Die Tote im Eis - Eva Frantz - E-Book
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Die Tote im Eis E-Book

Eva Frantz

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Beschreibung

Schwarz senkt sich die Nacht.

Als die Leiche einer Lehrerin aus dem Eisloch beim Badesteg geborgen wird, glauben einzig Kommissarin Anna Glad und ihre Kollegin Märta, dass Boels Tod mehr als ein Unfall war. Während die finnische Kleinstadt sich auf das alljährliche Lichterfest vorbereitet, erhält Anna eine alte Videokassette mit Aufnahmen einer Luciaprozession. Was war 1988, als Boel selbst Schülerin auf Stockudden war, geschehen? Nicht ahnend, dass die Geschichte von damals sich zu wiederholen droht, folgt Anna den Spuren in die Vergangenheit ... 

Ausgezeichnet mit dem Preis für Finnlands besten Krimi des Jahres.

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Seitenzahl: 442

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Über das Buch

Nachdem ein Eisbader an einem frühen Dezembermorgen auf eine schreckliche Überraschung im Wasser stößt, nimmt die Kommissarin Anna Glad die Ermittlungen im Fall Boel Westman auf. Doch wenn der Tod der Fotografielehrerin lediglich ein Unfall war, warum hat die Tochter der Nachbarn noch nach dem ermittelten Todeszeitpunkt jemanden in Boels Wohnung gehört? Während die finnische Kleinstadt sich auf die Feierlichkeiten des Luciafestes vorbereitet, bekommen Anna und ihre Kollegin Märta eine alte Videokassette zugespielt. Könnten die Aufnahmen einer Luciaprozession von vor 30 Jahren der Schlüssel zur Aufklärung des Falles sein? Bald jedoch muss Anna feststellen, dass die Antworten nicht einzig in der Vergangenheit liegen, sondern sich die Geschichte von damals unmittelbar vor ihren Augen zu wiederholen droht …

Über Eva Frantz

Eva Frantz, geboren 1980, wuchs in einem Vorort von Helsinki auf. Sie arbeitete als Radiomoderatorin für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Finnland, ehe sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie wohnt mit ihrem Mann und drei Kindern in Esbo, Finnland. »Die Tote im Eis« ist ihr erster Roman im Aufbau Taschenbuch.

Mehr zur Autorin unter www.evafrantz.com

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Eva Frantz

Die Tote im Eis

Ein Fall für Anna Glad

Kriminalroman

Aus dem Finnlandschwedischen von Leena Flegler

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Buch lesen

1: Sonne, die scheint nicht mehr

2: Nun hört ein Brausen

3: Nacht war so groß und stumm

4: Seht dort, wie wunderbar

5: Nachtschatten schweben

6: Kommt her mit Licht im Haar

7: Schreitet im Lichterstrahl

8: Bald flieht die Dunkelheit

9: Wie Flügelrauschen

10: Welch wunderbarer Geist

11: Der uns dies Licht verheißt

Epilog

Nachwort

Impressum

Wer von diesem Kriminalroman begeistert ist, liest auch ...

Ihr Mund ist so trocken, dass es wehtut, zu atmen. Die Nase ist verstopft und ihr Hals ganz steif. Die Augen aufzuschlagen, kostet sie enorme Kraft.

Wo ist sie überhaupt?

Fahles Licht fällt über eine schwarze Sofalehne. Das Leder der Armlehne klebt an ihrer Haut, sie ist verschwitzt, gleichzeitig ist ihr eiskalt. Sie muss sich aufsetzen. Schafft sie das?

Kaum dass sie sich bewegt, sich herumwälzt und hochstemmt, verschwimmt alles. Sie muss kurz innehalten und hält den Blick auf ihre Knie gerichtet. Erst nach einer Weile klart er auf.

Sie ist allein, meint aber, irgendwo aus der Nähe ein Schnarchen zu hören. Es ist ein großer Raum mit bodentiefen Fenstern und Jalousien. Abgesehen von drei Sofas und einem Glastisch ist das Zimmer unmöbliert. Sie hat all das schon mal gesehen, doch bei Tageslicht kommt es ihr fremd vor.

Sie trägt lediglich T-Shirt und Unterhose. Was soll das? Wo ist ihre Jeans?

Auf dem Glastisch Weinflecken und überall Kippen. Vereinzelte Bilder vom Vorabend. Sie weiß noch, dass sie auf diesem Sofa saß. Die anderen waren auch da, sie haben lautstark Lieder mitgesungen – »Don’t Worry Be Happy«, immer und immer wieder. Sie war tatsächlich ziemlich happy, das weiß sie ebenfalls noch. Happy und betrunken.

Aber wo sind die anderen?

Trotz weicher Knie kommt sie auf die Beine. Vor dem Tisch liegt ein kaputtes Glas. Vorsichtig steigt sie darüber hinweg, um sich nicht die Fußsohlen zu zerschneiden.

Sie muss aufs Klo. Da drüben müsste die Toilette sein.

Erst jetzt entdeckt sie auf einem Haufen am Boden ihre hellblaue Levi’s, die so teuer war. Sie hat ewig darauf hingespart, bevor sie bei Anttila zuschlagen konnte. Sie nimmt sie mit, als sie den Raum verlässt. Ihre Socken scheinen zusammengeknüllt in den Hosenbeinen zu stecken.

Das Schnarchen wird lauter. Ein Stück weiter den Flur hinunter ist eine Tür angelehnt, und verstohlen wirft sie einen Blick hinein. Da liegt ein Mann, mit dem Rücken zur Tür und nur mit einer glänzenden Unterhose bekleidet. Der Rücken ist haarig und mit Leberflecken übersät. Sie hat keine Ahnung, wer er ist, will es aber auch gar nicht wissen.

Sie geht an mehreren Türen vorbei, die alle geschlossen sind, meint jedoch, weiteres Schnarchen zu hören.

Wo ist noch mal das Klo? Allmählich wird es dringend. Da!

Sie schlüpft durch die Tür und schließt hinter sich ab. Ihr Slip ist klebrig, und es ziept, als sie ihn hinunterstreift. Kaum dass sie pinkelt, brennt es so heftig, dass sie um ein Haar laut aufschreit.

Auf dem weißen Slip entdeckt sie rotbraune Flecken. Hat sie etwa …? Nein, das muss Blut sein. Aber für ihre Tage ist es doch noch zu früh?

Es pulsiert in ihrem Kopf, und sie gerät in Panik. Sie lehnt sich an den großen, weiß lackierten Klopapierhalter, versucht, sich im Schritt abzutrocknen, doch das Papier ist rau und kratzt und tut fürchterlich weh.

Warum weiß sie nicht mehr, was am Abend zuvor passiert ist? Wie betrunken war sie denn bitte? Und weshalb sind alle anderen weg? Weshalb haben sie sie dort auf dem Sofa liegen gelassen? Und warum blutet sie?

Erst nach einer Weile schafft sie es, sich die Jeans anzuziehen. Der Saum tut im Schritt höllisch weh. Sie verzichtet darauf, die Jeans zuzuknöpfen, schließt die Toilettentür auf und taumelt den Flur entlang. Sie muss sofort von hier weg.

1

Sonne, die scheint nicht mehr

Donnerstag, 7. Dezember

Roland Ström war Frühaufsteher. Nicht auf diese erbärmliche Art wie gewisse andere Leute in seinem Alter, die frühmorgens aufwachten und sofort aufs Klo mussten, ausgedörrt und bang, und die nicht mehr einschlafen konnten, weil sie ständig nur an den Tod dachten.

Nein, Roland wurde einfach früh wach, stand beschwingt auf, um den Tag zu nutzen, sommers wie winters, werktags wie wochenends. Am liebsten begann er den Tag mit einem Bad im Meer. Dahingehend war der Winter sogar seine Lieblingsjahreszeit. An einem Julimorgen in neunzehn Grad warmes Wasser zu steigen, war schließlich keine Heldentat. Es war nicht mal sonderlich erfrischend. Nein, nichts kam dem Gefühl gleich, wenn einen eiskaltes Wasser umspülte, während die Luft noch viel kälter war. Jedes Mal, wenn er anschließend die Leiter hoch und an Land kletterte, war es, als wäre er wie neugeboren. Roland liebte dieses Gefühl. In derlei Momenten war er am lebendigsten. Wenn man es klischeehaft ausdrücken wollte, fühlte er sich nach jedem Winterbad glatt vierzig Jahre jünger.

Vor dem Bad musste man sich nur ordentlich aufwärmen, indem man beispielsweise einen strammen Spaziergang machte. Roland setzte lange Schritte, nahm die Arme dazu und sah seinen Atemwölkchen hinterher, die zum schwarzen Himmel emporstiegen. Wunderbar, dass der Winter in diesem Jahr so früh Einzug gehalten hatte. Manchmal musste man bis nach Neujahr warten, ehe es anständig kalt wurde.

Üblicherweise hatte Roland um sechs Uhr morgens Umkleide und Eisloch für sich. Der Verein hatte einen Windschutz errichtet sowie eine Wärmematte und eine Pumpe bereitgestellt, die dafür sorgte, dass das Eisloch nicht zufror. Er musste sich also bloß umziehen und ins Wasser steigen.

Mit einer gewissen Irritation stellte er fest, dass in der Damenumkleide Licht brannte. Wie bitte? Gab es da wirklich irgendein altes Weib im Verein, das noch früher wach war als er? Das hatte er ja noch nie erlebt – und das ausgerechnet am Morgen nach dem Nationalfeiertag! Alle Frauen, die Roland kannte, dürften am Vorabend vor dem Fernseher gesessen, sich den Empfang des Präsidenten angesehen und sich über die Kleider und Schnittchen ereifert haben. Sie alle würden heute bestimmt ausschlafen.

In der Vereinshütte war es still. Roland stampfte absichtlich fest auf, als er über den Flur zwischen Damen- und Herrenumkleide ging. Wenn dort drüben jemand wäre, würde die Person sich doch wohl zu erkennen geben und den Kopf durch die Tür stecken und grüßen, wenn sie nicht gerade splitterfasernackt wäre. Zumindest könnte sie »Guten Morgen« rufen. Sofern sie ihre Sinne beisammenhätte. Das war ja nicht mehr bei allen alten Frauen der Fall.

Er spitzte die Ohren. Es war mucksmäuschenstill.

Ah ja, anscheinend hatte da jemand geschludert, war abends noch eisbaden gewesen und hatte vergessen, das Licht auszuschalten. Darüber musste Roland nun wirklich nicht länger nachdenken.

Behände zog er sich aus, stieg in seine Badehose, in die Badeschuhe und streifte sich die dicken Handschuhe und die Wollmütze über. Dann warf er sich das Handtuch über die Schulter und marschierte nach draußen. Nur nicht den Schlüssel zum Umkleideraum vergessen – nicht dass man hinterher nur in Badehose in der Kälte ausgesperrt war. So etwas passierte immer wieder mal, hatte Roland gehört.

Es war wirklich ein majestätischer Wintermorgen, fast wie auf einer Weihnachtskarte. Es schneite leicht, graublau und knisternd erstreckte sich vor ihm die Bucht, und alles war still und leise. Nur die Pumpe unten im Wasser brummte vor sich hin, doch auch die verstummte, als Roland die Zeitschaltuhr an der Wand einstellte. Wenn die Pumpe lief, war das Eisbaden kein Vergnügen. Nach zehn Minuten würde sie von allein wieder anspringen. Bis dahin hätte Roland ausreichend Zeit im Wasser gehabt und wäre fertig. Obwohl er ein erfahrener Eisbader war, blieb er zu dieser Jahreszeit nie länger als eine gute halbe Minute im Wasser.

Draußen rund um den Windschutz und den Leiterabstieg war es stockdunkel, bis hierher reichte die Lampe an der Außenwand der Hütte nicht, doch Roland legte wie immer sein Handtuch auf die schmale Holzbank und den Schlüssel zur Umkleide ordentlich obenauf.

Dann holte er ein paarmal tief Luft, packte das Geländer mit beiden Händen und stieg die Sprossen ins eiskalte Wasser hinab.

Teufel auch, war das kalt! Aber es war die Überwindung wert – das hier war das echte Leben.

Noch während er die ersten verkrampften Schwimmzüge machte, stieß er im Wasser gegen etwas.

Komisch. Hier war es mindestens drei Meter tief. Hatte sich irgendein Bauteil der Pumpe gelockert? Das war schon mal passiert, fiel Roland wieder ein, und er streckte die Hand aus.

Nein, das dort war etwas Größeres. Irgendwie weich und hart gleichermaßen … Fühlte sich nicht nach einem Maschinenteil an.

Erst als Roland in im Wasser treibende Haare griff, dämmerte ihm, was dort im Eisloch lag.

Polizeioberkommissarin Anna Glad war bereits wach, wenn auch kein bisschen ausgeruht, als das Telefon klingelte. Heutzutage bekam bei der Polizei am Unabhängigkeitstag wohl niemand mehr frei. Überall liefen sie Gefahr, dass irgendeine »vaterländische« Veranstaltung in einen fremdenfeindlichen Tumult ausartete. Hier in der Kleinstadt war es zwar ruhig geblieben, aber in Helsinki war es erwartungsgemäß zu Auseinandersetzungen in der Nähe des Präsidentenpalasts gekommen. Aus dem ganzen Land waren Kräfte einbestellt worden, die sich hatten bereithalten müssen, und auch Anna selbst war bis 23 Uhr im Dienst gewesen. Als sie endlich zu Hause gewesen war, hatte sie nicht einschlafen können. Bei all dem Thermoskannenkaffee … Aber heute würde sie davon noch viel mehr brauchen, weil dieser Arbeitstag anscheinend einen Blitzstart erforderte.

Ein Frühaufsteher, der unten an der Timmerviken eisbaden wollte, hatte eine Leiche im Eisloch entdeckt. Mehr wusste Anna derzeit noch nicht.

An sich war es erstaunlich, dass solche Sachen nicht häufiger passierten. Immer mehr Leute gingen diesem hirnverbrannten Eisbaden nach, das angeblich so gesund und erfrischend sein sollte. Allein bei der Vorstellung klapperten Anna die Zähne, als sie in Richtung Timmerviken fuhr. Die Badestelle lag nur eine Handvoll Kilometer vom Stadtkern entfernt. Sich so etwas Grässlichem auszusetzen, wie mitten im Winter ins Meer zu hüpfen, war doch im Leben nicht gesund, sondern klang eher lebensgefährlich – und womöglich war diese arme Teufelin im Eisloch der nicht mehr lebende Beweis dafür. Falls sie denn eine Eisbaderin gewesen war. Genauso gut konnte sie verunglückt sein. Es gab schließlich Leute, die den Nationalfeiertag gern mit ordentlich Alkohol feierten. Dass sie an Mittsommer absoffen, war fast schon eher Regel denn Ausnahme. Am Unabhängigkeitstag war so etwas eher ungewöhnlich, aber man wusste ja nie.

Hinter der blauen Holzhütte, in der die Umkleiden untergebracht waren, parkte ein Rettungswagen, ein Stück dahinter ein schwarzer Transporter, und als Anna gerade aussteigen wollte, bremste Märta Hanssons Skoda neben ihr ab.

»Morgen! Schicke Frisur!«, rief Märta ihr munter zu.

Brummelnd warf Anna einen Blick auf ihr Spiegelbild im Autofenster. Sie sah aus wie eines dieser dänischen Trollfigürchen, die sie als Kind gesammelt hatte. Sie angelte ihre Mütze aus der Jackentasche, setzte sie auf und sah prompt einen Hauch professioneller aus. Sie musste sich endlich angewöhnen, zu Hause in den Spiegel zu gucken, bevor sie sich auf den Weg machte, selbst wenn Eile geboten war. Neidisch beäugte sie Märtas wippenden Pferdeschwanz, der hin und her schaukelte, als die Kollegin hangabwärts vor ihr her die Hütte umrundete und auf die Badestelle zuhielt.

»Verdammt schöner Morgen«, sagte Märta. »Ich war gerade mit den Skiern auf dem Weg nach draußen, als sich die Zentrale gemeldet hat. Dachte, ich könnte vor der Arbeit noch eine Runde drehen, aber dann probiere ich es eben heute Abend.«

»So ist es manchmal.« Anna versuchte nicht mal, mitfühlend zu klingen.

Es war immer noch dunkel, doch die Sicherheitskleidung des Bergungstrupps blitzte ihnen vom Steg entgegen. Sie stellten gerade einen Scheinwerfer auf, vermutlich um zu sehen, wo genau die Leiche lag – sofern sie noch da war, immerhin ging Strömung durch die Timmerviken, schoss es Anna durch den Kopf.

Die Tür zur Umkleide schlug mit solcher Wucht auf, dass sie zur Seite springen musste, als ein Mann in Taucherausrüstung nach draußen trat.

»Schau einer an«, platzte es aus ihr heraus. »Wie bist du denn so schnell hierhergekommen, Brinkmann?«

»Ich wohne nur ein paar Hundert Meter entfernt«, antwortete Felix Brinkmann mit einem schiefen Grinsen.

Felix war Berufstaucher und schon zigmal ausgerückt, wenn die Rettung Unterstützung bei Todesfällen durch Ertrinken brauchte. Jetzt marschierte er zielsicher den Steg entlang in Richtung der Rettungskräfte, die hierhin und dorthin zeigten und einander Dinge erläuterten.

»Wir müssen den Windschutz abbauen, wenn wir die Leiche bergen wollen«, sagte gerade einer von ihnen.

Die Tür zur Hütte ging abermals auf, und ein alter Mann spähte heraus.

»Äh, hallo … Ich heiße Roland Ström. Ich hab den Notruf gewählt.«

Er versuchte, selbstbewusst zu wirken, doch das blasse Gesicht sprach eine andere Sprache.

Anna und Märta stellten sich vor.

»Vielleicht gehen wir besser ins Warme, damit ich Ihnen ein paar Fragen stellen kann«, schlug Anna vor.

Bestenfalls würden sie den Mann in der Hütte beschäftigen können, bis die Leiche geborgen wäre. Deren Anblick wollte Anna ihm lieber ersparen.

Roland Ström nickte folgsam.

»Ich sehe mal nach den anderen«, sagte Märta.

Roland verschwand nach drinnen und ging durch eine Tür, an der ein Schild mit einem muskelbepackten Sonnenanbeter hing. Anna warf einen Blick auf die Tür gegenüber, an der ein ähnliches Schild mit einer kurvigen Bikiniträgerin hing. Dort fiel Licht durch den Türspalt.

»Haben Sie in die Damenumkleide geguckt?«, wollte sie von Roland wissen.

Er sah sie empört an.

»Natürlich nicht!«

»Setzen Sie sich, ich bin gleich bei Ihnen.«

Sie schob die Tür mit der Bikinifrau auf. Dort war niemand, allerdings hingen an einem Haken an der Wand eine dicke weinrote Jacke mit pelzbesetzter Kapuze und eine schwarze Thermohose. Auf der Bank lag ein Stapel akkurat zusammengelegter Kleidungsstücke. Eine gestreifte Baumwollunterhose lag zuoberst.

Die Sachen konnten eigentlich nur dem Opfer gehören.

Eine Handtasche war nirgends zu sehen, deshalb suchte Anna die Jackentaschen nach einem Handy oder einem Portemonnaie ab, das ihr Hinweise zur Identität des Opfers geben könnte. Nichts.

Die Türen zu den beiden Umkleideräumen waren nur angelehnt, und Roland, der sich auf eine Bank bei den Herren gesetzt hatte, schien zu ahnen, worauf Anna aus war.

»Gucken Sie ins Logbuch«, rief er herüber.

»Logbuch?«

»Da müsste irgendwo ein Block herumliegen.«

Anna sah sich um, und tatsächlich lag auf einem Tischchen neben der Tür ein abgenutzter Spiralblock samt Stift.

»Wie funktioniert das hier, Roland?«

»Wer immer hier baden kommt, trägt sich mit Datum, Uhrzeit und Namen ein. Dient der Vereinsstatistik. Wenn da ein Vereinsmitglied im Eisloch liegt, dann hat es sich erst ins Logbuch eingetragen.«

Anna blätterte durch den Block. Die Seiten waren voller Daten, Namen und Uhrzeiten, und hier und da stand eine scharfe Ermahnung: Wischt den Boden auf, wenn ihr euch umgezogen habt, da liegt überall Sand!

Der letzte Eintrag schien vom Vorabend zu stammen. Um 23.15 Uhr hatte sich jemand eingetragen, dessen Name schwer zu entziffern war. Boll? Nein, vielleicht Boel? Boel West… irgendwas.

Anna blätterte zurück und entdeckte denselben Namensschriftzug noch auf diversen anderen Seiten. Anscheinend war diese Boel W. des Öfteren hier gewesen. Dem Logbuch zufolge war sie häufig spätabends zum Baden gekommen.

Roland Ström seufzte und veränderte seine Sitzposition. Er sah gleichermaßen nervös und ungeduldig aus.

»Also gut, Roland. Wären Sie so freundlich und könnten mir erzählen, was passiert ist, als Sie heute früh hierherkamen?«

Anna zückte ihren Notizblock.

Roland kam immer frühmorgens her. War so gut wie immer der Erste vor Ort, hatte abgesehen von dem Licht, das in der Damenumkleide brannte, nichts Nennenswertes bemerkt und auch nicht weiter darüber nachgedacht, bis er auf die Leiche im Wasser gestoßen war.

Er hustete und schüttelte erschüttert den Kopf. Mit einem Nicken forderte Anna ihn auf fortzufahren.

Es war schwer zu sagen, wie lange das Team auf dem Steg dafür brauchen würde, die Leiche zu bergen. Anna hoffte, dass sie schnell fertig würden, damit sie Roland nach Hause schicken konnte. Außerdem würde es schon bald hell werden. Da würden die Leute garantiert bemerken, dass unten am Badesteg etwas im Gange war. In den letzten Jahren kam es immer häufiger vor, dass die Sicherung eines Unfallorts und ganz normale Ermittlungsarbeit über irgendjemandes Instagram-Account live gesendet wurden. Die Leute hielten sich allesamt für Nachrichtenagenturen – es war schlichtweg irrsinnig, wie gedankenlos manch einer sein konnte.

Anna stellte weitere Fragen zum Winterbadeverein und zu Rolands Tagesablauf, allerdings eher, um Zeit zu schinden, denn um ihm weiter auf den Zahn zu fühlen.

»Wie viele Mitglieder hat der Verein?«

»Das dürften gut hundert sein, allerdings sind bei Weitem nicht alle aktiv. Aber man muss Mitglied sein, um einen Schlüssel zu kriegen, und ich meine, dass wir mal einhundertzwanzig bestellt haben.«

Roland wusste überdies zu berichten, dass die Mehrzahl der Mitglieder ältere Damen waren und er als Mann in der Minderheit war. Aber er sei seit 2008 nicht mehr erkältet gewesen, verkündete er stolz, und das nur dank des Eisbadens.

Anna fragte sich, ob Roland sein Hobby nach dem heutigen Morgen beibehalten würde. Aber vielleicht war er auch nicht so leicht einzuschüchtern.

Nach einer Weile klopfte es an der Tür, und Märta trat ein.

»Sie bringen sie jetzt weg.«

Anna bat Roland Ström, noch kurz in der Umkleide zu warten, und folgte Märta nach draußen.

Auf dem Steg sammelte Felix Brinkmann gerade sein Equipment ein, während die Kolleginnen und Kollegen von der Rettung mit der Trage soeben den Parkplatz erreichten.

»Darf ich?«, fragte Anna, als die Trage in dem dunklen Transporter verschwunden war.

Eine Frau – dem Namensschild zufolge Kirsi – trat zur Seite, und Anna stieg in den Wagen.

»Wiederbelebungsmaßnahmen wären zwecklos gewesen«, erklärte Kirsi. »Wir bringen sie ins Bezirkskrankenhaus, damit Agneta Eriksson sie obduziert.«

Anna beugte sich vor und war überrascht. Aus irgendeinem Grund hatte sie mit einer älteren Person gerechnet, doch Boel W. – sofern sie es denn war – konnte kaum älter als vierzig geworden sein. Anscheinend hatten der altmodische Vorname und Rolands Aussage, die meisten Vereinsmitglieder seien ältere Damen, Anna zu voreiligen Schlüssen verleitet.

Die Frau hatte schulterlange Haare, die trocken womöglich ins Rötliche geschimmert hätten. Sie trug einen sportlich geschnittenen Badeanzug und an den Händen so etwas wie Gummihandschuhe.

»Sie hatte auch Badeschuhe an, aber die sind abgegangen, als wir sie herausgezogen haben«, erklärte Märta, die Annas Blick gefolgt war.

»Ja, baden wollte sie auf jeden Fall. Ich meine, sie ist nicht versehentlich unter Wasser geraten.«

»Nein, sieht nicht danach aus.«

Eine Zeit lang standen beide stumm da und betrachteten die Frau auf der Bahre. Falls es sich wirklich um diese Boel handelte, die um kurz nach 23 Uhr hatte baden gehen wollen, hatte sie fast sieben Stunden lang im Wasser gelegen, überschlug Anna, und das bei Temperaturen, die nur einen Hauch über dem Gefrierpunkt lagen.

»Komisch«, murmelte sie, »dass die Strömung sie nicht mitgenommen hat.«

Im selben Moment kam Felix an dem Transporter vorbei. »Da unten im Wasser ist eine Pumpe, die das Eisloch offen hält. Ich nehme an, die hat auch dafür gesorgt, dass die Leiche in Richtung Steg gedrückt und nicht in eine andere Richtung mitgerissen wurde.«

»Wissen wir schon, wer sie ist?«, fragte Märta.

»Ihre Kleidung liegt in der Umkleide, aber ich habe keine persönlichen Sachen gefunden, die uns einen Hinweis geben könnten. Eine gewisse Boel Westman oder Westland hat sich gestern Abend in ein Heft da drin eingetragen. Das ist derzeit alles, was wir haben.«

»Ist das nicht komisch? Dass jemand herkommt und gar keine Sachen dabeihat? Nicht mal einen Schlüssel?«, hakte Märta nach. »Auf dem Steg lag auch nichts, kein Handtuch, nichts … Aber das könnte natürlich ins Wasser geweht sein.«

Anna nickte, ließ jedoch das fast violette Gesicht der Frau nicht aus den Augen. Märta hatte recht, diese Frau war eindeutig in der Umkleide gewesen, die laut Roland sonst immer verschlossen war. Nur wo war der Schlüssel? Vielleicht war er wirklich ins Wasser geweht worden.

»Ich gehe die Kleidung noch einmal durch. Womöglich habe ich etwas übersehen. Aber Roland Ström darf jetzt nach Hause gehen, oder?«

»Na klar.«

Anna kehrte zu Roland Ström zurück, bedankte sich für seine Hilfe und vergewisserte sich, dass sie die richtigen Kontaktdaten hatte für den Fall, dass sie ihn noch einmal befragen müsste. Sie nannte ihm den Namen eines Seelsorgers, falls er mit jemandem über die Ereignisse sprechen wollte, doch Roland schüttelte bloß den Kopf, klaubte seine Sachen zusammen und machte sich auf den Heimweg.

Anna ging erneut hinaus auf den Steg und betrachtete nachdenklich die vielleicht zehn Quadratmeter große Öffnung im Eis. Der Himmel wurde allmählich heller. Der Windschutz, den der Bergungstrupp abmontiert hatte, lag am Ende des Stegs und sah aus wie eine umgekippte riesige Reispapierlampe.

Mit dem Handy in der Hand gesellte sich Märta zu ihr.

»Ich habe im Register eine Boel Westman gefunden, Jahrgang 1972. Könnte sie das gewesen sein? So sieht ihr Facebook-Profil aus.«

Anna beäugte das Foto einer ernst dreinblickenden Frau mit Brille und rötlichem Haar, das sie sich oben auf dem Kopf zusammengezwirbelt hatte.

»Sieht ihr definitiv ähnlich.«

»Dann wurde sie 45 Jahre alt. Vielleicht hatte sie einen Herzfehler? Denn sonst würde so ein junger Mensch doch nicht beim Eisbaden sterben – erst recht nicht, wenn er das regelmäßig gemacht hätte.«

Anna biss sich nachdenklich auf die Lippe. Obwohl sie persönlich nichts vom Eisbaden hielt, war es schon bemerkenswert: Natürlich konnte eine gesunde, durchtrainierte Person nach nur wenigen Minuten in so kaltem Wasser sterben, aber laut Umkleide-Logbuch war Boel Westman mehrmals pro Woche zum Baden gekommen. Sie war sicherlich abgehärtet gewesen und hatte gewusst, was sie tat. Warum war sie nicht mehr aus dem Eisloch herausgekommen?

»Könnte sie ausgerutscht sein und sich an der Kante den Kopf angeschlagen haben?«, spekulierte Märta. »Ich hab allerdings keine äußerlichen Verletzungen erkennen können.«

»Darum soll sich Agneta in der Rechtsmedizin kümmern. Falls sie es für angebracht hält, lässt sie die Leiche nach Helsinki ins Labor bringen. Aber fürs Erste sehe ich keinen Grund, warum wir es mit etwas anderem als mit einem Unfall oder gesundheitlichen Ursachen zu tun haben sollten.«

Märta pflichtete ihr bei.

»Hast du eine Adresse von dieser Westman?«, fragte Anna.

»Japp. Sie wohnt ganz in der Nähe – in der Futurica, du weißt schon, in dieser Schule. Die haben teils Internatsschüler, aber anscheinend wohnen dort auch ein paar Lehrer. Vielleicht hatte sie deshalb kein Portemonnaie und kein Handy dabei? Weil sie keinen weiten Weg hatte?«

»Wie, meintest du, heißt diese Schule?«

»Futurica. Die haben sich vor ein paar Jahren umbenannt. Früher war das irgendeine religiöse Einrichtung, glaube ich. Inzwischen gehören sie zum Volksbildungswerk. Liegt nur ein paar Kilometer von hier entfernt auf einer Landzunge.«

»Dann müssen wir dort wohl mal hin. Gehen oder fahren?«

»Wir fahren, sonst friere ich mir noch die Möpse ab!«

»Dann wäre es vielleicht eine gute Idee, die Jacke zuzumachen …«

»Oder sich in ein schickes Auto mit Sitzheizung zu setzen. Komm!«

Rolf Månsson schaltete das mittlere Licht des elektrischen Kerzenleuchters im Fenster ein. Warmes Orangegelb breitete sich in der Küche aus, und er beschloss, auf das Deckenlicht zu verzichten. So war es gemütlicher.

Er goss Wasser in die Kaffeemaschine – eine ordentliche Kanne voll, obwohl er allein war. Die Zeitung lag draußen auf der Fußmatte, und es zog in der Hüfte, als er sich danach bückte und erst im nächsten Moment bemerkte, dass es sich gar nicht um die Zeitung, sondern um Reklame handelte.

Aber klar, am Morgen nach einem Feiertag kam keine Zeitung.

Seine Hüfte schmerzte noch immer, als er in die Küche zurückging.

Ist noch gar nicht so lange her, dass ich gut in Form und im besten Alter war, dachte Rolf leicht verbittert. Und jetzt bin ich ein alter Sack mit knackenden Gelenken. Das ging verdammt schnell.

Rolf hatte einige Monate zuvor nach einem Herzinfarkt in Frührente gehen müssen. Eine Zeit lang hatte er noch mit den Folgen zu schaffen gehabt, inzwischen ging es ihm wesentlich besser, doch an den Gedanken, dass das Leben nie mehr wie früher sein würde, musste er sich erst gewöhnen. Es fühlte sich so ungerecht an. Ausgerechnet er, der immer auf Sport und Ernährung und solche Dinge geachtet hatte! Hatte er kein gesundes, fittes Rentnerleben verdient?

Aber noch hatte er die Hoffnung nicht aufgegeben. Derzeit wartete er auf einen OP-Termin, und wenn alles glattginge, würde er nach dem Eingriff am Herzen wieder vorsichtig trainieren. Ein Halbmarathon würde es wohl nicht mehr werden. Aber er wollte segeln gehen.

Vielleicht im kommenden Sommer? Im Mittelmeer? Kroatien oder Griechenland, irgendwo, wo das Meer türkisgrün war. Weiße Häuser, blaue Stühle mit Korbgeflecht, leuchtend lila Bougainvilleen, die an Mauern emporwucherten, und dieser herrliche harzige Weißwein … Das hatte Rolf sich zum Ziel gesetzt.

Und wenn er mal von der Gesundheit absah, war das Leben jetzt im Advent gar nicht übel. Draußen schneite es und sah aus wie im Bilderbuch, und die anhaltende Dunkelheit im Winter hatte Rolf nie gestört, ganz im Gegenteil, er fand sie gemütlich.

Er tapste zurück in die Küche und schaltete das Radio an. Passend zur Jahreszeit hatte er einen Sender gefunden, der nur Weihnachtsmusik spielte. Peter Jöbacks samtweiche Stimme ertönte, und Rolf machte sich ein paar Butterbrote, knipste schließlich doch das Deckenlicht an und setzte sich an den Tisch.

Nein, ihm ging es wirklich nicht schlecht. Er war am Leben, hatte eine tolle Familie und mit Max einen phantastischen Partner, auch wenn sie nicht zusammenwohnten. Außerdem war bald Weihnachten, und als Rentner konnte Rolf wirklich das Beste aus der Adventszeit machen. Er hatte sich ein paar Weihnachtskonzerte im Kalender notiert, die Weihnachtsfeier im Hort seines Enkels Leo und einen Glögg-Nachmittag mit den früheren Kollegen – nichts Anstrengendes, er würde täglich in sich hineinhorchen und zu Hause bleiben und sich entspannen, falls sich das besser anfühlte. Und vielleicht Sahnebonbons kochen? Das hatte er seit den Neunzigern nicht mehr gemacht.

Weil keine neue Zeitung gekommen war, schlug er kurzerhand die vom Vortag auf. Er hatte sie nur schnell durchgeblättert, weil Max bei ihm übernachtet und sie am vorigen Morgen noch zusammen gefrühstückt hatten.

Heutzutage stand nicht mehr allzu viel Gutes in der Zeitung, fand Rolf. Es war schon frustrierend: Kürzungen im Gesundheitswesen, eingestellte Bahnverbindungen, ein Schulhaus, das aufgrund von Schimmelbefall abgerissen werden musste, die höchst zweifelhafte Besprechung einer Anthologie und die Meldung, dass der jährliche Lebkuchenhaus-Wettbewerb mangels Interesse abgesagt worden war.

In der Mitte stieß er auf ein längeres Interview mit dem Bürgermeister, der Ende Januar pensioniert werden würde.

Interessiert betrachtete Rolf das breite Grinsen von Kaj-Eric Svartström. Der Mann sah eindeutig abgehalfterter aus als Rolf selbst. Solche Tränensäcke bekam man nur, wenn man zu wenig schlief und zu viel trank. Bestimmt der ganze fade Rotwein bei diversen Empfängen und der eine oder andere Drink nach Feierabend, um all die säuerlichen Kommentare unzufriedener Mitbürger hinunterzuspülen.

Nach eigenen Angaben freute sich Svartström auf mehr Zeit mit der Familie und auf Thailandreisen, und er erging sich in zahlreichen Floskeln über die strahlende Zukunft der Region. Jaja. Der Mann freute sich wohl am meisten darüber, dass die schimmeligen Schulen, die explodierenden Kosten für den neuen Gästehafen und andere Projekte, die sich nicht wie geplant realisieren ließen, ihn nichts mehr angingen. Kaj-Erics private Zukunft war unter Garantie strahlender als die der Region.

Vier Kandidaten hatten sich als Nachfolger in Position gebracht, hieß es in dem Artikel: zwei Männer und zwei Frauen. Nicht schlecht, dachte Rolf, bislang waren es immer nur Männer gewesen, da wäre eine Frau eine willkommene Abwechslung. Riikka Halonen kannte er nur flüchtig, sie war derzeit Wirtschaftsdezernentin der Stadt. Sicher eine tüchtige Frau, auch wenn sie hier und da aneckte.

Jasper Jokela, der jüngste Kandidat, war ihm ebenfalls ein Begriff: ein blonder Mann mit widerspenstigen Haaren und schicker Brille. Jokela trat gern als Veranstalter verschiedener Events in der Stadt in Erscheinung, seien es Konzerte, Märkte oder anderer Budenzauber. Ein leicht anstrengender Typ, dem es an Lebenserfahrung und Bescheidenheit mangelte, der aber trotzdem wahnsinnig selbstgerecht auftrat.

Der Dritte, der sein Interesse an dem Amt bekundet hatte, war ein Unternehmer, der noch nicht lange hier ansässig war: Jimmy Kjellin. Der Name klang vage bekannt, doch Rolf konnte ihn nicht zuordnen.

Die Vierte, eine Frau mit einem Background im Bildungssektor, wurde in diesem Zusammenhang gern als Joker bezeichnet und war Rolf gänzlich fremd.

Na ja. Einer von denen würde also die Geschicke der Stadt lenken, sobald Svartström sich in den Flieger nach Thailand gesetzt hätte.

Rolf überflog die Porträts der vier Kandidaten, und mit einem Mal wurde er wehmütig. Dass eine neue Bürgermeisterin oder ein neuer Bürgermeister gewählt würde, ließ auf hitzige Debatten im Pausenraum des Polizeireviers schließen. Kurz wünschte er sich, er wäre immer noch dabei, könnte dem Flurfunk lauschen und wüsste, was gerade vor sich ging, könnte sich eine eigene Meinung bilden und diese dann in der Schlange vor dem Kaffeeautomaten kundtun, so wie er es sein Arbeitsleben lang getan hatte.

Aber das war jetzt vorbei.

Sein Handy meldete sich, eine Nachricht von Max.

Bin um 17 Uhr fertig. Soll ich etwas mitbringen?

Rolf begnügte sich mit einem emporgereckten Daumen, wie es auch seine Töchter machten. Sie hatten sich über ihn lustig gemacht, weil er früher immer so etwas wie Alles bestens, Ellen! Gruß, Papa geschrieben hatte. So fand er es einfach am höflichsten. Trotzdem hatte er irgendwann beschlossen, sich dem Zeitgeist zu beugen. Außerdem war er während seines Klinikaufenthalts so angeschlagen gewesen, dass dieses kleine Daumen-hoch-Symbol doch recht praktisch gewesen war. An Emojis hingegen traute sich Rolf nicht heran. Anscheinend konnten die nämlich versteckte Botschaften enthalten. Als seine Jüngste ihm geschrieben hatte, dass sie eine Prüfung verhauen habe, hatte Rolf ihr ein Smiley geschickt, das mitfühlend heulte, woraufhin die Tochter beleidigt zurückgefragt hatte, warum er sich bitte schön über ihr Elend schlapplachte. Nun ja.

Erst jetzt entdeckte Rolf, dass er eine weitere Nachricht erhalten hatte. Seine Ex-Frau Mia hatte geschrieben.

Komme mit Essen gegen 12 Uhr, bis später!

Seufzend legte Rolf das Handy beiseite. So war es, seit er aus dem Krankenhaus entlassen worden war: Max und Mia und manchmal auch seine älteste Tochter Elvira wetteiferten förmlich darum, wer Rolfs persönliche Florence Nightingale sein durfte.

Dabei war Max derjenige, den Rolf mittlerweile als seinen nächsten Angehörigen betrachtete, auch wenn sie nie zusammengewohnt hatten und wahrscheinlich auch in Zukunft nicht zusammenziehen würden. Zwei separate Haushalte hatten sich für sie bewährt. Wenn einer von ihnen den anderen leid war, fuhr man eben wieder zu sich nach Hause. So ein Arrangement hatte diverse Vorteile, unter anderem kam es zwischen Rolf und Max nur selten zu Streit. Mitunter wollte Max für sich allein sein, und Rolf respektierte das; an anderen Tagen war es andersherum, und daran war auch nichts komisch.

Seine Ex-Frau Mia wiederum hatte nach fünfundzwanzig gemeinsamen Jahren unter ein und demselben Dach einen recht guten Einblick in Rolfs Routinen und Vorlieben. Wenn sie für ihn einkaufen fuhr, kaufte sie mit großer Wahrscheinlichkeit exakt die Sachen, die er gern haben wollte, während Max manchmal recht wunderliche Dinge anschleppte. Als Rolf ihn einmal um einen Leberauflauf gebeten hatte, hatte Max ihm einen Quinoasalat mitgebracht.

Das Anstrengendste war, dass Mia und Max einander nicht ausstehen konnten, was Rolf in eine unangenehme Lage versetzte. Beide wollten schließlich nur das Beste für ihn, aber er konnte angesichts ihrer Sticheleien auch nicht einfach schweigen, ohne dass einer der beiden beleidigt war. Aber er würde mit Mia darüber reden. Immerhin war sie es, die sich zurücknehmen sollte.

Ein weiteres Thema war Weihnachten.

Das erste Weihnachtsfest nach Mias und Rolfs Scheidung hatte sie mit den Kindern und er bei der Arbeit verbracht. Allerdings war dies vor der Geburt des kleinen Leo gewesen. Inzwischen wollten sie beide Weihnachten am liebsten mit ihrem Enkel verbringen, was an sich auch in Ordnung war – nur konnten sich Mia und Max nun mal nicht riechen, und wenn Rolf mit der Familie feiern würde, wäre Max außen vor. Auch keine schöne Vorstellung. Ach.

Rolf seufzte laut in Richtung des verschmitzt lächelnden scheidenden Bürgermeisters in der Zeitung. Svartström freute sich also auf »mehr Zeit mit der Familie«.

Das konnte Rolf von sich selbst eher nicht sagen.

Familie war toll, dachte er. Aber am besten war sie in homöopathischen Dosen.

»Wieso heißt das hier eigentlich Stockudden?«, fragte Anna Glad. »Das sieht doch kein bisschen nach einer Landzunge aus, eher nach einer Insel.«

Sie überquerten die Brücke, die von einem kleinen Parkplatz hinüber nach Stockudden und zur Futurica-Schule führte.

»Ist wohl so ein Zwischending.« Märta Hansson nahm ihr Telefon hoch, auf dem sie eine Karten-App aufgerufen hatte. »Auf dieser Karte hier sieht es nach Insel aus, aber anscheinend kann man im Sommer dorthinüber laufen, ohne nasse Füße zu kriegen. Hängt wahrscheinlich davon ab, wie hoch das Wasser steht.«

Anna warf einen Blick über das Brückengeländer. Unter der verschneiten Eisdecke konnte sie vereinzelt Steine sehen. Die Brücke war etwa fünfzig Meter lang und gerade breit genug für einen Pkw. Am Inselufer stand ein hoher Maschendrahtzaun samt Pforte, die aussah, als wäre sie seit geraumer Zeit nicht mehr geschlossen worden. Jetzt, da so viel Schnee lag, wäre es kaum möglich, sie zuzuziehen.

Anna fragte sich, warum hier überhaupt ein Zaun errichtet worden war. Um Eindringlinge fernzuhalten? Oder um die Bewohner der Insel am Gehen zu hindern? Als Maßnahme gegen Schulschwänzer?

»Wann wusstest du eigentlich, dass du zur Polizei wolltest?«, fragte Märta aus heiterem Himmel.

Anna war so überrascht, dass sie ins Schlittern geriet.

Typisch Märta – ihren Gedankengängen zu folgen, war nicht immer leicht, und mitunter stellte sie unerwartete und ziemlich persönliche Fragen, mit denen Anna niemals gerechnet hätte.

»Schon als Teenager«, antwortete sie knapp.

Sie hatte nichts gegen die jüngere Kollegin, war aber auch nicht so vertraut mit ihr, dass sie Märta die ganze Wahrheit über ihre schwierige Kindheit und Jugend erzählen wollte, über ihre alkoholkranke Mutter und ihre frühen Begegnungen mit der Ordnungsmacht.

»So früh? Als Teenager hatte ich noch ganz andere Pläne. Von Pilotin bis Podologin war alles dabei, wenn ich mich richtig erinnere«, lachte Märta. »Na ja, und ganz früher wollte ich Fußballerin werden. Aber dann hatte ich Probleme mit der Achillessehne, da war das natürlich gelaufen …«

Schon im nächsten Moment blieb sie so abrupt stehen, dass Anna fast abermals ausrutschte, als sie versuchte, nicht mit der Kollegin zusammenzustoßen.

»Tja, wenn ich an so eine piekfeine Schule gegangen wäre, hätte ich wahrscheinlich mit Vergnügen jeden Blödsinn gelernt!«

Anna blickte an dem klobigen Backsteingebäude empor. Zwei Stockwerke hoch, schwarzes Blechdach. Die Bauweise erinnerte Anna an das alte Kasernengelände am Stadtrand.

»Ich frage mich gerade, ob die Schülerinnen und Schüler ebenfalls in diesem Schloss wohnen oder da drüben in diesen Verschlägen.« Sie zeigte auf ein paar rot gestrichene Hütten, die näher am Wasser standen, wesentlich neuer zu sein schienen als das Backsteingebäude, allerdings nicht sehr malerisch aussahen.

An der Fassade des Hauptgebäudes hingen zwei Schilder, ein altes aus Kupfer, auf dem in zierlichen Lettern »Rektorat« stand, und ein moderneres aus Kunststoff, auf dem ein stilisiertes Sonnenlogo und der Schriftzug »Futurica« prangten. Der Kontrast zwischen Alt und Neu fühlte sich für Anna fast schon ironisch an. Ob das Absicht war?

Märta warf einen Blick auf ihr Handy.

»Hm. Boel Westman scheint genau hier gemeldet zu sein. Gehen wir rein und schauen uns um.«

Sie stemmte die schwere Tür auf, und sie traten über die Schwelle. Die Tür schlug hinter ihnen zu, und einen Moment lang hallte es dumpf in der Stille wider. Einen Augenblick später erschien am rückwärtigen Ende des Eingangsbereichs eine Frau.

»Die Schule ist heute geschlossen«, sagte diese sichtlich verärgert und mit schriller Stimme. »Das Sekretariat ist erst wieder am Montag besetzt.«

»Wir sind von der Polizei«, entgegneten Anna und Märta gleichzeitig, was ziemlich albern wirkte.

Langsam kam die Frau auf sie zu.

»Åsa Kling. Ich bin die Direktorin. Worum geht es denn bitte?«

Anna hoffte inständig, dass Märta den Mund halten würde, damit sie nicht weiter wie zwei Zeichentrickfiguren im Chor antworteten.

»Arbeitet an Ihrer Schule eine gewisse Boel Westman?«

»Ja, sie ist unsere Kunst- und Fotografielehrerin. Keine Ahnung, ob sie zu Hause ist, aber ihre Wohnung ist im ersten Stock. Ich kann Sie hinbringen.«

»Wann haben Sie Boel zuletzt gesehen?«

»Gestern Abend, glaube ich … Ja, richtig. Mein Mann und ich waren zu einer Feier anlässlich des Unabhängigkeitstags eingeladen, und Boel war da, als wir losfuhren. Wir wohnen in der Wohnung gegenüber.«

»Hat sie erwähnt, ob sie für den Abend irgendwelche Pläne hatte?«

»Nein, oder … Ja, sie wollte wohl noch schwimmen gehen. Das macht sie ständig, jahraus, jahrein, da ist sie total verrückt. Eisbaden – im Meer!«

Åsa Kling kicherte nervös, und Anna holte tief Luft. Das hier lag ihr nicht sonderlich, und sie wünschte sich, sie hätte ihren früheren Kollegen Rolf Månsson dabei. Rolf war ein Meister darin gewesen, auf mitfühlende Art schlechte Nachrichten zu überbringen.

»An der Badestelle unten an der Timmerviken ist eine Frau tot aufgefunden worden. Wir haben Grund zu der Annahme, dass es sich um Boel Westman handelt.«

»Das kann nicht sein.«

Åsa Kling machte auf dem Absatz kehrt und marschierte auf den Treppenaufgang zum Obergeschoss zu. Wortlos gingen Anna und Märta ihr hinterher. Die Rektorin klopfte vehement an eine Tür.

»Boel, mach auf, ich bin’s! Mach bitte die Tür auf!«

Keine Reaktion. Stattdessen öffnete sich die Tür gegenüber. Ein Mann trat auf den Flur, dicht gefolgt von einem übergewichtigen Rauhaardackel.

»Was ist denn los, Liebling? Ist etwas passiert?«

»Guten Morgen. Märta Hansson und Anna Glad von der Polizei«, stellte Märta sie beide vor. »Wir kommen leider mit schlechten Nachrichten.«

Sie erklärte dem Mann kurz, aus welchem Grund sie hier waren. Er trat auf Åsa Kling zu und legte ihr beschützend den Arm um die Schultern.

»Das ist ja fürchterlich! Ja, wenn Boel spätabends zum Badesteg wollte, hab ich mir manchmal gedacht, ich sollte vielleicht besser nachsehen, ob sie wieder sicher zu Hause war. Nur waren wir gestern eingeladen, deshalb bin ich gar nicht auf die Idee gekommen … Entschuldigen Sie. Anders Kling, ich bin Åsas Ehemann.«

Anna musterte die beiden. Ein ansehnliches Paar. Anders sah ein paar Jährchen jünger aus als seine Frau. Selbst an ihrem freien Tag waren beide akkurat gekleidet, aber womöglich gingen Hemden und Bügelfalten für manche als Freizeitlook durch – oder aber sie waren irgendwohin unterwegs.

»Dann wohnt Boel hier allein?«, erkundigte sich Anna.

Åsa Kling schien zu sehr in Gedanken zu sein, um auch nur zu hören, was Anna sagte. Stattdessen antwortete Anders Kling. »Ja, das ist richtig. Abgesehen von einer dementen Mutter, die ganz in der Nähe in einem Heim untergebracht ist, hat sie keine weiteren Angehörigen.«

»Und wohnt noch jemand hier im Gebäude?«

»Nein, nur Boel und wir. Unsere Tochter Emma ist noch in der Schule. Die kommunalen Schulen haben heute ganz normal Unterricht. Dann haben wir noch einen Musiklehrer, Johannes, aber der wohnt in der Stadt …«

»Jemand muss die Tote identifizieren«, fuhr Anna dazwischen.

Åsa Kling schluchzte auf, riss sich dann aber zusammen und wischte sich mit dem Handrücken eine Träne aus dem Gesicht.

»Das kann ich übernehmen«, sagte sie mit belegter Stimme. »Ich bin immerhin Boels Vorgesetzte, Nachbarin und Freundin. Näher an eine Angehörige dürften Sie nicht herankommen, weil ihre Mutter so krank ist.«

»Haben Sie einen Schlüssel zu ihrer Wohnung?«, erkundigte sich Märta.

Anders Kling verschwand in seiner Wohnung und kehrte mit einem dicken Schlüsselbund zurück.

»Hier sind die Schlüssel zu sämtlichen Türen im Schulgebäude. Das hier ist der Zweitschlüssel zu Boels Wohnung.«

Märta schloss auf und bat das Ehepaar Kling, bis auf Weiteres in der eigenen Wohnung zu warten. Der Dackel scherte sich nicht darum, sondern wieselte fröhlich durch Boel Westmans Wohnungstür, noch ehe jemand ihn zurückhalten konnte. Anna ging ihm hinterher und sah sich um.

Die Wohnung bestand aus einem großen Wohn-Schlaf-Raum und einer kleinen Pantryküche. In der Ecke stand ein altertümlicher Kachelofen. Anna nahm an, dass das Zimmer zu einem früheren Zeitpunkt in der Geschichte der Schule ein Klassenraum oder vielleicht ein Schlafsaal gewesen war. Boel Westman hatte ihre Wohnung spärlich möbliert: Schreibtisch, Bett, ein kleiner Esstisch, ein Sessel. Alles in allem hätte die Wohnung unpersönlich gewirkt, wären da nicht die vergrößerten Landschaftsaufnahmen an den Wänden gewesen.

»Fotografielehrerin, meinten sie. Ob das Schülerarbeiten sind? Oder vielleicht ihre eigenen Fotos?«, spekulierte Märta, die sich die Bilder ebenfalls ansah.

»Sie sind jedenfalls toll«, erwiderte Anna.

»Guck dir das an!«, platzte es aus Märta heraus, die sich einem schmalen weißen String-Regal an der Wand direkt über dem Bett zugewandt hatte.

Das Regal war voller Bücher, die alle zu ein und derselben Serie zu gehören schienen.

»Hast du die auch gelesen, als du noch jünger warst?«, fragte Märta.

»Nein.«

Für Annas Begriffe klang die Kollegin ein bisschen zu euphorisch. Sie konnte nur hoffen, dass das Ehepaar Kling außer Hörweite war.

»Nicht? Die Saga vom Eisvolk – die war phantastisch! Das muss annähernd die komplette Reihe sein! Boel Westman muss ein großer Fan gewesen sein …«

Unterdessen war der Dackel, der sich hier gut auszukennen schien, auf einen Teppich an der Heizung zugetrottet und hatte sich hingelegt. Die Lampe neben dem Sessel brannte, und in der Spüle stand ein kleiner Stapel mit benutztem Geschirr. So sah es also zu Hause bei jemandem aus, der vorgehabt hatte, nur kurz nach draußen zu gehen. Doch Boel Westman würde nicht mehr hierher zurückkehren, und Anna schaltete die Lampe aus.

»Wir nehmen die Direktorin mit«, beschloss sie. »Komm, Hundchen, wir gehen.«

Irgendwo knallte es, und die sechzehnjährige Isabella Elo zuckte zusammen. Sie war weder schreckhaft, noch hatte sie im Dunkeln Angst, trotzdem fühlte sie sich an den Wochenenden auf Stockudden, wenn niemand mehr auf der Insel war, immer leicht unwohl.

Was war das für ein Knall gewesen? Wahrscheinlich nur wieder die schwere Eingangstür zum Hauptgebäude, die zugefallen war. An einem Tag wie diesem war es hier so leise, dass man die Tür bis hinunter zu den Schülerunterkünften hörte.

Aber die Unterbrechung kam ihr nicht ungelegen. Dann legte sie eben jetzt eine Pause ein. Eigentlich hatte sie vorgehabt auszuschlafen, war trotzdem früh aufgewacht und hatte fast den ganzen Vormittag mit ihrem Blog verbracht, an ihrem Körnerknäckebrot geknabbert und sich durch YouTube geklickt. Dann hatte die Internetverbindung geschwächelt, und sie hatte stattdessen versucht, an ihren Songtexten weiterzutüfteln. Es war ihr nicht sonderlich gut gelungen.

Isabella stand auf und streckte sich. Dann zog sie das Haargummi heraus und massierte sich die Kopfhaut. Es fühlte sich gut an, auch wenn ihre Haare leicht fettig waren. Vielleicht sollte sie sich die Haare waschen und die Gelegenheit nutzen, um sich perfekte Lucia-Locken zu drehen? Sie hatte Glätteisen sowie Lockenstab und eine ganze Tasche voller Stylingprodukte mit in die Schule genommen.

Doch zuallererst würde sie einen kleinen Spaziergang an der frischen Luft machen. In ihrem kleinen Zimmer war es stickig geworden. Die Mädchen, mit denen sie hier zusammenwohnte, hielten sie für verrückt, dass sie auf Stockudden blieb, obwohl sie doch nur ein paar Kilometer entfernt in einem großen, superschicken Haus wohnen konnte – mit Whirlpool, Fitnessraum und einer Speisekammer, die die Haushälterin jeden Donnerstag mit Leckereien bestückte. Das meiste konnte sie am darauffolgenden Donnerstag wieder entsorgen, weil Isabella auf Stockudden blieb und ihr Vater überwiegend auswärts aß.

Isabella hätte sich eher auf die Zunge gebissen, als ihnen zu erklären, warum sie lieber hier als zu Hause wohnte. Sie würden ohnehin nicht verstehen, wie es war, nur mit Papa unter einem Dach zu wohnen. Oder schlimmer noch – zu Hause zu sein, wenn er Besuch hatte. Dann war von einem Moment auf den anderen das Wohnzimmer voller ekliger Typen, die Isabella angafften, als wäre sie eine Eiswaffel auf zwei Beinen.

Sie sehnte sich fast die Zeiten zurück, als ihr Vater mit Martyna zusammen gewesen war. Isabella und Martyna hatten sich zwar nicht gut verstanden, aber gewisse Dinge hatte die Ex-Freundin ihres Vaters durchaus kapiert.

»The girl needs privacy, no old men parties at home«, hatte sie einmal gesagt.

Ihr starker polnischer Akzent hatte Isabellas Vater vermutlich gleichermaßen angemacht und verschreckt. Doch irgendwann war Martyna ihn leid gewesen, sie hatte einen Job in London ergattert und war verschwunden. Und jene old men parties fanden zu Hause inzwischen wöchentlich statt.

Nein, da war es tausendmal besser, auf Stockudden zu übernachten. Wenn alles gut ging, würde Isabella in ein paar Jahren von hier wegziehen, in eine andere Stadt, vielleicht sogar ins Ausland. Für den Anfang wäre Stockholm gut, dann vielleicht Los Angeles oder Tokio. Oslo wäre naheliegend, weil ihre Mutter dort lebte, aber das würde nicht funktionieren.

Sie speicherte ihr Dokument, auch wenn sie mit ihrem Text nicht sonderlich zufrieden war. Englisch war schwierig – da klang alles irgendwie banal und albern. Love, dove, heart, fart. Als erfolgreiche Singer-Songwriterin würde sie noch eine Schippe drauflegen müssen.

Draußen war es schweinekalt, und schaudernd zog Isabella ihre hellblaue Daunenjacke enger. Sie beschloss, nur die kleine Runde zum Bootshaus und wieder zurück zu drehen, um ihren Kopf freizubekommen – allenfalls noch ein Stück übers Eis.

Hinter sich hörte sie Stimmen und drehte sich um. Zwei Frauen kamen aus dem Hauptgebäude oben am Hang, und erneut fiel die Tür schwer ins Schloss. Hatte die Direktorin oder die Fotolehrerin Besuch gehabt? Anscheinend die Direktorin, stellte Isabella fest, weil die jetzt ebenfalls nach draußen kam. Sie joggte den anderen beiden hinterher, während sie sich den Mantel zuknöpfte, und dann verschwanden sie um die Ecke.

Isabella schlenderte hinunter zum Strand, an der Unterkunft der Jungen vorbei, die dunkel und verwaist war. Oder lief dort Musik?

Der Weg am Basketballfeld vorbei war nicht geräumt worden, und sie stapfte durch den tiefen Schnee. Ein gutes Training für den Hintern.

Es war ein wirklich schöner Tag und, sofern man an so etwas Interesse hatte, perfekt für eine Langlauftour oder irgendwas in der Art.

Ihr Vater war bestimmt unterwegs und düste mit japanischen Geschäftspartnern auf Schneescootern auf dem Eis herum. »The genuine Finnish experience, höhöhö! Have some tervasnapsi!« Ja, Holzteerlikör war typisch finnisch, trotzdem fand sie es grässlich, wenn er sich so verhielt.

Eine Zeit lang blieb sie unten am Strand stehen und ließ den Blick übers Eis schweifen. Am anderen Ufer der Bucht war es mucksmäuschenstill, da standen überwiegend Sommerhäuschen, und im Winter war es dort menschenleer. Trotzdem sah es so aus, als käme drüben im Wald Rauch aus einem Schornstein. Stand dort nicht das alte Tagungshotel? Das Ding war so hässlich, dass es gern komplett abbrennen durfte, wenn es nach Isabella ging. Ihr Vater hingegen fand es super. Seiner Ansicht nach sollte es unbedingt renoviert und wiedereröffnet werden. »Mach doch«, hatte Isabella zu ihm gesagt, woraufhin ihr Vater nur gelacht hatte.

Nein, allmählich wurde ihr zu kalt. Isabella stapfte zurück in Richtung Wohnheim. Wie jedes Mal ging sie ein wenig schneller, als sie an der verrammelten Hütte gleich oberhalb des Bootshauses vorbeikam. Irgendetwas daran war creepy, und immer, wenn sie hier vorbeikam, fühlte sie sich beobachtet. Was völlig verrückt war, denn die Hütte war verriegelt und verrammelt und wurde nicht mehr benutzt. Außerdem spukte es ja wohl nicht in Achtziger-Jahre-Sperrholzbaracken und erst recht nicht am helllichten Tag.

Trotzdem. Gerade hatte es wirklich so ausgesehen, als hätte sich der gestreifte Vorhang auf der rechten Seite bewegt …

Sie war erleichtert, als sie wieder ihr Zimmer betrat. Außerdem war ihr eine Idee gekommen.

»I peer at you from behind my curtain, please, oh please, won’t you set me free«, notierte sie sich und trällerte die Zeile mit unterschiedlichen Melodien vor sich hin.

Klang gar nicht übel.

Das Zimmer ist winzig und scheußlich anzusehen. Ihr orangefarbener Plastikstuhl ist unbequem und wackelt. Auf dem Fensterbrett steht ein Kaktus in einem weißen Übertopf neben einem Fähnchen an einer Stange. Auf dem Fähnchen ist irgendein Anker abgebildet.

Der Mann hat ein kariertes Sakko und ein Hemd an, das neu bestimmt mal weiß war. Inzwischen ist es gelblich, der Kragen fast braun. Er hat sich ein billiges Rasierwasser übergekippt, das den Schweißgeruch trotzdem nicht übertünchen kann. Ihr wird leicht übel.

»Also, dann schauen wir doch mal … Ah, vielleicht willst du auch einen Kaffee?«

»Nein, schon okay.«

»Vielleicht trinkst du noch gar keinen Kaffee? Ich hab ja in deinem Alter damit angefangen. Der Beginn einer schweren Koffeinabhängigkeit, das sage ich dir.«

Sie nötigt sich ein höfliches Lächeln ab.

»Na ja, vielleicht kommen wir doch einfach zur Sache.«

»Mhm.«

»Das hier ist … Tja. Womöglich sollte ich vorwegschicken: Diese Sachen, die du hier vorbringst, sind ziemlich ernst, das ist dir hoffentlich klar? Sehr, sehr ernst.«

Ja, das ist ihr bewusst. Sie starrt den Kaktus an. Fragt sich, ob es wehtun würde, ihn zu berühren.

»Ist dir das klar?«

»Ja.«

»Denn bei solchen Vorwürfen ist es nun mal so, dass sie eine Existenz zerstören können. Wenn einem so etwas nachgesagt wird. Dass man so einer sein könnte. Darüber bist du dir im Klaren?«

Sie nickt. Sie weiß das. Und es gibt zig Arten, eine Existenz zu zerstören.

»Na dann. Also krempeln wir mal die Ärmel hoch. Du meintest, der Vorfall sei etwa vor einer Woche passiert, ist das richtig?«

»Ja.«

»Und wie würdest du das beschreiben, was da vorgefallen ist?«

»Das hab ich doch schon beschrieben.«

»Ja, sicher, aber ich habe doch gerade versucht, dir zu erklären, dass wir bei so ernsten Vorwürfen besonders gründlich sein müssen. Du hast bloß erzählt, dass jemand sich … an dir vergangen haben soll. Aber was genau hast du damit gemeint?«

»Ich … Ich weiß nicht, was ich sagen soll … Ich kann mich ja nicht mehr an alles erinnern.«

»Zuallererst einmal: Was hattest du überhaupt dort zu suchen?«

Sie zögert. Was passiert mit den anderen, wenn sie erzählt, wie es gewesen ist? Dass sie trotz Verbots auf eine Feier gegangen sind?

»Ich war eingeladen …«

»Eingeladen? Auf eine Tasse Kaffee, oder …?«

»Nein, da sollte eine Party sein.«

»Eine Party? Dann warst du zu einer Party eingeladen? Zu einer Party für zwei?«

Sie beißt sich auf die Lippe und denkt fieberhaft nach. Sie will nicht lügen, aber sie will die anderen auch nicht in Schwierigkeiten bringen.

»Nee. Ich dachte, es würde eine größere Sache werden, mit mehr Gästen … Deshalb bin ich dorthin.«

»Und war es eine größere Sache?«

»So groß auch wieder nicht. Eine Handvoll Leute. Ist das wichtig?«

Können sie das hier nicht einfach beenden? Der Mann widert sie an. Muss er sie so eklig anstarren? Sein Blick ist vernebelt, klebrig, und das Weiße in seinen Augen ist genauso gelb wie sein Hemd.

»Und wenn wir uns das mal genauer ansehen: Wurde bei dieser Party Alkohol ausgeschenkt?«

»Mhm.«

»Hast du was getrunken?«

»Ja, ein bisschen.«

»Du hast etwas getrunken? Könnte das der Grund sein, warum du nicht mehr weißt, ob ihr mehrere bei dieser Party wart oder nur zwei?«

Sie spürt seinen ekligen, gelben Blick auf sich und starrt das Ankerfähnchen an. Er glaubt ihr kein Wort.

»Ich hab ein paar Biere getrunken, aber irgendwer muss da was reingetan haben, weil ich sonst nie so weggetreten bin – doch nicht nur von Bier.«

»Ist das so? Tja …«

Er verändert seine Sitzposition, und der Stuhl knarzt. Sie wünscht sich, der Stuhl würde unter seinem Gewicht zusammenbrechen, damit er sich das Kinn so richtig hart am Schreibtisch aufschlägt und ihm die Zähne ausfallen.

»Erzähl mir von dem Akt an sich.«

»Dem Akt?«

»Ja, als ihr Geschlechtsverkehr hattet.«

Sie muss aufstoßen. Schmeckt Apfelsaft, Aufschnitt und Magensäure. Sie schluckt mühsam.

»Wir hatten keinen … Geschlechtsverkehr.«

»Also bitte, warum sitzen wir denn dann hier?«

Er nimmt die Hände hoch, und sein Lachen klingt freudlos, trotzdem wackelt sein Bauch. Sie lässt ihn fertig lachen, ehe sie antwortet.

»Es ist kein Geschlechtsverkehr, wenn man im Schlaf vergewaltigt wird.«

Er seufzt.

»Tja, das sagst du so. Aber kann es nicht sein, dass ihr euch missverstanden habt?«

»Wie – missverstanden?«

»Du weißt schon … Zum einen kann Alkohol ja dazu führen, dass man ein bisschen den Kopf verliert.«

»Äh, was?«

»Dass man übermütig wird. Urplötzlich Dinge macht, die man nüchtern nie machen würde.«

»Und …?«