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Wem können sie noch vertrauen? DIE TÖCHTER VON KING'S ISLAND: Um ihrer Schwester nach einem Schicksalsschlag beizustehen, reist Joanne auf die sturmumtoste Insel King’s Island – doch schon bald beschleicht Joanne der Verdacht, dass das Haus ihrer Familie ein dunkles Erbe verbirgt. Was hat es mit den rätselhaften Schreien auf sich, die ihre Schwester jede Nacht zu hören meint? Einzig der charmante Arzt William steht Joanne auf ihrer Suche nach der Wahrheit bei – oder hat er ganz andere Motive? DER MOND ÜBER GEORGETOWN: Um ihre Gäste bei einem feierlichen Dinner in ihrer Villa zu unterhalten, schlägt Ruth Bennet aus Spaß eine Séance vor – doch sie hat nicht damit gerechnet, tatsächlich eine Antwort aus dem Jenseits zu erhalten … Die Botschaft ist ebenso verstörend wie rätselhaft: Erlaubt sich etwa jemand einen schlechten Scherz mit Ruth – oder steckt etwas ganz anderes, viel Dunkleres dahinter? DAS GEHEIMNIS VON MARSHALL MANOR: Middleburg, Virginia. Als die junge Erin sich eine Position im Team der Senatskandidatin Rosemary Marshall erkämpfen kann, glaubt sie sich am Ziel ihrer Träume – und mit ihrem neuen Kollegen Nick scheint sie mehr zu verbinden als nur die Leidenschaft für Politik ... Doch als die heiße Phase des Wahlkampfs beginnt, verfängt Erin sich mehr und mehr in einem gefährlichen Netz aus Lügen und Intrigen … Ein fesselnder Romantic-Thrill-Sammelband für alle Fans von Karen Rose und J. D. Robb.
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Seitenzahl: 1312
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über dieses Buch:
DIE TÖCHTER VON KING'S ISLAND: Um ihrer Schwester nach einem Schicksalsschlag beizustehen, reist Joanne auf die sturmumtoste Insel King’s Island – doch schon bald beschleicht Joanne der Verdacht, dass das Haus ihrer Familie ein dunkles Erbe verbirgt. Was hat es mit den rätselhaften Schreien auf sich, die ihre Schwester jede Nacht zu hören meint? Einzig der charmante Arzt William steht Joanne auf ihrer Suche nach der Wahrheit bei – oder hat er ganz andere Motive?
DER MOND ÜBER GEORGETOWN: Um ihre Gäste bei einem feierlichen Dinner in ihrer Villa zu unterhalten, schlägt Ruth Bennet aus Spaß eine Séance vor – doch sie hat nicht damit gerechnet, tatsächlich eine Antwort aus dem Jenseits zu erhalten … Die Botschaft ist ebenso verstörend wie rätselhaft: Erlaubt sich etwa jemand einen schlechten Scherz mit Ruth – oder steckt etwas ganz anderes, viel Dunkleres dahinter?
DAS GEHEIMNIS VON MARSHALL MANOR: Middleburg, Virginia. Als die junge Erin sich eine Position im Team der Senatskandidatin Rosemary Marshall erkämpfen kann, glaubt sie sich am Ziel ihrer Träume – und mit ihrem neuen Kollegen Nick scheint sie mehr zu verbinden als nur die Leidenschaft für Politik ... Doch als die heiße Phase des Wahlkampfs beginnt, verfängt Erin sich mehr und mehr in einem gefährlichen Netz aus Lügen und Intrigen …
Über die Autorin:
Hinter der US-amerikanischen Bestsellerautorin Barbara Michaels steht Barbara Louise Gross Mertz (1927–2013), die auch unter dem Pseudonym Elizabeth Peters erfolgreich Kriminalromane schrieb. Die Autorin promovierte an der University of Chicago in Ägyptologie. So haben auch ihre Romane, für die sie zahlreiche Preise gewann, meist einen historischen Hintergrund.
Barbara Michaels veröffentlichte bei dotbooks ihre Romane »Der Mond über Georgetown«, »Das Geheimnis von Marshall Manor«, »Die Villa der Schatten«, »Das Geheimnis der Juwelenvilla«, »Die Frauen von Maidenwood«, »Das dunkle Herz der Villa«, »Das Haus des Schweigens«, »Das Geheimnis von Tregella Castle«, »Die Töchter von King’s Island«
Diese Romane sind auch in den Sammelbänden »Das Haus der Dämmerung« und »Das Haus der dunklen Schatten« enthalten.
Außerdem erschienen bei dotboooks ihre historischen Liebesromane »Abbey Manor – Gefangene der Liebe«, »Wilde Manor – Im Sturm der Zeit«, »Villa Tarconti – Lied der Leidenschaft« und »Grayhaven Manor – Das Leuchten der Sehnsucht«.
Unter Elizabeth Peters erschienen bei dotbooks ihre Krimireihen um die Ermittlerinnen Jaqueline Kirby und Vicky Bliss, sowie ihre historische Ägypten-Krimireihe um Amelia Peabody.
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Sammelband-Originalausgabe März 2025
Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Eine Übersicht über die Copyrights der einzelnen Romane, die im Sammelband enthalten sind, finden Sie am Ende dieses eBooks.]
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: dotbooks GmbH, München
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (vh)
ISBN 978-3- 98952-431-6
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Barbara Michaels
Die Töchter von King's Island, Der Mond über Georgetown & Das Geheimnis von Marshall Manor
Drei Romane in einem eBook
Aus dem Amerikanischen von Hilde Linnert, Gabriele Lichtner und Regina Rawlinson
dotbooks.
Aus dem Amerikanischen von Hilde Linnert
Die Schönheit dieser Insel ist ebenso fesselnd wie grausam … Inmitten der stürmischen See sieht Joanne zum ersten Mal das einsame King’s Island vor sich liegen, als sie dorthin reist, um ihrer Schwester nach einem schweren Schicksalsschlag beizustehen. Je mehr Zeit Joanne dort verbringt, desto mehr beschleicht sie allerdings der Verdacht, dass das Haus ihrer Familie ein dunkles Erbe verbirgt. Was hat es mit den rätselhaften Schreien auf sich, die ihre Schwester jede Nacht zu hören meint? Einzig William, der charismatische Arzt der kleinen Insel, steht Joanne auf ihrer Suche nach der Wahrheit bei – oder hat er ganz andere Motive?
»Einen Roman von Barbara Michaels kann ich nicht aus der Hand legen.« Bestseller-Autorin Marion Zimmer Bradley
Für Kay,
bei der ich mich für meine Bemerkungen
über das Wetter
in San Francisco entschuldige.
Eins
Wenn man die Insel aus der Luft sieht, bezweifelt man, daß ein Flugzeug auf ihr landen kann, so klein wirkt sie. Der Anblick ist so bezaubernd, daß er alle möglichen poetischen Assoziationen weckt – ein leuchtender, braungrüner Achat, der in Falten aus meerblauem Satin gebettet ist; ein Klumpen bunter Knetmasse, den ein vergeßliches Kind in einem Waschbecken liegen ließ; ein ovaler, geflochtener Vorleger auf einem grünen Glasboden.
Oder eine Hand in einem braungrünen Fäustling. Die Hand ist zur Faust geballt, und an einer Seite ragt ein Vorgebirge wie ein Daumen hervor. An dem breiten Ende der Faust befindet sich eine Hügelkette, die man mit etwas gutem Willen als Knöchel bezeichnen könnte; am anderen Ende verengt sich die Insel zu einer Halbinsel, die an ein Handgelenk erinnert. Es gibt Strände, die wie der Pelzbesatz auf der Stulpe des Fäustlings aussehen; der Rest der Insel ist dicht mit Bäumen bestanden, hauptsächlich dunkelgrünen Föhren und Fichten. Das Haus ist aus der Luft überraschend gut zu erkennen. Das hellere Grün der Rasenflächen und die grauen Dächer und Schornsteine heben sich von den dunklen Nadelbäumen ab. Sonst gibt es nur noch einen ausgeprägten Orientierungspunkt: die Häusergruppe des Dorfs auf dem Vorgebirge und sein Hafen, der an dem Berührungspunkt von Daumen und Hand liegt.
Und hier hört der Vergleich auf. Das Haus könnte man noch mit einem seltsam geformten Ring oberhalb der Knöchel vergleichen, aber das Dorf erinnert an überhaupt nichts; eine krankhafte Fantasie könnte an Schwären oder Warzen denken, aber St. Ives hatte nie etwas Verwesendes an sich. Es ist einfach ein bezaubernder Ort in Maine, und daran konnten auch die Ereignisse dieses Frühlings nichts ändern. Im Dorf lauerte nichts Schreckliches; es beschränkte sich auf jenes Haus.
An diesem Maimorgen bemerkte ich jedenfalls nichts Grauenerregendes. Ich hatte zwar Sorgen, sogar eine ganze Menge, aber sie waren relativ geringfügig. Damals wußte ich noch nicht, wie geringfügig sie waren.
Zum Glück gehörte Angst vor dem Fliegen nicht zu diesen Sorgen. Sonst hätte mich nämlich das Flugzeug, in dem ich saß, in ein zitterndes Nervenbündel verwandelt. Es war das kleinste Fortbewegungsmittel mit Flügeln, in dem ich je gesessen hatte. Nach dem großen Jet, der mich von San Francisco nach Boston gebracht hatte, sah dieser Flugapparat wie ein vierschrötiger Käfer mit Stummelflügeln aus. Der Pilot flog es wie einen Feuerstuhl; er hatte lange, gelockte Haare, die ihm bis zum Nacken reichten, und einen blonden Bart, der die untere Hälfte seines Gesichts beinahe vollkommen verdeckte. Einem ängstlichen Passagier hätte er bestimmt nicht viel Vertrauen eingeflößt.
Obwohl ich möglichst rasch auf die Insel gelangen wollte, war der Charterflug nicht meine, sondern Rans Idee gewesen. Ein Schwager, der im Nebenberuf Millionär ist, hat gewisse Vorteile. Er setzte mir auseinander, daß die normale Reiseroute wesentlich mehr Zeit erfordert hätte: von Boston nach Portland ein Flugzeug, dann mit Bus oder Bahn oder Taxi nach Richmond, die der Insel nächstgelegene Hafenstadt; dann ein privat gechartertes Boot. Die Fähre verkehrt nur einmal täglich – im Sommer; im Winter müssen die Inselbewohner vermutlich schwimmen.
Sie hätten verdammt weit zu schwimmen. King’s Island ist die äußerste Insel in der Casco-Bucht; sie liegt so weit draußen, daß sie sich nicht auf der normalen Route des Fährbootes befindet, das wie ein Pendlerbus zwischen Portland und den übrigen zwischen Cap Elizabeth und Cap Small liegenden Inseln herumtuckert. Die Bewohner von King’s Island behaupten, daß sie nichts dagegen haben und daß die Touristen, die sie während der drei Sommermonate zu Gesicht bekommen, ihnen reichen. Das Gasthaus ist das einzige Hotel; es hat zwanzig Zimmer. Einige Privathäuser nehmen Pensionsgäste auf, aber es gibt kein einziges Motel oder Strandhotel. Der größte Teil der Insel gehört der Familie Fraser; die Frasers haben sich immer geweigert, Grund an Baufirmen zu verkaufen, deshalb gibt es keine Holzhäuschen und keine Ferienhäuser.
Ihre Besitztümer geben den Reichen wahrscheinlich das Gefühl, daß sie menschliche Wesen genauso leicht manipulieren können wie leblose Gegenstände. Ran neigte ebenfalls dazu. Darauf lief ich von zu Hause weg, und seither versucht er nicht mehr, über mich zu bestimmen. Ich war damals zwanzig und hatte den Collegeabschluß, doch ich hatte zehn Jahre lang bei Ran und Mary gelebt, und er führte sich auf wie ein viktorianischer Vater, dessen Tochter eine Karriere in einem Bordell anpeilt. Ursprünglich hatte er sich vorgestellt, daß ich nach meinem Collegeabschluß auf der Heimstätte der Familie auf Long Island herumlungern würde, bis es mir gelänge, einen der wohlhabenden jungen Männer an Land zu ziehen, die er der Reihe nach anschleppte. Als ich darauf bestand, einen Beruf auszuüben, bot er mir vierzehn (vierzehn – ich habe sie gezählt) verschiedene Posten in Manhattan an, von der stellvertretenden Herausgeberin in einem Verlag, in dem er die Aktienmehrheit besitzt, bis zu einer Firma für Innenarchitektur, die er mir kaufen wollte. Ich mußte buchstäblich um zwei Uhr früh mit dem Koffer unter dem Arm davonlaufen – aber nicht mit einem Mann. Mein Begleiter auf dieser Flucht war kein Mensch, sondern eine seltsame Eigenschaft, die man als Stolz bezeichnet.
Ich nahm einen Posten in San Francisco an, weil ich dort am weitesten von Ran und Mary entfernt war, und ich brauchte diese Entfernung, um nicht nach Hause zurückzukriechen. Während der ersten drei Monate hatte ich solches Heimweh und war so pleite, daß ich beinahe aufgegeben hätte. Ran brauchte weitere drei Monate, um mir zu verzeihen. Er rief mich am Silvesterabend an. Danach telefonierten er und Mary beinahe jede Woche mit mir, einfach um mir Gesellschaft zu leisten und zu plaudern. Doch die letzten beiden Anrufe waren anders gewesen, und sie waren der Grund dafür, daß ich jetzt in einem Flugzeug, das wie ein kranker Leuchtkäfer aussah, über der Küste von Maine herumkrebste.
Der erste Anruf war im April erfolgt. Ran erzählte mir kurz, daß Mary ihr Kind verloren hätte, nur drückte er es nicht so aus. Er korrigierte mich sogar, als ich das Wort benützte.
»Kind? Das wäre es erst in sechs Monaten gewesen. Fetus oder Embryo; ich kann mir nie merken, was zuerst kommt.«
Die Worte klangen gefühllos, genau wie seine Stimme. Ich war nicht empört; ich wußte, warum er den emotionellen Unterton vermeiden wollte, der in diesem Wort liegt. Deshalb drückte ich ihm nicht mein Beileid aus und bot ihm auch nicht an, zurückzukommen, obwohl ich wußte, wie verzweifelt und unglücklich Mary sein mußte. Außerdem nahm Ran jeden Hinweis darauf, daß er nicht der oder das einzige war, was Mary brauchte, übel.
Ich bin um zehn Jahre jünger als Mary. Sie hat mich aufgezogen, nachdem unsere Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen. Ich war damals neun. Bis auf eine entfernte Cousine in Milwaukee haben wir keine Verwandten mehr, deshalb gibt es eine Menge Gründe, warum Mary und ich einander immer näher gestanden haben, als es bei Schwestern für gewöhnlich der Fall ist. Ich wußte, daß Ran auf diese Beziehung ein wenig eifersüchtig war. Er liebte mich zwar brüderlich und hatte mich ohne zu zögern in sein Herz und sein Heim aufgenommen, als er meine Schwester heiratete, aber die Kombination von Geld und Männlichkeit macht ihn sehr selbstsicher. Er ist verärgert, wenn jemand andeutet, daß eine Frau, die er liebt, noch etwas anderes oder jemand anderen brauchen kann.
Doch nicht einmal Ran konnte begreifen, was es für Mary bedeutete, dieses Kind zu verlieren. Sie war bereits zweimal schwanger gewesen und hatte beide Male eine Fehlgeburt gehabt. Dann war sechs Jahre lang nichts geschehen, obwohl sie und Ran sich alle Mühe gaben. Den Ärzten zufolge gab es keinen Grund, daß sie keine Kinder bekommen konnten. Mir war erst kürzlich klar geworden, wie unangenehm das alles für Ran gewesen sein mußte – vor allem, weil seine schlaksige halbwüchsige Schwägerin alle peinlichen Einzelheiten kannte. Mary reagierte ganz anders. Für sie war das Problem so wichtig, daß sie darüber sprechen mußte. Damals war Sexualkunde in den Schulen ein Fremdwort; aber ich erfuhr alles Wissenswerte von Mary.
Natürlich schrieb ich ihr nach Rans Anruf. Als Antwort bekam ich ein paar hastig hingekritzelte Zeilen und das Versprechen, daß sie später ausführlich schreiben würde. Dieser Brief traf nie ein. Stattdessen kam Rans zweiter Anruf.
In San Francisco herrschte typisches Frühlingswetter – es war kalt. Ich kauerte vor meiner Kaminimitation und versuchte, eine Skizze für ein Inserat für Gesichtscreme zu entwerfen. Eigentlich war ich dafür nicht zuständig. Schönheitspflege ist eine unserer Haupteinnahmequellen, aber frisch eingestellte Künstler machen noch keine Layouts. Ich hatte mir aber eingebildet, daß ich vielleicht, wenn ich etwas Sensationelles vorlegte …
Als das Telefon klingelte, zuckte ich zusammen, so tief hatte ich mich konzentriert. Sobald ich Rans Stimme hörte, wußte ich, daß etwas nicht in Ordnung war. Sein tiefer Bariton wird weicher und tiefer, wenn er aufgeregt ist. An diesem Abend war er beinahe ein Baß.
»Wann gehst du auf Urlaub?«, fragte er.
»In den ersten beiden Juniwochen.« Das komische Gefühl in meinem Magen wurde stärker. »Aber das weißt du ja, Ran; wir haben darüber gesprochen, daß ich euch besuche …«
»Könntest du vielleicht schon jetzt kommen? Und länger bleiben?«
»Ich bin noch nicht einmal ein Jahr bei der Agentur. Sie werden nicht …«
»Was ist mit einem Urlaub wegen eines Notfalls?«
Nach einer langen Pause fragte ich: »Fang von vorn an. Was ist mit Mary los?«
»Nichts Physisches. Sie hat sich von der Fehlgeburt vollkommen erholt.«
»Laß dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen, Ran. Hältst du mich für so dumm, daß ich durchdrehe, wenn du von einer Geisteskrankheit sprichst?«
Er lachte leise.
»Das gefällt mir so an dir, Jo – deine harte, brutale Ehrlichkeit. Ja, ihre Krankheit ist geistiger Natur. Melancholie, Depression, wie immer du es nennen willst. Ein Nervenzusammenbruch …«
»Vergiß, wie ich es nenne und wie du es nennst. Was sagt der Arzt? Sie war doch bei einem Arzt?«
»Einem Dutzend Ärzten. Gynäkologen, Neurologen …«
»Psychiater?«
»Ja, also …«
»Um Himmels willen, Ran …«
»Warte einen Augenblick, spring mir nicht gleich ins Gesicht.« Er lachte wieder. Der Zorn, hinter dem ich für gewöhnlich meine Angst verberge – auch vor mir selbst – wurde immer stärker. Doch bevor ich etwas sagen konnte, fuhr er ernst fort:
»Natürlich bin ich mit ihr zu einem Psychiater gegangen, nachdem die anderen Ärzte nichts feststellen konnten. Der Mann ist erstklassig, und Mary mochte ihn anscheinend. Die Schwierigkeit war, daß er sich nicht ausschließlich ihr widmen konnte, denn das braucht sie offenbar – fünf Tage in der Woche, zweiundfünfzig Wochen im Jahr.«
»Es gibt noch andere Psychiater.«
»Er hat mir drei genannt. Mary hat alle drei aufgesucht. Der dritte war eine Katastrophe. Mary mochte ihn vom ersten Augenblick an nicht. Jetzt weigert sie sich entschieden, noch einmal zu einem Psychiater zu gehen.«
»Aber Ran, es ist doch sicher …«
»Du bist ein aufgewecktes, intelligentes Mädchen, Jo, aber du kannst auch nicht jedes verdammte Problem auf der Welt lösen. Erzähl mir nicht, was ich tun soll, solange du nicht gehört hast, was ich getan habe.«
Kurze Stille trat ein. Ich hörte ihn atmen. Es war beinahe unheimlich, daß ich über eine Entfernung von fast fünftausend Kilometern seine zornigen, hastigen Atemzüge hörte. Dann sagte er kurz: »Tut mir leid.«
»Ist schon gut.«
Das stimmte, denn ich war froh darüber, daß er trotz seines scheinbar sorglosen Lachens ebenso besorgt war wie ich.
»Wenn der Patient nicht kooperiert, ist die Psychiatrie hilflos. Was soll ich denn tun, sie mit Gewalt hinschleppen? Ich sage dir ja, daß sie sich weigert.«
»Ich verstehe. Ich nehme an, daß die Fehlgeburt diese Reaktion ausgelöst hat.«
»Das stimmt, aber das ist keine Erklärung dafür. Wir wollen die Sache nicht jetzt durchackern. Weil sie sich entschieden gegen jede Analyse wehrt, meinen die Ärzte, daß ihr Ruhe, Friede und ein vollkommener Tapetenwechsel helfen könnten. Ich besitze auf einer Insel vor der Küste von Maine ein Haus; und wir werden den ganzen Sommer dort verbringen. Kannst du ebenfalls kommen? Sobald wie möglich und so lange es dir möglich ist?«
»Eine Insel? Warum eine Insel?«
»Weil das Haus auf dieser Insel steht. Das ist eine dumme Frage … Kommst du oder nicht?«
»Da ist noch das unwichtige Problem mit meinem Posten.«
»Kündige.«
»Ich liebe frische Luft, aber sie ist so dünn.«
»Jo, du weißt doch, daß ich dir jederzeit einen Posten verschaffen kann. Also was das betrifft …«
»Wir haben diese Diskussion schon einige Male geführt, Ran.«
»Ja, und ich habe nachgegeben. Ich bewundere deine Unabhängigkeit, auch wenn ich sie als Dickschädligkeit bezeichne, wenn du nicht in Hörweite bist. Aber es gibt Wichtigeres als den Stolz, Jo.«
Er verstummte, und plötzlich sah ich ihn beinahe vor mir – sein großer, schlanker Körper, der in dem Ledersessel lümmelte, sein dichtes dunkles Haar, das ihm zu Berge stand, weil er in ihm gewühlt hatte wie immer, wenn er sich ärgerte. Und er ärgerte sich jedesmal, wenn ein unbedeutenderes menschliches Wesen einen schwachen Punkt in seinen Plänen entdeckte. Ich hatte seine Stimmungsumschwünge genau kennengelernt, während ich bei ihm und Mary gewohnt hatte. Deshalb wußte ich jetzt, was sein Schweigen bedeutete. Er dachte darüber nach, wie er mich doch noch herumkriegen konnte. Im Geist sah ich, wie er die dichten schwarzen Augenbrauen hochzog und wie ein gewinnendes Lächeln um seine Lippen spielte. Die Stimme, die schließlich an mein Ohr drang, klang genauso, wie ich es erwartet hatte.
»Es tut mir leid, Kleines, ich bin in lausiger Stimmung, sonst wäre ich nicht so anmaßend. Ich befehle dir nichts, ich bitte dich. Mary braucht dich. Und du bist so ziemlich der einzige Mensch, den sie sehen möchte.«
Es war vielleicht Berechnung – das war es beinahe sicher –, aber diese Erklärung entwaffnete mich. Nicht weil er zugab, daß Mary mich brauchte, sondern weil er zugab, daß sie ihn nicht brauchte. Er war kein demütiger Mensch.
»Okay«, sagte ich. »Okay, ich komme. Es wird eine Weile dauern, ich muß so vieles … aber ich komme.«
Ich saß noch immer vor dem Telefon und versuchte, Ordnung in meine Gedanken zu bringen, als es klingelte. Es war der Expreßbote, der einen Brief von Ran brachte. Er enthielt ein Flugticket und detaillierte Anweisungen, wie ich die Insel erreichen konnte. Sobald ich meinen Flug gebucht hatte, mußte ich nur noch Rans Büro anrufen, und dann würde für alles Übrige gesorgt werden.
Auch für einen Expreßbrief sind fünfzehn Minuten von New York nach San Francisco eine gute Zeit. Ich brauchte den Poststempel nicht: Ran hatte den Brief heute morgen abgeschickt, noch bevor er mich fragte, ob ich kommen wolle.
Zwei
Die nächsten beiden Wochen waren von hektischer Aktivität und zunehmender Sorge erfüllt, die es mir schwer machte, weiterhin aktiv zu sein. Doch ich nahm mir die Zeit, weil ich nur so eine kleine Chance hatte, wieder Arbeit zu bekommen, sobald ich an die Westküste zurückkehrte. Ich erwartete von der Agentur nicht, daß sie sich bereit erklärte, mir den Posten freizuhalten, und sie tat es auch nicht. Aber indem ich wenigstens so lange blieb, bis ich meinen Nachfolger eingearbeitet hatte, vermied ich, daß sie mir böse waren. Wenn sie mich aus dem Berufsverband ausstießen, nachdem sie meine Gründe gehört hatten, war Scrooge im Vergleich zu ihnen ein Wohltäter. Ich habe die unglückliche Gewohnheit, eine Geschichte nicht gerade auszuschmücken, aber doch die dramatischen Höhepunkte zu betonen. Und wenn ich in Schwung bin, erzähle ich mehr, als ich sollte. Es geht mir nicht um die dramatische Wirkung, ich halte dieses Benehmen auch nicht für richtig, aber ich kann offenbar nicht anders. Mary meinte immer, daß es genügt, wenn ich beim Gemischtwarenhändler in ein anderes weibliches Wesen hineinrenne; Tatsache ist aber, daß ich mich nicht nur unaufhörlich bei ihr entschuldige, sondern ihr außerdem noch erzähle, daß ich mit meinem Freund Schluß machen will und was ich vergangene Nacht geträumt habe.
Jedenfalls schaffte ich es irgendwie – als ich meinen Arbeitsplatz verließ, stand ich mit allen Beteiligten auf gutem Fuß, hatte meine Wohnung untervermietet und drei Koffer gepackt. Es klingt einfach, aber ich habe alle Kleinigkeiten, alle Einzelheiten ausgelassen, die so unwichtig wirken und so viel Zeit beanspruchen. Als ich endlich im Flugzeug saß, war ich so müde, daß ich beinahe die ganze Zeit schlief. In Boston erwartete mich bereits die von Ran gecharterte Maschine.
Wir landeten auf der Insel. Ich habe keine Ahnung, wie wir es fertigbrachten. Natürlich weiß ich, daß die Insel so groß ist, daß ein kleines Flugzeug auf ihr landen kann; mein Gehirn wußte es jedenfalls, auch wenn mein Magen anderer Meinung war. Als wir jedoch zur Landung ansetzten, fanden meine suchenden Augen zwischen den endlosen, dichten Wäldern und den zerklüfteten Klippen keine ebene Stelle, die größer war als ein Vorgarten. Natürlich sah ich schließlich den Flugplatz – wenn man ihn so nennen kann; er sah aus, als hätte jemand auf ihm Korn angebaut. Also benahm ich mich wie ein Feigling und schloß die Augen. Ich kann die Landung nur als außergewöhnlich bezeichnen; wir prallten wesentlich öfter vom Boden ab, als ich für notwendig hielt.
Ran hatte gesagt, daß man mich abholen würde. Wahrscheinlich erwartete ich ihn, oder Mary, oder alle beide. Jedenfalls war ich enttäuscht, als ich die Gesichter der Leute musterte, die neben dem kleinen, als Terminal dienenden Gebäude standen und niemand Bekannten erblickte. Ich begann, zu dem Gebäude hinüberzugehen, und in diesem Augenblick löste sich ein Mann von der Wand, an der er gelehnt hatte, und kam auf mich zu.
Es fällt mir schwer, mich an meinen ersten Eindruck von William Graham zu erinnern. Wahrscheinlich ist mir seine Größe aufgefallen; er ist wirklich groß, ein Meter fünfundneunzig oder zwei Meter. Er hat das typische wettergegerbte lange Neu-England-Gesicht, das sich zwischen fünfundzwanzig und sechzig kaum verändert. Das Gesicht besteht nur aus harten Kanten, und die Haut ist gegerbt – nicht einfach sonnengebräunt, sondern gegerbt wie altes Leder. Will hat sandfarbenes Haar und hellbraune Augen. Im Sonnenlicht sehen sie wie Bernstein aus. Und wenn er im hellen Sonnenschein steht – und nur dann –, bemerkt man die Sommersprossen auf seinem Nasenrücken.
Dann lächelte er. Ich taumelte nicht gerade, aber ich war nahe daran. Es war die verblüffendste Veränderung, die ich seit den alten Lon-Chaney-Filmen erlebt habe. Sein Gesicht wurde weicher und um Jahre jünger, und seine hellen Bernsteinaugen leuchteten, als wäre hinter ihnen das Licht eingeschaltet worden.
»Will Graham.« Er hielt mir die Hand hin.
»Joanne McMullen«, antwortete ich. Ich überließ ihm meine Hand etwas besorgt, denn es war das erste Mal, daß meine gar nicht so kleinen Finger von einer Männerhand verschlungen wurden. Aber meine Sorgen waren unnötig. Sein Griff war sanft, fest und geschäftsmäßig. Seine Augen musterten mich, und ich konnte beinahe hören, wie sein Hirn die Fakten registrierte. Weiblich, Anfang zwanzig, eins fünfundsechzig, achtundfünfzig Kilo (ungefähr), braune Haare, blaue Augen, keine sichtbaren Narben oder Mißbildungen …
»Sie müssen ein Freund von Ran sein«, stellte ich unnötigerweise fest. Der klinische Blick machte mich etwas nervös.
Er gab keine Antwort, sondern wandte sich ab und begrüßte den Piloten, der mit meinen Koffern daherkam. Offenbar waren die beiden alte Freunde.
»Hi, Vic«, sagte Will Graham.
»Wie geht’s, Doc?«, fragte Vic.
Er hatte nicht erwähnt, daß er Arzt war. Ich kam mir allmählich wie ein geistig zurückgebliebenes Kind vor. Niemand erzählte mir etwas, Ran hatte einen vollkommen Fremden geschickt, ohne mich auf ihn vorzubereiten, und der Fremde nahm offenbar an, daß die Nennung seines Namens genügte, damit ich Bescheid wußte. Graham nahm schließlich meine Koffer und marschierte mit ihnen davon. Der Pilot grinste mich an, winkte und setzte sich in eine andere Richtung in Bewegung. Ich stand da und blickte von einem entschwindenden Rücken zum anderen. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als dem Arzt zu folgen. Ich mußte nicht gerade laufen, aber schneller gehen, als ich es normalerweise tue. Bei der Tür zum Terminal holte ich ihn ein und bemerkte sanft:
»Sie könnten wenigstens ›bei Fuß‹ sagen.«
Er blickte auf mich hinunter.
»Wie? Ach so, tut mir leid.«
Es klang nicht so, als täte es ihm leid.
Wir stiegen in seinen Wagen. Es war ein blauer Kombi, das traurigste, zerbeulteste Fahrzeug, das ich jemals gesehen hatte. Es startete mit einem Aufheulen und entschloß sich dann dazu, nur noch gequält zu stöhnen. Der Arzt war offenbar einer jener Männer, für die das Auto ein Transportmittel und kein Fetisch ist. Dadurch hätte er in meiner Achtung steigen müssen, aber ich schmollte eben.
»Ich weiß nicht einmal, wer Sie sind«, stellte ich fest.
Er sah mich belustigt an.
»Sie sollten nicht zu fremden Männern ins Auto steigen.«
»Genau daran habe ich eben gedacht.«
»Ran läßt sich entschuldigen. Er wollte Sie selbst abholen, dann mußte er aber etwas Dringendes erledigen und bat mich, ihn zu vertreten.«
»Wer sind Sie überhaupt? Leben Sie hier? Seit wann kennen Sie Ran? Wie geht es ihm? Wie geht es Mary?«
»Immer mit der Ruhe. Ja, ich lebe hier. Ich kenne Ran seit … es muß in der vierten Klasse gewesen sein.«
»Vierte Klasse!« Ich weiß nicht, warum mich diese Tatsache und alles, was sich daraus logischerweise ergab, so überraschte. »Sie sind hier zu Hause? Sie haben Ihr ganzes Leben hier verbracht?«
»Ja.«
»Dann hat Ran auch hier gelebt.«
Er sah mich erstaunt an.
»Es ist das Haus seines Großvaters. Man könnte sagen, daß es die Insel seines Großvaters ist.«
»Das habe ich nicht gewußt. Warum hat er es mir nie erzählt?«
»Vielleicht haben Sie nie danach gefragt.«
»Vielleicht bin ich nie dazugekommen, zu fragen«, gab ich zu. »Ich mußte mit anderen Dingen fertigwerden. Ach was, hören wir auf, um den heißen Brei herumzureden. Sie sind Arzt und ein alter Freund von Ran. Sie wissen bestimmt, warum ich mir Marys wegen Sorgen mache.«
Wir fuhren gerade die Hauptstraße des Dorfes entlang; mein Begleiter konzentrierte sich auf eine Verkehrsstockung, die aus zwei Motorrädern und einem Jeep bestand, und schwieg ostentativ. Es war eine hübsche Kleinstadt mit alten Häusern und ein paar Blocks von neuen, aber diskret modernen Geschäften. Durch die Seitenstraßen erblickte ich den Hafen, Boote mit weißen Segeln und ein paar größere Motorschiffe. Eine bezaubernde Stadt … Ich war allerdings nicht in der Stimmung für bezaubernde Städte. Der liebe Onkel Doktor war imstande, mit seinem Schweigen mehr auszudrücken als jemand anderer mit einer langen Rede.
»Wie geht es Mary?«, fragte ich.
Er antwortete mit einer Frage.
»Wie alt sind Sie?«
»Einundzwanzig«, erwiderte ich, ohne zu überlegen, und fuhr ihn dann verärgert an: »Und wie alt sind Sie?«
Es wirkte.
»Neunundzwanzig«, antwortete er und wurde rot – vor Ärger, nicht vor Verlegenheit.
»Dann steht mir vielleicht genauso das Recht zu, Ihre Qualifikationen anzuzweifeln, wie Ihnen, die meinen in Frage zu stellen.«
»Ich habe Sie in die Defensive gedrängt, nicht wahr?«
»Glauben Sie?«
Wir hatten die Stadt verlassen – jedenfalls alles, was man von ihr sehen konnte – und befanden uns jetzt auf einer Straße, die am Ufer entlangführte. Das Innere der Insel war bewaldet und grün, aber dieses Gelände war sandig und spärlich bewachsen. Links von uns leuchtete der Ozean im Sonnenlicht amethystfarben und aquamarinblau. Ich holte ein paarmal tief Luft.
»Das ist kindisch. Wir sollten aufhören, aufeinander herumzuhacken. Wir werden in den nächsten Monaten häufig zusammenkommen. Wir sollten versuchen, uns zu vertragen, denn das wird für alle Seiten besser sein.«
»Ich habe nichts dagegen.«
»Dann können wir ja über Mary sprechen, ohne daß einer von uns wütend wird.«
»Ich bin nicht wütend«, erklärte er ruhig.
»Aber Sie sprechen nicht.«
Er gab ein komisches Geräusch von sich, das, wie ich später merkte, Lachen war, und bog so unvermittelt ab, daß ich gegen seinen Arm fiel. Er fuhr gleichmütig weiter, und wir gelangten über eine schmale Schotterstraße zum Zentrum der Insel. Schließlich kamen wir zu einem offenstehenden Tor, an dem ein Schild besagte: »Privatbesitz. Betreten verboten.«
Die Gegend hatte sich abrupt verändert. Wir fuhren unter grünen Bäumen, deren Äste sich über unseren Köpfen ineinander verflochten, durch grünes Dämmerlicht. Graham hielt den Wagen an, drehte sich zu mir um, zog ein Päckchen Zigaretten heraus und hielt es mir hin.
Ich nahm eine. »Und Sie sind Arzt.«
»Ich gehöre zu den zwanzig Prozent, die das Rauchen nicht aufgegeben haben.«
Er zündete mir die Zigarette an; ich wendete mich ihm zu, so daß ich sein Gesicht sah.
»Konferenz?«, fragte ich.
»Wir sind bald beim Haus. Es ist leichter, offen zu sprechen, wenn Ran oder Mary nicht dabei sind.«
»Womit wollen wir anfangen?«
Es war die letzte Frage, die ich stellte. Ich weiß bis heute nicht, wie er es anstellte, aber von da an lenkte er das Gespräch. Er hätte einen ausgezeichneten Staatsanwalt abgegeben. Und natürlich unterhielt er sich mit mir, dem alten Plappermaul. Ich schilderte Marys und meine Kindheit, erzählte ihm, worüber wir lachten und weshalb wir stritten, Marys Wutanfälle und wie sie nach dem Tod unserer Eltern Nacht für Nacht in der Wohnung auf- und abgegangen war. Es ist sehr verlockend, über sich selbst zu sprechen, wenn der andere wirklich zuhört. Deshalb brauchte ich so lange, bis ich merkte, worauf er aus war.
Als er zum drittenmal auf Marys Wutanfälle zu sprechen kam, wurde ich aufmerksam. Ich hörte auf zu reden, weil ich mißtrauisch geworden war, und sein langsames, nachdenkliches Nicken bestätigte mir, daß mein Mißtrauen gerechtfertigt war.
»Was bezwecken Sie eigentlich?«, fragte ich.
»Ich lasse mir eine Vermutung bestätigen. Diese Informationen konnte ich natürlich nicht von Ran bekommen.«
»Natürlich. Nur von einer dummen Person, die nicht den Mund halten kann.«
»Es ist ein sehr hübscher Mund.« Er sah mich aufmerksam an, und ich wurde rot.
»Sie wollten keine Information, sondern nur eine Bestätigung. Ich weiß, was Sie denken, und Sie irren sich. Mary ist …«
»Eine verwöhnte, verzärtelte Neurotikerin, die nicht einmal mit der geringsten Frustration fertig wird.«
Es klang kalt und endgültig.
Und es war falsch. Ich rief mir ins Gedächtnis, was ich gesagt hatte, wieso ich nicht imstande gewesen war, ihm die Mary zu zeigen, die ich kannte – das Mädchen, das ein verlassenes, hysterisches Kind getröstet, den Kummer über ihren Verlust und das Gefühl, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein, mit sich allein ausgemacht hatte. Eine Frau, die meine pubertären Schwierigkeiten mit Weisheit und Humor ertragen hatte. Aber ich wußte, daß nicht ich allein an meinem Versagen schuld war. Sein Urteil über Mary hatte bereits festgestanden, bevor er mich kennenlernte.
»Sie irren sich«, wiederholte ich.
»Ich wäre froh, wenn es so wäre.«
»Sagen Sie mir nur eines: Sind Sie Marys ärztlicher Berater?«
Es klang noch gemeiner, als ich beabsichtigt hatte, und er errötete heftig bis über beide Ohren. Es waren große Ohren.
»Ich bin der einzige Mediziner auf der Insel«, fuhr er mich an. »Mary hat keinen Berater, weder einen medizinischen noch einen anderen. Sie spricht nicht mit mir. Deshalb muß ich mich hinter ihrem Rücken informieren.«
»Ich habe nicht gewußt, daß Sie in Psychiatrie promoviert haben.«
Er holte tief Luft. Seine Augen waren hart und stumpf wie Kiesel.
»Ich kenne mich mit den üblichen Psychosen so ziemlich aus und weiß deshalb, daß Mary keine hat. Sie können mir glauben, daß ich mich sehr genau damit befaßt habe. Die Symptome stimmen einfach nicht und ergeben keinen Sinn. Daraus folgt logisch, daß sie bewußt ihre …«
»Das höre ich mir nicht an.«
Ich wollte ihn anschreien, aber das grüne Zwielicht, das den Wagen einschloß, verwandelte meine Stimme in ein Krächzen. Der Wald war alt und verwahrlost, und ich nahm den Geruch des fruchtbaren schwarzen Humus und der wuchernden Pflanzen wahr. Für gewöhnlich mag ich Wälder, aber dieser war anders. Er bedrückte mich. Die Bäume standen viel zu dicht beisammen, so daß das Sonnenlicht nicht durch die Äste dringen konnte.
»Wir reden aneinander vorbei«, stellte ich fest. »Bitte fahren wir weiter. Ich kann es nicht erwarten, Mary zu sehen.«
Es war eine Erleichterung, aus dem Wald auf eine offene, windgepeitschte Lichtung zu kommen. Über den blauen Himmel trieben eilig weiße Wolken, und das Haus erwartete uns inmitten einer großen, grünen Rasenfläche.
Ich habe nie an Spukhäuser geglaubt, aber ich gebe zu, daß jedes Haus seine eigene Atmosphäre besitzt. In manchen fühlt man sich in dem Augenblick daheim, in dem man sie betritt, andere stoßen einen ab. Es handelt sich natürlich um rein physische Eindrücke – die Wirkung von Proportionen, Lichteinfall und sich wiederholenden Formen, die auf manche Personen beruhigend und auf andere bedrückend wirken. Das ist die einzig mögliche Erklärung, denn ich bin in brandneuen Häusern gewesen, die noch nach Farbe und Mörtel rochen, und habe mich in ihnen so unbehaglich gefühlt, daß ich am liebsten davongelaufen wäre – also können keine Gespenster daran schuld sein. Es sei denn, diese Geister sind bereits vorhanden, weil sie an das Stück Land gebunden sind, auf dem das Haus steht.
In Rans Haus herrschte keine solche Atmosphäre. Es war groß und weitläufig und im Lauf der Jahre durch Zubauten vergrößert und verändert worden. Und so wie die natürliche Schönheit von Blumen, die wild auf einer Wiese wachsen, jedes künstliche Blumenarrangement übertrifft, war dieses Haus schöner als viele von Architekten entworfene Gebäude. Der ursprüngliche zentrale Teil war vermutlich zweihundert Jahre alt. Man erkannte seine eleganten, strengen Linien trotz der historisierenden Verschönerungen, die ein späterer Besitzer hinzugefügt hatte, noch immer. Es gab einen Turm. Es gab am höchsten Punkt des Hauses eine Kuppel. Es gab jede Menge Giebel und an jedem Dachrand und Fenstersims hölzernes Gitterwerk. Die breite Veranda, die vorn und seitlich am Hauptteil verlief, war geschwungen, die tragenden Säulen waren gedreht, und das Gesims der Veranda hatte man mit einer Reihe von hölzernen ›Eiszapfen‹ versehen. Merkwürdigerweise war das Ergebnis anziehend. Das Haus war so groß, daß es durch die Verzierungen nicht überladen wirkte. Es war frisch getüncht – es glitzerte weiß wie Kristallzucker, und die Fensterläden bildeten durch das sehr dunkle Grau einen angenehmen Kontrast. Die Schornsteine waren aus hellgrauen Steinen. Vielleicht machte das Haus im Winter, wenn der Himmel düster war, einen unheimlichen Eindruck. Jetzt war der Rasen frisch gemäht, Blumen und Büsche standen in voller Blüte, die Sonne schien, und es erwartete mich gastfreundlich.
Der Arzt fuhr die geschwungene Auffahrt hinauf und hielt vor der Vordertreppe. Mary hatte uns offenbar erwartet, denn kaum war der Motor verstummt, kam sie herausgelaufen.
Sie trug ein helles Leinenkleid, ihr Gesicht war gerötet, und sie lächelte strahlend: dieser Anblick war eine solche Erleichterung, daß mir Tränen in die Augen traten, als ich sie in die Arme schloß. Mary wirkt neben mir so klein, daß ich mich nie traute, sie herzhaft an mich zu drücken, weil sie mir so zerbrechlich vorkam. Deshalb merkte ich erst nach einigen Sekunden, daß ihre Rippen beinahe hervortraten, und daß ihre Arme kaum kräftiger waren als die eines Kindes.
Ich schob sie auf Armlänge von mir und behielt mein Lächeln bei, aber es fiel mir nicht leicht.
Mager – mein Gott, war sie mager! In ihren kurzen, dunklen Locken entdeckte ich graue Haare. Die gesunden roten Wangen waren nur geschickt aufgetragenes Mak-up. Mary hatte immer Ringe unter den Augen, selbst wenn sie bei strahlender Gesundheit war. Die Ringe und der zierliche Körper ließen sie zerbrechlich erscheinen, und das wirkt auf viele Männer anziehend. Aber jetzt waren es keine Ringe, sondern violette Schatten, und ihre Augen waren trüb, als hätte sie Fieber.
»Du siehst großartig aus«, stellte ich fest, aber Mary lächelte nur spöttisch.
»Ich sehe schrecklich aus.« Sie schob ihren Arm in den meinen und ging mit mir zur Treppe. »Aber du hättest mich vor einem Monat sehen sollen.«
»Wo ist Ran?«
»In Boston. Er mußte heute früh geschäftlich hin, deshalb konnte er dich nicht abholen.«
Ich blickte zurück. Der Arzt, dessen Vorhandensein Mary nicht einmal mit einem Nicken zur Kenntnis genommen hatte, hob gerade mein Gepäck aus dem Wagen.
»Leider kann ich nicht behaupten, daß er ein vollwertiger Ersatz war.«
»Schsch.« Marys Finger krampften sich um meinen Arm. »Er wird dich hören.«
In ihrer Stimme lag eine solche Spannung, daß ich sie überrascht ansah. Bevor ich antworten konnte, wandte sie sich von mir ab und dem Arzt zu.
»Laß sie nur stehen, Will. Jed bringt sie später ins Haus. Falls du einen Augenblick bleiben kannst …«
»Um euer Wiedersehen zu stören? Danke, Mary, aber ich muß Verschiedenes erledigen. Bitte sag Ran, daß er mich anrufen soll.«
Als der Wagen anfuhr, löste sich Marys Spannung.
»Wir wollen doch nicht ewig hier draußen stehenbleiben. Komm herein.«
Das Innere des Hauses war genauso bezaubernd wie das Äußere. Die kreisrunde Halle war so gestaltet, daß man den Eindruck von geöffneten Armen bekam, und hatte in der unteren Hälfte eine weiße Täfelung und darüber eine Tapete mit Blumenmustern. Die Treppe begann an der Rückseite der Halle.
»Hast du im Flugzeug einen Lunch bekommen?»
»Hör auf, die Gastgeberin zu spielen. Ich habe mehrmals einen Lunch bekommen; irgendwo über Des Moines habe ich aufgehört, sie zu zählen.«
»Also dann Kaffee. Ich weiß, daß du immer Kaffee trinken kannst.«
»Später. Jetzt möchte ich duschen und mich dann in Ruhe mit dir unterhalten.«
»Natürlich, du mußt ja nach der langen Reise müde sein. Ich werde Jed sagen, er soll deine Koffer hinaufbringen.«
Während ich ihr die Treppe hinauffolgte, fragte ich mich, warum Ran von Apathie und Zurückgezogenheit gesprochen hatte. Mary hatte sich verändert, sehr verändert, aber ich fand sie nicht apathisch, sondern eher angespannt und nervös. War es eine neue Entwicklung, oder verhielt sie sich nur mir gegenüber anders? Ich konnte es kaum erwarten, mit ihr zu sprechen, wieder mit ihr vertraulich zu plaudern, wie wir es immer so gern getan hatten. Und ich hatte nicht vor, mich zurückzuhalten. Sie hatte etwas auf dem Herzen, und ich würde es aus ihr herausholen – wenn es sein mußte mit Gewalt.
Mein Zimmer war entzückend – ein großer, hoher Raum am Ende eines Flügels, so daß er an zwei Seiten Fenster hatte. An einer Wand befand sich ein Kamin, und die Einrichtung bestand aus frühen amerikanischen Möbeln oder ihren teuren Nachbildungen. Vor dem Kamin stand ein Schaukelstuhl, und auf dem Bett lag eine blauweiße Decke.
Aber nach dem ersten angenehmen Eindruck vergaß ich das Zimmer. Mary stand mit verschränkten Armen beim Kamin. Sie hatte den Kopf zur Seite geneigt und sah blicklos vor sich hin, wie jemand, der einem Geräusch lauscht, das andere nicht hören können.
»Mary«, sagte ich scharf.
Sie zuckte zusammen und lächelte mich an.
»Ich werde Mrs. Willard sagen, daß sie uns Kaffee bringen soll …«
Ich ging zu ihr hin und faßte sie an den Schultern. Sie wirkte so klein, als sie mit seltsam schiefgelegtem Kopf zu mir aufsah. Diese Haltung war für mich neu; sie erinnerte mich an ein Kind, das aus Angst vor einem Schlag den Kopf einzieht. Wie zum Teufel war sie zu dieser Haltung gekommen? Man würde sie nie schlagen, jedenfalls nicht körperlich … Vielleicht fürchtete sie sich nicht vor einem physischen Schlag.
»Was tun sie dir an?«, fragte ich.
Die Worte überraschten nicht nur mich, sondern auch sie; mir war nicht bewußt gewesen, daß ich an eine solche Möglichkeit dachte. Aber wie es so oft bei instinktiven Äußerungen der Fall ist, hatte ich das Richtige getroffen. Ihr überraschter Gesichtsausdruck verwandelte sich in mitleiderregende Erleichterung.
»Ich habe gewußt, daß du mir helfen wirst«, flüsterte sie. »Du wirst nicht zulassen, daß sie mich fortbringen, Jo. Sie haben es nämlich vor.«
»Doch nicht Ran?«
»Ran und Graham, dieser Arzt. Er beobachtet mich unausgesetzt. Sie glauben, daß ich es nicht merke, aber da irren sie sich. Man braucht zwei Ärzte dazu, aber wenn einer dafür ist, dann findet sich immer ein zweiter, der zustimmt. Sie halten zusammen.«
»Niemand wird dich fortbringen«, sagte ich.
Ihre Hände umklammerten die meinen.
»Versprichst du es?«
»Solange ich fähig bin zu gehen und zu sprechen, wird dich niemand fortbringen.«
Ich brachte sie dazu, sich in den Schaukelstuhl zu setzen, und hockte mich neben sie. Ihre Wangen waren tränennaß, aber sie lächelte.
»Es ist so schön, dich wiederzusehen, Jo.«
»Du hast mir auch gefehlt.« Ich ergriff ihre Hände. »Das mit dem Kind tut mir so leid.«
Sie blickte zu mir hinunter.
»Du verstehst es nicht, Jo.«
»Ich möchte es verstehen, deshalb bin ich gekommen. Was ist los, Mary? Es kann nicht das Kind sein, nicht ausschließlich das Kind. Was ist es, Mary? Hat es mit Ran zu tun?«
»Was ist es?« wiederholte sie träumerisch.
»Ist es Ran?«, sagte ich drängend. »Gibt es irgendwelche Schwierigkeiten?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Du verstehst es nicht«, sagte sie noch einmal. »Er kommt immer näher. Aber ich höre ihn trotzdem weinen.«
Ran?
Er war der einzige, den sie meinen konnte, und doch … immer näher? Ja, das war in Ordnung, so sollte eine Ehe sein, vor allem wenn die Ehepartner einen schweren Verlust erlitten hatten. Aber es paßte nicht zu ihren anderen Äußerungen und auch nicht dazu, daß Ran sie in eine Anstalt bringen wollte. Und – Ran weinte?
»Ran?«, sagte ich.
»Ran?« Sie lachte hell auf. »Ran weint nicht. Aber er weint. Es ist ein Junge. Er heißt Kevin.«
Eins
Ran kam erst spät nachts zurück, und ich war die einzige, die so lange aufblieb. Mary war sofort nach dem Abendessen zu Bett gegangen. Als ich ihr anbot, mit ihr hinaufzugehen, lehnte sie ab. Mrs. Willard half ihr immer. Mrs. Willard kannte sich mit der Medizin aus. Mrs. Willard würde sich um alles kümmern.
Mrs. Willard war die Haushälterin, eine große, kräftige, mindestens fünfzig Jahre alte Frau, aber sie bewegte sich flink wie ein junges Mädchen und kochte wie ein Engel – falls Engel kochen.
Bis auf Flora, die Nichte der Willards, die gelegentlich aushalf, bestand das Hauspersonal aus Mrs. Willard und ihrem Mann Jed. Es war charakteristisch, wie die beiden angesprochen wurden. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß ich Mrs. Willard beim Vornamen anredete, genausowenig wie ich zu Jed Mr. Willard sagen konnte.
Mein erster Eindruck von Jed war, daß jemand mich zum besten hielt. Er war kein wirklicher Mensch, sondern die Karikatur eines Mannes von der Ostküste, wie sie in einem schlechten Roman vor vierzig Jahren üblich gewesen war. Er war groß, hager, ließ die Schultern hängen, hatte ein Gesicht wie ein alter Bluthund und sprach langsam und gedehnt. Er trug einen Overall, und zwar die Sorte mit den Metallschnallen an den Trägern.
Er war es, der uns nach Marys verblüffender Feststellung unterbrach. Später wurde mir klar, daß ich ihm dankbar sein mußte, denn wer weiß, was ich im ersten Schrecken gesagt oder getan hätte. So konnte ich meine Gefühle an ihm abreagieren, indem ich zusammenzuckte, herumfuhr und leise aufschrie.
»Sie haben mich erschreckt«, sagte ich.
Jed stellte die Koffer ab und richtete sich zu seiner vollen beachtlichen Höhe auf. Er lächelte mich an. Angesichts der Tatsache, daß er dabei kaum die Lippen verzog, war es ein beeindruckendes Lächeln. Er hatte ein freundliches und ungewöhnlich ausdrucksvolles Gesicht. Jeder Teil seines Gesichts war imstande, sich unabhängig von den anderen zu bewegen, und wenn seine Nase zuckte oder er eine Augenbraue hochzog, konnte er damit genausoviel ausdrücken wie andere Leute mit einer langen Rede. Ich nahm an, daß er dieses Talent entwickelt hatte, weil er nicht viel zum Reden kam; aber das war ein Irrtum. Bei unserem ersten Zusammentreffen besorgte allerdings Mrs. Willard das Sprechen.
Sie stand dicht hinter ihm und füllte praktisch den Türrahmen aus, doch ich hatte nie den Eindruck, daß sie dick war. Sie war massiv, von den Schultern, die so breit wie die eines Mannes waren, bis zu den großen, kräftigen Füßen. Sie hatte auch üppige Haare; der Knoten in ihrem Nacken hätte den Kopf einer schwächeren Frau nach vorn gedrückt. Sie trug eine goldgefaßte Brille, durch die ihre Augen größer wirkten. Es waren schöne kornblumenblaue Augen, doch sie kamen in dem großflächigen rosa Gesicht kaum zur Geltung.
»Ich bin Miss Willard«, verkündete sie. »Das ist mein Mann Jed, und Sie müssen Marys Schwester sein. Es ist gut, daß Sie gekommen sind; sie braucht Gesellschaft. Ich habe weiß Gott keine Zeit dafür – das Haus ist groß. Natürlich schaffe ich es, denn das Haus, mit dem ich nicht fertig werde, muß erst gebaut werden. Aber es läßt mir keine Zeit zum Herumsitzen und Plaudern. Ich mag es, wenn ein Haus blitzt und funkelt. Wenn man eine Arbeit übernimmt, dann soll man sie richtig machen, sage ich immer.«
Ich streckte ihr wortlos die Hand hin, und sie ergriff sie. Für eine Frau ihres Umfanges bewegte sie sich mühelos, nicht graziös, aber rasch und sicher. Die blauen Augen waren nicht nur schön, sondern auch klug. Sie umschatteten sich besorgt, als sie von mir zu Mary blickte.
»Ich wollte nur nachsehen, ob Sie so weit sind, daß Sie Kaffee trinken können. Ich habe ihn frisch aufgebrüht und Krapfen dazu gemacht. Mary muß ein bißchen zunehmen, während Sie wahrscheinlich Diät halten wie alle jungen Mädchen; das können Sie hier für eine Weile vergessen. Sie würden auch ein paar Pfund mehr vertragen. Ran hat gesagt, wenn er um sieben Uhr noch nicht da ist, dann sollen wir mit dem Abendessen nicht auf ihn warten, aber bis dahin ist noch lange Zeit. Vergessen Sie Ihre Kleider, ich werde sie später einräumen. Kommen Sie mit und trinken Sie Ihren Kaffee, solange er heiß ist.«
Sie nahm Mary einfach mit, und ich folgte ihnen die Treppe hinunter. Ich hörte mit halbem Ohr, was Mrs. Willard über die Krapfen, das Abendessen, die Frage, ob Ran rechtzeitig zurückkommen würde und das Wetter sagte – die übrigen Themen habe ich vergessen. Ich war in Gedanken versunken und muß zugeben, daß ich ein wenig erleichtert war. Wer weiß, womit ich herausgeplatzt wäre, wenn die Willards nicht auf der Bildfläche erschienen wären. Es war schlimmer, als ich es mir vorgestellt hatte. Es war schlimm, so schlimm, daß ich unendlich vorsichtig vorgehen mußte. Als ich an William Graham dachte, wurde ich wieder wütend. Warum hatte er mich nicht darauf aufmerksam gemacht? Und wie konnte er eine ausgeprägte fixe Idee als Launenhaftigkeit einer verwöhnten jungen Frau bezeichnen? Sogar ich erkannte, wie gefährlich Marys Zustand war, und ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie ich darauf reagieren sollte. Ich mußte mehr wissen; ich mußte mit Ran sprechen.
Doch im Lauf des Tages begann ich, weiter darüber nachzudenken. War es möglich, daß Doktor Graham nichts von dieser Wahnvorstellung wußte, daß sie sich erst kürzlich entwickelt hatte? Den Rest des Nachmittags verhielt sich Mary nämlich vollkommen normal. Sie war nervös und ermüdete rasch; sogar ein Fremder hätte erkannt, daß sie krank gewesen war. Aber es gab nicht den geringsten Hinweis auf eine ernsthafte Anomalie. Wenn ich meiner Sache nicht sicher gewesen wäre, hätte ich vielleicht angenommen, daß ich mir diesen einen erschreckenden Satz nur einbildete. Aber ich wußte, daß es sich um keine Einbildung handelte.
Das Verhalten der Willards verstärkte mein Unbehagen – sie waren allgegenwärtig. Als wir hinausgingen, um die Blumen zu bewundern, befand sich Jed in Sichtweite – er harkte, schnitt Sträucher zurück, hob Zweige auf. Als wir ins Haus zurückkehrten, empfing uns Mrs. Willard und erklärte sich bereit, mir das Haus zu zeigen. Es war logisch, daß sie den Fremdenführer spielte. Sie war seit Jahren bei der Familie, während das Haus und die Familiengeschichte Mary beinahe genauso fremd waren wie mir. Und trotzdem …
Mrs. Willard bestätigte meine Vermutung über das Alter des Hauses. Bei dieser Gelegenheit hörte ich zum erstenmal den Namen, der später für mich eine so verhängnisvolle Bedeutung bekam.
»Der Kapitän hat es wirklich schön gebaut«, sagte sie. »Später wurden eine Menge Schnitzereien weggerissen. Angeblich war es seinerzeit genauso schön wie das Hochzeitskuchenhaus in Kennebunk.«
Ich sah Marys Gesichtsausdruck und schaffte es, ernst zu bleiben.
»Ach ja«, stimmte ich zu. »Ich habe einmal ein Foto davon gesehen.«
Ich erinnerte mich daran. Niemand, der es gesehen hat, kann es jemals vergessen, auch wenn er noch so gern möchte. In meinem Lehrbuch für Kunstgeschichte ist das Kennebunkhaus als schreckliches Beispiel hemmungsloser amerikanischer Neu-Gotik abgebildet. Aber wenn Mrs. Willard es so sichtlich bewunderte, dann würde ich ihr bestimmt nicht die Freude verderben.
»Der Sohn des Kapitäns hat den meisten Schaden angerichtet«, fuhr sie fort. Sie sagte es so aufgebracht, daß es beinahe ein Schock war, als mir klar wurde, daß der Sohn des Kapitäns seit mindestens hundert Jahren tot war.
»Angeblich wollte er sogar den Turm niederreißen, aber der Baumeister wies darauf hin, daß dann vielleicht das ganze Mittelteil des Dachs einstürzen würde.«
»Es ist wirklich eine Schande, daß er solchen Schaden angerichtet hat«, stimmte ich zu. »Aber diesen Teil hat doch sicherlich nicht der Kapitän gebaut? Er muß älter sein.«
Wir standen im ersten Stock des Mittelteils und blickten von meinem Zimmer aus den Korridor entlang. Die großen Schlafzimmer lagen an diesem und an dem quer zu ihm verlaufenden Korridor. Es waren insgesamt acht Räume, und auf Grund ihrer Proportionen, der Kaminsimse und der handgedübelten Fußböden war mir klar, daß sie in einer früheren, mit mehr Schönheitssinn begabten Zeit als der Epoche des Kapitäns entstanden waren.
»Ja, das war das alte Haus«, bestätigte Mrs. Willard. »Der Kapitän kaufte es 1826, nachdem er sein Vermögen gemacht hatte, und ließ es für seine Braut umbauen. Sie war eine Barnes aus Boston und an ein schönes Haus gewöhnt.«
Zu meiner Schande hatte ich nie von den Barnes aus Boston gehört, schloß aber aus Mrs. Willards Ton, daß sie zu den alteingesessenen Familien gehörten. Ich nickte also beeindruckt. Mein Interesse ermutigte Mrs. Willard, und sie fuhr mit ihrem Vortrag fort.
»Er richtete diese Zimmer viel schöner ein, als sie jetzt sind. Im großen Schlafzimmer, in dem jetzt Ran und Mary schlafen, gab es ein schönes, großes geschnitztes Kaminsims. Das wurde 1930 entfernt, als der alte Mr. Max eine Menge umgestaltete.«
Ich konnte mir die Kaminverkleidung vorstellen, die der alte Mr. Max entfernen ließ, so daß das schöne alte Kaminsims mit den Basreliefs und der Verblendung aus französischen Fliesen wieder zum Vorschein kam. Es war klar, daß das Haus seinen jetzigen Charme dem alten Mr. Max verdankte. Er hatte viele der viktorianischen ›Verschönerungen‹ entfernt und die alten Möbel vom Dachboden heruntergeholt, wohin seine Vorfahren sie verbannt hatten.
»Er muß eine starke Persönlichkeit gewesen sein«, stellte ich fest.
Mary nickte.
»Er war Rans Großvater; Ran erinnert sich noch gut an ihn. Ich habe gewußt, daß dir das Haus gefallen wird, Jo; bei mir war es Liebe auf den ersten Blick.«
»Ich habe gar nicht gewußt, daß Ran ein solches Haus besitzt.«
»Es gehört ihm erst seit kurzem. Seine Großtanten haben hier gelebt, und die letzte ist im März gestorben. Es gab einen dummen Familienstreit, weil Rans Mutter zum zweitenmal geheiratet hat und die Tanten nicht damit einverstanden waren. Nachdem Ran und seine Mutter das Haus verlassen hatten, nahm Ran an, daß er es niemals Wiedersehen würde. Aber die alte Dame bereute auf dem Totenbett, daß sie so hart gewesen war, und hinterließ ihm das Haus sozusagen als Wiedergutmachung.«
»Es war auch höchste Zeit«, warf Mrs. Willard ein. »So ein Unsinn … Wir kommen jetzt in den Flügel, den der Kapitän anbauen ließ. Wir benützen ihn nicht, aber alle sechs Monate, wenn meine Nichte herauf kommt, mache ich dort gründlich sauber.«
Mary wurde allmählich müde. Mrs. Willard bemerkte es und schleppte uns im Laufschritt durch die nächsten acht Zimmer, die sich im ›neuen‹ Flügel des Kapitäns befanden. Ich erinnere mich kaum an sie – ich weiß nur noch, daß die Räume düster wirkten, weil die Vorhänge zugezogen waren; die meisten Möbel steckten unter Schutzbezügen.
Etwas wollte ich allerdings unbedingt sehen, und als Mrs. Willard sagte, sie müsse jetzt hinuntergehen und das Abendessen kochen, protestierte ich. »Wir haben den Turm noch nicht besichtigt. Ich habe eine Schwäche für Türme.«
»Es wird für Mary zuviel«, widersprach Mrs. Willard. »Die vielen Treppen.«
»Ich werde mich eine halbe Stunde hinlegen«, gab Mary zu. »Du sieh dich ruhig weiter um, Jo. Ich weiß, daß du eine Forschernatur bist. Du wirst dich schon nicht verirren.«
Ich verirrte mich tatsächlich nicht und hätte jederzeit zurückgefunden, aber ab und zu wäre es mir schwergefallen, genau zu erklären, wo ich mich befand. Das Gebäude erinnerte an einen Dachsbau.
Noch ein Element war daran schuld, daß ich diese Stunde nie vergessen werde. Ich hatte das Gefühl, daß ich durch einen Spiegel in eine andere Dimension oder eine andere Zeit getreten war; als würden zwei Häuser gleichzeitig an der gleichen Stelle existieren, wären aber durch einen unbeschreiblichen Abgrund voneinander getrennt. Die Zimmer im Erdgeschoß waren entzückend, bezaubernd, warm – bewohnbare Räume, in denen wirkliche Menschen sprachen, aßen und schliefen und normalen, realen Tätigkeiten nachgingen. Die Räume im Obergeschoß waren durch mehr als nur eine Treppenflucht von ihnen getrennt. Oben konnte man sich nur schwer vorstellen, daß es im weiten Umkreis Leben gab.
Im zweiten Stock fand ich einen Ballsaal – es war der größte, staubigste, hallendste Raum, den ich je gesehen hatte. Nicht einmal meine blühende Fantasie konnte die Leere mit lachenden Gästen, Musik oder tanzenden Paaren füllen. Auch die übrigen Räume in diesem Stockwerk waren groß, aber nicht so elegant wie die Zimmer im Erdgeschoß. Wahrscheinlich dienten sie als zusätzliche Gästezimmer, die nur bei großen Parties benützt wurden. Doch eine Suite war anders. Die war sichtlich für Kinder bestimmt – Tageszimmer, Schlafzimmer und das Zimmer der Gouvernante oder des Kindermädchens. In diesem Stockwerk gab es nur noch sehr wenige Möbel, aber auf der verblaßten Tapete eines Zimmers tummelten sich Kaninchen und Enten, und die mitgenommenen Fußböden und Wände waren ein Hinweis auf Generationen von stampfenden Füßen, aufprallenden Bällen und mit Buntstiften angefertigten Wandgemälden.
Der Anblick dieser Räume stimmte mich ein wenig melancholisch, und während ich auf der Suche nach der Treppe zum Turm weiterging, dachte ich an die Kinder, die im Lauf der Jahre in diesem Haus gelebt hatten. Eines von ihnen war Ran gewesen, aber er war bestimmt nicht in diesen trostlosen Räumen aufgewachsen. Die Kinder hatten früher kein leichtes Leben gehabt. Man sollte sie sehen, aber nicht hören, und in den oberen Gesellschaftsschichten sorgten die Eltern sehr gründlich dafür, daß man die kleinen Lieblinge nicht öfter sah, als absolut notwendig. Sie lebten im Dienertrakt, schliefen, spielten und aßen allein. Cracker und Kakao, und das Kindermädchen beaufsichtigte sie dabei; Mutter und Vater speisten später und prunkvoller. Es klingt wunderbar – wenn man es liest. Vielleicht war es das tatsächlich. Vielleicht waren die Kinder tatsächlich außerhalb der Welt der Erwachsenen mit ihren unverständlichen Anforderungen und strengen Gesetzen glücklicher. Aber die Berichte darüber sind nicht von Kindern, sondern von Erwachsenen geschrieben worden, die sich einreden, daß die Kindheit eine glückliche Zeit ist, und dabei die Einsamkeit, die Unsicherheit und die Angst vergessen.
Der dritte Stock war noch trübseliger als der zweite. Hier befanden sich die Zimmer der Dienerschaft und die großen Dachböden. Die graubraunen Wände hatte man einmal cremefarben gestrichen. Jetzt waren sie fleckig, und die Fußbodenbretter, in deren Staub ich meine Fußabdrücke hinterließ, knarrten. Das Licht funktionierte, aber viele Birnen waren ausgebrannt und nie ersetzt worden. Hier, wo die unteren Klassen lebten, waren die Glühbirnen nackt und ohne Lampenschirme. Ihr Licht war häßlich, sowohl grell als auch unzulänglich, denn es gab große, nicht ausgeleuchtete Flächen. Der lange, schmale, schmucklose Korridor mit den geschlossenen Türen war scheußlich. Was sich wohl hinter diesen Türen verbarg?
Als ich endlich eine enge Treppe fand, die vom dritten Stock nach oben führte, stellte ich fest, daß sie nicht im Turm, sondern in der Kuppel mündete. Ich hatte beinahe vergessen, daß es die Kuppel gab, und kletterte die Treppe mit neu erwachtem Interesse hinauf. Die Stufen waren schmal und steil, aber in Ordnung, und ich landete in einem seltsamen Raum.
Er war klein, etwa zehn Quadratmeter groß, und bis auf den allgegenwärtigen Staub vollkommen leer. Alle vier Wände bestanden aus dickem Glas.
Draußen war nicht viel zu sehen, nur die große, dunkle Masse der Bäume. Im Westen tauchte die untergehende Sonne den Himmel in leuchtende Farben, aber am Himmel über mir standen bereits Sterne. Der Mond war noch nicht aufgegangen. Ich nahm mir vor, bei Tag wieder heraufzukommen. Die Kuppel erhob sich über den Bäumen wie ein Leuchtturm über dem Wasser; bei Tag mußte die Aussicht atemberaubend sein. Möglicherweise konnte man die ganze Insel überblicken, oder den Ozean sehen. Ob wohl die Frau des Kapitäns hier gestanden und nach den Segeln seines Schiffes Ausschau gehalten hatte, wollte meine romantische Fantasie wissen. Die Reisen dauerten damals ein Jahr oder länger, und die zurückgebliebenen Frauen waren sehr einsam. Manchmal wartete die Frau vergebens, weil das Schiff in den stürmischen Wellen des Ozeans gesunken war und niemand überlebt hatte.
Ganz schön morbide Gedanken … ich wollte noch einmal versuchen, den Turm zu finden, und dann die erste Treppe hinuntergehen, auf die ich stieß. Mary fragte sich bestimmt schon, wo ich blieb.
Ich öffnete auf gut Glück eine Tür und stand vor einer Treppe, die ich noch nicht gesehen hatte. Auf jedem Treppenabsatz gab es ein Fenster; auf den Treppenabsatz unter mir fiel ein schwacher Lichtschein von außen. Aber von oben drang kein Licht herunter, und als ich hinaufschaute, sah ich nur eine solide Decke. Die Treppe ging nicht weiter.
Der Mond war aufgegangen, aber er spendete nicht so viel Licht, daß ich mich auf die Treppe wagen konnte und wollte zurückgehen. In diesem Augenblick berührte meine Hand an der Wand ein vertrautes Gebilde – einen Lichtschalter. Ich drückte ihn, und das Licht flammte auf. Dann erblickte ich die Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Treppenabsatzes und begriff, daß ich den Turm gefunden hatte.
Zuerst glaubte ich, daß die Tür versperrt sei, doch als ich mit der Schulter dagegen drückte, ging sie knarrend auf. Ein Strom warmer, schaler Luft schlug mir entgegen, als wäre der Raum luftdicht abgeschlossen gewesen.
Das erste, was ich sah, war das Gitter vor dem Fenster.
Die Gitterstäbe hoben sich schwarz und hart von dem blaßsilbernen Mondlicht ab und warfen lange Schatten über den Boden. Die Wirkung war so erschreckend, daß ich einen Schritt zurücktrat. Doch dann riß ich mich zusammen. Zweifellos war es einmal ein Kinderzimmer gewesen, denn die Fenster in der Kindersuite waren ebenfalls vergittert. Der Sturz hinunter auf den Erdboden war gefährlich.
Im Gegensatz zu den anderen Zimmern gab es hier einige Einrichtungsgegenstände. Mein Blick fiel auf etwas, das meine Theorie vom Kinderzimmer bestätigte: ein Schaukelpferd. Es war das größte Schaukelpferd, das ich je zu Gesicht bekommen hatte; ich hätte selbst darauf reiten können. In der Dunkelheit wirkte es beinahe gespenstisch – und wahrscheinlich auch größer.
Mehr konnte ich nicht sehen, weil der Raum keine Beleuchtung besaß. Ich tastete die Wand neben der Tür ab, aber ich fand keinen Schalter. Sobald sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte ich noch einige Einzelheiten – der Tür gegenüber einen Kamin und rechts von mir ein seltsames Gebilde an der Wand. Ich hatte mich gewundert, daß die Treppe im dritten Stock endete, während der Turm mindestens ein Stockwerk höher war. Das Gebilde rechts von mir war eine eiserne Wendeltreppe, wie man sie manchmal in alten Bibliotheken findet. So gelangte man also zur Spitze des Turms – da hatte jemand großen Wert darauf gelegt, ungestört zu bleiben. Aber ausgerechnet in einem Kinderzimmer! Ich hatte Erfahrung mit Wendeltreppen und wußte, daß man auf ihnen sehr leicht ausgleitet. Die kräftigen Eisenknöpfe auf dem Geländer waren ein zusätzliches Gefahrenelement, wenn jemand den Halt verlor.
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