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Der dunkle Wald des Hainich und das scheinbar so beschauliche Städtchen Mühlhausen bilden die Kulisse für drei Mordtaten. Kriminalkommissarin Carola Henning begibt sich in ihrer ganz eigenen Art auf die Suche nach den Tätern. Dieser Band vereint die ersten Krimikomödien des Mühlhäuser Autors Michael Fiegle. Sein Krimi-Debüt Gefährliche Stille im Hainich erscheint hier mit einer bisher nicht veröffentlichten Fortsetzung. Eine Dreingabe ist der Weihnachtskrimi Auf Balkone steigt man nicht.
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Seitenzahl: 222
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Die Tote im Mühlhäuser Stadtwald
Gefährliche Stille im Hainich
Auf Balkone steigt man nicht
Herbst im Jahre 1998. Laub lag schon am Boden, einiges hing noch an den Ästen. Es war feucht und neblig, Anfang November eben. Und still war es. Man konnte jedes Blatt mit leisem Geräusch wie eigenartig geformte Geldscheine auf den Boden fallen hören. Gerade zischte wieder so ein Windhauch durch die Buchenwipfel, die im Stadtwald ihre stattlichen dreißig Meter erreichen. Unzählige goldene Blätter trieben durch die Luft, zogen ihre runden Schraubenbahnen und bedeckten mit einem Mal die breite, geschotterte Forststraße. Ein goldener Weg zog schnurgerade durch den endlos erscheinenden Wald, unberührt wie nach dem ersten Schneefall Ende November, wenn noch kein Jeep des Försters, der Waldarbeiter oder eines Jägers seine Abdrücke hinterlassen hat. Tropfen klatschten darauf. Eben hatte sich an einem Ast wieder einer gebildet, löste sich zäh ab von dem dunklen Ästchen und fiel unhaltbar, formte sich zu einer Kugel und zerplatzte auf einem der goldenen Blätter unverhofft in unzählbare Tröpfchen und Wasserstaub. Nichts blieb, außer vielleicht der Ahnung, dass da einmal etwas war. Und wenn die Sonne das Wasser verdunstet hatte und begann, die Feuchtigkeit aus den toten Blättern herauszusaugen, würde auch von dieser Ahnung nichts mehr übrig geblieben sein.
Rauschend auf nasser Fahrbahn glitt der Fünfer-BMW auf der Bundesstraße an Katharinenberg vorbei, ließ den Ort mit der Kirchenruine rechts liegen. Nadja blickte vom Rücksitz durch die Windschutzscheibe kühl in die graue Trübe, die sich an jenem Sonntagmorgen dort draußen breit machte. Schneereste am Straßenrand kündeten noch vom Schneesturm, der nur wenige Tage zuvor über Deutschland gewütet hatte und überall eine ansehnliche Schneedecke hinterlassen hatte. Der Scheibenwischer arbeitete auf Intervallschaltung, wischte den feinen Niesel zur Seite und gab für einen Moment den Blick nach vorne frei. An den Straßenrändern immerhin ein wenig bunte Farbe, vom gelbgrünen Laub der wenigen, nun wie zerzaust wirkenden Eschen, die dort noch stehen geblieben waren. Im Auto war es von der Heizung mittlerweile behaglich warm. Nadja in ihrem knappen Minirock und mit der edlen, dunkelbraunen Pelzjacke, die sie nur über die Schultern geworfen hatte, darunter eine Leopardenbluse aus Seide, hatte aufgehört zu frösteln. Ihre großen, dunklen Augen kreisten aufgeregt in die aus dem Halbdunkel auftauchende Hainichlandschaft. Alexandra neben ihr hatte am Morgen eine enge Jeans angezogen und einen schmeichelzarten Kaschmir-Rolli. Darüber die glänzende schwarze Lederjacke. Die langen, braunen Haare zum Pferdeschwanz zusammengebunden, nutzte sie die paar ruhigen Minuten für ein Schläfchen. Den Kopf an die Nackenstütze gelehnt, hatte sie die Augen geschlossen, sah nicht, wie der getunte und tiefer gelegte Sportwagen gerade an den mächtigen Buchen am Mühlhäuser Landgraben vorbeisauste. Weil ihr Kopf leicht nach hinten geneigt war, musste sie leise schnarchen. Man möchte ihr Freund gewesen sein in jenem Augenblick und zärtlich über die süß Schlafende geblickt haben.
Nadja tippte in dieser Sekunde dem Mann auf dem Beifahrersitz auf die Schulter. »Milan, ich muss mal! Können wir nicht mal anhalten?« Der Mann, um die dreißig, dunkle kurze Haare, Hakennase, gestreiftes Hemd unter rehbrauner Wildlederjacke, drehte sich zu der dunkelhaarigen Nadja um, blickte ihr mürrisch ins edel gebräunte Gesicht mit dem spitzen Näschen und maulte sie an: »Ich hab doch vorhin gesagt, ihr geht noch mal pullern, bevor wir ins Auto steigen! Um 10 Uhr müssen wir in Erfurt sein! Erwin legt Wert auf Pünktlichkeit! Also reiß dich zusammen!«
»Milan, ich hab vorhin zwei Tassen Kaffee gehabt, ich mach dir gleich auf den Ledersitz!«
»Das lässt du schön bleiben! Verdammte Scheiße! Dass man mit euch Schlampen immer nur Probleme hat!« Und zum Fahrer: »Vadim, halt an, unser Rassepferdchen muss mal!«
Vadim lenkte den BMW knirschend in einen Waldweg und bremste scharf ab. Milan stieg aus, ging hinten um den Wagen herum und öffnete Nadja die kindergesicherte Hintertür. Sie stieg aus und Milan hakte sie unter. Beide gingen die Forststraße entlang.
»Wie weit denn noch?«, fragte Milan barsch, als Nadja wohl schon hundert Meter in den Wald hineingegangen war.
»Soll ich an der Straße pullern, wo mir jeder zugucken kann?«, raunzte sie zurück.
Tatsächlich, der Wald war schon sehr licht und man konnte von der Straße weit hineinschauen. Beide gingen noch ein paar Schritte, bis sich Nadja zum Pullern hinhockte.
»Willst du mir jetzt dabei zugucken, Arschloch?«, herrschte sie den Rumänen an.
Der nahm ein paar Schritte Abstand und drehte sich doch tatsächlich um. Das nutzte Nadja aus. Plötzlich begann sie zu laufen. Sie rannte los, wie sie noch nie gerannt war. Milan wusste erst gar nicht, was ihm da geschah, so überrascht war er.
»Bleib stehen, Miststück!«, rief er erst einmal.
Und als Nadja vielleicht schon dreißig Meter weg war, machte er sich selbst auf die Strümpfe und jagte ihr nach. Nadja kam in ihren Leder-Stiefeletten nicht besonders schnell voran. Milan war in seinen zugespitzten Schnürschuhen auch nicht viel schneller und kam kaum näher an sie heran. Nadja raste davon, als ob es ihr ans Leder ginge.
»Bleib stehen oder ich mach dich kalt!«, schrie Milan vor Wut schäumend und keuchend wie ein Asthmatiker hinter ihr her.
Plötzlich brach der rechte von Nadjas Schuhabsätzen ab. Die junge Frau knickte um und stürzte mit einem Schrei der Nase nach auf den harten Schotter, schürfte sich Knie und Hände auf und war erst einmal geschockt. Milan kam mit triumphierendem Lächeln gerade an die Liegende heran, da drehte sie sich um und versetzte ihm in der Drehung mit dem linken Fuß einen harten Tritt ans Schienbein. Milan schrie auf und hielt sich das Bein. Nadja versuchte aufzustehen, fiel aber sofort wieder hin. Den Knöchel musste sie sich zumindest verrenkt haben. Ein lähmendes Stechen fuhr ihr ins Gelenk und wie ein angeschossenes Wild lag sie nun rücklings am Boden, den Blick auf ihren vor Schmerz tanzenden Peiniger gerichtet. Der besann sich jedoch sofort, zog eine Pistole aus der rechten Jackentasche, schraubte den Schalldämpfer auf den Lauf, den er in der anderen Tasche hatte und humpelte auf Nadja zu. Die riss die Augen auf, als er auf sie zielte.
»Nein, Milan…!«, konnte sie noch sagen.
Die Kugel traf sie dann mit einem eigenartigen »Pluff« mitten in die Stirn. Mit überraschtem Blick sackte sie zusammen. Milan stieß ihr mit dem Dämpfer in den Oberarm. Nachdem sie sich nicht mehr rührte, nahm er den leblosen Körper unter die Achseln und schleifte ihn von der Forststraße weg in den Wald hinein.
Milan kam ganz schön ins Schwitzen dabei. Die Tote hing wie ein nasser Sack an ihm und starrte mit einem unglaublich überraschten Blick gen Himmel, der ihn noch wütender machte. Er ließ Nadja zwischen die hohen Himbeeren krachen und blickte sich um. Niemand war zu sehen oder zu hören. Alles war still ringsum und von der Feuchte des grauen Herbstmorgens eingehüllt. Zum Glück, dachte er, liegt überall frisches Fichtenreisig herum. Herbststurm ›Richard‹ muss auch hier ganze Arbeit geleistet haben, dachte er weiter. Schnell hatte er ein paar Äste beisammen, unter denen er Nadja notdürftig verstecken konnte. Als Erstes bedeckte er ihren Kopf mit einem Zweig. Ihren Blick konnte er nicht ertragen. Er begann auch sich zu ärgern. Darüber, dass eines seiner Pferdchen nun nicht mehr zu gebrauchen war. Erwin würde toben, dachte er. Ein Glück, dass Vadim und er auf die zehntausend Euro nicht angewiesen waren. Er hatte ja noch Alexandra. Um die ging es bei diesem Transfer schließlich. Und die würde nun noch mehr spuren. Und dann nichts wie ab über die Grenze! Irgendwie machte ihn der Gedanke froh, schneller als erwartet wieder einmal in seiner rumänischen Heimat einzuschlagen und die Kumpels wieder zu sehen. Vielleicht würde ihn das auf andere Gedanken bringen. Er war auch schon wieder zu lange in Deutschland gewesen, dachte er bei sich. So, nun noch einen Ast für die Füße. Milan blickte sich von der Forststraße noch einmal um und war überrascht.
Das Luder ist ja von hier aus gar nicht zu sehen, super! Und nun ab durch die Mitte! Sein Schienbein schmerzte noch gewaltig. Das musste wohl unter der Hose aufgeschürft sein. Milan humpelte so schnell es ging zum Auto zurück.
Vadim staunte nicht schlecht, als Milan alleine zurück kam. Und über den Lehm an seinen Schuhen und den Dreck an der Hose.
»Wo ist Nadja?«, fragte er.
»Die wollte nicht mehr mitkommen! Los … fahr weiter!«
»Hast du sie im Wald gelassen? Du hast sie umgebracht?«, kreischte Alexandra von der Rückbank und erhielt einen Schlag mit der flachen Hand ins Gesicht.
»Halt den Mund, Schlampe, sonst passiert dir dasselbe!«, schrie Milan noch sichtlich außer sich.
Er war wütend, dass die Situation so aus dem Ruder gelaufen war und er so handeln musste. In ihm kreisten die Gedanken. Da konnte er sich ein Wortgefecht mit dem Flittchen nicht leisten. Er hätte sie bei einem falschen Wort umbringen können, so wie diese aufmüpfige Nadja, die ihm in den vergangenen Jahren so viel Gewinn eingebracht hatte. Milan ärgerte sich nun über sich selbst. Er brauchte nun Ruhe zum Nachdenken.
Alexandra, die nun allein war, hatte Angst und fing an zu weinen. Ihre Freundin Nadja! Milan hatte sie glatt weg umgebracht und im Wald liegen lassen! Das wusste sie. Milan war dazu imstande, war kaltblütig genug. Milan war unberechenbar und jederzeit zu jeder Schandtat bereit. Alexandra konnte es nicht fassen, wagte es aber nicht mehr, irgendetwas zu sagen. Es würgte sie im Hals, sie krümmte sich plötzlich vor Schmerzen und sie hatte Angst, sich übergeben zu müssen. Panik überkam sie. Ihre beste Freundin lag tot im Wald! Wie konnte das nur geschehen? Alexandra wurde fast wahnsinnig vor Schmerz und vor Angst. Sie konnte sich nicht regen, wusste, wenn sie jetzt irgendetwas von sich gab, würde es ihr auch an den Kragen gehen.
Alexandra halt durch!, sagte sie sich. Erst einmal weg von diesem Monster! Lass es nicht zu, dass er dich auch noch killt!
Tränen kullerten ihr über die Wangen. Aber das Schluchzen und Schreien, das aus ihr raus wollte, unterdrückte sie scharf, biss sich auf die Unterlippe, bis sie leicht blutete. Hass kam in ihr auf.
Sie dachte bei sich: Irgendwann bringe ich dich um, ich bring dich um, Milan! Ich schwöre es bei Gott!
Der Gedanke an Milans Tod beruhigte sie. Sie malte sich aus, wie sie ihm irgendein Gift unterjubeln würde und ihm zuschauen könnte, wie er unter qualvollen Krämpfen, verzweifelt nach Luft ringend und mit schweißnasser Stirn krepieren würde. Sie wurde still und schaute teilnahmslos aus dem Fenster auf das Häusergrau Mühlhausens, das ihr im Novemberniesel leer und trostlos erschien.
Unendlich lange schien Alexandra auf der Weiterfahrt nach Erfurt so gesessen zu haben. Der Ekel war einer gleichgültigen Agonie gewichen. Mit dem Ortsschild von Erfurt erwachte sie wieder aus ihrer Starre. Ihr wurde klar, dass es nun nicht mehr lange dauern würde, bis sie aus Milans Würgegriff entkommen konnte. Sie ließ ihren Blick durch’s Auto schweifen. Vadim und Milan saßen vorne still da, wie ein altes Ehepaar, das sich schon lange nichts mehr zu sagen hat. Da sah sie Nadjas schwarzes Ledertäschchen auf der anderen Seite der Rückbank liegen und nahm es vorsichtig, damit die vorne nichts merkten, an sich und packte es leise in ihre Umhängetasche. Draußen hatte es wieder angefangen, stärker zu regnen, die Tropfen prasselten auf die Windschutzscheibe, als der BMW über den nassen Asphalt von Erfurts Straßen kurvte. Menschenleere auch hier an jenem Totensonntag. Das Trio kam im BMW gut durch und näherte sich ihrem Ziel, dieser ansonsten, im Sonnenlicht so grell weißen Vorstadtvilla im Süden Erfurts. Vadim parkte den Wagen vor dem Haus. Die Männer stiegen aus. Milan öffnete die Hintertür und zerrte Alexandra aus dem Wageninneren in den kühlen Novembermorgen. Alle drei schritten die Treppe hoch zum Eingang, Vadim vorne, Milan hinten, um auszuschließen, dass Alexandra nicht auch noch fortlief. Vadim drückte den Messingknopf der Klingel. Die drei mussten gar nicht lange warten. Kurz nach dem ›Ding Dong‹ öffnete ein mittelalter Glatzkopf im blau-goldenen Seidenkimono die Tür.
»Ah, Milan, Vadim! Ich habe Euch schon erwartet!« Er blickte verstohlen auf Alexandra und bemerkte: »Ihr seid nur zu dritt? Was ist passiert? Aber kommt doch erst einmal herein!«
Die drei betraten durch eine kurze Diele den hohen, über zwei Stockwerke reichenden Eingangssaal mit dem Oberlicht. Erwin nahm die beiden Rumänen mit in sein Arbeitszimmer, zu dem es im Parterre links abging. Mit einer Handbewegung bedeutete er Alexandra, dass sie im Salon warten sollte. Unsicher blickte sie sich um. Leises Gepladder der Regentropfen, die auf die Scheiben trafen, war zu hören. Auf der Galerie erblickte sie nun mehrere junge Frauen, die neugierig nach unten schauten.
»So Kinderchen, jetzt habt ihr genug gesehen! Geht wieder auf eure Zimmer!«, befahl eine ältere Blondine, die von der anderen Seite herüber gekommen war. Wie eine Diva schritt sie die Treppe, die von oben in den Salon führte, herunter.
»Na? Du bist also die Neue! Hallo, ich bin Maria!« Maria reichte Alexandra die Hand. Die nahm sie zaghaft und schüttelte sie sachte. »Sollten da nicht zwei Mädchen kommen?«, fragte Maria. Alexandra zuckte mit den Schultern. »Na, egal, dann kannst du dir ja jetzt ein Zimmer aussuchen«, fuhr die Blonde mit dem Aussehen einer gealterten Marylin Monroe fort. »Wie heißt du überhaupt?«
»Alexandra!«
»Ab jetzt heißt du Nina, kapiert? Weißt du Nina, hier hat jede ihren eigenen Raum. Den kann sie sich sogar etwas nach eigenem Geschmack einrichten. Die Arbeitsräume sind unten im Anbau. Dusche und WC hast du selbstverständlich bei dir auf dem Zimmer. Ja, bei uns ist es wie im Hotel! Darauf legen die Kunden besonderen Wert.«
Alexandra war mit Maria hinauf gegangen und betrat nun eines der freien Zimmer. Ein großes, modernes Doppelbett bildete das Zentrum des Raumes. Wohnzimmerschrank, Kleiderschrank, Spiegelkonsole, Minibar, Flachbildfernseher, alles war vorhanden. Ein Fenster und eine Glastür führten auf den kleinen Balkon. Alexandra trat hinaus und blickte in den trüben Morgen, der einige grau getönte Dächer Erfurts zu bieten hatte. Unter ihrem Blick eröffnete sich ein gepflegter Garten mit Rasen, Gehölzen und einer Laube. Weiter konnte sie nicht sehen. Das Zimmer gefiel ihr auf Anhieb.
»Ich möchte hier bleiben!«
»Keine schlechte Wahl, Nina! Also mach dich erst einmal frisch, du findest alles in deinem Bad. Ich komm dann später noch einmal zu dir!«
Maria verließ das große Appartement und schloss die Tür hinter sich. Alexandra war allein und ließ sich erst einmal wie tot auf das Bett fallen und begann, zu schluchzen und am ganzen Leib zu zittern. Mit einem Mal tat ihr wieder alles weh und sie krümmte sich, zog die große Bettdecke über sich zusammen und igelte sich ein, zusammengekauert wie ein Fetus im Mutterbauch. Sie weinte in die Decke hinein, wie sie nie geweint hatte, und umklammerte sie mit verkrampften Händen.
So musste sie eingeschlafen sein, denn sie erwachte von lauten Stimmen vor ihrer Tür. Erschrocken richtete sie sich im Bett auf, vernahm nur etwas von »Fünfzigtausend Euro, mehr nicht« und andere Gesprächsfetzen, wie »mit mir nicht!« Es war Erwin, der da sprach. Und es war Erwin, der kurz anklopfte und unvermittelt die Tür öffnete, gar nicht auf ein »Herein« gewartet hatte.
»So, du hast dir also das schöne Eckzimmer ausgesucht. Recht so, recht so, mach es dir nur gemütlich!«
Erwin war nun in einen anthrazitfarbenen Anzug gekleidet, hatte sich eine gestreifte Clubkrawatte umgebunden. Im hellen Tageslicht sah man nun, dass er doch keine volle Glatze hatte. Ein Kranz feiner rotblonder Haare umrahmte seine Platte und gab ihm ein wichtiges Aussehen.
»Deine rumänischen Freunde haben bekommen, was sie wollten. Die haben sich auf den Weg in die Walachei gemacht!« Erwin lachte verächtlich über seinen Witz. »Wenn du Hunger hast, in einer Viertelstunde gibt es Mittagessen neben der Küche unten rechts. Du bist doch sicher schon auf die anderen Mädchen gespannt, oder? Danach möchte ich mich mit dir noch etwas beschäftigen. Du wirst mir in meinem Büro zur Verfügung stehen. Ich bin übrigens Erwin.« Als keine Antwort kam, fuhr er fort: »Deinen Namen kannst du natürlich beibehalten, ich habe das mit Maria geklärt. Eine Alexandra passt mir ganz gut ins Konzept!« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sich Erwin um und verließ das Eckzimmer wieder.
Stunden später. Es war schon lange dunkel draußen. Alexandra stand in ihrem neuen großen Zimmer und war endlich allein. Sie hatte die Gardine etwas zur Seite geschoben und schaute aus einem der Fenster. Alles war nun in Nebel gehüllt, man konnte kaum die andere Straßenseite erkennen. Die Nebelsuppe wurde golden angestrahlt von den Straßenlaternen. Auf den Gehwegen war niemand zu sehen. Eine ruhige Gegend eben, in der sie sich nun befand. Das soll also meine neue Arbeitsstätte sein, dachte Alexandra. Am Morgen war sie noch im Vierbettzimmer im Anbau des ›Copa Cabana‹ in Eschwege aufgewacht. Und nun dieses Luxus-Appartement. Was war es gleich gewesen, dass sie so besonders machte? Ihr kühler Gesichtsausdruck habe sie so unnahbar und geheimnisvoll gemacht, sagte ihr Erwin. Im Ledersessel in seinem Arbeitszimmer durfte sie es sich bequem machen. »Zigarillo, Whisky?«, hatte er sie gefragt. Als wäre sie eine Geschäftspartnerin. Die Rollen waren jedoch vollkommen klar. Erwin hörte sich gerne reden und sie hatte besser den Mund zu halten, hörte sich an, was er ihr unterbreitete. In seinem Club verkehre das seriöse Publikum. Seine Kundschaft bestehe auf Damen, die ihnen intellektuell wenigstens ebenbürtig seien, die sie auch einmal zu Empfängen mitnehmen könnten. Die Dame für den gepflegten Anlass eben, sexuelle Abenteuer inbegriffen. Die Dame fürs Hirn, die Herausforderung für den Herrn, die den Kunden beim ersten Rendezvous auch einmal hinhalten dürfe. Die sich nicht gleich hingebe. Das wäre vielen zu billig. Gepflegte Konversation solle sie führen können. Und genau das hätte Erwin bei ihr sofort bemerkt, als er sich im ›Copa Cabana‹ umgeschaut habe. Dieses gewisse Etwas in ihrem Ausdruck, dieser Stil! Er habe sie einfach haben müssen. Da sei es egal gewesen, dass Alexandra nur im Doppelpack mit ihrer Freundin zu haben gewesen sei. Wie hieß sie doch noch gleich? Ach ja, Nadja! Hattet ihr nicht auch einmal eine kleine Ausnahmeturnerin, die so hieß? Mit ›ihr‹ meinte er wohl die Rumänen!, dachte Alexandra etwas angewidert von Erwins plumper Annäherung. Dass Nadja nun doch nicht mitgekommen sei, wäre gar nicht so schlimm gewesen. Er hätte sie ohnehin nicht im gehobenen Segment unterbringen können. Dafür hatte sie einen zu gewöhnlichen Eindruck auf ihn gemacht, damals im »Copa Cabana«. Für sie hätte er nur in seinem anderen Etablissement in Erfurt-Nord Verwendung gehabt. Für diese Abwertung hätte dieser Erwin einen Schritt zwischen die Beine verdient!, dachte Alexandra voller Wut.
»Aber dass dieser Milan so dreist war, den Preis für euch beide zu verlangen, wo doch Nadja gar nicht mehr dabei war? Einfach eine Unverschämtheit. Was bildet sich dieser rumänische Bastard ein? Vertrag wäre Vertrag!?«
Rumänischer Bastard, genau das hatte Erwin gesagt! Endlich mal einer, der diesem räudigen Hund Milan Paroli geboten hat, dachte Alexandra.
Eine Unverschämtheit sei es gewesen, dass dieser Milan zunächst nicht gehen wollte. Der habe die fünfzigtausend schon in der Tasche gehabt und die Frechheit besessen für diese Nadja, die er gar nicht dabei hatte, die volle Summe zu verlangen. Unglaublich, dass er erst Gerd, seinen Leibwächter, habe hinzubitten müssen, um die beiden Herren herauszubegleiten. Erwin hatte sie wegen dieser Vorkommnisse Hilfe suchend angeblickt. Dann war er plötzlich umgeschwenkt und es wurde geschäftlich. Die Hälfte der Honorare ginge an ihn, kam er gleich zur Sache, die andere Hälfte an seine Angestellten, wobei 10 Prozent sofort ausbezahlt würden. Vom Rest gingen ein Teil ab für Kost und Logis. Alles andere werde auf ein Sperrkonto einbezahlt. Das Geld erhalte sie nach Ablauf der Vertragslaufzeit mit Zinsen zurück. Alexandra hatte nicht geglaubt, was sie da hörte. Sie musste ganz schön blöd ausgesehen haben und hatte erst einmal an ihrem Whisky genippt. Zur Sicherheit, das sei ja wohl selbstverständlich, behalte er natürlich ihre Papiere ein. Darin gleicht er allen anderen Club-Magnaten, hatte sich Alexandra gedacht. Freizeit habe sie, hatte er mit einem gönnerhaften Lächeln noch nachgeschoben. Die könne sie mit den anderen Mädchen zusammen verbringen. Und in Begleitung von Gerd oder Jochen. »Man weiß ja nie, in welche Situation ihr Mädchen so geratet!« Und da sei es gut, einen starken Mann hinter sich zu wissen. Im Übrigen wäre die Zeit mit den Kunden ja auch nichts anderes als Freizeit, gut bezahlte noch dazu. Und was das für gepflegte Leute seien. Wenn es die Mädchen gut anstellten, könnten sie von seinen Kunden so einiges dazulernen. Und dann hatte Erwin angefangen, an den Fingern seiner Hände aufzuzählen, wo die Kunden überall her kommen: Staatsbeamte und höhere Angestellte aus den Ministerien, Landtagsabgeordnete, gestandene Doktoren und Rechtsanwälte aus den Kanzleien, Firmenschefs und ihre Vertreter, samt ausländischer Geschäftsleute und Delegationen, Universitäts-Professoren und und und. Sogar der eine oder andere Geistliche sei darunter.
Mein Gott!, dachte Alexandra. Ich bin gespannt, wie das weiter geht! Wenigstens bin ich erst einmal raus aus dieser Eschweger Klitsche! Ficken in alle Löcher bis zum Abwinken! Und dann Dieter, dieser verdammte Scheißkerl! Den haben wir doch reich gemacht, Nadja, ich und die anderen Mädchen! Und unsere Kohle haben wir nur für das Nötigste gekriegt! Den Rest wird der nun verprassen. Davon werde ich nach dem Deal, den er mit Erwin hatte, nichts mehr wiedersehen! Dieter, fast so ein Schwein wie Milan. Hoffentlich begegnet mir dieser schleimige Typ nicht noch einmal in meinem Leben! Höchstens, wenn ich dann oben auf bin! Dann kann er was erleben! Alexandra hatte sich auf ihr großes Bett gesetzt. Plötzlich rannen ihr Tränen über die Wangen, machten Spuren in ihr Make-up. Sie sackte vorn über, vergrub ihren Kopf zwischen den Händen, schluchzte laut!
Nadja!, dachte sie laut. Wie konnte ihr Milan das nur antun? Sie war so voller Leben. Und als sie da so neben mir im Auto saß, waren wir doch noch so glücklich! Ich konnte es bei Dieter so einrichten, dass nicht ich alleine nach Erfurt verkauft würde. Die Chance war groß, ihm endlich mal die Krallen zu zeigen! Ohne Nadja gehe ich nicht! Ich hör mich das noch sagen und gleichzeitig bekam ich diesen empörten Blick zugeworfen. Wie ihm da die Kinnlade runtergegangen ist! Der wusste genau in diesem Augenblick, dass er bereits verloren hatte! Es stand für ihn einfach zu viel auf dem Spiel. Er musste auch Nadja, seine Nadja, gehen lassen, wenn der Deal klar gehen sollte. Wie viele seiner Kunden kamen nur wegen ihr, wegen ihrer frischen und ehrlichen Art. Und natürlich, weil sie einfach nur geil aussah! Aber für mich sprang einfach zu viel Kohle heraus. Und Erwin schien auch noch etwas gut zu haben bei Dieter. Also musste er Nadja gehen lassen. Oh, ich war so froh, als Nadja es mir sagte! Endlich konnte ich auch einmal etwas für sie tun! Sonst war sie immer den anderen ein Kumpel, dachte nie an sich, freute sich, wenn sie jemandem einen Gefallen tun konnte. Ja, Nadja, liebe Nadja!
Alexandra legte sich hin, nahm sich eines der Kissen und umarmte es fest, winkelte die Knie an und zog sich die Decke bis zu den Schultern.
So musste sie wieder eingeschlafen sein. Denn in genau derselben Haltung wachte sie wieder auf. Es war aber noch dunkel. Lange konnte sie also nicht gelegen haben, schoss es ihr durch den Kopf. Aber sie hatte geträumt und sie hatte die Bilder noch im Kopf: Sie saß mit Nadja auf der Holzbank vor dem Haus ihrer Großmutter in den Bergen. Sie schauten ins Tal hinab und lachten dabei. Wie glücklich sie ausgesehen hatten! Sie hatte ihren Strickpullover an und eine dieser dunkelblauen Jeanshosen, Importware aus der DDR. Nadja in einem roten Kleid. Darüber eine bestickte, schwarze Strickjacke. Sie waren blutjung, sechzehn vielleicht, und so glücklich. Dabei hatte ich erst Bedenken, ob ihr das gefallen würde, dort oben in der Abgeschiedenheit!, dachte Alexandra wieder bei sich. Nadja war doch eher der städtische Typ. Und Verwandtschaft hatte sie ja keine. Als Heimkind? Mein Gott, welch armes Leben hatte sie führen müssen, bis sie 14 war! Zum Glück hat sie dort dann dieser Parteibonze entdeckt, wie hieß er doch gleich? Ach ja, Marius Constantin! Der hat sie rausgeholt und ihr den Platz im Internat verschafft. Wie sie da plötzlich in der Klasse stand, in ihrem pastellgelben Kleid und der beigefarbenen Strickjacke darüber. Das war damals schon ihr Stil gewesen. Die Schuluniform hatte sie erst später bekommen. »Das ist Nadja, eure neue Mitschülerin.« So stellte sie Direktor Gheorghe uns Mädchen vor. Nadja hatte überhaupt keine Angst, lächelte uns total unbefangen an. Wie stark sie war, als ob ihr niemand etwas könne. Ich musste sie unbedingt kennenlernen. Das wusste ich damals schon. Bei uns war dann auch noch eines der Betten frei. Und so kam sie zu mir aufs Zimmer. Sie war so neugierig und wollte alles wissen. Dass ich ihr aufgeschlossen gegenübertrat, hatte sie gleich gemerkt. Die anderen waren da distanzierter, wollten mit einer aus dem Heim nichts zu tun haben.
Alexandra blickte noch einmal auf die Straße, auf der sich immer noch nichts bewegte. Nicht einmal der Nebel, der an Dichte noch zugenommen zu haben schien.
Mit Nadja war einfach alles besser, sinnierte Alexandra weiter. Sie saß dann ja auch mit mir in einer Schulbank. Wir lernten zusammen, machten zusammen Quatsch. Nur ihre nächtlichen Ausflüge! Da konnte ich nicht mithalten. Ich hatte einfach zu große Angst. Hab lieber Schmiere gestanden an der Mauer, dass niemand ihre Klettereien bemerkte. Erst ging es ihr nur darum, in die Disco zum Tanzen zu kommen. Dort lernte sie dann ihren Freund Rafael kennen. Und dann ging es nur noch zu ihm abends. Aber Freundinnen blieben wir trotzdem. Sie erzählte mir alles, was sie da draußen erlebte. Auch wie sie mit Rafael zum ersten Mal Sex hatte. Auf einem der alten Steingräber auf dem Friedhof. Immerhin hat er ihr seine Jacke untergelegt. Toll soll es nicht gewesen sein. Aber ich war so neidisch deshalb, dass sie diese Erfahrung schon gemacht hatte. Andererseits hatte ich danach noch mehr Angst vor Männern.
Erst viel später kam ich dann mal mit. Was hab ich mir fast in die Hose gemacht, als sie mich das erste Mal über die Mauer geschupst hat und wir dann erst einmal im nächsten Gebüsch verschwunden sind. Danach waren wir so übermütig, haben nur gelacht, dass es durch die Gassen schallte. Toll war, dass die Mädchen freien Eintritt hatten in der Disco. The Universe hieß der Schuppen. Und einen Drink gab es auch noch kostenlos. Rafael war nicht da an dem Abend und wir haben getanzt, bis wir nicht mehr konnten. Die Musik war ja nur vom Besten. Fast alles nur amerikanische Popsongs. Michael Jackson haben die oft gespielt, aber auch alte Hits von den Stones. Mr. President war auch toll. Alle Typen haben uns nur angegafft, wollten mit uns tanzen. Wir