Die total normalen Abenteuer von Odette Germaine - Franziska Lagemann - E-Book

Die total normalen Abenteuer von Odette Germaine E-Book

Franziska Lagemann

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Odette Germaine kann Tote zum Leben erwecken – und tut das auch. Als Kind hat die zwölfjährige Odette eine magische Rassel von ihrer etwas zu experimentierfreudigen Urgroßmutter Eloise bekommen. Seitdem hat Odette nekromantische Fähigkeiten und kann Tote zum Leben erwecken und kontrollieren. Deshalb verbringt sie ihre Zeit am liebsten zusammen mit ihren toten Freunden auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise. An Halloween plant sie eine große Party für alle. Blöd nur, dass sie nicht die einzige Nekromantin dort ist. Auch die Dunkle Bruderschaft macht sich auf dem Friedhof breit und plant – ausgerechnet an Halloween – die Weltherrschaft zu übernehmen. Das kann Odette nicht zulassen. Sie setzt alles daran, den Friedhof zu verteidigen und ihre Party zu feiern. Halloween auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise – es lebe die Fantasie! - Die eigensinnige Odette lässt sich von nichts und niemandem beeindrucken oder gar von Erwachsenen etwas vorschreiben – in der Tradition von Pippi Langstrumpf und der roten Zora. - Spannung, Spaß und Gruseln sind garantiert. Die Gänsehaut gibt's gratis dazu. - Geballte Mädchenpower macht dich stark und beschert dir das Lesevergnügendeines Lebens. - Ein fantastisches Abenteuer zum Schmökern, Schaudern und Kichern. - Franziska Lagemann geht mit ihrer Gruselgeschichte für Kinder ab 10 Jahren das schwierige Thema Tod von einer ungewöhnlichen Seite an.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Über dieses Buch

Als Kind hat Odette Germaine eine magische Rassel von ihrer etwas zu experimentierfreudigen Urgroßmutter Eloise bekommen. Seitdem hat Odette nekromantische Fähigkeiten und kann Tote zum Leben erwecken. Deshalb verbringt sie ihre Zeit am liebsten mit ihren toten Freunden auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise. An Halloween plant sie eine große Party für alle! Blöd nur, dass die Dunkle Bruderschaft der Nekromanten auftaucht und vom Friedhof aus die Weltherrschaft übernehmen will. Das kann Odette nicht zulassen. Sie setzt alles daran, den Friedhof zu verteidigen und ihre Party zu feiern!

 

Fantastisch und wunderbar skurril: Odettes untote Abenteuer in Paris

 

 

 

Für alle Menschen, die auf vollen Straßen nicht einfach mitten im Weg stehen bleiben – die wahren Helden unserer Gesellschaft.

Liebt man das Giftmischen zu sehr, vermisst einen schnell keiner mehr

Als Odettes Urgroßmutter Eloise im Sterben lag, war ihre gesamte Nachkommenschaft vor allem eines: erleichtert.

Die Alte hatte die Hälfte ihrer eigenen Kinder überlebt, und Odette, mit damals zwei Jahren, war die Tochter ihrer jüngsten Enkelin Elaine, während andere ihrer Urenkel selbst schon erwachsen und drauf und dran waren, ihre eigenen Familien zu gründen.

Alle waren sich also einig – es war absolut an der Zeit, dass Urgroßmutter Eloise den Löffel abgab.

Fünfzehn Jahre zuvor hatte einer ihrer Enkel sie regungslos am Fuß einer hohen Leiter gefunden und den Fehler gemacht, sofort einen Krankenwagen zu rufen, anstatt ein paar Minuten abzuwarten, bis es zu spät gewesen wäre, sie zu retten. Seitdem schien so etwas wie ein Fluch auf Urgroßmutter Eloise zu liegen: Egal, was mit ihr passierte, sie stand danach immer auf und lebte glücklicher weiter als je zuvor.

Es war ein Fluch für ihre Nachkommen, versteht sich. Sie selbst schien daran nichts auszusetzen zu haben.

Nach dem Fall von der Leiter kamen drei Autounfälle, zwei heruntergefallene Blumentöpfe und ein tollwütiges Wildschwein; aber kaum ins Krankenhaus eingeliefert, wirkte Urgroßmutter Eloise schon wieder so munter, dass man es nicht einmal infrage stellte, ob es sich wirklich lohnte, einer Hundertjährigen noch die dritte neue Hüfte einzusetzen.

Nebst ihrer wirklich unheimlichen Lebenskraft fühlte sich die Familie dazu sehr von ihrer berüchtigten Experimentierfreudigkeit und ihrem stetig wachsenden Kräutergarten bedroht. In manchen Jahren traute sich nur ein Bruchteil der Verwandtschaft überhaupt in das große Landhaus, das sie mit ihren jüngsten Kindern (allesamt schon in Rente) bewohnte, aus Angst vor den Gerichten und Menüs, die sie ihnen vorsetzen würde.

Urgroßmutter Eloise war zeitlebens eine begnadete Köchin gewesen, doch mit dem Anwachsen des Kräutergartens und mehr und mehr Ausflügen in den Wald, um Pilze, Beeren, Wurzeln und, den Familiengerüchten nach, auch den einen oder anderen Wurm zu sammeln, schmeckten ihre Kreationen immer verdächtiger.

Und auch die Nachwirkungen wurden immer verdächtiger – in dem Jahr, als Odettes Mutter Elaine frisch mit Odettes Vater, Maurice, verheiratet war und sie zusammen aufs Land fuhren, um mit der Familie Weihnachten zu feiern, lag am Tag danach ausnahmslos jeder mit starken Magenschmerzen im Bett und schwor, dass winzige Sternschnuppen durch die Zimmer flogen.

Nur wenig später stand Odettes Großvater, jüngster Sohn von Urgroßmutter Eloise, groß in allen lokalen Zeitungen als Der Mann, der sich für eine Buchecker hielt, weil er nach dem Genuss von Urgroßmutters neuestem Fischsuppenrezept auf eine Buche geklettert war und sich weigerte, vor dem Herbst herunterzukommen. So harrte er mehrere Wochen aus, seltsamerweise ohne dass man ihn je hätte essen oder trinken gesehen, und segelte dann leicht und sanft wie ein Papierflieger mit den ersten fallenden Blättern auf den Boden. Danach ging er nach Hause und tat so, als wäre er nie fort gewesen.

Je älter Urgroßmutter Eloise wurde, desto mehr Energie schien sie in ihre beiden Königsdisziplinen zu stecken: am Leben bleiben und Leute vergiften. Und je älter sie wurde, desto dringlicher betete manch einer ihrer Nachkommen heimlich für ihr baldiges Ableben.

Auch an der kleinen Odette hatte sie schon ihre Experimente getrieben und sie mit schleimig grünem Babybrei gefüttert, wenn ihre Mutter nur für einen Moment in die andere Richtung sah. Dementsprechend waren auch Odettes Eltern sehr, sehr erleichtert, dass die alte Giftspritze (wie sie in Abwesenheit zu dem Zeitpunkt schon seit einigen Jahren genannt wurde) endlich ihre Lebensenergie verlor, bevor sie ihre Urenkelin mit ihren dubiosen Rezepten womöglich ganz umbringen konnte. Für eine Zweijährige war Odette immer noch winzig und sah nahezu unterernährt aus, obwohl es ihr bei ihren Eltern an nichts mangelte. Und das konnte eindeutig nur an ihrer Urgroßmutter und deren Tees, Tränken und Breis liegen.

Um sich davon zu überzeugen, dass es mit Urgroßmutter Eloise tatsächlich zu Ende ging, war fast die gesamte Sippe hinaus aufs Land gekommen – mehr, als sich bei irgendeiner anderen Gelegenheit dort je versammelt hatten.

Da das Sterbezimmer von Urgroßmutter Eloise nur wenig Platz bot, einigten sie sich, ihr grüppchenweise im Viertelstundentakt beim Sterben zuzusehen.

So lag die alte Frau also in ihrem Bett und versuchte mit schwächer werdender Stimme, all ihre letzten Worte für ihre zahlreichen Nachkommen loszuwerden.

»Julie … Julie, nicht wahr? Dich konnte ich noch nie leiden, hör endlich auf, beim Essen so zu schmatzen!« und »Jean der Dritte, nenn deine eignen Gören später bloß nicht auch noch Jean, so toll ist der Name wirklich nicht. Mir ist bei deinem Großvater bloß gerade nichts Besseres eingefallen nach der Geburt damals« und »Elaine, wenigstens hast du ja einen erfolgreichen Mann, denn du solltest dir dringend eine andere Karriere besorgen«.

Und dann schließlich: »Aaah, die kleine Odette. Die Einzige, aus der hier noch was werden kann. Gebt sie mir her, das kleine Ding.«

Odette hockte oben auf der Kommode, damit ihre Mutter sie nicht tragen musste und sie trotzdem ihre Urgroßmutter anschauen konnte. Sie brabbelte missmutig vor sich hin, weil es ihr da oben nicht gefiel, und quietschte dennoch protestierend, als man sie herunterhob und der Alten in die zittrigen Arme drückte.

»Lass mich!«, rief sie böse und strampelte mit den dünnen Ärmchen, bevor sie etwas härter als geplant auf dem Bett landete.

Urgroßmutter Eloise zog sie mit erstaunlicher Kraft an sich, bis sie ihr Gesicht in die Haare des kleinen Mädchens drücken konnte.

»Ich habe etwas sehr Wichtiges für dich, kleine Odette«, wisperte sie. »Aber du musst ganz leise sein, sonst bekommst du es nicht.«

»Jaah, jaah«, sagte Odette und patschte unruhig mit den Händen auf die Bettdecke. Die alte Frau roch komisch, und sie mochte es nicht, so nah an sie gepresst zu werden. Da wollte sie lieber wieder auf die Kommode zurück.

»Und du musst es mir bald wiederbringen und sagen, wie es dir gefällt«, wisperte ihre Urgroßmutter weiter.

»Jaah, jaah«, sagte Odette wieder und beobachtete neugierig, wie die bleichen Finger ihrer Urgroßmutter sich unter das dicke Kissen schoben.

»Wenn es ganz, ganz still ist«, fuhr Urgroßmutter Eloise fort, »und du nichts mehr hörst hier drinnen, dann kommst du wieder. Ich werde selber ganz still daliegen, und du musst mir das Teil direkt in die Hand geben. Kapiert?«

»Jaah, jaah«, sagte Odette ein letztes Mal, aber sie hatte eigentlich nur noch Augen für die alte Rassel, die ihre Urgroßmutter ihr hinhielt. Sie war aus Holz und voll mit seltsamen, verschnörkelten Mustern – komischen Sternen und Totenköpfen und vagen Gestalten. Schrift war auch drauf, aber das konnte Odette mit zwei Jahren natürlich noch nicht erkennen.

Sie schloss ihre Fingerchen fest um den Griff ihres neuen Spielzeugs und rasselte vergnügt vor sich hin, während ihre Mutter sie hastig wieder vom Bett holte und Urgroßmutter Eloise sehr zufrieden und mit einem Hauch von Verschlagenheit lächelte.

Dann steckte Odettes Tante Tiphaine den Kopf zur Tür herein und erinnerte sie daran, dass ihre fünfzehn Minuten um waren und sie bitte schön die nächste Gruppe hereinlassen sollten. Also verließen sie Urgroßmutter Eloise wieder, um im großen Wohnzimmer weiter zu warten.

Zweimal noch wechselte die Gruppe im Schlafzimmer, dann kam irgendeiner von Odettes Großcousins und verkündete, dass es endlich vorbei sei. Der Arzt wurde ins Zimmer gerufen und stellte fachgerecht den Tod von Urgroßmutter Eloise fest, unterschrieb ihnen einen Totenschein und verabschiedete sich mit ein paar einfachen Beileidsbekundungen.

Nur ein paar Verwandte schnieften ein bisschen über Urgroßmutters Tod oder taten zumindest so, damit der Arzt sich nicht wunderte. Odettes Tante Tiphaine war zum Beispiel sehr gut darin, weil sie als Opernsängerin sowieso ständig auf der Bühne weinen musste. Ihre Schwester Elaine hingegen, Odettes Mutter, vergrub das Gesicht in den Händen und versuchte erfolglos, ihr erleichtertes Gelächter zu unterdrücken. Odette selbst war noch zu jung, um irgendetwas zu verstehen, also störte sich niemand daran, dass sie weiter vergnügt mit ihrer Rassel spielte.

Kaum war der Arzt weg, ging ein erleichtertes Seufzen durch die Reihen der Kinder, Enkelkinder und Urenkelkinder der frisch Verstorbenen.

»Wir müssen uns allerdings erst mal selbst überzeugen, ob es stimmt«, bemerkte Tante Tiphaine weise. »Vielleicht hat die Alte auch nur lang genug den Atem angehalten, um uns alle hinters Licht zu führen.«

Zustimmendes Murmeln erfüllte den Raum, und die Verwandten standen fast alle gleichzeitig auf, um ein letztes Mal den Weg zum Schlafzimmer anzutreten. Weil Odettes Vater gerade vergeblich versuchte, seiner Tochter die geschenkte neue Rassel wegzunehmen, und Odettes Mutter bei dem Anblick zunehmend Schwierigkeiten hatte, ihr Lachen zurückzuhalten, verpassten sie den großen Ansturm auf das Totenzimmer und mussten bis zum Schluss warten, als die Neugier der anderen Verwandten gestillt war.

Als die junge Familie endlich an der Reihe war, lag Urgroßmutter Eloise natürlich immer noch starr und blass auf ihren Kissen. Jemand hatte ihr die Augen zugemacht.

»Hat die Leichenstarre schon eingesetzt?«, flüsterte Odettes Mutter fasziniert, und Odettes Vater hob versuchsweise den Arm der Alten an.

»Sieht nicht so aus. Aber sie ist ganz kalt«, verkündete er dann, bevor sie beide in Schweigen verfielen und andächtig die Leiche vor sich betrachteten.

Odette bekam wenig von ihrem kurzen Austausch mit, aber sie erinnerte sich plötzlich ganz vage an die Worte ihrer Urgroßmutter und dass sie die Rassel zurückwollte. Da sie inzwischen ohnehin schon etwas gelangweilt von ihrem seltsamen Spielzeug war, kam ihr das gerade sehr gelegen.

Ihre Eltern, immer noch versunken in den Anblick vor sich, merkten erst, was Odette vorhatte, als sie bereits auf das Bett geklettert war.

»Jetzt ist still«, brabbelte Odette nachdenklich und drückte ihre langweilige Rassel in die kalte, schlaffe Hand von Urgroßmutter Eloise. »Aufwachen!«

Und dann geschah etwas, wovor sich wahrscheinlich jeder einzelne Mensch im Haus bis auf Odette am meisten gefürchtet hatte: Urgroßmutter Eloise schlug die Augen auf.

Odettes Mutter entfuhr ein spitzer Schrei, als ihre Großmutter sich plötzlich aufrichtete und einen Blick auf den großen Wecker auf dem Nachttisch warf.

»Das hat ja wie am Schnürchen geklappt und schneller als gedacht noch dazu«, verkündete die Alte zufrieden. »Vielen Dank auch, kleine Odette.«

»Bitte!«, krähte Odette, ohne ihre verstörten Eltern zu beachten. Sie fand es kein bisschen seltsam, dass ihre tote Urgroßmutter mit ihr sprach.

»Wie … wie kann das sein?«, flüsterte Odettes Vater verwirrt.

»Altes Familienrezept«, erklärte Urgroßmutter Eloise und schwang sich mit so viel Energie aus dem Bett, als wäre sie nur noch halb so alt wie vorher. »Bei Odette scheint es endlich mal geklappt zu haben. Ich wette, damit habt ihr noch viel Freude!«

Sie kicherte, während sie ihren Mantel vom Haken am Schrank nahm und über das Nachthemd zog. Dann drehte sie sich um und drückte Odette die Rassel wieder in die Hand.

»Geh vernünftig damit um, ja?«, meinte die Alte dazu. »Wir wollen ja nicht, dass uns irgendwann Napoleon in den Garten spaziert und sein Unwesen treibt.«

Urgroßmutter Eloise marschierte an Odettes geschockten Eltern vorbei geradewegs auf die Tür zu.

»Elaine. Maurice«, verabschiedete sie sich kühl. »Wir sehen uns wahrscheinlich nicht mehr, wenn ich es vermeiden kann.«

»Wo willst du hin?«, stammelte Odettes Mutter.

Die Alte zuckte mit den Schultern. »Was weiß ich«, sagte sie, »ist ja nicht so, als müsste ich mich noch um irgendwas kümmern. Ich bin ja jetzt eine Tote.«

»Lebende Tote«, ergänzte Odette hilfreich, der alles einen unglaublichen Spaß zu machen schien wie nur wenig in ihrem jungen Leben. Die alte Frau roch auch gar nicht mehr so komisch wie vorher.

Ihre Eltern sahen mit offenen Mündern dabei zu, wie Urgroßmutter Eloise aus dem Zimmer spazierte, nur in ihrem Nachthemd und Mantel. Odette rasselte begeistert.

»Tot, lebendig, tot, lebendig, lebendig, tot«, sang sie dabei vor sich hin.

Ihre Eltern schafften es, ihren Schock nach und nach zu überwinden, und wandten sich endlich zurück zu ihr.

»Ich glaube, wir haben ein Problem«, stellte Maurice fest und sah seine kleine Tochter kopfschüttelnd an.

»Na ja, das wird schon«, meinte Elaine zuversichtlich. »Ich mache mir viel mehr Sorgen, was wir den anderen erzählen sollen.«

»Nichts, nichts, nichts«, sang Odette, und ihre Eltern legten gleichzeitig den Kopf schief, sahen sich an und nickten.

Dann schnappte sich Maurice seine Tochter, und sie schlichen so unauffällig wie möglich zurück ins Wohnzimmer.

Zwar konnte Elaine ihre wahren Gefühle noch immer nicht gut überspielen, als irgendein Großcousin hereingestürmt kam, um ihnen vom mysteriösen Verschwinden der Leiche zu berichten, aber in der allgemeinen Hektik ging das glücklicherweise unter.

»Eigentlich will ich gar nicht wissen, wo sie wieder steckt«, bemerkte Odettes Großvater.

»Sie soll uns nicht auch noch im Tod das Leben schwer machen«, meinte Tante Tiphaine bestimmt.

Sie einigten sich, die verschwundene Leiche einem unliebsamen Cousin in die Schuhe zu schieben, der direkt nach dem Abschied des Arztes verschwunden war und sich deshalb a) gut als Sündenbock eignete und b) nicht mehr wehren konnte.

Die komplette Sippe erzählte der Polizei von ihrem Verdacht, der Cousin wurde für zwei Wochen eingesperrt, und während sie ihren Plan so ausheckten und durchführten, stellte die Großfamilie fest, dass sie eigentlich nie viel gemeinsam gehabt hatte außer ihrer Abneigung gegen Urgroßmutter Eloise.

Und so trennten sich die Wege der zahlreichen wie erleichterten Nachkommen von Urgroßmutter Eloise auf sehr schnelle und saubere Weise.

Odettes Eltern beschwerten sich bestimmt am wenigsten darüber, den Kontakt mit ihnen zu verlieren, denn sie hatten gerade erst entdeckt, dass ihr Kind über ein paar höchst kuriose Fähigkeiten verfügte, die sie nicht unbedingt an die große Glocke hängen wollten.

Die kleine Odette hatte die Vorfälle vergessen, noch bevor sie ins Auto zurück nach Paris gestiegen waren. Aber ihre Fähigkeiten, die blieben.

Kleine Mädchen stören sehr, sie kaufen dir den Laden leer

Der junge Verkäufer an der Kasse war vor allem froh, eine Anstellung gefunden zu haben, nachdem er sehr unrühmlich sein Studium abgebrochen hatte. Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, in diesem kleinen, versteckten Dekoladen mit seltsamen Kunden arbeiten zu müssen. Das hatte eindeutig nicht zu der Jobbeschreibung gehört.

»Willst du das wirklich alles kaufen?«, fragte der junge Mann mit hochgezogenen Augenbrauen und musterte den vollen Einkaufswagen vor sich. Sie hatten keine Einkaufswagen im Laden. Dafür war er viel zu klein. Das Mädchen, das ihn unter ein paar schräg geschnittenen Locken wütend anfunkelte, obwohl sie nur auf Zehenspitzen den Verkaufstresen überblicken konnte, musste ihn selbst mitgebracht haben.

»Warum nicht?«, entgegnete sie aggressiv, als hätte er sie gerade aufs Tiefste beleidigt. »Ich hab Geld.«

»Wir sind aber kein Ein-Euro-Laden, kleine Mademoiselle«, erklärte er. Obwohl sie ihm höchstens bis zur Hüfte gehen konnte, hatte er keine Lust, sie noch wütender zu machen, als sie das aus irgendeinem Grund schon war. Wenn ihre funkelnden braunen Augen auch nur ansatzweise wiedergaben, was in ihrem Kopf vor sich ging, musste er wohl um sein Leben fürchten.

»Ich hab Geld«, beharrte das kleine Mädchen. »Aber Zeit habe ich nicht, also dalli, dalli!«

Sie wandte ihren bösen Blick nicht von ihm ab, und langsam kam der junge Verkäufer tatsächlich ins Schwitzen. Das war doch verrückt, dass er sich von einer kleinen Zehnjährigen so aus der Ruhe bringen ließ! Er hatte schon ganz andere Kunden gemeistert.

Um sich etwas Zeit zu verschaffen, sah er sich in dem kleinen Laden um. In den Regalen und Auslagen gähnten ihm riesige Löcher entgegen, wo das kleine Mädchen teilweise den gesamten Bestand der Dekoartikel in ihren mitgebrachten Einkaufswagen gepackt hatte. Die Plastikskelette waren alle weg, genauso wie die Geistergirlanden und die Kürbislaternen aus Keramik. Wenn es das kleine Mädchen mit ihrem Einkauf ernst meinte, würde er dringend ins Lager gehen und mehr davon besorgen müssen. Auch wenn er wirklich bezweifelte, dass sie für alles bezahlen konnte.

Ihre Klamotten sahen aus, als hätte das Mädchen seit drei Wochen nichts anderes getragen. Ihre Jacke war ihr viel zu groß, ihre dunklen Haare waren unsauber geschnitten und standen in alle Richtungen ab. Er bildete sich nicht ein, dass kleine Mädchen mit Geschmack und einem Sinn für Mode auf die Welt kamen und ab dem zweiten Lebensjahr in schicken Kleidchen durch die Gegend zu rennen hatten, nicht einmal hier in Paris, aber das Mädchen sah wirklich so aus, als hätte es kaum genug Geld, um sich zu ernähren. Ganz sicher konnte sie sich keinen Einkaufswagen voll mit qualitativ hochwertigen Halloween-Dekorationen leisten.

Nur musste er ihr das irgendwie beibringen.

»Hör zu …«, begann er gedehnt, während er noch nach Worten fischte, die möglichst beschwichtigend klangen. Doch er wurde jäh unterbrochen, als ihre Hand hochfuhr und eine funkelnde goldene Kreditkarte auf den Verkaufstresen zwischen ihnen knallte.

»Jetzt aber Beeilung, bitte!«, sagte sie entschlossen dazu, aber er konnte die Kreditkarte nur mit offenem Mund anstarren. Kleine Mädchen besaßen so etwas doch nicht. Sie wussten doch kaum, wie man mit Bargeld umging!

Odette Germaine, las er. Gültig bis zum nächsten September.

Wenn das Mädchen vor dem Laden auf der Straße gesessen hätte, hätte er ihr wahrscheinlich ein paar mitleidige Münzen hingeworfen, aber sie besaß eine goldene Kreditkarte wie ein verwöhntes, reiches Balg.

Sie sah ihn starren und holte seufzend ein zweites Objekt heraus – ein Kinderpass mit ihrem Foto, der grimmige Blick unverkennbar derselbe.

Fast hoffte er, dass die Namen nicht übereinstimmten, aber tatsächlich, ihr grimmiges Passbild und der Name auf der Kreditkarte passten zusammen: Odette Germaine.

»Zufrieden?«, fragte sie ungehalten, und er lugte unauffällig auf ihr Geburtsdatum, bevor sie den Pass wieder wegzog. Zwölf Jahre und eine goldene Kreditkarte! »Kannst du jetzt endlich mal was tun? In dem Tempo macht der Friedhof zu, bevor du fertig bist!«

Der Friedhof?, dachte der Verkäufer verwirrt. Was wollte sie bitte schön auf dem Friedhof? Er traute sich allerdings nicht, nachzufragen.

»Okay, okay!«, rief er schnell. Von den paar Leuten, die noch im Laden waren, warfen ihm die ersten skeptische Blicke zu. »Gib mir schon alles her.«

Ohne ein weiteres Wort an ihn zu verschwenden, begann das Mädchen, den Inhalt ihres Wagens auf den Verkaufstresen zu türmen, die ganzen Skelette und Girlanden und Kürbisse und Laternen. Er las die Barcodes in den Scanner ein und beobachtete nervös, wie der Gesamtpreis immer weiter in die Höhe stieg. Eigentlich sollte er sich ja freuen, dass sein Laden guten Umsatz machte, aber wenn nur eine Kleinigkeit schiefging …

Als Letztes knallte sie ihm eines der wenigen Kostüme hin, die sie um Halloween im Angebot hatten, ein Pirat für Erwachsene.

»Das ist, glaube ich, ein bisschen groß für dich«, wagte der Verkäufer lahm zu scherzen, in der Hoffnung, dass sich das Mädchen vielleicht endlich einmal zu einem Lächeln bewegen ließ.

»Warum soll es denn bitte schön für mich sein?«, fauchte sie nur zurück und räumte alles mit viel Schwung in den Wagen, dass es nur so hineinpurzelte. Als er ihr den Preis nannte, zuckte sie nicht einmal mit der Wimper und ließ ihn die Kreditkarte einlesen. Vor Aufregung, ob es denn auch wirklich funktionieren würde, traten ihm Schweißperlen auf die Stirn. Es war das einzige Mal, dass er das Mädchen lächeln sah, obwohl es lächeln nicht ganz traf. Böse grinsen passte besser, und es war nicht annähernd so beruhigend, wie er sich das vorgestellt hatte. Zu seinem großen Glück stimmte jedoch alles mit der Kreditkarte, und die Kasse erlöste ihn endlich mit ihrem Piepen.

Das Mädchen riss ihm die Kreditkarte aus der Hand und schob den Einkaufswagen mit viel Schwung aus dem Laden. Ohne zurückzublicken, sich zu verabschieden oder gar zu bedanken, stellte sie sich draußen sofort auf die Hinterachse des Einkaufswagens und begann, sich abzustoßen. Sie sauste die Straße hinunter, weg von dem kleinen Dekoladen. Der Verkäufer sah ihr hinterher und schüttelte ungläubig den Kopf. Das musste wohl die seltsamste Kundin sein, die ihm jemals untergekommen war. Da sollte mal einer sagen, im Verkauf erlebte man nichts.

Mit einem vollen Einkaufswagen kann man jede Abfahrt wagen

Odette stand hinten auf ihrem vollen Einkaufswagen und ließ sich den Wind um die Nase pfeifen, als er an Fahrt aufnahm. Die Straße führte sanft abwärts, deshalb musste sie nicht einmal mehr selber anschieben.

Vor ihr hasteten die Passanten zur Seite, um ja nicht unter die Räder zu kommen, was Odette breit grinsen ließ. Sollten sie ruhig rennen, das tat ihnen sicher gut! Die meisten der Leute, die sie hier fast umfuhr, waren die Sorte, die mit hochgereckter Nase umherstolzierten und sich lieber ein Taxi riefen, als nur einen Meter dem Bus hinterherzurennen. Aber mit ihrem Einkaufswagen brachte Odette auch sie in Bewegung. Sie hörte, wie ihr der eine oder andere wütend hinterherschimpfte, aber sie war zu schnell unterwegs, um antworten zu können. Nicht dass sie sich entschuldigt hätte. Die Leute auf den Straßen sollten ruhig lernen, dass man Odette Germaine aus dem Weg zu gehen hatte.

Der Einkaufswagen hielt mit voller Geschwindigkeit auf die nächste Straßenkreuzung zu, und die Fußgängerampel war ohne irgendwelche Zweifel so rot wie eine reife Tomate. Odette sah die Autos über den Asphalt jagen, mit jeder Sekunde deutlich näher, und kniff die Augen zusammen.

»Was für ein Witz«, murmelte sie und streckte ihr Bein wieder in Richtung Boden aus. Anstatt dass sie abbremste, stieß sie sich besonders kräftig ab, sodass der Einkaufswagen noch schneller wurde.

»Vorsicht!«, brüllte sie fröhlich nach vorne, als könnten die Autofahrer sie tatsächlich hören. »Bahn frei für Odette!«

Sie erreichte mit ihrem Gefährt die Kreuzung. Ungebremst rauschte sie auf die andere Seite. In ihren Ohren quietschte und hupte es laut, aber Odette hatte sich nicht den kleinsten Kratzer zugezogen.

Sie lächelte zufrieden und warf einen Blick zurück auf die Straßenkreuzung, wo die Autos quer verteilt stehen geblieben waren und ihr die Fahrer aus geöffneten Fenstern drohend hinterherbrüllten. Dann wandte sie sich nach vorne, wo sie eine weitere Querstraße erwartete, die wegen der wenigen Autos allerdings keine große Gefahr darstellte. Dafür ragte dahinter eine hohe, dicke Mauer in den Himmel, die sich lang und unnachgiebig zu beiden Seiten weit hinzog.

Es war viel zu spät, um noch zu bremsen. Der Wind zischte um Odette, als sie den einzigen Eingang in der Mauer fixierte. Das Tor war geöffnet, an der Seite gab es ein kleines Pförtnerhäuschen. Gerade fuhr ein Auto hinein, höchstens im Schritttempo. Es war ungefähr zur Hälfte unter der erhobenen Schranke durch.

Perfekt. Odette verlagerte ihr Gewicht waghalsig zur Seite, sodass der Einkaufswagen genau in die Mitte der Straße steuerte. Die Bremslichter des Autos vor ihr blinkten, als sie immer näher kam, die Schranke hatte es fast durchquert.

Odette fing an, sich wieder abzustoßen, und dann war sie an dem Mauerdurchgang. Das Auto war immer noch vor ihr, aber die Schranke senkte sich bereits, und die Fußwege zu beiden Seiten waren nicht gerade breit. Mit zwei letzten Stößen schaffte sie es gerade so, sich hindurchzubefördern, bevor es zu spät war. Dann riss sie den Wagen einmal scharf zur Seite, kurz bevor sie von hinten in das Auto hineingefahren wäre. In der Kurve musste sie ihren Fuß gegen den Boden drücken, damit es sie nicht umwarf, aber dann war sie um die Ecke und flog mit dem Rest des Schwungs parallel zur Mauer den Weg entlang. Auf der anderen Seite waren die Gräber.

Einem der Friedhofspförtner war die waghalsige Aktion aufgefallen, und er schrie ihr ein wütendes »HE!« hinterher, aber Odette fuhr einfach weiter. In ihrem etwas gemäßigteren – aber immer noch schnellen – Tempo hatte sie bald die nächste Ecke der Friedhofsmauer erreicht und bog auf eine weitere Straße ab, tiefer in den Friedhof hinein.

Sie ließ den Einkaufswagen in Ruhe ausrollen, bevor sie von der Achse sprang und anfing, ihn ganz gewöhnlich zu schieben.

Das Wetter meinte es gut mit ihr. Der Himmel war grau und wolkenverhangen, weshalb fast niemand auf dem Friedhof zu finden war. Ein paar beharrliche Touristen hatten sich wie immer dennoch hergewagt und sammelten sich am nahen Grab von Edith Piaf. Wahrscheinlich wollten sie unbedingt ein Kreuzchen auf ihrer Liste machen, bevor es zurück in ihre anscheinend friedhofslosen Heimatländer ging. Sie erntete ein paar verwirrte Blicke, als sie ihren Einkaufswagen durch die Grabreihen schob, aber vor allem von den Leuten, die mit Blumen und hängenden Schultern zwischen den Gräbern unterwegs waren. Die Touristen schienen es einfach zu akzeptieren, dass man in Paris mit Einkaufswagen durch Friedhöfe spazierte. Wenn sie zu Hause keine eigenen Friedhöfe zum Besuchen hatten, kannten sie es ja auch nicht anders. Während Odette also mehr oder weniger vergnügt durch die Grabreihen schlenderte, fing das Handy in ihrer Hosentasche an zu klingeln. Sie verdrehte die Augen, weil sie sich bereits denken konnte, wer dran war. Trotzdem ging sie ran.

»Wo zum Teufel steckst du wieder?«, schrillte Tante Tiphaines Stimme ihr entgegen. »Du solltest seit Stunden zu Hause sein!«

»Ups«, sagte Odette aus reiner Höflichkeit, obwohl sie es keine Sekunde lang vergessen hatte, nur gekonnt ignoriert. »Ich wollte noch schnell Mama und Papa besuchen gehen.«

Ihre Tante seufzte tief, und Odette grinste. Die Ausrede zog meistens. Und so falsch war sie gar nicht, auch wenn ihr Weg sie erst einmal in andere Ecken des Friedhofs führen würde.

»Aber bis zum Abendessen kommst du wieder«, bemerkte Tante Tiphaine spitz.

»Von mir aus«, grummelte Odette. Abendessen gab es um acht, und sie konnte vielleicht eine halbe Stunde später kommen, ohne dass es allzu schlimme Folgen haben würde. Das gab ihr knapp drei Stunden.

Odette ließ ihre Tante auflegen und beeilte sich dann, dass sie in den unteren, verwilderten Teil des Friedhofs kam. In zehn Minuten würden die Leute vom Friedhof mit ihren Autos umherfahren, um die Leute nach draußen zu scheuchen, und bis dahin musste sie den Einkaufswagen und seinen Inhalt vernünftig untergebracht haben, damit sie sich besser vor den Augen der Wärter verstecken konnte.

Das nächste Mal würde sie sich früher um ihre Einkäufe kümmern, damit ihr kein begriffsstutziger Verkäufer die ganze schöne Planung durcheinanderbringen konnte.

»Yves!«, rief sie. »Yves, ich brauche deine Hilfe!«

Ein paar Krähen flogen ihr aus dem Weg, und sie rümpfte die Nase. Sie konnte Krähen nicht ausstehen. Aber wenigstens wurde sie nicht von neugierigen Touristen oder misstrauischen Angehörigen beobachtet; und Tante Tiphaine würde sie auch eine Weile nicht mehr stören. Sie sah sich um. Der Père Lachaise, der größte Friedhof von Paris, war einer der schönsten Orte der Welt, fand Odette. Eigentlich war er auch ungefähr der einzige schöne Ort, den es ihrer Meinung nach gab. Odette fand Sachen normalerweise nicht schön.

Die Grabmäler ragten stolz in den Himmel, eines extravaganter als das andere, und wenn man durch die Straßen mit den großen Grabhäusern ging, konnte man meinen, in einer kleinen Stadt gelandet zu sein. Zwischen den großen Angeber-Monumenten lagen die alten, vergessenen Gräber, moosbewachsen und verwittert, ohne Namen oder sonstige Zeichen, wer wohl darin liegen könnte. Die mochte Odette ganz besonders, weil sie immer für eine Überraschung gut waren.

Der Teil, in dem sich Odette jetzt befand, war einer der unordentlichsten des ganzen Friedhofs, in dem die Monumente und Grabplatten genauso wenig irgendeinem System zu folgen schienen wie die wilde Bepflanzung – hier verliefen sich selbst die Leute, die ein bestimmtes Grab in der Gegend schon mehrfach besucht hatten. Odette natürlich nicht, denn Odette kannte sich auf dem Friedhof besser aus als in ihrem eigenen Kleiderschrank. Sie war sehr stolz darauf, auch wenn sie zähneknirschend zugeben musste, dass sie nicht die Einzige war. Yves war zum Beispiel jemand, der sich genauso gut auf dem Friedhof zurechtfand. Und der Rest der Friedhofs-Gang. Trösten konnte sie sich immerhin damit, dass sie die Einzige von ihnen war, die nicht heimlich auf dem Friedhof lebte.

Sie fand Yves unter einer knorrigen Kastanie, etwas abseits der Wege, wo er, gegen einen Grabstein gelehnt, vor sich hin döste.

»Guten Abend«, sagte Odette. »Hilf mir.«

Yves sprang so schnell und behände auf, wie es ihm sein massiger Körper erlaubte. Er war bestimmt dreimal so groß wie Odette und um ein Vielfaches breiter, mit Armen so dick wie die Obelisken, die sich manche aufs Grab stellen ließen, wenn sie besonders edel sein wollten.

Auf dem Friedhof nannte man ihn gemeinhin nur den Starken Yves, weil es sehr schwer war, ihn sich ohne seine Muskeln vorzustellen. Sein Gesicht hingegen war warm und weich, nahezu schwabbelig, wie Odette fand, mit hängenden Wangen und großen braunen Kuhaugen. Dazu ragten ihm riesige Segelohren unter den braunen Haaren hervor, wodurch er ein bisschen wie ein Beagle aussah. Ein sehr muskulöser Beagle.

Zum Glück hatte die Natur es hinbekommen, dass Odette und der Starke Yves jeweils den Charakter zugeteilt bekommen hatten, der eigentlich besser zum Aussehen des anderen gepasst hätte. Wo Odette aggressiv und mürrisch war, konnte man den Starken Yves eigentlich nur als schüchtern bezeichnen. Abgesehen davon war er nicht der Hellste, und zu viele Menschen machten ihn nervös, deswegen wohnte er jetzt auch auf dem Friedhof, wo sich immer ein paar ruhige Ecken fanden.

»Was gibt es denn?«, fragte er höflich. »Wie kann ich helfen?«

»Ich muss das Zeug loswerden«, erklärte Odette und nickte zu ihrem Einkaufswagen hin. »Und zwar schnell, weil sie bald dichtmachen. Ist die Gillet-Gruft noch frei?«

»Hmm, die Geschwister Bernard haben dort ihre Sachen«, sagte der Starke Yves und kratzte sich verlegen am Kopf, als wäre es seine Schuld. »Wir können es aber in die Jamais-Gruft bringen.«

»Die Gruft vom Dichter? Bloß nicht!«, widersprach Odette fest.

In dem Moment hörte sie in der Ferne eine Durchsage.

»Meine Damen und Herren, begeben Sie sich bitte zum Ausgang, wir schließen in Kürze!«

Odette verzog das Gesicht und sah sich um, während Yves weiterhin etwas verloren in der Gegend herumstand.

»Na gut«, lenkte sie ein, »dann müssen wir wohl zur Gruft vom Dichter. Aber nur dieses eine Mal!«

Sie schüttelte sich, während Yves pflichtbewusst den Einkaufswagen anhob, als wäre er leer und aus Styropor.

Ihr Ziel führte sie selbstverständlich weg von den großen Wegen, zwischen ein paar Grabmalen hindurch in die hintersten Reihen, welche sich jeder normale Besucher nur von weit weg ansah. Dort fanden sich fünf von den großen Grabhäusern, die in einem strengen Halbkreis angeordnet waren, ihr Eingang hinter weiteren, ausladenden Monumenten versteckt.

Das Gruftmonument der Familie Jamais stand genau in der Mitte des Halbkreises, das Innere verborgen durch eine mächtige geschlossene Eisentür. Yves klopfte an, und es dauerte nicht lange, bis die Tür geöffnet wurde.

Ihnen stand ein hagerer Mann mit hohen Wangenknochen und grauer Halbglatze gegenüber. Er trug einen wallenden braunen Mantel, der ihn bis zu den Wanderstiefeln hinunter umfloss, und hatte sich ein altertümliches Monokel ins linke Auge geklemmt. In der Hand hielt er ein großes, ledergebundenes Buch. Was auch sonst. Odette verdrehte die Augen.

»Es klopft zu dieser heiklen Stund’ der Starke Yves und bringt mir Kund von kurioser Litanei, sagt, was hat der Herr dabei?«, begrüßte sie der Dichter.

»Hehe«, entgegnete der Starke Yves unsicher, denn die schlauen Reime machten ihn nervös. »Wir müssen den Wagen hier kurz unterstellen.«

Der Dichter musterte ihn scharf durch sein Monokel, nickte aber gönnerhaft und winkte ihn durch. Hinter ihm führte eine schmale Treppe in die Gruft hinunter, in der sich die einzelnen Särge der Familie Jamais befanden und angeblich auch das Zuhause des Dichters. Odette war nur ein paarmal in ähnlichen Notfällen unten gewesen, aber die Gruft sah wenig bewohnt aus und wurde gewöhnlich nur von einer einzelnen elektrischen Laterne beleuchtet. Alles andere als ein gemütliches Wohnzimmer.

Sie wollte dem Starken Yves folgen, doch der Dichter stellte sich ihr in den Weg.

»Junge Dame ferner Heimat, ehe Ihr dem trauten Heim naht, nennet Euren Namen mir, in vier Zeilen, jetzt und hier.«

Odette funkelte ihn mit ihrem bösesten Blick an. Er tat jedes Mal so, als würde er sie nicht kennen, bevor sie ihm ihren Namen in einem Reim gesagt hatte. Eigentlich wollte sie ja gar nicht in die Gruft des Dichters hinab, aber sie waren spät dran, und es war der schnellste Weg, um den Einkaufswagen vor der Schließung des Friedhofs verschwinden zu lassen. Den Inhalt konnte sie dann später in aller Ruhe in anderen Gräbern verstecken.

Blöderweise war der Dichter einer der wenigen Menschen, denen Odettes böser Blick nichts anhaben konnte. Vielleicht war sein Monokel schuld. Er musterte sie nur weiter abwartend, bis sie mit einem Seufzer nachgab. Es gefiel ihr nicht.

»Odette werd ich genannt, doch das ist dir bekannt, jetzt lass mich bloß in Ruh, sonst werf ich einen Schuh!«, sagte Odette.

Dem Dichter blieb nichts anderes übrig, als sie durchzulassen.

Die Sonne sinkt, es reimt der Dichter – doch seine Gruft bräuchte mehr Lichter

Die Treppe zur Gruft, in die sie hinabstiegen, war unglaublich winzig und dunkel. Sie fragte sich, wie Yves überhaupt seinen massigen Körper und den großen Einkaufswagen nach unten gebracht hatte, aber da standen sie nebeneinander, der Starke Yves mit eingezogenem Kopf wegen der niedrigen Decke.

Die einzelne Laterne brannte in der Ecke auf einem der drei Särge in der Gruft und beleuchtete einen Stapel leeres Pergamentpapier und eine altertümliche Schreibfeder im Tintenfass. Der Dichter behauptete, dass der Friedhof die weit und breit beste Inspirationsquelle für ihn wäre, aber bis auf die Reime, die er tagtäglich ausspuckte, hatte Odette noch kein einziges Werk von ihm zu Gesicht bekommen. Obwohl er manchmal tagelang in seiner Gruft saß, bis er sich wieder draußen blicken ließ.

Odette hatte die Theorie, dass er in Wirklichkeit ein Vampir war, der den ganzen Tag über als Fledermaus von der Decke hing. Allerdings hatte sie kein Bedürfnis, dieser Theorie weiter nachzugehen, denn Vampire interessierten sie nicht besonders. Und wenn sie alle so drauf waren wie der Dichter? Nein danke.

»Ich frage mich doch sehr, wozu bringt ihr den Wagen her? Ganz gänzlich so in aller Hast, habt ihr den Glockenschlag verpasst?«, fragte der Dichter, und Odette brauchte nur Sekunden, um zu verstehen, was er meinte. Mit jedem Mal, an dem sie zu einem Gespräch mit ihm gezwungen war, fiel es ihr leichter.

»Das ist für die Halloweenparty«, erklärte sie ihm ungeduldig, obwohl sie ihn am liebsten ignoriert hätte. »Ich würde dich ja einladen, aber es kommen schon zu viele andere Gäste, und ich will nicht, dass es ausartet. Und lebende Menschen sind so schwer zu kontrollieren.«

»Ein frohes Fest auf Friedhofsgrund, zu früher oder später Stund’?«, fragte der Dichter altklug. »Denn nächtens siegt die Einsamkeit, es fehlt der Dame das Geleit.«

»Natürlich am Abend«, sagte Odette empört, »eine Halloweenparty bei Tag wäre ja auch schön doof!«

»Doch die Sperrstunde bei Nacht, wie wird sie umgebracht?«, beharrte der Dichter.

Sie stöhnte genervt. Normalerweise war der Mann nicht besonders daran interessiert, was sie oder andere Leute auf dem Friedhof anstellten, aber heute ließ er nicht locker. Wahrscheinlich war ihm endlich seine dunkle, leere Gruft zu langweilig geworden.

»Das ist ja eine Spezialparty für die Friedhofstoten«, erklärte sie ihm. »Die sind schon hier und müssen sich nicht alle reinschleichen.«

Er schüttelte verständnislos den Kopf, wandte sich dann aber lieber wieder seinen leeren Pergamentblättern zu.

»Müssen wir noch lange hierbleiben?«, fragte der Starke Yves vorsichtig.

Er blickte sie gequält aus seinen großen Kuhaugen an, während Odette überlegte, wie unangenehm seine stehende Position mit den zusammengedrückten Schultern und dem schiefen Kopf doch aussah.

»Setz dich einfach hin«, schlug sie ihm vor.

»Oh, gute Idee!«, strahlte der Starke Yves und wollte sich gegen das nächste Grab stützen. Unter seiner gewaltigen Kraft brach leider die Ecke der Steinplatte ab. Er grinste sie verlegen an, und der Dichter hob tadelnd die Augenbrauen.

Odette warf einen Blick auf den hier gut versteckten Einkaufswagen und beschloss, dass es ihr zu blöd war, länger mit den beiden in einer Gruft zu sitzen. Mit dem Starken Yves verbrachte sie ohnehin genug Zeit, und der Dichter würde sie in Überdosis nur in den Wahnsinn treiben.

Sie schnappte sich das Piratenkostüm aus dem Wagen und verkündete: »Ich gehe!«

»Ist es denn schon spät genug, dass die Wärter nicht mehr unterwegs sind?«, fragte der Starke Yves besorgt.

Odette warf ihm einen vernichtenden Blick zu, weil er längst wissen sollte, dass sie keine Angst vor den Friedhofswärtern hatte. Und dreimal schlauer war sie sowieso, weshalb sie nie erwischt werden würde.

»Der Abschied geschieht kurz und schnell, der Himmel ist noch immer hell«, sagte der Dichter.

»Was auch immer«, erwiderte Odette und machte sich dann mit dem Piratenkostüm auf den Weg.

»Verlassen Sie bitte den Friedhof, die Tore werden in wenigen Minuten abgeschlossen!«, schallte es ihr aus der Ferne entgegen, als sie wieder zwischen den hohen Gräbern war.

»Ist auch besser so«, murmelte Odette zu sich selbst und schlängelte sich, so unauffällig sie konnte, durch die Grabreihen. Die protzigen Steine standen so hoch und dicht an dicht, dass sie sich mühelos dahinter verstecken konnte.

»Hallo, ist da noch jemand?« Eine Autotür wurde geöffnet und zugeknallt, dann kamen schwere Schritte über einen der kleineren Kieswege.

Odette machte sich keine Sorgen. Bis jetzt hatte man sie noch kein einziges Mal erwischt, und das würde auch so bleiben. Sie kroch in die Spalte zwischen zwei tief liegenden Grabplatten und drückte sich auf den Boden, als die Schritte näher kamen. Zwei Beine in Wärteruniform gingen direkt vor ihrem Kopf an den Gräbern vorbei, ohne in ihrer Nähe auch nur langsamer zu werden. Die Friedhofswärter sahen nie nach unten, darauf war Verlass. Fast als würden sie nicht daran glauben, dass sich jemand mit Absicht vor ihnen verstecken würde.

Ein leises Kichern erklang vor ihr, als die Schritte kaum vorbei waren, und sie sah auf, um genau gegenüber Berthe Bernard zu erblicken, die sich halb hinter einem Grabstein verbarg. Sie war Mitte vierzig, das wusste Odette, benahm sich aber wie ein Kleinkind und sah aus wie eine alte Frau. Ihr Gesicht und ihre Haare waren genauso wie ihre halb zerlumpte Kleidung grau vom Staub des Weges, weshalb sie fast mit dem Stein verschmolz und nur deshalb zu erkennen war, weil ihre Schultern durch das Kichern so stark bebten.

»Sie haben jemanden gefunden!«, flötete sie mit funkelnden Augen.

»Wen?«, fragte Odette stirnrunzelnd. »Deinen Bruder?«

Es gab genau sechs Personen, die mehr oder weniger immer auf dem Friedhof wohnten und sich so jeden Abend vor den Wärtern verstecken mussten. Odette nannte sie die Friedhofs-Gang. Der Starke Yves und der Dichter saßen sicher in der Jamais-Gruft, zwei weitere hatte Odette schon länger nicht mehr gesehen, und bei den Geschwistern Bernard wusste man nie.

Doch da lehnte schon Beau Bernard hinter seiner Schwester hervor, der genauso alt, zerlumpt, verstaubt und ungepflegt aussah und ebenfalls so sehr kicherte, dass er kaum still halten konnte.

»Nicht mich, nicht mich, haha«, sang er fröhlich, »ein Fremder, Schleicher, Grabschänder! Ein Spion, ein Agent, ein Geheimdienstmitarbeiter …«

»Was auch immer«, sagte Odette und verdrehte die Augen. Es war unmöglich, mit den Geschwistern Bernard eine vernünftige Unterhaltung zu führen. Dazu waren sie viel zu verrückt, mit seltsamen Hobbys wie Grashalme zählen und Kastanien nach Farben anordnen, worüber Odette wirklich nicht sprechen wollte. Sie lauschte lieber weiter auf die Schritte des Friedhofsmitarbeiters und huschte vorsichtig hinterher, als er etwas weiter fort war, sodass sie besser mitbekam, was er tat.

»Entschuldigung, Monsieur«, hörte sie seine Stimme. »Wir müssen Sie leider bitten, jetzt mit uns zu kommen. Der Friedhof schließt.«

»Ich habe Verpflichtungen«, antwortete eine dunkle, bissige Stimme. »Und ich habe hier schließlich noch andere Leute gesehen, so streng können Sie es gar nicht meinen.«

Odette legte den Kopf schief und hörte genauer hin.

Der Friedhofswärter schnaubte auf. »Das ist doch lächerlich. Niemand bleibt nach Torschluss auf dem Père Lachaise.«

»Niemand?«, wiederholte der Besucher lauernd. »Sind Sie sich sicher?«

»Kommen Sie einfach mit und machen Sie keine Scherereien«, gab der Friedhofswärter kurz angebunden zurück. »Sie wollen hier sicher nicht im Dunkeln festsitzen.«

Odette hörte, wie dieses Mal zwei Paar Füße wieder den Weg zurückkamen, und duckte sich schnell hinter das nächste Grabmal. Zwei Beine in Uniformhosen und zwei Beine in schwarzen Stiefeln gingen an ihr vorbei. Sie wartete, bis die Autotüren wieder knallten und sich das Fahrzeug knirschend entfernte.

Nur noch das Kichern der Geschwister Bernard in der Ferne war zu hören. Der Friedhof war geschlossen – keine lebenden Menschen würden sie mehr behelligen. Die Friedhofs-Gang zählte nicht. Odette überlegte sich, ob der Besucher mit den schwarzen Stiefeln wohl auch auf den Friedhof ziehen wollte und deshalb so lange geblieben war. Dann hatte er sich jedoch sehr ungeschickt angestellt und verdiente es nicht, Teil der Friedhofs-Gang zu werden.

Sie zuckte mit den Schultern, entschied, dass es den Gedanken nicht wert war, und schlenderte im schwächer werdenden Dämmerlicht die Pfade zwischen den Grabstellen entlang schräg nach oben, wo die Gräber weit säuberlicher aufgereiht waren und ihre Insassen gewöhnlich nur halb so spannend wie in älteren Teilen des Friedhofs. Ihre Party würde sie dort auf keinen Fall stattfinden lassen, auch wenn man die ordentlichen Grabsteine natürlich besser mit Girlanden behängen konnte.

Ihr fiel ein, dass Tante Tiphaine zu Hause auf sie wartete und glaubte, dass sich Odette bereits auf dem Heimweg befand, also legte sie sich schon einmal eine Ausrede zurecht.

»Ich musste japanischen Touristen den Weg zum Eiffelturm erklären«, überlegte sie laut und warf einen Blick auf die nächsten Gräber. Sie spielte mit dem Gedanken, sich ein Publikum für ihre Geschichte zu besorgen, aber hier lagen fast nur langweilige Tote, die alt gestorben und noch nicht allzu lange unter der Erde waren. »Und dann ist einer meiner Schuhe in einem Gulli hängen geblieben, und die Feuerwehr musste gerufen werden, um ihn wieder zu befreien, damit ich nicht auf einem Bein weiterhüpfen musste.«

Sie sprang auf eine flache Grabplatte, balancierte um eine Marmorstatue herum und schnappte sich die Plastikblumen, die jemand danebengelegt hatte.

»Und dann hatte die Metro eine Störung«, verkündete sie den Gräbern um sich herum. Sie hielt für zwei Sekunden inne, wiederholte die Ausrede in ihren Gedanken, bis sie zufrieden damit war, und sprang dann weiter auf die nächste Grabplatte, um die sich schon länger niemand mehr gekümmert zu haben schien.

»Pierre und Madeleine Petit«, las sie laut, bevor sie weitersprang, »euch hatte ich schon mal, oder? Aber ihr habt die ganze Zeit nur geschimpft, ihr seid ganz bestimmt nicht zur Party eingeladen.«

Am nächsten Abend musste sie mal einen Block und Stift mitbringen, damit sie eine vernünftige Gästeliste machen konnte – und um die Musik musste sie sich auch kümmern, sie hoffte schwer, dass sie irgendwo ein paar Instrumente auftreiben konnte für die Musiker auf dem Friedhof. Sie kannte eine Gruft mit Klavier, auf dem hatte Frédéric schon manchmal gespielt. Frédéric war auf jeden Fall eingeladen. Am besten mit vollständigem Orchester, das er dirigieren konnte, sie musste dringend noch einen Cellisten ausfindig machen …

Sie seufzte laut. Es gab noch so viel zu tun und zu planen, damit sie die beste Halloweenparty von ganz Paris veranstalten konnte!

Bevor sie sich allerdings allzu intensiv mit den vielen Aufgaben beschäftigen konnte, war sie an ihrem Ziel angekommen: ein einfacher, flacher Grabstein, dekoriert mit gemeißeltem Efeu und einer feinen Keramikstatue von einem Paar Balletttänzer. Jemand hatte eine Handvoll der herumliegenden Kastanien gesammelt und dazugelegt, sodass der männliche Balletttänzer seine Partnerin im rosa Kleid durch ein rundes braunes Meer schweben ließ.

Odette kannte das Grab in- und auswendig, aber ihr Blick wanderte dennoch zur Inschrift, die im letzten Licht der untergehenden Sonne gold aufblitzte.

Maurice Germaine. Elaine Germaine. Bis bald.

Ursprünglich war das Grab einmal vollkommen schlicht gewesen, weil Elaine es für unnötig gehalten hatte, mehr als den Spruch aufzuschreiben. Aber nachdem sie selbst dort gelandet war und zumindest offiziell nicht mehr protestieren konnte, hatte sich Tante Tiphaine ausgetobt.

Odette war froh, ihre Eltern auf ihrem Lieblingsfriedhof zu haben. Sie schüttelte sich bei dem Gedanken, ihre Eltern hätten auf dem Friedhof Montparnasse landen können. Das war kein Leben für sie. Besser, kein Tod.

Sie betrachtete die Kastanien um die kitschige Statue und ordnete sie dann so an, dass sie ein Pentagramm um die Tänzer formten. Dann legte sie den Kopf schief und begutachtete ihr Werk. Es sah nicht schlecht aus, und sie beschloss, deswegen ihre übliche Methode sein zu lassen. Gewöhnlich malte sie sich nämlich das Pentagramm mit Kugelschreiber auf die Handfläche.

Jetzt legte sie die Hand unbekritzelt an das Grab und holte tief Luft.

»Aufwachen«, sagte sie mit fester Stimme. »Zeit, zu den Lebenden zurückzukehren.«

Odette zeigt ihren Eltern dann Respekt, wenn sie die abendlich erweckt

Ein paar Momente war es vollkommen still, und Odette war kurz davor, doch noch den Kugelschreiber zu zücken.

Dann aber begann die Erde um die Grabplatte zu erzittern, als würde sich ein Riesenmaulwurf durch sie hindurchwühlen, und das Zittern wurde vom Klang entfernten Donnergrollens begleitet.

»Das ist neu«, murmelte Odette. »Was für ein Drama.« Vielleicht lag es am Kastanien-Pentagramm.

Schließlich aber brach eine Hand aus der Erde direkt vor der Grabplatte, dicht gefolgt von einer zweiten. Vier der insgesamt zehn Finger bestanden nur noch aus Knochen, die anderen sahen halbwegs normal aus. Besonders der eine Ringfinger mit dem gold glänzenden Ehering hatte sich bisher gut gehalten, nur unter dem Nagel faulte er ein bisschen.