Mutter ganz verrückt machte. Aber sie war unerbittlich; ich durfte keine Spangen tragen, keine Haarreifen, weil sie wollte, daß ich lernte, mich anständig zu benehmen und meinen Kopf ruhig zu halten. Wenn mein Vater schon nicht einsah, daß der Umgang mit Gunnar meiner Damenhaftigkeit schadete, und etwas dagegen unternahm, so fand sie eben ihre eigenen Methoden, mich nach ihren Vorstellungen zu formen.

Sie nähte viele meiner Kleider selbst, und ich mußte oft lange in ihrem Nähzimmer herumstehen und die zusammengesteckten Sachen anprobieren. Die Kleider waren immer ein bißchen zu groß – zum Reinwachsen –, trotzdem mußte ich sie vorher anprobieren. Meine Mutter wuselte geschäftig um mich herum, zupfte am Stoff, steckte eine Nadel um, packte mich bei den Schultern, um mich umzudrehen, trat ein paar Schritte zurück und mußte sich zuweilen mit einem Stoffetzen die Augenwinkel tupfen, weil sie von meinem Anblick so gerührt war.

Nicht gerührt allerdings war sie von meinem Anblick, wenn ich vom Spielen mit Gunnar nach Hause kam. Zu Beginn der zweiten Klasse wurde mir ein Hosenanzug gewährt, den ich fortan tragen sollte, wenn ich Gunnar traf, und ich war über die Maßen glücklich, weil ich mir davon eine ganze Menge mehr Bewegungsfreiheit versprach. Als Gunnar mich sah, lief er puterrot an, er bekam kaum noch Luft, dann warf er sich auf den Boden und wand sich dort vor Lachen. Ich hatte gehofft, er würde in meinem neuen Hosenanzug etwas Militärisches sehen können, einen Kampfanzug, eine Einsatzuniform, aber leider war mein Anzug lila. Meine Mutter hatte mir gesagt, sie werde einen dunklen Stoff verwenden, damit man den Dreck nicht sofort sehe.

»Wenn du schon Hosen tragen mußt, dann wenigstens nicht in einer Jungsfarbe«, sagte sie.

Als Gunnar fertiggelacht hatte, stand er auf und zog mich am Ärmel, damit ich ihm folgte. Er führte mich zum Schulrasen und zeigte auf den Boden. Gehorsam legte ich mich hin, und dann begann er, mich zu wälzen. Als ich begriff, was das sollte, machte ich begeistert mit. Ich schubberte auf dem Rasen herum und wälzte mich einen ganzen Nachmittag lang, neben mir ein stummer, konzentrierter Gunnar, ebenfalls nach Kräften bemüht, sich mit Schmutz zu verkrusten, und die Sonne schien warm auf uns herab, als wir völlig erschöpft nebeneinander im Gras liegenblieben.

Die lehmige Erde fiel von meinem lila Anzug wieder ab, sobald sie trocken war, aber die Grasflecken blieben, sogar meine Mutter war machtlos dagegen. Ich bewunderte Gunnar. Er hatte sehr viel Ahnung von Dreck.

Ich wußte gut Bescheid, wenn es um Hygiene ging. Das wiederum interessierte Gunnar nicht im geringsten. Wenn ich ihm davon erzählen wollte, hörte er nicht zu, und ich gab es bald auf, ihm von irgend etwas zu berichten, das mit dem Bestattungsunternehmen zusammenhing. Dabei lernte ich gerade jetzt sehr viel und hatte den Kopf voll davon. Ich sah meinem Vater bei der Arbeit zu, wenn er Verstorbene umkleidete oder reinigte, und lauschte seinen Erklärungen, die zuweilen so ausführlich waren, daß ich mich fragte, ob er womöglich auch ohne meine Anwesenheit die ganze Zeit mit sich selber redete. Manchmal ließ er mich Dinge wiederholen oder fragte Tage später nach, um zu überprüfen, ob ich sie mir gemerkt hatte.

»Was tut man als erstes, wenn jemand gestorben ist?« fragte er beispielsweise.

»Man ruft einen Bestatter an«, sagte ich.

»Ja, aber vorher?«

»Einen Arzt.«

»Genau. Und warum?« fragte mein Vater.

»Damit er den Tod feststellt und einen Totenschein ausstellt«, sagte ich.

»Ohne Totenschein geht gar nichts«, sagte er. »Und woran sieht man, daß jemand tot ist?«

»Die drei Merkmale sind: Leichenflecken, Totenstarre und sinkende Körpertemperatur.«

»Sehr gut«, sagte mein Vater dann. »Und jetzt geh an die frische Luft und spiel ein bißchen. Man soll nicht versuchen, sich alles auf einmal zu merken.«

Gunnar kannte sich deswegen so gut mit Dreck aus, weil er von einem Bauernhof kam. Der Hof lag ein paar Kilometer entfernt an der Straße Richtung Eckernförde, gleich bei dem Gut Ludwigsburg. Meine Mutter sah es nicht gerne, daß ich ihn dort besuchte, aber mein Vater sagte: »Wer die Menschen hier verstehen will, muß auch das Land kennen, in dem sie leben.« Daraufhin bekam ich ein Fahrrad zum Geburtstag und konnte fortan zu Gunnar fahren, wann immer ich freihatte, denn nichts, was es in Kleinulsby gab, war vergleichbar mit den Möglichkeiten, die Ludwigsburg bot.

Die Landschaft, in der wir lebten, hieß Schwansen – ein schmaler Streifen Land zwischen der Eckernförder Bucht und dem langen Fjordarm der Schlei an der schleswig-holsteinischen Ostsee. Überall gab es einzelnstehende Bäume, vor allem Eichen, die sich im Winter mit ihren verkrümmten Ästen in den Himmel krallten. Mein Vater erklärte mir, daß die großen Eichen in unserer Gegend besonders alt waren, Hunderte von Jahren alt, und daß niemand sie mehr fällen durfte. Und ich sah, daß sie alt waren, denn sie sahen genauso aus wie die Alten bei uns im Dorf, deren Haut aus Rinde war und deren Arme zu Ästen geworden waren.

Im Sommer war Schwansen so grün, daß man Angst hatte, die Büsche, die links und rechts der Straße standen, könnten einen zwischen sich erdrücken, wenn sie sich nur noch ein paar Zentimeter weiter ausdehnten. Es gab einige kleinere Moore, es gab Hünengräber, Mischwälder, künstliche Alleen, die zu den zahlreichen Gutshäusern führten, und es gab das Meer. Dort, wo wir wohnten, war das Meer allerdings nicht besonders beeindruckend. Die Eckernförder Bucht war so schmal, daß man das andere Ufer bei fast jedem Wetter sehen konnte und meinte, hinüberschwim-men zu können. Gerade deshalb war es ausgezeichnet geeignet zum Baden, und daher gab es zu beiden Seiten der Bucht einen Campingplatz neben dem anderen. Direkt beim Strand von Kleinulsby begann ein bescheidenes Stückchen Steilküste, von der regelmäßig große Teile abbröckelten und auf den Strand fielen.

Mitten in all der Landschaft lag der Hof von Gunnars Eltern, wo es so viel zu besteigen gab, daß ein Leben dafür nicht auszureichen schien.

Unsere Leidenschaft für das Klettern begann, als auf dem Spielplatz der Schule von Kleinulsby eine Kletterwand aufgestellt wurde. Gunnar kam am ersten Tag bis zur Hälfte der Höhe, das machte ihn sehr verdrossen (besonders, weil ich es gleich beim ersten Versuch bis ganz nach oben schaffte). Mit gerunzelter Stirn und mahlenden Kiefermuskeln übte er fortan in jeder Schulpause an der Kletterwand. Dann begannen wir, nach und nach alles in Kleinulsby zu erklimmen, was sich uns bot: Bäume, Schuppen, Zäune, die Werkstatt, die zur Schule gehörte, den Denkmalstein zu Ehren der Gefallenen, sogar auf die Straßenschilder zogen wir uns hoch. Irgendwann gab es in Kleinulsby nichts mehr für uns zu tun, und wir verlegten unsere Aktivitäten nach Ludwigsburg.

Ich weiß nicht, ob es auf Gunnars Hof Tiere gab, abgesehen von den Hunden, die im Hausflur lagen und immerzu schliefen. Gunnar interessierte sich nicht für Landwirtschaft und hatte folglich keine Lust, mir alles zu zeigen und zu erklären. Die einzigen Tiere, die ihm gefielen, waren die Pferde, die auf dem benachbarten Gut gezüchtet wurden. Sie waren unwahrscheinlich groß und glatt, und Gunnar machte sogar einmal den Mund auf, um mir zu erklären, es gebe Cowboys in Amerika, die ohne Steigbügel auf solche großen Pferde klettern könnten.

»Bestimmt mit Anlauf und dann springen«, sagte ich. Gunnar runzelte die Stirn, und ich wußte, er überlegte jetzt, ob springen genauso gut war wie klettern oder ob man Leute, die Anlauf nehmen mußten, um auf ein Pferd zu kommen, verachten sollte.

***

Pünktlich um fünf Uhr morgens machte Kohlmorgen sich am nächsten Tag aus dem Staub. Nicht jedoch, ohne mir vorher einen Antrag zu machen (obwohl er mir versprochen hatte, mich nicht zu wecken).

»Felizia, ich muß gehen, und wann ich wiederkomme, ist ungewiß.«

»Ich weiß, Kohlmorgen. Gute Fahrt.«

»Wenn ich weg bin, was machst du dann?«

»Lange schlafen«, sagte ich.

»Tatsächlich?«

»Auf dich warten, natürlich.«

»Ach«, sagte Kohlmorgen. Und dann, nach einer langen Pause, in der ich kurz wieder eingedöst war: »Du weißt, was ich dir gegenüber empfinde, und deshalb möchte ich dich fragen:…«

Ich ließ die Augen geschlossen, es wäre unhöflich gewesen, sich die Decke über den Kopf zu ziehen.

»…Willst du meine Frau werden?«

Ich nahm mir fest vor, diesmal vor seinem nächsten Besuch wirklich das Türschloß auszuwechseln.

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Vielleicht.«

Kohlmorgen küßte mich gerührt zum Abschied, er hatte keine Zeit mehr, das Thema zu diskutieren. Als er schon auf dem Flur war, rief ich: »Nimm dir was zu essen mit.«

Ich schlief bis zehn. Den restlichen Vormittag über räumte ich auf, kratzte Wachs vom Boden und tauschte heruntergebrannte Kerzen aus. Eine Kundin kam, angemeldet, eine Stammkundin, die es eilig hatte, weil sie den Termin in ihre Mittagspause geschoben hatte, und die sehr zufrieden war, als sie ging (die Karten hatten gesagt, daß eine Entscheidung, die sie – zu ihrem Verdruß – bereits getroffen hatte, ohne das Tarot zu befragen, ein gutes Ergebnis erzielen werde). Zwei Leute riefen an, um Termine bei mir zu machen, und später legte ich mich für eine Stunde nochmal hin. Das Geschäft lief etwas flau zur Zeit, das war normal, sobald die Tage kürzer wurden, würde es besser werden. Es war lediglich ärgerlich, daß ich in Zeiten wie diesen ständig zuwenig Bargeld hatte, und der Blick in den Kühlschrank machte mich immer ein bißchen traurig, weil die vereinzelten Lebensmittel so verloren aussahen. Es konnte passieren, daß ich es nicht über mich brachte, zwei friedlich vor sich hin dösende Yoghurtbecher gewaltsam zu trennen, um einen von ihnen leer zu essen.

Nachmittags nahm ich mir frei, und ungefähr um vier Uhr stand ich wieder im Hinterhof des Hauses in der Holtenauer Straße, in dem Cary Grant wohnte. Vielleicht würde ich ihn um diese Zeit zu Hause antreffen.

Ich hatte mein Opernglas dabei, eine praktische Hose an, aber als ich vor dem Baum stand, traute ich mich nicht hinaufzuklettern. Ich wollte kein zweites Mal da oben erwischt werden von irgendeinem verschrumpelten Männlein, das womöglich Anzeige erstattete. Kurzentschlossen griff ich nach einer Balkonbrüstung im Erdgeschoß und zog mich hoch. Die Balkone waren untereinander mit Metallstangen verbunden, eine Konstruktion, die geradezu eine Einladung für Einbrecher war.

Ich spähte über den Balkonrand in die Wohnung, und als ich sah, daß der Fernseher lief – eine Gerichtssendung –, setzte ich einen Fuß auf die Brüstung und schwang mich hoch. So machte ich es bei allen Stockwerken, nachdem ich mich jeweils wie ein Affe an den Zwischenstangen hinaufgezogen hatte. In zwei weiteren Etagen lief der Fernseher, in einer war alles dunkel, und weil auf dem Balkon mit dem grauen Fahrrad ebenfalls nichts zu sehen war, ließ ich mich möglichst geräuschlos in die Hocke fallen und watschelte dann mit gebeugten Knien zur Glastür, um in die Wohnung zu schauen.

Ein Vorhang war zur Hälfte zugezogen, so daß ich mich dahinter hocken konnte, ohne von innen gesehen zu werden.

Ich war außer Atem. Ich war nicht mehr so jung und beweglich, wie ich glaubte, außerdem war ich vollkommen aus der Übung. Früher hätte ich diese Kletterpartie mühelos bewältigt. Und offensichtlich litt ich neuerdings auch an leichter Höhenangst, denn zwischen dem dritten und vierten Stock hatte ich ein mulmiges Kribbeln im Bauch verspürt.

Der Mann, den ich suchte, hieß Schmidt. Als die Kundin, die seine Frau war, sich vorgestellt hatte, hatte ich für einen kurzen Moment das Gefühl gehabt, es handele sich um einen Decknamen.

»Schmidt«, hatte die Kundin geflüstert, als sie mir die Hand hinstreckte, in einem solch verschwörerischen Tonfall, daß es sich wie die dümmste aller Tarnungen anhörte.

Schmidt besaß fast keine Möbel: ein paar locker verteilte Klappstühle, auf denen verschiedene Dinge lagen – Bücher, Kleidungsstücke –, ein lächerlicher Metalltisch, wie ihn Wohnmobilbesitzer auf ihren Campingplatzparzellen stehen lassen, wenn sie unterwegs sind. Es mußte eine separate Küche geben, denn ich konnte keinen Herd entdecken. Das kleine Fenster neben dem Balkon, das ebenfalls zur Wohnung gehören mußte, war offensichtlich das Badezimmerfenster, Schmidt hatte von innen Butterbrotpapier dagegen geklebt, um es undurchsichtig zu machen.

Ich schaute auf meine Uhr. Es war halb fünf, und Schmidt war noch nicht zu Hause. Ich vertrieb mir die Zeit damit, mir die möglichen Gründe aufzuzählen. Erstens: Der arme Schmidt hatte einen langen Nachhauseweg von seiner Arbeit. Zweitens: Der fleißige Schmidt machte Überstunden. Drittens: Der leichtlebige Schmidt ging nach der Arbeit mit Kollegen etwas trinken. Viertens: Der ominöse Schmidt hatte einen komischen Beruf, der nicht um vier Uhr aufhörte. Das waren die Möglichkeiten, die einigermaßen plausibel klangen. Oder hörten alle richtigen Berufe später auf? Mir fiel auf, daß ich nicht sehr viele Leute kannte, die einen normalen Beruf hatten. Auch das konnte sich jetzt ändern, wenn ich es fertigbrachte, Cary Schmidt zu erobern. Ich richtete mich darauf ein zu warten.

Er kam um zwanzig nach fünf nach Hause. Durch eine geheimnisvolle Seitentür, die ich von meinem Platz aus nicht sehen konnte, betrat er das Zimmer, machte Licht und bewegte sich dann in mein Blickfeld.

Von hinten hatte er gar nichts von Cary Grant, nicht das geringste. Es sah sogar so aus, als sei er blond (wogegen auf dem Foto seine Haare dunkel gewirkt hatten). Er bewegte sich eckig.

Durch Telepathie versuchte ich, ihn dazu zu bringen, sich umzudrehen, damit ich ihn von vorne begutachten konnte. Aber er setzte sich auf einen der Klappstühle, mit dem Rücken zu mir, und zauberte eine Zeitung hervor, die er umständlich auseinanderfaltete. Dazu hörte ich ein unsichtbares Radio spielen. So also sah der Feierabend normaler Leute aus: Zeitungen und Gerichtssendungen. Ich beschloß, auf der Stelle wieder runterzuklettern und die ganze Sache aufzugeben, falls Schmidt sich umdrehte und auch von vorn nicht das geringste von Cary Grant hätte. Es wurde langsam kühl.

Ich sah Schmidt dabei zu, wie er gemächlich die Seiten der Zeitung umblätterte. Ich sah, wie er rauchte, sich am Schulterblatt kratzte, wozu er mit der freien Hand auf den hochragenden Ellbogen des kratzenden Armes drückte, um die richtige Stelle besser zu erreichen. Mir wurde immer kälter. Auch wenn die Tage noch sonnig waren, so trug die Abendkühle, sobald die Sonne untergegangen war, bereits eine Ahnung von Frost in sich. Ich mußte meine Hände in die Kniekehlen klemmen, um sie zu wärmen, und immer noch las Schmidt und drehte sich nicht um.

Ich fühlte mich dumm. Ich hockte frierend auf einem Balkon, auf den zu klettern nicht jeder geschafft hätte, und schaute seit geraumer Zeit jemandem beim Zeitunglesen zu. Ich entschied, daß ich es morgen noch einmal versuchen wollte, diesmal durch die Vordertür, da würde Schmidt mir schließlich nicht rückwärts öffnen. Vorsichtig bewegte ich mich zur Seite, um keinesfalls seine Aufmerksamkeit zu erregen oder ein überraschendes Geräusch zu machen, und im selben Moment stand Schmidt auf, ging mit schnellen Schritten zur Balkontür und zog den Vorhang zu, ohne mich zu bemerken und ohne mir Zeit zu geben, ihn von vorn mit Cary Grant zu vergleichen. Entweder waren die großen Mächte gegen mich, oder sie hatten andere Pläne. Ich ärgerte mich.

Steif erhob ich mich, kletterte über die Balkonbrüstung und ließ mich an der metallenen Verbindungsstange hinuntergleiten, die Hemdärmel über die Hände gezogen. Wieder hatte ich Glück, daß keiner der Bewohner aus dem Fenster schaute. Auch in der Wohnung, die zuvor leer gewesen waren, lief inzwischen der Fernseher, und ich kam unbeachtet bis nach unten.

***

Als wir in die dritte Klasse kamen, hatte Gunnar während des Sommers einen kleinen Unfall. Wir kletterten im Stall von Gut Ludwigsburg, wo wir nicht gern gesehen, aber geduldet waren, weil es regnete. Gerade als Gunnar unter der Stalldecke hing und versuchte, daran entlang und parallel zum Boden in Richtung Heuluke zu klettern, rutschte er ab und fiel in eine Box mit einem großen Braunen namens Bochum. Er landete weich auf dem Stroh, aber der unerwartete Segen von oben erschreckte Bochum so sehr, daß er aus Versehen auf Gunnars Bein trat. Schienbein und Wadenbein waren kompliziert gebrochen, und Gunnar mußte für den Rest des Sommers einen Gips tragen.

Seine Mutter war außer sich, weil wir ihr nicht plausibel erklären konnten, wie es zu diesem Unfall gekommen war, denn wir hatten vergessen, uns abzusprechen. Unsere Kletterei war schon mehrmals von allen möglichen Erwachsenen verboten worden, und nach dem Unfall war es uns fortan untersagt, uns dem Stall auch nur zu nähern.