Gebrauchsanweisung für Schleswig-Holstein - Mareike Krügel - E-Book

Gebrauchsanweisung für Schleswig-Holstein E-Book

Mareike Krügel

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Beschreibung

Deutschland ganz oben Zwischen den Zehen der Schlick: Mareike Krügel und Jan Christophersen sind da zu Hause, wo andere Urlaub machen, und schreiben eine passionierte Liebeserklärung an Deutschlands Norden. Sie erzählen vom Leben zwischen Ostsee und Nordsee, von stolzen Städten am Meer, von Kiel, Lübeck, Flensburg und Husum. Vom Alltag am Wasser, vom Wattenmeer und den Halligen, Nordseeinseln, Fehmarn und Helgoland – und vom Wetterbericht als beliebtestem Small-Talk-Thema. Von Moorleichen und anderen Sehenswürdigkeiten, von Wikingern und Windkraftgegnern, Theodor Storm und Emil Nolde, von typisch norddeutschen Bräuchen und Klischees, Seemannsgarn und Platt. Von Pharisäern, Fischbrötchen und Rübenmus, toten Tanten, errötenden Jungfrauen und weiteren kulinarischen Besonderheiten.

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Dieses Buch wurde gefördert im Rahmen des Stipendienprogramms der VG WORT in NEUSTART KULTUR der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Dank an Dirk Lornsen für die Genehmigung des Abdrucks aus Nis Puk von Boy Lornsen, © Boy Lornsen, an den Wallstein Verlag für die Genehmigung des Textabdrucks von Heinrich Deterings Gedicht Wrist, © Wallstein Verlag, Göttingen 2009, sowie an Sven Regener für die Genehmigung des Abdrucks des Liedtextes An Land von Element of Crime, published by Universal Music Group.

© Piper Verlag GmbH, München 2022

Redaktion: Margret Trebbe-Plath, Berlin

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de

Covermotiv: Haffkrug (Ralf Gosch / EyeEm / GettyImages)

Karte: Peter Palm, Berlin

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Karte von Schleswig-Holstein

Einleitung – Eine Gebrauchsanweisung für die Gebrauchsanweisung

Nordisch by Nature – Steine, Torf und ungefährliche Tiere

Moin und gut ist – Über Sprache, Namen und so

Dor kümmt een Schipp ut Holland – Bräuche, Feste und Folklore

Es folgt der Wetterbericht … – Über das Small-Talk-Thema Nummer eins, Wetterpragmatismus und gefühlte Temperaturen

Erst die Arbeit und dann – Leben, wo andere Urlaub machen

Dat se bliven ewich tosamende ungedelt – Ein großes Hin und Her – die Geschichte Schleswig-Holsteins

Und unsern kranken Nachbarn auch – Von Herrenhäusern, Geestbauern und Mondnächten

Rüm Hart – klaar Kimming – Go West! Die Nordseeküste mit ihren Halligen und Inseln

Die Moorleichen finden Sie im Obergeschoss – Ausflugsziele, besondere Orte, Highlights

Im Niemandsland – Über das Leben an und mit Grenzen, Butterfahrten und Petuhtanten

Pharisäer, Tote Tanten und Errötende Jungfrauen – Schleswig-Holstein kulinarisch

Kopfreisen und Leuchttürme – Kunst und Künstler zwischen den Meeren

Das Meer ist … – … Wirtschaftsgrundlage, Transportweg, Sportplatz, Lebensgefühl?

Nachwort: Tschüß – mit ß – Oder: Die Ewigkeit sieht aus wie Wrist

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Karte von Schleswig-Holstein

Einleitung – Eine Gebrauchsanweisung für die Gebrauchsanweisung

Folgende Situation: Fernsehinterview barfuß im Watt. Das kommt vor, wenn man schreibt und in Schleswig-Holstein lebt. Das Mikrofon, das an langer Stange möglichst nicht ins Bild gehalten wird, trägt einen Fusselpelz – im Fachjargon »Tote Katze« genannt –, damit der ewig wehende Westwind die Tonaufnahme nicht völlig unbrauchbar macht. Auf dem nahe gelegenen Grasdeich niest ein Salzwiesenlamm, und von irgendwoher ruft ein Kuckuck, sodass die Tontechnikerin unzufrieden den Kopf schüttelt. Ein Kuckuck? Hier? Kein Baum weit und breit – das nimmt einem doch keiner ab. Der Wind zerzaust jeden Rest von Frisur. Nasskalt ist es. Kurz: eher ungemütlich. Und die erste Interviewfrage lautet: »Was ist eigentlich so norddeutsch an den Norddeutschen?«

Wie antwortet man da?

Manchmal ist es unmöglich, sich über etwas klar zu werden, wenn man mittendrin steht. Für jedes Vorurteil, jede Pauschalaussage muss man mindestens einen Schritt zur Seite treten. Tom Waits sang einst in seiner San Diego Serenade: »I never saw the east coast until I moved to the west«. Dass da etwas dran ist, dämmert einem womöglich zum ersten Mal, wenn man vom Studienort nach Hause fährt, irgendwann in Hamburg in die Regionalbahn umsteigt und bei der Durchsage des Bahnpersonals nicht länger rätselt, was man da gerade hört: Hochdeutsch, keine Frage. Je öfter man diese Reise unternimmt, desto klarer kristallisiert sich heraus, dass das, was man für Hochdeutsch hält, in Wahrheit wohl doch eine leichte oder stärkere Färbung besitzt. Erst in der Fremde lernt man, die Feinheiten der eigenen Sprache zu erkennen. Bisher hat man vielleicht gedacht, solang man nicht redet wie Werner, der Lehrling bei Meister Röhrich aus dem gleichnamigen Comic (»Und ich sach noch, mach das nich…«) oder bei jeder Gelegenheit niedliche Wörter mit plattdeutschem Einschlag benutzt (Dösbaddel, Tüddelbüddel, Ohaueha), merkt niemand, wo man aufgewachsen ist. Und ganz langsam kommt einem der Verdacht, dass man unter Umständen noch einiges mehr an sich für verallgemeinerbar gehalten hat, das in Wirklichkeit regionaltypisch ist. Dann hat man zwei Möglichkeiten: es verbergen oder dazu stehen.

Was ist denn nun so norddeutsch an den Norddeutschen?

Gar nicht einfach zu sagen. Schon gar nicht für uns Norddeutsche selbst, die wir bekanntlich wortkarg und zurückhaltend sind und uns höchst ungern angreifbar machen. Wir schieben unsere Pfeife in den Mundwinkel und murmeln ein paar weise Worte in unseren Seemannsbart, wenn wir denn einen haben. Ansonsten nicken wir, aber nur genau ein Mal. Sture Fischköppe, die wir sind.

Oder ganz anders: Wir Norddeutschen können unseren »Sabbel« nicht halten und reden über den Gartenzaun hinweg in breitestem Plattdeutsch so schnell und so meinungsstark, dass allen die Ohren schlackern. Klatsch und Tratsch und gesundes Misstrauen gegen die ganze Welt sind unsere liebsten Gesprächsinhalte.

Stimmt nicht? Wir Norddeutschen stehen überhaupt nicht an Gartenzäunen. Wir sind zähe Personen, Nachkommen von Wikingern, groß und blond und mit dunkelblauen Strickpullovern. Wir sind die härtesten Griller. Mögen Lakritz. In unserer Freizeit segeln wir, reiten oder jagen. Wir züchten Pferde und gewinnen Regatten. Manche von uns führen erfolgreich Expeditionen zum Nordpol durch.

Allzu schnell landet man bei Abziehbildern, und das ist für eine Autorin und einen Autor selbstredend völlig unverantwortlich. Zumal wir es besser wissen sollten. Wir sind beide in Schleswig-Holstein geboren, bei Kiel und Flensburg aufgewachsen, waren allein und zusammen draußen in der Welt unterwegs und leben hier nun wieder seit bald 15 Jahren mit unserer Familie unter einem Dach, oben rechts, an der Ostküste des Landes, bei Kappeln. Wir sollten folglich genug Anschauung haben, sodass sich billige Gemeinplätze bei uns nicht unbemerkt einschleichen können. Es verbietet sich nicht zuletzt von Berufs wegen, auch nur in diese Richtung zu denken. Das Ziel ist es doch gerade, Klischees zu vermeiden. Normalerweise jedenfalls. Obwohl diese gelegentlich natürlich Spaß machen.

Dürfen wir nun also in einer Gebrauchsanweisung für Schleswig-Holstein so richtig gemütlich dem Affen Zucker geben? Uns suhlen im Vorurteilssumpf und endlich mal schön undifferenziert Behauptungen aufstellen? Ursprünglich hatten wir uns genau darauf gefreut. Einfach mal die Fesseln der Belletristik abschütteln und hemdsärmelig verkünden, die Schleswig-Holsteiner seien eben so oder so. Dazu mussten wir uns erst mal im Sinne der oben erzählten Anekdote auf die Suche nach dem machen, was denn eigentlich typisch ist. Um am Ende festzustellen, dass wir es nicht mögen, das Verallgemeinern. Es liegt uns nicht, jedenfalls nicht in Schriftform, und es wird auch dem Land, von dem wir erzählen wollen, nicht gerecht.

Oberflächlich betrachtet scheint die Sache eh klar zu sein: Einmal eine Folge einer Fernsehserie wie Neues aus Büttenwarder gucken, und schon weiß man, wie das übrige Deutschland die Leute hier oben sieht und wie manche sich selbst gern sehen. Es ist die bäuerliche Variante des Hamburgers, die einem da präsentiert wird. Helmut Schmidt in Gummistiefeln, Heidi Kabel in Ölzeug. Viel Viehzeug und Gülle, viel Piefigkeit und dörfliches KleinKlein. Obendrein behauptet das Land in seinem offiziellen Werbeslogan, der allen Reisenden etwas anmaßend auf massigen Straßenschildern präsentiert wird, hier in Schleswig-Holstein befinde sich Der echte Norden. Das ist aus Sicht der anderen nördlichen Bundesländer natürlich arg vereinfachend ausgedrückt. Aber so kann man hier eben manchmal sein. Punktum. Im Kieler Tatort scheint selbstverständlich nie die Sonne. Graue Menschen begehen in grauen Städten am grauen Meer selbstsüchtige Verbrechen. Norddeutsche Comedians schweigen viel und lieben es, das Publikum zu deprimieren. Oder sie stellen sich ungebildeter, als sie sind, um ihre Bauernschläue zu beweisen. Die frühen Filme von Detlev Buck zeigen eine Welt, in der Sätze fallen wie: »Doch, doch, der Funkverkehr ist an und für sich spannend.« Zeitgenössische Lyrik spart mit Worten.

In der bildenden Kunst ist selbst auf den pastosen Ölgemälden wilder Outdoormaler hauptsächlich luftige Weite zu sehen. Und als sich der Physiker Klaus Hasselmann im Herbst 2021 zu der Tatsache äußerte, den Nobelpreis zuerkannt bekommen zu haben, feierte ihn das restliche Deutschland – und nicht zuletzt das nördlichste Bundesland – für seine typisch norddeutsche Reaktion. Er wisse gar nicht, wie das mit dem Nobelpreis passiert sei. Dass Hasselmann eigentlich Hamburger ist, mit Zweitwohnsitz auf Sylt, störte in diesem Fall nicht. Manchmal zählt man hier die Hamburger mit Ferienhaus großzügig dazu, manchmal nicht. Je nach Situation.

Alles an Schleswig-Holstein scheint erst mal moderat, zum Teil langweilig, ein bisschen diesig wie das Wetter im Herbst. Und zugleich gibt es die einmalige Lage des Landes zwischen zwei Meeren, die in ihrer Art so unterschiedlich sind, dass man kaum eine Aussage treffen kann, die für beide gilt. Hier die langen Strände, sandig oder steinig, Wasser, in dem sich nicht zuletzt Quallen wohlfühlen, Steilküsten und niedliche Küstenorte; dort das geriffelte Watt, die Inseln mit ihren reetgedeckten Friesenhäusern, Deiche, Schafe und ihre »schwarzgrünen Kugeln«, mit denen sie diese garnieren. Oben Dänemark, unten das übrige Deutschland. Und dazwischen ein Gebiet, das viele nur vom Blick aus dem Autofenster kennen, wenn sie auf der A7 Richtung Skandinavien oder wieder zurück durchs Land brettern.

Es gibt hier eine markante, freundlich-unfreundliche Zurückhaltung in allem, die nicht wenigen Menschen durchaus gefällt und die gerade in aufgebrachten Zeiten heilsam wirken kann. Irgendwie hat es dieses Bundesland zum Beispiel fertiggebracht, in der Coronapandemie zunächst und für längere Zeit zu den Gebieten zu gehören, in denen die Infektionszahlen noch einigermaßen tolerabel waren. Warum das so war, konnte niemand genau sagen. Lag es an den Leuten und ihrer Art? Oder doch am Wind? Um ein typisches Vorurteil zu zitieren: Die Schleswig-Holsteiner sollen sehr unzufrieden gewesen sein mit der 1,5-Meter-Abstandsregel, die zur Pandemiebekämpfung ausgerufen wurde – sie wollten so schnell wie möglich zurück zu ihren üblichen drei Meter Abstand. Ob etwas Wahres dran ist? Wer weiß.

Auf den zweiten Blick sind die Dinge oft ein bisschen komplizierter. Manchmal passen sie einfach nicht zusammen. Da ruft dann eben ein Kuckuck im Wattenmeer. Das hätte man nicht erwartet, ist aber so. Es gab und gibt im zweitkleinsten Flächenland der Republik eine mitunter verwirrende Gleichzeitigkeit. Von Reichtum und Entbehrung zum Beispiel. Von Großbauerntum und Selbstversorgung. Wie in den USA, wo im Wilden Westen die Gesetzlosen ihre Duelle zur Mittagszeit austrugen, während an der Ostküste die Universitäten internationalen Ruf erlangten. In Schleswig-Holstein wurde einst irgendwo mühsam Torf gestochen, während die Dichter und Denker des Landes in den Parks von Herrenhäusern herumsaßen und sich gegenseitig Lyrik vorlasen. Und während heute in so mancher Gegend Höfe um ihre Existenz kämpfen, Dörfer überaltern und langsam sterben, boomt an den Küsten und Förden der Immobilienmarkt, weil reiche Leute aus sonst wo in der Nähe ihrer Segelboote wohnen wollen.

Und um das auch gleich festzuhalten: Natürlich hat Schleswig-Holstein einige Superlative zu bieten. Jedes Bundesland hat einen tiefsten Landpunkt – aber nur in Schleswig-Holstein ist es auch der tiefste Punkt Deutschlands. Der liegt mit 3,54 Metern unter Normalnull in der Wilstermarsch im Kreis Steinburg. Es geht hier aber sogar noch weiter runter, unter Wasser im Hemmelsdorfer See bei Travemünde nämlich. Dort befindet sich mit 39,5 Metern unter Normalnull der tiefste Festlandspunkt der Republik. Wissen wir das. Einen Skilift besitzt das Bundesland tatsächlich auch, am Bungsberg, der mit seinen 168 Metern überm Meeresspiegel die höchste Erhebung weit und breit darstellt. Knapp 200 Meter Höhenunterschied insgesamt. Dazwischen spielt sich Schleswig-Holstein ab.

In Heide gibt es den größten Marktplatz Europas, wobei Krakau dasselbe von sich behauptet, genauso wie Freudenstadt im Schwarzwald. Da sind dann Details wie unbebaut, bebaut oder umbaut plötzlich sehr entscheidend. Arnis an der Schlei ist mit weniger als 300 Einwohnern auf einer Fläche von einem halben Quadratkilometer die kleinste deutsche Stadt. Die Bräutigamseiche bei Eutin besitzt als erster Baum weltweit eine eigene Postanschrift (Bräutigamseiche, Dodauer Forst, 23701 Eutin); mittlerweile gibt es einige Nachahmer anderswo. Täglich treffen hier bis zu 50 Briefe aus aller Welt ein, die im Astloch der 500-jährigen Eiche deponiert werden. Mehr als zehn Ehen sollen über diese Kontaktadresse zustande gekommen sein. In der Landeshauptstadt Kiel befindet sich seit 1953 die angeblich erste Fußgängerzone Deutschlands. Am Nord-Ostsee-Kanal steht mit über 500 Metern die längste Bank der Welt. Und so weiter. Und so fort.

Alles, was Sie über das Bundesland Schleswig-Holstein und dessen Bewohner denken, stimmt. Und es stimmt nicht. Es wird in diesem Buch jedenfalls nicht darum gehen, mit allen gängigen Vorurteilen aufzuräumen. Was wir in einer Gebrauchsanweisung bieten können, ist, hier und da genauer hinzusehen. Und für das eine oder andere Erklärungen anzubieten. Im Großen und Ganzen müssen Sie Schleswig-Holstein ja nicht verstehen, um es einschätzen zu können. Genauso wie man bei einem Auto nicht wissen muss, wie der Motor funktioniert, damit man es fahren kann. Man muss allerdings wissen, wo der Zündschlüssel reingehört, was passiert, wenn man irgendwelche Knöpfe drückt, und was es bedeutet, wenn ein bestimmtes Lämpchen aufleuchtet.

In diesem Sinne ist das, was Sie gerade in der Hand halten, dann tatsächlich eine Gebrauchsanweisung für Schleswig-Holstein.

Nordisch by Nature – Steine, Torf und ungefährliche Tiere

Mareike Krügel

Seit einiger Zeit weiß ich es: Ich lebe auf Resten von Skandinavien. Wenn ich von meinem Wohnhaus aus den Feldweg entlang unseren etwas außerhalb liegenden Kirchenhügel hinaufspaziere, gehe ich auf schwedischem Gestein, vor Jahrmillionen hier zusammengeschoben, abgelegt, zurückgelassen und nach und nach zu einer welligen, freundlichen Landschaft gewandelt. Etwas skandinavisch kann Schleswig-Holstein einem natürlich leicht vorkommen. Wegen der dänischen Hotdogs zum Beispiel, die man in vielen Fußgängerzonen an kleinen Buden mit Dannebrog-Flagge kaufen kann. Oder wegen der baumwollenen Vorhangstoffe an den Fenstern, der Vorgärten voller Bauernrosen, der vielen Brittas, Ingas und Oles, die hier nicht erst neuerdings ganz selbstverständlich herumlaufen. Aber nicht nur oberflächlich ist es hier so nordisch, sondern auch irgendwie unsichtbarer, atmosphärischer – grundlegender eben.

Bereits in der Grundschule lernt man bei uns, die dreifaltige Struktur der schleswig-holsteinischen Landschaft zu benennen. Von West nach Ost: Marsch, Geest und Östliches Hügelland. Man lernt, dass all das, was wir täglich sehen, von Eiszeiten geformt wurde. Wenn ich als Kind von meinem Wohnort bei Kiel aus mit dem Fahrrad zum nächsten Strand fahren wollte, kam ich durch eine Senke, die einfach nur »das Urstromtal« hieß. Die Steine, die ich am Fuß der Steilküsten an der Ostsee fand und aufsammelte, ein Stück mitschleppte und wieder fallen ließ, sobald ich einen hübscheren sah, hatten skandinavische Namen – Oslobasalt, Schonengranulit, Larvikit.

Aber erst als Erwachsene, als es anfing, mich wirklich zu interessieren, wurde mir klar, dass dort, wo jetzt Schleswig-Holstein liegt, kein Land wäre – abgesehen von einer Insel aus Gipsgestein, dem Segeberger Kalkberg, der aus dem Wasser ragen würde –, wenn nicht Schweden und Norwegen aus Felsen beständen. Und wenn die Gletscher während der Kaltzeiten auf ihrem langsamen, unbeirrbaren Weg nach Süden nicht jede Menge davon mitgenommen hätten. Das Land, auf dem ich stehe, wenn ich vom Kirchenhügel meines Wohnortes aus Richtung Küste blicke, ist insofern eigentlich nicht geformt durch Eiszeiten, wie ich in der Schule lernte. Es ist entstanden durch Eiszeiten.

Schleswig-Holstein ist längs gestreift. Zwar sind die Farben Blau, Weiß und Rot auf der Flagge quer aufeinandergeschichtet, wenn man jedoch aus der Vogelperspektive auf das Bundesland blickt, erkennt man seine klare vertikale Dreiteilung. Und die Streifen, die von Norden nach Süden verlaufen, sind derart unterschiedlich, dass man beim Querdurchfahren von einem Meer zum anderen deutlich merkt, in welchem von ihnen man sich gerade befindet.

So hat die Geest, der mittlere Abschnitt, einen sandigen, wenig fruchtbaren Boden, denn die Gletscher haben hier alles Gestein unter sich zermahlen. Auf diesem Drei-K-Boden – nur geeignet für Kiefern, Kartoffeln und Karnickel – braucht die Landwirtschaft Erfindungsreichtum. Und das Grundwasser kratzt wegen des dringend nötigen Düngens ständig an der Grenze zur bedenklichen Nitratbelastung. Der Name dieser Region kommt von dem niederdeutschen Wort für »trocken« und »unfruchtbar« – gest. Einen Katzensprung nördlich der Elbe, bei St. Michaelisdonn, sieht man den Rand der Geest ganz deutlich: eine 40 Meter hohe, steile Abbruchkante mitten im Land, dort, wo irgendwann im Pleistozän einmal eine Gletscherzunge endete. Davor lag früher das Meer. Und heute liegt dort die Marsch.

In der Marsch hatten die Gletscher nichts mitzureden. Dort ist der Boden dem Meer abgetrotzt, entweder neu hinzugewonnen, zurückerobert oder mit aller Kraft festgehalten. In der Marsch sind die Böden nährstoffreich und fruchtbar, sie eignen sich gut für Gemüse, aber sie müssen entwässert werden, denn das Wasser von oben und das von unten streben zueinander und wollen sich vereinen. Wenn man am Strand ein Loch buddelt, braucht es nur wenige Handbreit tief zu sein, bevor es sich mit Wasser füllt. Probiert man dieses, stellt man fest, dass es sich um Süßwasser handelt. Am Strand und in den Wiesen der schleswig-holsteinischen Marsch im Westen spürt man, wie dünn das Land sein kann, das einen trägt.

Im Osten dagegen finden sich Hügel und Seenplatten – nicht umsonst heißt eine Gegend dort Holsteinische Schweiz –, Steilküsten und Steinstrände. Ehemalige End- und Seitenmoränen bestimmen das Aussehen der Landschaft. Der lehmige Boden, auf dem im Frühsommer Raps bis zum Horizont gelb blüht, drückt Jahr für Jahr Gesteinsbrocken an die Oberfläche: kleine Feldsteine, die in mühsamer Handarbeit in den späten Wintermonaten von den Äckern gesammelt werden müssen, damit die Pflüge und Eggen keinen Schaden nehmen. An den Feldrändern werden sie zu Haufen aufgeschüttet, und nicht wenige, die ihren Garten neu anlegen, bezahlen viel Geld für eine Ladung davon. Aber auch die sogenannten Findlinge, die übermannshoch sein können, arbeiten sich nach oben. Manche von ihnen sind als örtliche Attraktion zu besichtigen, andere bekommen eine Inschrift und dienen als Denkmal, und wieder andere bilden die Grundlage für die übliche, immer gleiche Legende: Ein Riese (interessanterweise ist es in manchen Geschichten auch ausdrücklich eine Riesin) warf in seiner Wut mit einem Stein, und wo der landete, liegt er noch heute. Eine andere Version erzählt, dass es der Teufel selbst war, der den Stein warf, um eine Kirche zu zerstören. Immer warf er zu kurz. Mehrere große Findlinge, die vor der Küste Angelns, Schwansens und der Landschaft Dänischer Wohld, die zwischen Eckernförder Bucht und Kieler Förde liegt, aus dem Wasser ragen, tragen den Namen Teufelstein. Viele der Kirchen sind wiederum aus genau solchen Feldsteinen erbaut und stehen wie kleine Burgen immer auf der höchsten Stelle eines Dorfes. Der Weiße Stein vom Windebyer Noor hingegen, einer vom Meer getrennten ehemaligen Bucht, die jetzt einen großen See bildet und nur noch unterirdisch mit der Ostsee verbunden ist, heißt so, weil er von Seevögeln gern als Rast- oder Aussichtsplatz benutzt wird. Der Stein stammt ursprünglich aus dem schwedischen Värmland, und eigentlich ist er auch nicht weiß, sondern rötlich, aber das lässt sich unter den generationenalten Schichten von Kormorankot nicht mehr erkennen.

Und nicht wenige der riesigen Steine sind zu kleinen Häuschen aufgeschichtet und geben Zeugnis von einer Zeit, in der ohne Maschinen Gräber für die Toten mit so viel Mühe gestaltet wurden, dass sie buchstäblich für die Ewigkeit geschaffen sind. Die steinzeitlichen Gräber Schleswig-Holsteins gehören zu den ältesten erhaltenen Bauwerken Europas.

Das Wasser, das im Östlichen Hügelland aus den Leitungen kommt, ist hart und ausgesprochen wohlschmeckend. Es wird aus tief in der Erde liegenden Wasserdepots hochgepumpt, in denen es, durch Erdschichten gereinigt, seit den Eiszeiten lagert.

Man geht also im weitaus größten Teil Schleswig-Holsteins auf klein gemahlenem skandinavischen Festland. Entweder durch Gletscher zusammengeschoben, platt gewalzt oder abgeschliffen, durch Abflüsse zerfräst und von Toteisvorkommen zerlöchert. Oder hochgehoben durch das Salz, das tief unten im Boden lagert und die darüberliegenden Schichten nach oben drückt.

Eines der ersten Dinge, die man daher tun sollte, wenn man Schleswig-Holstein verstehen möchte, ist, sich mit der Bodenbeschaffenheit zu beschäftigen. Denn wenn man die Wirtschaft, die Politik, die Mentalität, die Landwirtschaft, den Städtebau und die Animositäten untereinander begreifen möchte, kommt man um die Geologie des Landes kaum herum, die in all diesen Belangen stets genauso kräftig mitbestimmt hat wie das Wetter.

Es ist jener skandinavische Schutt, der es mir mitunter schwer macht, bei einem Spaziergang an den schmalen Stränden unter den Steilküstenabschnitten zwischen Lübecker Bucht und Flensburger Förde entlang der Ostsee, so hübsch, dramatisch oder beeindruckend sie sich auch präsentieren mag, den Blick nicht auf den Boden geheftet zu halten. Wonach ich in der Hauptsache Ausschau halte, sind Butterstullen. Ob man das im Norden überall so nennt, bezweifle ich. In meiner Familie, deren einer Teil brandenburgische Wurzeln hat, weiß allerdings jeder, was gemeint ist: flache, glatte Steine, die man »flitschen« lassen kann. Die Technik ist nicht ganz einfach, und je nach Wellengang gelingt das Hüpfenlassen der Steinscheiben über die Wasseroberfläche mal besser, mal schlechter. In vielen Fällen versinkt der Stein einfach mit einem satten Plopp, statt in flachen Bögen Richtung Horizont mehrmals auf dem Wasser aufzutitschen. Der derzeitige Weltrekord liegt übrigens bei 88 Sprüngen.

Aber nicht nur Butterstullen sind Steine, für die das Bücken sich lohnt. Donnerkeile, Hühnergötter, Feuersteine, Kreide – sie alle liegen herum und sind in ihrer Art besonders und faszinierend. Feuersteine, auch Flintsteine genannt, können aus einem Stück Stahl Funken schlagen und wurden früher in Flinten verwendet. Donnerkeile sind versteinerte Teile von Urzeitlebewesen. Hühnergötter – Steine mit einem durchgehenden Loch – gibt es so zahlreich, dass die kleine Kindergartengruppe meines Sohnes einmal nur zwei Stunden brauchte, um über 70 Stück zu finden. Dazu all die kleinen und großen Brocken in Rosa und Blaugrau, gebändert, geädert, gesprenkelt, mit Einschlüssen und Versteinerungen, scharfkantig wie Messer oder glatt geschliffen wie Handschmeichler, manche mit Gesichtern oder in Herzform. Unmöglich, an einem Strand der schleswig-holsteinischen Ostseeküste zu spazieren, ohne dass einem hinterher die Hosen rutschen, weil die Taschen voller Steine sind. Man kann seine Blumenbeete damit dekorieren, ein Glas mit ihnen füllen und auf den Schreibtisch stellen, auf dem Fensterbrett ein maritimes Staubfängerarrangement legen oder Papier mit ihnen beschweren. Aber sie müssen auch gar nicht nützlich sein, um die menschliche Sammelleidenschaft auszulösen.

Ich jedenfalls hege eine heimliche Verachtung für Sandstrände. Die dürfen alle, die hier Urlaub machen, gern haben, ich schenke sie ihnen. Mögen sie zwischen Dünen, in Strandkörben, in selbst errichteten Sandfestungen mit Muschelmosaik glücklich werden. Aber lasst mich allein an meinen Steinstränden, am Fuß der Steilküstenabschnitte, in deren Lehm und Ton die Steine stecken, die seit Jahrmillionen in der Erde liegen, durch Bewegung und Erosion erst sichtbar gemacht, dann herausgeschoben und geboren werden, auf dem Strand liegen und warten, bis das Meer kommt und sie holt, überspült, mitnimmt, irgendwo wieder ausspuckt. Ich stehe oft am Wassersaum und werfe halb fertige Hühnergötter weit ins Meer hinaus, damit es seine Arbeit beendet und in ein paar Tausend Jahren den Stein wieder auf den Strand legt, mit einem perfekten Tunnel darin, sodass man ein Band hindurchziehen und ihn in den Hühnerstall hängen kann, um böse Geister abzuwehren.

Auch in den Städten und Städtchen im Land kann es sich lohnen, den Blick auf den Boden zu lenken. Viele Kopfsteinpflaster bestehen aus den skandinavischen Mitbringseln der Eiszeit und ergeben ein buntes Mosaik.

Was tut man aber, wenn man kein gutes Verhältnis zu Steinen hat und in Schleswig-Holstein lebt? Wie wäre es stattdessen mit Sand? Mit Schlick? Lehm? Torf? Alles nicht so das, was einen vom Hocker reißt? Ich fürchte, da bleibt nur, sich einen anderen Lebensmittelpunkt zu suchen.

Denn endlose, düster raunende Wälder hat das Bundesland nicht zu bieten. Lilafarbene Heideflächen, Apfelplantagen, die im Frühjahr ihre zarten rosa Blüten wie einen geheimnisvollen Schleier tragen, Flussniederungen mit verwunschenen Uferbänken, über denen die Trauerweiden herabhängen – das alles muss man schon gezielt suchen. Aber Knicks gibt es, und zwar jede Menge. Diese langen Streifen buschiger Vegetation zwischen den Feldern und Weiden mit im vorgeschriebenen Abstand aufragenden Bäumen, die den seltsamen Namen »Überhälter« tragen, sind zugleich Biotop und Erosionsschutz und prägen das Bild so eindrücklich, dass man von »norddeutscher Knicklandschaft« spricht. Auch Wäldchen und Flüsschen und Seechen findet man, darunter kreisrunde Toteisseen ohne Zu- oder Abfluss von geheimnisvoller Tiefe. Moore und Binnendünen. Es gibt Buchenhaine, manche von ihnen schaffen es, auf einem kleinen Abschnitt der Steilküste zu stehen und ein gutes Fotomotiv abzugeben, auch wenn sie in keiner Weise mit denen in Mecklenburg mithalten können. Auf einigen Feldern stehen Eichen. Einzelgängereichen, die ihre knorrigen Äste in den Himmel strecken, sodass sie im Winter vor dem fahlen Himmel in der scheinbar immerwährenden Dämmerung wie riesige Hände von Zombies aussehen, die aus dem Grab wachsen. Im Sommer, belaubt und von der Sonne in Szene gesetzt, wirken diese Bäume wie der holzgewordene Kinderklettertraum.

An den Dorfrändern findet man gelegentlich Doppeleichen: zwei am Stamm zusammengewachsene Bäume, gepflanzt im 19. Jahrhundert in Erinnerung an den Vertrag von Ripen aus dem Jahre 1460, in dem festgeschrieben wurde, dass die Landesteile Schleswig – nördlich des Flusses Eider gelegen – und Holstein – südlich der Eider – »auf ewig ungeteilt« sein sollten. (In der letzten Strophe des literarisch eher wenig hochwertigen Schleswig-Holstein-Liedes heißt es sogar: »Teures Land, du Doppeleiche,/unter einer Krone Dach,/stehe fest und nimmer weiche,/wie der Feind auch dräuen mag!«)